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Schweizerisches Bundesblatt.

3. Jahrgang.

IV.

No 42

18. Oktober 1911.

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Bundesratsbeschluss über

die Beschwerde des Martin Gyr in Einsiedeln betreffend die Wahl eines Bezirksstatthalters des Bezirkes Einsiedeln.

(Vom 10. Oktober 1911.)

Der schweizerische Bundesrat hat

über die im Namen des erweiterten Komitees der liberalen Partei des Bezirkes Einsiedeln vom Vizepräsidenten des Komitees, Martin G y r in Einsiedeln, am 15. April 1911 eingereichte Beschwerde, sowie über eine weitere von Martin Gyr und Konsorten in Einsiedeln am 12. Juni 1911 eingereichte Beschwerde betreffend die Wahl eines Bezirksstatthalters des Bezirks Einsiedeln, auf den Berieht des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden

Beschluss gefasst:

A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Mit Datum vom 12. Januar 1911 veröffentlichte die Bezirkskanzlei Einsiedeln im Auftrage und auf Grund eines Beschlusses des Bezirksrats in Nr. 4 der beiden Einsiedler Zeitungen vom 14. Januar folgende Wahlanordnung : Bundesblatt. 63. Jahrg. Bd. IV.

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,,Am Sonntag den 22. Januar nächsthin von 10--2 Uhr findet die Abstimmung in den gewohnten Lokalen statt über : Die Ersatzwahl für den aus dem Bezirksrat ausgeschiedenen Herrn Bezirksammann Martin Ochsner und die infolge derselben allenfalls nötig werdenden Ergänzungswahlen.a Als Nachfolger des Bezirksam manns Ochsner wurde von der konservativen Partei der bisherige Statthalter Karl Hensler portieri und für den Fall, dass dieser gewählt würde, schlug sie zu seinem Nachfolger als Statthalter den Kantonsrat Heinrich Rickenbach vor. Die liberale Parteiversammlung stellte keinen Kandidaten auf, sondern beschloss für die Wahl des Bezirksammanns Freigabe der Stimme und verwahrte sich im übrigen gegen die Vornahme einer Eventualwahl im gleichen Wahlgang.

Gegen die oben zitierte Wahlanordnung erhob Martin Gyr als Vizepräsident und im Namen des erweiterten Komitees der liberalen Partei des Bezirks Einsiedeln am 19. Januar beim Regierungsrat Beschwerde mit der Begründung, die Wahlanordnung widerspreche dem Art. 71 der Kantonsverfassung und dem § 15 der Abstimmungsverordnung des Kantons Schwyz vom 26. Januar 1904, wonach bei amtlichen Wahlausschreibungen die Verhandlungsgegenstände genau zu spezialisieren seien 5 die unklare, auf die Bedürfnisse der konservativen. Partei zugeschnittene Wahlanordnung, die nicht jedermann verständlich sei, behindere die ausserhalb der konservativen Partei stehenden Bürger an der freien Ausübung ihres Stimmrechtes, so dass das Wahlgeschäft den Willen der Wähler nicht unverfälscht und vollständig zum Ausdruck bringen könne.

Am 19. Februar 1911 wies der Regierungsrat die Beschwerde aus formellen Gründen ab, nämlich weil die Beschwerde zunächst an den Bezirksrat hätte gerichtet werden müssen ; weil ihr die angefochtene Verfugung nicht beigelegt worden sei; weil als Rekurrentin die liberale Partei des Bezirks Einsiedeln bezeichnet werde, die als solche nicht rekursfähig sei; weil, selbst angenommen, die liberale Partei wäre rekursfähig, kein Beleg dafür vorliege, dass Martin Gyr für sie handeln könne und endlich weil kein Beschwerdebegehren formuliert worden sei.

Gegen diesen ßeschluss rekurriert Martin Gyr namens des erweiterten Komitees der liberalen Partei des Bezirks Einsiedeln mit Eingabe vom 15. April 1911 an den Bundesrat und stellt das Begehren, es sei der Entscheid des schwyzerischen Regierungsrates als verfassungswidrig aufzuheben.

327 II.

Inzwischen fand am 22. Januar die Wahlverhandlung statt, und es wurden die Kandidaten der konservativen Partei sozusagen einstimmig als Bezirksammann und Statthalter gewählt. Hierauf richteten Martin Gyr und einige andere Bürger am 27. Januar eine Beschwerde an die schwyzerische Kassationsbehörde und verlangten Kassation der Statthalterwahl. Die Begründung dieser Beschwerde deckte sich im wesentlichen mit den Motiven des früher gegen die Wahlanordnung beim Regierungsrat eingereichten Rekurses.

Mit Beschluss vom 8. April 1911 wies die schwyzerische Kassationsbehörde die Beschwerde ab und erklärte die Wahl des Bezirksstatthalters als gesetzmässig zustande gekommen. Der Entscheid beruht im wesentlichen auf folgenden Erwägungen: Die durch den Regierungsrat zu entscheidende und entschiedene Frage der Gesetzmässigkeit der Wahlanordnung für den 22. Januar müsse als erledigt betrachtet werden.

Nach § 36 der Abstimmungsverordnung vom 26. Januar 1904 sei eine Wahl als ungültig zu erklären, wenn als erwiesen angenommen werden kann, dass sie nicht das Resultat der freien, gesetzlichen Stimmabgabe der rechtmässigen Wählerschaft ist.

Als Kassationsgründe kommen in Betracht: Anteilnahme von Nichtstimmberechtigten an den Wahlverhandlungen, Ausschluss von Stimmberechtigten von der Abstimmung, Bestechung und Unregelrnässigkeiten bei den Wahlverhandlungen überhaupt, insofern diese Umstände einen massgebenden Einfluss auf das Wahlresultat ausgeübt haben. Dass einer dieser Kassationsgründe vorliege, sei von den Rekurrenteu nicht nachgewiesen worden.

Mit dieser Feststellung könnte sich die Kassationsbehörde begnügen. Wenn sie dennoch auf die Ausführungen der Rekurrenten eintrete, so geschehe es, weil diese behaupten, durch die Wahlanordnung seien die §§ 15 und 16 der Abstimmungsverordnung verletzt und damit die geordnete Ausübung des Wahlrechts beeinträchtigt worden, was an und für sich einen Kassationsgrund bilde. Der genannte § 15 laute : ,,Der Gegenstand, die Zeit und das Lokal der Abstimmungsverhandlungen sind jeweilen mindestens 8 Tage vorher in allen Gemeinden auf übliche Weise bekannt zu machen". Er laute also ganz allgemein, verlange keine Spezialisierung des ,,Gegenstands" der Verhandlung und gebe somit der Praxis Spielraum. Diese habe nun von jeher bei Wahlen mit offener Abstimmung die von den Rekurrenten verpönte

328 Eventualvvahl zugelassen, und zwar bestehe diese Übung sowohl im Bezirk Einsiedeln als im Bezirk Schwyz, Es komme sogar vor. dass an einer Gemeinde je nach Bedürfnis Ersatzwahlen ohne entsprechende vorgängige Veröffentlichung vorgenommen werden. Aus der Abstimmungsverordnung lasse sich nun keineswegs ableiten, dass die eventuellen Ersatzwahlen bei der Urnenabstimmung unzulässig seien. Ähnliches komme auch in ändern Kantonen vor, z. B. in Luzern, wo gesetzesgemäss durch geheime Stimmabgabe im nämlichen Wahlgang die Gemeinderäte und aus diesen zugleich der Gemeindeammann, der Waisenvogt und der Verwalter gewählt werden ; für diese letztgenannten Wahlen könne die Stimmabgabe nur eine eventuelle sein, da ja noch ungewiss sei, ob der, dem der Wähler gleichzeitig seine Stimme als Gemeindeammann etc. gebe, überhaupt als Gemeinderat gewählt werde. Nach der bisherigen Praxis seien also auch im Kanton Schwyz Eventualwahlen, wie die am 22. Januar vorgenommene, und damit auch Wahlanordnungen, wie die der Wahl vorangegangene, als zulässig zu betrachten.

Inwiefern diese Wahlanordnung das Stimmrecht der Bürger beeinträchtigt und das Resultat der Wahlverhandlung beeinflusst habe, sei der Beschwerde der Kekurrenten nicht zu entnehmen.

Über diesen Entscheid beschweren sich Martin Gyr und sieben weitere stimmberechtigte Bürger des Bezirks Einsiedeln mit Eingabe vom 12. Juni 1911 beim Bundesrat und stellen das Begehren, die Wahl des Statthalters sei zu kassieren und der Bezirksrat anzuweisen, zur Wahl des Statthalters eine neue geheime Abstimmung anzuordnen.

Aus der Begründung ist folgendes hervorzuheben : Die Berufung der Kassationsbehörde auf die bisherige Praxis in den Bezirken Schwyz und Einsiedeln sei für die vorliegende Streitsache nicht rnassgebeud. Denn in den angerufenen Fällen habe es sich um offene Abstimmungen in den versammelten Bezirksgemeinden gehandelt. Bei diesen könne auch trotz unklarer Wahlanordnung kein Zweifel über die Zahl und Reihenfolge der Wahlgeschäfte herrschen ; denn nach jedem Wahlgang werde das Resultat verkündet und erst nachher, nachdem die Situation völlig abgeklärt sei, zu einem durch die eben erfolgte Und verkündete Wahl eventuell nötig gewordenen weitern Wahlgeschäft geschritten.

Dies alles sei nun aber bei der im Bezirk Einsiedeln erst seit 1908 eingeführten geheimen Abstimmung anders, da es im Wesen dieser Wahlart liege, dass der Wähler nicht zum voraus wissen könne noch wissen solle, was herauskomme. Die An-

329 Ordnung von Eventualwahlen bei der Urnenabstimmung zwinge den Wähler, sich nach einem unbekannten, bloss präsumierten Wahlresullat einzurichten, um eine oder mehrere andere Wahlen ·/AI treffen, und dieser Zwang sei unvereinbar mit der freien, unbeeinflussten Ausübung des Stimmrechts. Der Wähler befinde sich dabei in völliger Ungewissheit darüber, welche Wahlaufgaben er vor sich habe und demgegenüber könne die Erwägung, der Wähler habe im konkreten Fall den Ausgang der Bezirksammannswahl vermuten können, nicht aufkommen. Die gerügte Ungewissheit ergebe sich für die Wahl vom 22. Januar aus folgender Überlegung: Wurde als Nachfolger des Bezirksammanns kein Mitglied des ßezirksrates gewählt, so war überhaupt keine weitere Wahl nötig, da der Bezirksrat mit der Ersetzung des Ammanns wieder vollständig besetzt war. Wurde der damalige Statthalter zum Ammann gewählt, so musste der Statthalterposten neu besetzt werden und wenn, wie dies geschah, eine Person Statthalter wurde, die dem Bezirksrat nicht angehörte, so war damit das Wahlgeschäft erledigt. Nun hätte aber sehr wohl an die Statthalterstelle der Säckelmeister oder ein anderes Mitglied des Bezirksrates gewählt werden können, und es wären dann noch eine oder mehrere Wahlen nötig geworden um den Bezirksrat zu komplettieren.

Wenn sich die Kassationsbehörde dann noch auf die nach luzernischem Gesetz vorgesehenen Eventualwahlen bei geheimer Abstimmung berufe, so werde damit nichts für die Zulässigkeit dieses Vorgehens bewiesen.

Aus der Vernehmlassung der schwyzerischen Kassationsbehörde vom 7. Juli 1911, worin sie Abweisung der Beschwerde beantragt, ist noch folgendes hervorzuheben : Zunächst sei zu bemerken, dass das Rekursbegehren unvollständig sei, da nirgends die Aufhebung des Entscheids der Kassationsbehörde verlangt werde.

Von einer Beeinträchtigung des freien Stimmrechts könne im vorliegenden Fall keine Rede sein. Es habe den Wählern freigestanden, ihre Stimme denjenigen Personen zu geben, die sie gewählt wissen wollten, und als gewählt waren die zu betrachten, die die meisten Stimmen auf sich vereinigten. Die Situation vor der Wahl sei übrigens, da sowohl für die Stelle des Bezirksammanns als auch des Statthalters ausser von der konservativen Partei keine Kandidaturen aufgestellt worden waren, so klar gewesen, dass die Vereinfachung des Wahlgeschäfts durch die Eventualwahl des Statthalters in einem Wahlgang

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wohl gerechtfertigt gewesen sei und darin keinerlei parteipolitische Willkür erblickt werden könne.

III.

Mit Schreiben vom 22. Juni 1911 teilte das Schweizerische Justiz- und Polizeidepartement dem Regierungsrat des Kantons Schwyz mit, nach seiner Auffassung empfehle es 'sich, die beiden Beschwerden im Zusammenhang zu behandeln. Die Regierung des Kantons Schwyz erklärte sich durch Zuschrift vom 7. Juli hiermit einverstanden.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht:

I.

Den Kernpunkt der beiden vorliegenden Beschwerden bildet die Frage, ob die Wahlanordnung des Bezirksrats Einsiedeln die freie Ausübung des Stimmrechts der Bürger beeinträchtige. Der von Martin Gyr, namens des erweiterten Komitees der liberalen Partei, gegen diese Wahlanordnung seinerzeit beim Regierungsrat des Kantons Schwyz eingelegte Rekurs ist aus formollen Gründen abgewiesen worden und die Kassationsbehörde des Kantons Schwyz hat bei Behandlung der die Kassation der Statthalterwahl verlangenden Beschwerde des Martin Gyr und Konsorten erklärt, die Frage der Gültigkeit jener Wahlanordnung sei mit dem Entscheid des Regierungsrates erledigt. Wäre diese Behauptung der Kassationsbehörde richtig und käme der Bundesrat aus diesem oder jenem Grund dazu, den rein formellen Entscheid des Regierungsrates gegenüber der ersten, von Martin Gyr eingereichten Beschwerde zu schützen, so könnte die Frage aufgeworfen werden, ob der Bundesrat auf die zweite, von Martin Gyr und Konsorten eingereichte, die Wahlkassation verlangende Beschwerde, überhaupt noch eintreten dürfe, nachdem auch das Kassationsbegehren lediglich mit der angeblichen Unzulässigkeit der Wahlanordnung begründet werde. Allein die vorerwähnte Annahme der Kassationsbehörde ist nicht stichhaltig. Das zeigt sehr deutlich der Entscheid der Kassationsbehörde selbst, die trotz jener Behauptung materiell auf die Frage der Zulässigkeit und Rechtsbeständigkeit der Wahlanordnung eingetreten ist. Die Kassationsbehörde war sich denn auch dieser Sachlage bei Abfassung ihrer Vernehmlassung auf die Beschwerde gegen ihren

331 Entscheid bewusst und hat es deshalb unterlassen, dem Bundesrate einen Antrag im Sinne der vorgenannten Schlussfolgerung zu stellen. Hiervon ganz abgesehen, waren die Rekurrenten ohne Zweifel berechtigt, auch vor der Bundesrekursinstanz in der Beschwerde betr. Kassation der Statthalter wähl die Frage aufzuwerfen, ob durch die Wahlordnung die freie Ausübung des Stimmrechts geschmälert und damit das Wahlresultat beeinträchtigt worden sei, und der Bundesrat hat diese Frage materiell zu prüfen. Er hätte sie selbst dann zu prüfen, wenn gegen die Wahlanordnung selbst überhaupt keine Beschwerde erhoben worden, sondern ihre Unzulässigkeit erst anlässlich einer auf Kassation ·der Wahl gerichteten Beschwerde, gerügt worden wäre. Damit aber verliert der Beschluss des Regierungsrates, der die materielle -Seite der Angelegenheit überhaupt nicht entschieden hat, für die Bundesrekursinstanz jede Bedeutung. Der Bundesrat braucht nicht zu untersuchen, ob der formalistische Standpunkt des Regierungsrates haltbar ist; er kann sich darauf beschränken, die neuerdings und rechtsmässig zur Diskussion gestellte Frage der Zulässigkeit der umstrittenen Wahlanordnung materiell zu entscheiden.

Die Kassationsbehörde des Kantons Schwyz hat in ihrer Vernehmlassung die Formulierung des Beschwerdebegehrens der Rekurrenten Martin G-yr und Konsorten bemängelt, weil sie es unterlassen haben, ausdrücklich die Aufhebung des Entscheids der Kassationsbehörde zu verlangen und ohne weiteres die Kassation der Statthalterwahl und Anordnung einer Neuwahl beantragen. Da aber die Kassationsbehörde selbst davon Umgang nimmt, beim Bundesrate einen Antrag auf Niehteintreten zu stellen, so kann diese Bemängelung unbeachtet bleiben. Dies übrigens um so mehr, als in dem Begehren um Kassation der Wahl implicite das Begehren um Aufhebung des die Wahl bestätigenden Entscheids der Vorinstanz liegt, und es nicht angeht, die strengen Formerfordernisse des Zivilprozesses ohne weiteres auf das staatsrechtliche Beschwerdeverfahren /u übertragen.

II.

Zu prüfen bleibt somit nur noch die Behauptung der Rekurrenten, die Ankündigung und Anordnung von Eventualwahlen, die mit der Hauptwahl in einem und demselben Wahlgang zu erledigen sind, sei dem geheimen Abstimmungsverfahren wesensfremd, sie beeinträchtige die freie Ausübung des Stimmrechts, weil der Wähler bei der Stimmabgabe für die Eventualwahl

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gezwungen sei, sich nach dem noch nicht feststehenden, sondern bloss zu präsumierenden Resultat der Hauptwahl zu richten, welcher Zwang das Ergebnis der Eventualwahl nicht mehr als Ausdruck des unbehinderten Willens der Stimmberechtigten erscheinen lasse.

Für die Prüfung dieser Frage ist der Bundesrat ohne Zweifel zuständig. Es ist in gefesteter Praxis erkannt worden, dass der Bund durch Art. 5 BV und indirekt durch die Gewährleistung der das politische Stimmrecht sanktionierenden Kantonsverfassungen die ungehinderte Ausübung des Stimmrechts in seinen Rechtsschutz genommen hat und dass er in Erfüllung dieser Aufgabe nicht bloss die Einhaltung der positiven blindes- und kantonalrechtlichen Normen zu überwachen, sondern auch dafür zu sorgen hat, dass der Bürger innerhalb der gesetzlichen Schranken frei und ungehindert sein Stimmrecht ausüben kann. (Vgl. Salis Bd. II, Nr. 1133.)

Von vornherein ist nun klar, dass es sehr wohl angängig ist, Eventualwahlen anzukündigen, wenn die Bürger zu einer Versammlung zusammenberufen werden, die beieinander bleibt, bis die verschiedenen Wahlen, eine nach der ändern, sei es durch offenes Handmehr, sei es vermittelst geheimer Abstimmung, erledigt sind. Hier werden nie eine Hauptwahl und eine Eventualwahl ia einem Wahlgang vorgenommen, vor jedem Wahlgang ist die Situation durch die Verkündung des Resultats des oben beendeten Wahlgeschäfts völlig abgeklärt. Bei jeder Stimmabgabe kennt, der Bürger genau den Gegenstand des Wahlgeschäfts und kann völlig unbehindert seine Stimme dem ihm genehmen Bürger zuwenden. Die bisherige Praxis der Anordnung von Eventualwahlen in der versammelten Bezirksgemeinde ist daher nicht zu beanstanden.

Anders aber verhält es sich, wenn die Stimmberechtigten nicht zu einer Versammlung einberufen werden, die die verschiedenen Wahlgeschäfte nacheinander erledigt, sondern wenn sie an die Urne berufen werden, um in einem und demselben Wahlgang, durch einmalige Abgabe des Stimmzettels mehrere Wahlen vorzunehmen, von denen die zweite durch den Ausgang der ersten, eventuell eine dritte durch den Ausgang der zweiten usf., bedingt ist. Der Bürger, der unter diesen Umständen zur Urne geht, ist nur bezüglich der ersten Wahl im klaren über den Gegenstand; schon hinsichtlich der zweiten Wahl besteht nicht nur Unklarheit über den Gegenstand der Verhandlung, sondern es ist auch nicht möglich zu wissen, ob eine zweite

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Wahl überhaupt nötig wird. Vom Ausgang der zweiten Wahl hängt es dann ab, ob eventuell noch eine dritte Wahl nötig wird, worüber wiederum völlige Unklarheit und Unsicherheit herrscht. Alle diese Eventualitäten bei der einmaligen Stimmabgabe zu berücksichtigen und den Stimmzettel demgemäss auszufüllen, ist für den Bürger schlechterdings unmöglich und würde ihn zwingen, auf präsumtive Wahlresultate Rücksicht zu nehmen, die seinem Willen nicht entsprechen.

Im konkreten Falle konnte sich die Sachlage für den einzelnen Bürger folgendermassen gestalten : Trotz der, von der konservativen Partei aufgestellten Kandidatur des Statthalters Hensler für den Posten des Bezirksammanns und trotzdem keine Gegenkandidatur aufgestellt worden war, stand es natürlich jedem Wähler frei, irgend einem ändern Bürger seine Stimme als Bezirksammann zu geben. Es war somit möglich, dass nicht der Statthalter Hensler, sondern ein Anderer, zum Bezirksammann gewählt wurde. Wurde nicht Hensler gewählt, so entstanden zwei Möglichkeiten : entweder musste überhaupt keine Ersatzwahl, oder es musste eine andere Ersatzwahl, als die für den abgelehnten Kandidaten Hensler, vorgenommen werden, je nachdem der Gewählte dem Bezirksrat oder einer ändern Behörde angehörte, oder ausserhalb jeder Behörde stand. Vom Standpunkt des Wählers aus gesprochen, gestaltete sich die Sachlage also folgendermassen: Gab er einer, weder dem Bezirksrat noch einer ändern Behörde angehörenden Person seine Stimme als Bezirksammann, so schloss er damit für sich jede Eventualwahl aus.

Um nun trotzdem der Wahlordnung gerecht zu werden und seine Stimmkraft für die möglichen Ersatzwahlen zu betätigen, musste er, entgegen seinem in der Hauptwahl bezeugten Willen, einem Ersatzmann für den möglicherweise gewählten Hensler stimmen. Gab er aber in der Hauptwahl seine Stimme statt dem Kandidaten Hensler einer ändern Magistratsperson, so musste er, wenn er seine Stimmkraft auf keinen Fall verloren gehen lassen wollte, eventuell einem Ersatzmann für den von ihm zum Bezirksammann gewählten Magistraten stimmen und subeventuell einem Ersatzmann für den möglicherweise in der Hauptwahl gewählten Statthalter Hensler. Aber auch derjenige Bürger, der den Statthalter zum Bezirksammann vorrücken lassen wollte, konnte, bezüglich der Ersatzwahl für den Statthalter, in Schwierigkeiten
geraten, soforn er sich nicht strikte an die Wahlparole der konservativen Partei hielt. Gab er nämlich in der Eventualwahl für den Statthalterposten seine Stimme statt dem, ausserhalb des

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Bezirksrates stehenden konservativen Kandidaten Heinrich Rickenbach, einem Mitglied des Bezirksrates, z. B. dem Säckelmeister, so musste er logischerweise noch eine weitere Eventualwahl, nämlich zum Ersatz des Säckelmeisters im Bezirksrat, vornehmen.

Nun wird freilich von den Rekursbeklagten eingewendet, alle diese Schwierigkeiten haben im vorliegenden Falle deshalb, nicht bestanden, weil jedermann darüber im klaren gewesen sei, dass an Stelle des in den Regierungsrat übergetretenen Bezii-ksammann Ochsner sein bisheriger Stellvertreter, Statthalter Hensler, als Bezirksammann gewählt werde, dass somit für ihn wieder ein Statthalter bestellt werden müsse und dass als solcher von der konservativen Partei Kantonsrat Heinrich Rickenbach portieri worden sei. Die Situation sei somit eine völlig abgeklärte gewesen, und zwar in dem Masse, dass das erweiterte Komitee der liberalen Partei mit der Nomination von Statthalter Hensler als Bezirksammann sich einverstanden, beziehungsweise diesbezüglich Freigabe der Stimme erklärt, gegen die gleichzeitige Wahl des Statthalters dagegen Protest erhoben habe mit der Androhung von Rekurs und Kassation. Allein es geht nun offenbar nicht an, der freien Entschliessung des einzelnen Wählers die Beschlüsse, Weisungen und Kundgebungen von einzelnen Parteikomitees zu substituieren und aus einer gegebenen politischen Lage Schlüsse darauf zu ziehen, ob und in welchem Umfange die Stimmberechtigten den Anleitungen ihrer Parteiführer und den Aufforderungen der Presse zu folgen bereit waren und tatsächlich gefolgt sind. Jeder einzelne Bürger hat vielmehr ein Anrecht darauf, dass die Vorschriften über Ausübung des Stimmund Wahlrechts und die Anordnungen der Behörden derart beschaffen seien, dass ihm die völlig freie Ausübung des Stimmrechts gewährleistet, und er in Bezug auf die einzelnen Wahlakte vor klare und unzweideutige Verhältnisse gestellt werde.

Die Anordnung einer oder mehrerer Ersatzwahlen, die mit der Hauptwahl in einem und demselben geheimen Wahlakt getroffen werden sollen, beeinträchtigt nun aber offenbar die freie Ausübung des Stimmrechts, indem sie den Wähler zwingt, bei der Stimmabgabe für die Eventualwahl auf ein von ihm nicht gewolltes Resultat der Hauptwahl Rücksicht zu nehmen, und weil sie die Stimmabgabe in einer Weise kompliziert, dass das Wahlresultat kaum
je den Willen der gesamten Wählerschaft unverfälscht und vollständig zum Ausdruck bringen kann.

Auch die Berufung auf die Einstimmigkeit der Wahlen ist im vorliegenden Falle nicht sachentscheidend, nachdem eine ganze

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Partei unter Hinweis auf die Unzulässigkeit der gleichzeitigen Vornahme von E ventualwählen zum voraus gegen den ganzen Wahlakt Protest eingelegt und sich offenbar an demselben nicht beteiligt hat.

Die angefochtene Wahlanordnung lässt sich aus der bisherigen an der Bezirksgemeinde geübten Praxis sehr wohl erklären; allein was hier, bei der offenen Abstimmung, ohne weiteres zulässig und gegeben erscheint, kann bei der geheimen Abstimmung «ine Quelle von Unklarheiten und Zweifeln werden und bedeutet gerade darum eine unzulässige Erschwerung der Ausübung des Wahlrechts.

Ist somit die angefochtene Wahlanordnung als unzulässig zu betrachten, so folgt daraus, dass sämtliche auf Grund der Wahlanordnung vollzogene Wahlen mit einem Mangel behaftet sind und aufgehoben werden könnten. Da nun aber die Rekurrenten selbst nicht die Kassierung des ganzen Wahlgeschäfts, sondern bloss der am 22. Januar erfolgten Ersatzwahl für Statthalter Hensler verlangen, so mag es dabei sein Bewenden haben.

Demgemäss wird erkannt: Die Beschwerden werden im Sinne der Erwägungen gutgeheissen und demgemäss die am 22. Januar 1911 erfolgte Wahl eines Statthalters des Bezirks Einsiedeln kassiert. Die Regierung des Kantons Schwyz wird eingeladen, dafür zu sorgen, dass zur Besetzung der Stelle eines Statthalters des Bezirks Einsiedeln eine Neuwahl angeordnet wird.

B e r n , den 10. Oktober 1911.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates.

Der Bundespräsident: Rucket.

Der II. Vizekanzler: Bonzon.

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Bundesratsbeschluss über die Beschwerde des Martin Gyr in Einsiedeln betreffend die Wahl eines Bezirksstatthalters des Bezirkes Einsiedeln. (Vom 10. Oktober 1911.)

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42

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18.10.1911

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325-335

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