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Bundesratsbeschluss ,über

die Beschwerde E. Gass-Kissling betreffend Verweigerung des Armenrechtes.

(Vom 15. Dezember 1910.Ì

Der schweizerische Bundes rat hat

über die Beschwerde von Emil G a s s - K i s s l i n g in Basel betreffend Verweigerung des Armenrechtes in einer Haftpflichtsache, auf den Bericht seines Justiz- und Polizeidepartements, f o l g e n d e n B e s c h l u s s gefasst: A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Der am 14. Oktober 1871 geborene Emil Gass-Kissling, der in Basel als Lokomotivführer das Industriegeleise des Gaswerkes und des Schlachthauses bediente, wurde am 21. Mai 1907 von einem losgekommenen Ochsen umgestossen und verletzt. Infolge dieses Unfalles klagte er, gestützt auf das Eisenbahnhaftpflichtgesetz, gegen den Kanton Baselstadt auf Bezahlung einer Entschädigung für temporäre Erwerbsunfähigkeit, sowie einer weitern Entschädigung für eine bleibende Erwerbseinbusse von 10 %, unter Vorbehalt der Nachklage. Das Apellationsgericht des Kantons Baselstadt, das in diesem Prozesse letztinstanzlich urteilte,

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kam in seinem Entscheide vom 9. Oktober 1908 zum Schlüsse, dass eine dauernde Verminderung der Arbeitsfähigkeit laut den vorliegenden ärztlichen Gutachten nicht vorhanden sei und spracli dem Kläger, gestützt auf das Expertengutachten des Prof. Wilma in Basel, für eine Beeinträchtigung von 20 % seiner Erwerbsfähigkeit während eines Jahres eine Entschädigung von Fr. 522.20 -f- Fr. 30 für Beschädigung seiner Uhr und Kleider zu. Ferner erkannte das Appellationsgericht: ,,Dem Kläger wird für den Fall des nachfolgenden Todes oder einer wesentlichen Verschlimmerung des Gesundheitszustandes während zwei Jahren von der Eröffnung des Urteils an die Nachklage vorbehalten.10 II.

Mit Schreiben vorn 29. August 1910 teilte Advokat Dr.

Brodtbeck in Basel dem Zivilgerichtspräsidenten in Basel mit, dass Gass-Kissling sich zurzeit in einem desolaten Zustande befinde und daher von dem ihm vorbehalteoen Nach klagerech t Gebrauch machen werde. Der behandelnde Arzt, Dr. Socin, befinde sich in den Ferien, weshalb er dessen Gutachten nicht beilegen könne. Gass-Kissling ersuche um sofortige Bewilligung des Armenrechtes und der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung, besonders aber auch um unverzügliche vorsorgliche Abhörung des Experten im früheren Prozess, Prof. Wilms, der von Basel fortzuziehen gedenke.

Auf dieses Schreiben antwortete die Zivilgerichtsschreiberei Basel am 31. August 1910: ,,In Sachen Emil Gass-Kissling betreffend Nachklage teilen wir Ihnen gemäss Präsidialverfügung vom 30. August mit, dass das Armenrecht bewilligt und Sie zum Armenanwalt bestellt worden sind, unter Vorbehalt der baldigen Einsendung eines ärztlichen Zeugnisses von Herrn Dr. Socin.

Anfrage an Prof. Wilms betreffend Zeitpunkt seiner Abreise ist von uns aus ergangen.a Mit Schreiben vom 20. September 1910 teilte indessen die Zivilgerichtsschreiberei dem Vertreter des E. Gass mit, dass mit Rücksicht auf das inzwischen eingegangene Gutachten von Prof.

Wilms das Armenrecht laut Präsidialverfügung nicht bewilligt werden könne. Arn 8. Oktober reichte der Vertreter des Klägers die Nachklage ein, wobei er abermals um Erteilung des Armenrechtes nachsuchte. Mit Schreiben vom 10. Oktober wurde er jedoch aufgefordert, bis zum 15. Oktober Fr. 200 als Vorschuss für die ordentlichen Gerichtskosten m hinterlegen, widrigenfalls die Klage aus dem Recht gewiesen würde.

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Mit Eingabe vom 11. Oktober 1910 Gass-Kissling beim Bundesrat. Er stellt das Zivilgericht von Baselstadt anzuhalten, Gass-Kissling das ursprünglich bewilligte Armenvcrbeiständung für seine Nachklage weiterhin zu gewähren1''.

beschwert sich Emil das Begehren, ,,es sei dem Nachkläger Emil.

Armenrecht und die vom 8. Oktober 1910

III.

Das Präsidium des Zivilgerichtes Basel vertritt in einem Bericht vom 20. Oktober 1.910 den Standpunkt, dass sich die Nachklage bei vorläufiger Prüfung der Akten als unbegründet herausstelle. Aus dem Gutachten des Prof. Wilms, dessen Abhörung der Rekurrent selbst verlangt habe, ergebe sich eher eine Besserung, jedoch aber keine Verschlimmerung des Zustandes des Rekurrenten. Die Äusserung des Arztes Dr. Socin, dass Gass zurzeit krank und '/AI seiner Arbeit als Lokomotivführer unfähig sei, könne nicht ins Gewicht fallen, da Dr. Socin den früheren Zustand des Klägers nicht gekannt habe. Es handle sich nicht darum, festzustellen, ob der heutige Zustand eine Verschlimmerung des Zustandes vor dem Un/all bedeute, sondern darum, ob eine Verschlimmerung gegenüber dem Zustand nach dem ersten Haf'tpflichtprozesse eingetreten sei.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: 1. Art. 10 des Bundesgesetzes betreffend die Haftpflicht der Eisenbahn- und Dampfschiffunternehmungen und der Post lautet : ,,Sind im Zeitpunkt der Urteilsfällung die Folgen einer Körperverletzung nicht mit hinreichender Sicherheit festzustellen, so kann der Richter ausnahmsweise für den Fall des nachfolgenden Todes oder einer wesentlichen Verschlimmerung des Gesundheitszustandes des Verletzten die Abänderung des Urteils vorbehalten.

Den gleichen Vorbehalt kann der Richter auch zugunsten der Eiscnbahnunternehmung machen für den Fall, dass sich die Folgen des Unfalles wesentlich günstiger gestalten sollten, als angenommen wurde."

Das Präsidium des Zivilgerichts Basel ist der Ansicht, dass die im Urteil des Appellationsgerichtes vom 9. Oktober 1909 vorbehaltene Abänderung des Urteils nur dann einzutreten habe, wenn der heutige Gesundheitszustand des Rekurrenten schlechter

109 ist als zurzeit der ersten Urteilsfällung. Der Bundesrat kann dieser Auffassung nicht beitreten. Wenn Art. 10, Absatz l, leg.

cit., dem Richter, falls ,,im Z e i t p u n k t der U r t e i l s f ä l l u n g d i e F o l g e n der K ö r p e r v e r l e t z u n g n i c h t m i t g e n ü g e n d e r S i c h e r h e i t f e s t z u s t e l l e n sind a , das Recht einräumt, die Abänderung des Urteils vorzubehalten, so können die Worte ,,im Falle einer wesentlichen Verschlimmerung des Gesundheitszustandes des Verletzten"1 schlechterdings nuv dabin interpretiert werden, dass der Verletzte die Abänderung des Urteils dann solle beantragen können, wenn die Folgen des Unfalles sich wesentlich ungünstiger gestalten, als der Richter in seinem Entscheide annahm. Im vorliegenden Fall hat das Appellationsgericht angenommen, die Folgen des Unfalles seien derart, dass der Verletzte nach Ablauf eines Jahres seit der Urteilsfällung wieder voll «erwerbsfähig sein werde. Wenn nun das nicht der Fall sein sollte, wenn der Verletzte tatsächlich nach zwei Jahren noch nicht voll erwerbsfähig ist, so haben sich die Folgen des Unfalles, die der Richter seinerzeit nicht mit hinreichender Sicherheit feststellen konnte, wesentlich ungünstiger gestaltet, als der Richter annahm, und es ist demnach der Verletzte berechtigt, die Abänderung des Urteils zu beantragen.

Lässt schon die ratio legis eine andere Interpretation als die oben gegebene schlechterdings nicht zu, so wird diese Auslegung zudem noch unterstützt durch den Wortlaut des zweiten Absatzes des Art. 10, der das Korrelat zu Absatz l bildet, und bestimmt, dass der Richter den gleichen Vorbehalt auch zugunsten der Eisenbahnunternehmung machen kann ,,für den Fall, dass sich die Folgen des Unfalles wesentlich günstiger gestalten sollten, als angenommen wurde."'

Die Interpretation des Präsidiums des Zivilgerichtes Basel, die, ohne durch den Wortlaut des Gesetzes dazu gezwungen zu sein, an Stelle der vom Gericht festgesetzten mutmasslicheu Folgen des Unfalles den zufällig im Augenblick der Urteilsfällung vorhandenen Zustand des Verletzten zum Ausgangspunkt für die Frage der Abänderungsmöglichkeit des Urteils macht, führt somit nicht nur mitunter zu unbilligen, vom Gesetz offenkundig nicht gewollten Härten, sondern sie gerät in dem korrelaten, und daher zweifelsohne nach
den gleichen Rechtsgrundsätzen zu beurteilenden Falle des Absatzes 2 auch mit dem klaren Wortlaut des Gesetzes in Widerspruch.

2. Laut Art. 22, Absatz 2, des Bundesgesetzes betreffend die Haftpflicht der Eisenbahnen und Dampfschiffunternehmungen

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und der Post vom 28. März 1905 haben die Kantone dafür zu sorgen, dass den bedürftigen Personen auf ihr Verlangen, wenn die Klage nach vorläufiger Prüfung sich nicht zum voraus als unbegründet herausstellt, die Wohltat des unentgeltlichen Rechtsbeistandes gewährt und Kautionen, Expertenkosten, Gerichtsgebühren und Stempeltaxen erlassen werden.

Nach der Aktenlage und den rechtlichen Ausführungen sub I.

kann somit das Armenrecht im vorliegenden Fall nur dann wegen offenbarer Aussichtslosigkeit der Nachklage verweigert werden, wenn feststeht, dass der Rekurrent zurzeit voll erwerbsfähig ist.

Prof. Wilms nimmt in seinem Gutachten an, es sei dies der Fall.

Allein es liegen Tatsachen vor, die geeignet sind, dieses Gutachten in seiner Überzeugungskraft abzuschwächen. So vor allem die Erklärung des behandelnden Arztes, Dr. Socin, dass der Rekurrent krank und zur Ausübung seines Berufes als Lokomotivführer unfähig sei. Sodann weiter der Umstand, dass das Gaswerk den Rekurrenten trotz dem Gutachten Wilms weiter behandeln liess und das Gutachten eines weitern Arztes (Dr. Iselin) einholte.

Unter diesen Umständen kann die Frage, ob der Rekurrent heute voll erwerbsfähig ist, eventuell inwieweit seine Erwerbsfähigkeit eine beschränkte ist, keineswegs als abgeklärt gelten.

Demgemäss wird e r k a n n t: Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Das Zivilgericht Baselstadt wird eingeladen, dem Rekurrenten für seine Nachklage das Armenrecht im Sinne des Art. 22, Absatz 2, des Bundesgesetzes betreffend die Haftpflicht der Eisenbahnen etc. zu gewähren.

B e r n , den 15, Dezember 1910.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Comtesse.

Der I. Vizekanzler : David.

-.^i^g.-

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Bundesratsbeschluss ,über die Beschwerde E. Gass-Kissling betreffend Verweigerung des Armenrechtes. (Vom 15. Dezember 1910.Ì

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