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Bericht der

Redaktionskommission des Obligationenrechtes an die Bundesversammlung.

(Vom 14. März 1911.)

Tit.

Für die Revision des Obligationenrechtes sind der Bundesversammlung vom Bundesrate zwei Vorlagen unterbreitet worden: die erste mit Botschaft vom 3. März 1905, die zweite nach Erledigung des Zivilgesetzbuches und Durchberatung der ersten Vorlage durch die grosse Expertenkommission am 1. Juni 1909.

Die Bundesversammlung hat die Beratung des Gesetzes auf Grundlage des zweiten Entwurfes vom September 1909 bis zum November 1910 durchgeführt, die letzte Differenz zwischen den beiden Räten wurde am 4. November 1910 erledigt. Da aber das Gesetz, um gemäss den Beschlüssen der Räte von 1907 zugleich mit dem Zivilgesetzbuch ia Kraft gesetzt werden zu können, jedenfalls auf die Frühjahrssession der Bundesversammlung zur Schlussabstimmung bereit gemacht werden musste, so sah sich
Die Redaktionskommission war für diese Arbeit in gleicher Weise zusammengesetzt wie für das Zivilgesetzbuch, d. h. nach

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den Vorschriften des Bundesgesetzes über den Geschäftsverkehr zwischen Nationalrat, Ständerat und Bundesrat, Art. 9, und nicht nach Vorschrift der Zusatzartikel zum Geschäftsreglement vom 21./22. Juni 1877, ein Verfahren, das bereits in dem Bericht der Redaktionskommission des Zivilgesetzbuches vom 20. November 1907 begründet und von der Bundesversammlung stillschweigend gutgeheissen worden ist. Mitglieder der Kommission waren folgende Herren: Nationalrat Buhlmann und Ständerat Hoffmann als Präsidenten der Kommissionen der beiden Räte, Professor Huber und Professor Rössel, sowie Nationalrat Rütty als Referenten im Nationalrat, der Übersetzer im Ständerat Krentel (die Stelle des Übersetzers im Nationalrat war zurzeit nicht besetzt), Bundeskanzler Schatzmann und der zweite Bundes^ Vizekanzler Bonzon.

An Materialien lagen der Kommission, ausser den redaktionellen Beschlüssen der Räte selbst, die Beiträge vor, die schon zum Texte des revidierten Obligationenrechtes auf der Grundlage des ersten Entwurfes des Bundesrates namentlich von seiten der Mitglieder der grossen Expertenkommission eingereicht worden, und sodann weitere Vorschläge und Anregungen, die von Mitgliedern der Kommissionen der beiden Räte und von anderer Seite eingelaufen waren, wobei wir denselben Herren Dank schulden, die bereits in dem Bericht vom 20. November 1907 genannt sind. War auch bei dem besonderen Charakter der Revision des Bundesgesetzes von 1881, als schon bestehenden Rechtes, die redaktionelle Durchsicht weit mehr gebunden alsseinerzeit beim Zivilgesetzbuch, in dem, wo sich nicht eine Abänderung aus triftigen Gründen empfohlen hat, im Interesse der Rechtssicherheit und der Festhaltung der bisherigen Praxis an dem überlieferten Text nichts geändert werden wollte, so hatte sich doch aus den genannten Quellen ein erhebliches Material gesammelt, das von der Redaktionskommission gewissenhaft geprüft und berücksichtigt worden ist.

Die Durchführung der Arbeit erfolgte nach denselben Grundsätzen, wie beim Zivilgesetzbuch: Es handelte sich in den meisten Fällen um eine rein sprachliche Durchsicht und Richtigstellung, wie namentlich um die Anpassung an die Terminologie des Zivilgesetzbuches und um Abänderung der Redeweise, zum' Zweck der Herstellung eines übereinstimmenden Charakters der Sprachedes Gesetzes. Sodann waren die
Marginalien, in Übereinstimmung mit dem Zivilgesetzbuch, angefügt worden und erheischten eine nochmalige Durchsicht und Prüfung. Damit verbunden erwiessich in einigen Punkten . auch die Reihenfolge der Artikel als-

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einer Änderung bedürftig. Zahlreich waren dabei diese rein sprachlichen Änderungen im französischen Text, wo mehr als im> deutschen für das Obligationenrecht eine Übereinstimmung mit.

der Sprache des Zivilgesetzbuches hergestellt werden musste.

Im fernem handelte es sich an einigen Stellen um die Ausfüllung von Lücken, die während der Beratungen in den Räten nicht vorgenommen werden konnte und doch gegenüber den Beschlüssen der Räte zur Ausgleichung der angenommenen Vorschriften sich als wünschenswert erwies. Endlich zeigten sich in einigen wenigen Bestimmungen auch Unebenheiten in der Gestalt,, dass die gefassten Beschlüsse dem Grundgedanken, der ihnen: zugrunde lag, nicht entsprachen oder ihn nur für einzelne Fälle kasuistisch zum Ausdruck brachten, wo dann die Kommission esals ihre Pflicht erachtete, die Redaktion so zu treffen, dass der wirkliche Sinn der Beschlüsse direkt ausgesprochen ist. Als Beispiel hierfür sei auf den Art. 14, Abs. 3, verwiesen, betreffend die Unterschrift der Blinden beim Vertragsabschluss in schriftlicher Form..

Endlich wurde der Übereinstimmung der Texte die gleiche Aufmerksamkeit zugewendet, wie beim Zivilgesetzbuch, worüber wir auf die in dem Bericht der Redaktionskommission des Zivilgesetzbuches, Seite 4, enthaltenen Ausführungen verweisen können..

Diese ganze Arbeit betraf zunächst nur den deutschen und den französischen Text. Zur Herstellung des italienischen Textes hatte schon im Jahre 1905 das eidgenössische Justizdepartement', den Herren alt Kantonsgerichts-Vizepräsident Bertoni, Staatsrat Gabuzzi und alt Staatsrat Colombi Auftrag gegeben. Diese Herren' verfolgten dann auch die Änderungen, die die Vorlage in den folgenden Jahren erfahren hat. Zu den Beratungen der Redaktionskommission vom September 1910 wurden die Herren Bertoni,, Gabuzzi und Nationalrat Motta eingeladen. Im Anschluss an die Arbeit der Redaktionskommission hat Herr Gabuzzi die Durchsicht des ganzen Textes übernommen, und die in Art. 12 des Bundesgesetzes über den Geschäftsverkehr vorgesehene Kommission für deu italienischen Text hat endlich die ganze Vorlage vom 2. März, bis 9. März durchberaten. Sie bestand aus den Herren Staatsrat und Ständerat Gabuzzi, Nationalrat Motta, Bundeskanzler Schatzmann, Bertoni und Professor Huber.

Neben der Feststellung des Gesetzes in den drei Texten hatte
sich die Redaktionskommission auch mit der Frage zu befassen, in welcher Weise das revidierte Obligationenrecht und der1 unrevidierte Teil des Bundesgesetzes von 1881 mit dem Zivilgesetzbuch in Zusammenhang gebracht werden sollen. Aus dem

«48 Gang der Beratungen ergaben sich diesfalls verschiedene Vorschläge, unter denen eine Auswahl getroffen werden musste.

Nach der Vorlage des Bundesrates vom 3. März 1905 war in Aussicht genommen, dass das ganze Obligationenrecht revidiert und dem Zivilgesetzbuch angefügt werden solle, mit Ausnahme ·der Titel über die Aktiengesellschaft, die Genossenschaft und den Wechsel, welche, in der Gestalt der Titel des Obligationenrechtes, vorläufig unverändert als Spezialgesetze weiterbestehen sollten.

Der schweizerische Juristenverein hatte sich mit diesem Verfahren in seiner Jahresversammlung von 1900 ausdrücklich einverstanden -erklärt, und in demselben Sinne wurde auch noch bei der Beratung des Zivilgesetzbuches das Obligationenrecht als fünfter Teil des Zivilgesetzbuches in Aussicht genommen und im Hinblick darauf der Schlusstitel besonders numeriert (siehe Bericht der Redaktionskommission des Zivilgesetzbuches, Seite 5). Diesen Plan brachten nun aber die Beratungen der grossen Expertenkommission, deren Mitwirkung von der Bundesversammlung im ·Jahre 1907 beschlossen worden war, ins Wanken. Die Revision des bestehenden Gesetzes wurde unter der Arbeit dieser Kom-mission eine viel intensivere, als ursprünglich beabsichtigt worden war. Es ergaben sich in einzelnen Abschnitten des Gesetzes Eingriffe und Neuerungen, die einen Einfluss auch auf die als Spezialgesetze zurückgelegten Partien ausüben mussten und namentlich «die Beratungen so verzögerten, dass eine Erledigung der ganzen Arbeit auf den in Aussicht genommenen Termin bei dieser Aus·dehnung der Revision als unmöglich erschien. So gelangte die Expertenkommission zu dem Beschlüsse, die Revision des Obligationenrechtes mit dem Titel über die einfache Gesellschaft abzu·schliessen und den ganzen übrigen Teil des Obligationenrechtes, von Art. 552 an, vorläufig unverändert zu lassen. Der Bundesrat ·stimmte diesem Vorschlage zu, und die Vorlage vom 1. Juni 1909 ·enthielt deshalb nur noch die Titel des bisherigen Bundesgesetzes bis zum Titel über die einfache Gesellschaft, während alles andere, .als noch nicht revidiert, von der Vorlage nicht berührt wurde.

Damit war aber über das Schicksal des nicht revidierten Teils ·des Obligationenrechtes noch nicht entschieden, und zu dessen Bestimmung boten sich nun verschiedene Wege dar: Das erste Verfahren ist
dasjenige, das der Expertenkommission vorgeschwebt hatte, als sie den angeführten Beschluss fasste: Es .-sollte der nicht revidierte Teil des Gesetzes als Obligationenrecht und Spezialgesetz in der bisherigen Gestalt fortbestehen. Dagegen wurde mit Recht in den Kommissionen der Räte geltend gemacht, dass damit zwei Obligationenrechte geschaffen würden, das eine

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(revidierte) als Bestandteil des Zivilgesetzbuches, das andere (unrevidierte) als Rest des alten Obligationenrechtes, und es wurde befürchtet, dass hieraus sich grosse Unsicherheit in dem Zitieren der Artikel ergeben müsse.

Infolge dieses Bedenkens bekannte sich die Kommission des Nationalrates zu einem zweiten Verfahren, das darin bestehen sollte, dass dem Zivilgesetzbuch mit dem revidierten auch das nichtrevidierte Obligationenrecht angefügt werde, mit fortlaufender Artikelzählung, wobei zur Orientierung den neuen Artikelzahlen des nichtrevidierten Textes diejenigen des bisherigen Gesetzes in Klammer beigefügt worden wären. Allein auch dieser Weg befriedigte auf die Dauer nicht, namentlich nicht, weil die Artikel des nichtrevidierten Teils auf diese Weise für die kurze Zeit bis zu ihrer Revision eigene, neue Nummern erhalten hätten, die mit der Revision jedenfalls wieder hätten geändert werden müssen.

So gelangte man zu einem dritten Verfahren, das nun die Redaktionskommission aufgenommen hat und Ihnen vorlegt. Es wurde möglich, nachdem es gelungen war, die Artikelzahl des revidierten Obligationenrechtes auf die Zahl der durch die Revision ersetzten Artikel des bisherigen Gesetzes zu reduzieren. Nach diesem dritten nun vorliegenden Weg wird das Obligationenrecht neu numeriert, beginnt mit Art. l, und die nichtrevidierten Artikel behalten ihre bisherige Numerierung ohne jede Änderung und ohne jeden Zusatz. Dabei soll es verbleiben, bis auch der Rest des Obligationenrechts, was nicht allzulange auf sich wird warten lassen, zur Revision gebracht ist, und es wird dann darüber endgültig zu entscheiden sein, ob das ganze Obligationenrecht in fortlaufender Numerierung der Artikel dem Zivilgesetzbuch angeschlossen oder die besondere Numerierung für das ganze Obligationenrecht beibehalten werden soll. Für das letztere sprechen nicht nur heute die besonderen Umstände, auf die wir hingewiesen haben und die es möglich machen, eine Veränderung der Artikel des nicht revidierten Obligationenrechtes zu vermeiden, sondern auch allgemeine Erwägungen. Das Obligationenrecht bildet, trotz der umfassenderen Revision, die es gegenüber der ersten Vorlage des Bundesrates erfahren hat, in seinen Grundzügen doch ein Gesetz, das um ein Vierteljahrhundert älter ist als das Zivilgesetzbuch. Es ist ein Gesetz, das seinen
eigenen Ursprung auch für die Zukunft aufweisen und nie vollständig sich mit dem Zivilgesetzbuche verschmelzen wird. Es ist ein Gesetz, das sich eingelebt hat, dessen besondere Zitierung zur Übung Bundesblatt.

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geworden ist. Das Zivilgesetzbuch wird deshalb nicht unvollständig, wenn die Artikel des Obligationenrechtes besonders gezählt werden. Die Zitierung aber wird sich bei Artikeln mit den gleichen Zahlen leicht in der bisherigen Weise damit unterscheiden, dass das Zivilgesetzbuch mit ZGB oder ZG, das Obligationenrecht aber mit OR angeführt wird, ein Verfahren, das sich an die bisherige Zitiermethode anschliesson kann und dazu den Vorteil der Vermeidung hoher Artikelzahlen aufweist. Auch darf für dieses Verfahren darauf hingewiesen werden, dass unser Obligationenrecht das Handelsrecht mit in sich schliesst. Wenn also die uns umgebenden Staaten in ihren Kodifikationen neben dem bürgerlichen Recht mit Einschluss des Obligationenrechtes noch ein besonderes Handelsrecht besitzen, so besteht dort eine Doppelzählung von mindestens ebenso eingreifender Art, wie die Vorlage der Redaktionskommission sie aufweist, nur mit dem Unterschied, dass die Scheidung des Stoffes dort auf andere Weise vollzogen ist als bei uns. Im ganzen finden wir dergestalt, dass die praktischen Vorteile dieses dritten Weges gegenüber den ändern, von denen die Rede war, überwiegen, und die Redaktionskommission hat ihn um so eher betreten, als damit ein geschichtlich gerechtfertigter Zustand bestätigt und dem bisherigen Obligationenrecht gegenüber gewissermassen Pietätspflicht erfüllt wird.

Auch für die Arbeit am revidierten Obligationenrecht nimmt die Redaktionskommission für sich in Anspruch, dass sie sich strenge an die Aufgabe als Redaktionskommission gehalten hat.

Der nichtrevidierte Teil des Obligationenrechts ist auch redaktionell vollständig unverändert geblieben, mit Ausnahme der wenigen Fälle, wo zitierte Artikel mit ändern Ziffern eingesetzt werden mussten, weil sie im revidierten Obligationenrecht andere Zahlen als bishin tragen.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung !

B e r n , den 14. März

1911.

Namens der Redaktionskommission, Der Präsident:

Bühlmaim.

-Sc-0*g.-

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Bericht der Redaktionskommission des Obligationenrechtes an die Bundesversammlung.

(Vom 14. März 1911.)

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22.03.1911

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