10.111 Aussenpolitischer Bericht 2010 vom 10. Dezember 2010

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Wir unterbreiten Ihnen den Aussenpolitischen Bericht 2010 und ersuchen Sie, davon Kenntnis zu nehmen.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

10. Dezember 2010

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Doris Leuthard Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2010-1525

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Übersicht Der Aussenpolitische Bericht 2010 gibt einen Gesamtüberblick über die Schweizer Aussenpolitik. Mit ihrem internationalen Engagement wahrt die Schweiz ihre Interessen gegenüber dem Ausland und arbeitet an Lösungen mit für die regionalen und globalen Herausforderungen unserer Zeit. Der Bericht zeigt auf, wie die Schweiz im vernetzten internationalen Umfeld Einfluss nehmen kann und welche Instrumente ihr dafür zur Verfügung stehen. Er gibt zudem Rechenschaft über die wichtigsten aussenpolitischen Aktivitäten zwischen Mitte 2009 und Mitte 2010.

Entsprechend dem Postulat der Aussenpolitischen Kommission des Ständerates (06.3417), das eine Zusammenfassung aller periodisch erscheinenden Berichte zur Aussenpolitik fordert, umfasst der vorliegende Bericht einen Anhang zu den Aktivitäten der Schweiz im Europarat sowie einen Anhang zur schweizerischen Menschenrechtsaussenpolitik.

Herausforderungen und Entwicklungstendenzen (Ziff. 1) Die globalen Entwicklungen und Herausforderungen, die der Bundesrat im letztjährigen aussenpolitischen Bericht behandelt hat, haben sich bestätigt und stellten auch im Berichtsjahr die Leitplanken aussenpolitischen Wirkens dar: ­

Die wirtschaftliche und politische Gewichtsverschiebung in Richtung Asien hat sich ebenso fortgesetzt wie die regionalen Integrationsbestrebungen in Europa und auf anderen Kontinenten.

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Die Komplexität und die gegenseitigen Interdependenzen globaler Krisen, nicht nur wirtschaftlicher und finanzwirtschaftlicher Natur, sondern auch in Bereichen wie Klima, Energie, Gesundheit und Bildung, nahmen weiter zu, ebenso die kontroversen Diskussionen um Lösungsansätze in diesem Zusammenhang.

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Globale Umweltveränderungen beeinflussen die natürlichen Lebensgrundlagen eines Grossteils der Menschheit und verschärfen die Armut in vielen Weltregionen. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, braucht es wirksame Regelwerke und handlungsfähige internationale Organisationen.

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Schnell wachsenden Volkswirtschaften wie diejenigen Chinas, Brasiliens oder Indiens spielen für die Entwicklung in der jeweiligen Weltregion eine Schlüsselrolle.

Im Zeichen dieser Herausforderungen verändern sich auch die Arbeits- und Kommunikationsformen der Aussenpolitik. Da zunehmend mehr Themen in multilateralen Foren diskutiert werden, verwischen sich die Übergänge zwischen bilateraler und multilateraler Diplomatie.

Die Schweiz hat in mancher Hinsicht erfolgreich auf diese Trends reagiert. Sie hat sich als Akteurin in die internationale Gemeinschaft eingebracht und ihr Beziehungsnetz weiter gefestigt. Sie hat in verschiedenen Weltregionen an der Lösung bestehender Herausforderungen gearbeitet und damit ihr aussenpolitisches Enga-

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gement, das auf einer umfassenden Politik der bilateralen und multilateralen Interessenwahrung und Einflussnahme beruht, weiter verstärkt.

Geografische Schwerpunkte der Schweizer Aussenpolitik (Ziff. 2) Die Schweiz verfolgt in ihren diplomatischen Beziehungen eine Politik der Universalität: Sie bemüht sich um enge Kontakte mit allen Staaten. Dieser seit Jahrzehnten praktizierte Ansatz erlaubt es der Schweiz, die weder der Europäischen Union noch einem Militärbündnis angehört, in der ganzen Welt und in allen Themenbereichen ihre Interessen zu wahren.

Universalität bedeutet allerdings nicht, dass die Schweiz keine Prioritäten hätte. Sie misst vielmehr ihren strategischen Partnern und ihren Nachbarländern besondere Bedeutung bei. Des Weiteren berücksichtigt die Schweiz die derzeitigen globalen Veränderungen, namentlich die zunehmende Bedeutung der Schwellenländer, indem sie ihre Aussenpolitik entsprechend ausrichtet und die Verteilung ihrer personellen und finanziellen Ressourcen dieser Ausrichtung anpasst.

Europa Als Land, das geografisch im Zentrum des europäischen Kontinents liegt, ist die Schweiz aufs Engste mit den Entwicklungen Europas verbunden.

Die Europäische Union (EU) reagiert auf die globalen Machtverschiebungen in erster Linie mit der Intensivierung ihrer Integrationsbemühungen. Sie hat in den letzten Jahren kontinuierlich ihre Kapazitäten in den Bereichen Aussenpolitik, Sicherheit und Verteidigung ausgebaut. Zudem wird immer deutlicher, dass sie bestrebt ist, mit der Entwicklung neuer und allgemein akzeptierter Rechtsnormen international Massstäbe zu setzen.

Für die Schweiz ist es angesichts ihrer engen Vernetzung mit der EU entscheidend, dass sie die integrationspolitische Dynamik der Union genau verfolgt und sich entsprechend positioniert. Gleichzeitig muss sie das ihr zusätzlich zur Verfügung stehende aussenpolitische Instrumentarium nutzen. Dazu dienen ihr Organisationen wie der Europarat, die OSZE oder die EFTA, in denen sie Mitglied ist. Dazu dienen ihr auch die engen und gut ausgebauten bilateralen Beziehungen zu den europäischen Ländern.

Die übrigen Weltregionen Vor dem Hintergrund der sich abspielenden Veränderungen in den globalen Kräfteverhältnissen und des wachsenden Selbstbewusstseins aufstrebender Schwellenländer erhalten die Beziehungen der Schweiz zu aussereuropäischen
Staaten künftig noch zusätzlichen Stellenwert. Auf der Basis der Leitlinien, die der Bundesrat 2005 verabschiedet hat, wurden die Beziehungen zu wichtigen aussereuropäischen Partnerländern auch im Berichtsjahr weiter intensiviert. Dabei stand namentlich die Zusammenarbeit mit den USA und Brasilien auf dem amerikanischen Kontinent, mit China, Indien und Japan in Asien sowie mit Südafrika im Vordergrund.

Es ist im Interesse der Schweiz, auch künftig intensive und universell ausgerichtete bilaterale Beziehungen zu pflegen. Ein wichtiges Instrument dafür ist das Vertre-

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tungsnetz, über das die schweizerische Aussenpolitik verfügt. Dieses muss den unterschiedlichen Ansprüchen der für das Land wichtigen Politikbereiche genügen.

Es muss daher entsprechend flexibel ausgestaltet sein, um an Veränderungen des internationalen Umfeldes angepasst werden zu können.

Globale und regionale Organisationen und Foren (Ziff. 3) Im Zuge der Globalisierung haben sich multilaterale Organisationen zunehmend zu Foren entwickelt, in denen Lösungsansätze für globale Herausforderungen formuliert und diskutiert werden. Dabei hat das UNO-System bei politischen Fragen in der Regel die Themenhoheit, während für wirtschaftliche Angelegenheiten die globalen Impulse im Wesentlichen von der G-20 ausgehen.

Vor diesem Hintergrund sind multilaterale Organisationen zunehmend wichtige Instrumente der schweizerischen Aussenpolitik. Sie erlauben es, in einem strukturierten Umfeld Themen von globalem und regionalem Interesse zu diskutieren und nach Lösungen zu suchen, die von einer grösstmöglichen Anzahl von Ländern mitgetragen werden.

Unter dem Eindruck der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt sich die Wichtigkeit internationaler Gremien, die sich mit globalen Regulierungsfragen im weltwirtschaftlichen Umfeld befassen. In diesem Bereich hat die Schweiz ein besonderes Interesse, sich einzubringen und auf Entwicklungen und Entscheide Einfluss zu nehmen. Ebenso wichtig ist die Einflussnahme in den Organisationen des UNOSystems, wo Entscheide getroffen werden, die die Schweiz und ihre aussenpolitischen Interessen massgeblich betreffen. Daneben gilt es, durch das Mitwirken bei Organisationen regionaler und thematischer Ausrichtung spezifischen Anliegen der Schweiz Geltung zu verschaffen und das aussenpolitische Kontaktnetz zu erweitern.

In diesem Sinn ist es wichtig, dass sich die Schweiz noch vermehrt in den multilateralen Dialog einbringt, besonders in Foren, die der internationalen Meinungsbildung dienen. Dadurch schafft sie sich zusätzliche Optionen der Einflussnahme in Bereichen, die für ihre Aussenpolitik von Bedeutung sind.

Wichtige Themen der Schweizer Aussenpolitik (Ziff. 4) Die zunehmende Internationalisierung und Verknüpfung thematischer Politikfelder macht es nötig, die zahlreichen sektoriellen Politikbereiche aussenpolitisch eng aufeinander abzustimmen. Die meisten aussenpolitischen
Probleme in der heutigen Welt übersteigen die Möglichkeiten eines einzelnen Staates und müssen daher im Verbund mit anderen und gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft angegangen werden. Der vorliegende Bericht zeigt in den verschiedenen Themenbereichen die Herausforderungen und Lösungsansätze der Schweizer Aussenpolitik auf.

Internationale Finanz- und Wirtschaftspolitik Durch entschiedenes wirtschaftspolitisches Handeln während der vergangenen beiden Jahre konnte die globale Finanz- und Wirtschaftskrise im Verlauf des Jahres 2009 erfolgreich eingedämmt werden. Die Schweiz hat die Krise verhältnismässig gut gemeistert. Im Bereich des grenzüberschreitenden Vermögensverwaltungsgeschäfts wurden allerdings Anpassungen nötig, und es ist davon auszugehen, dass der

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internationale Druck in diesem Zusammenhang weiter anhält. Das Kapitel legt dar, wie sich die Schweiz aussenpolitisch zur Überwindung der Krise engagiert hat und welche Mittel sie gegen den Missbrauch ihres Finanzplatzes einsetzt.

Menschliche Sicherheit und Migration Seit den 1990er-Jahren hat sich international ein erweiterter Begriff von «menschlicher Sicherheit» durchgesetzt. Gemeint ist dabei die Sicherheit des Individuums und sein Bedürfnis, ohne Angst leben zu können. Die Schweiz engagiert sich in diesem Rahmen unter anderem durch ihre guten Dienste, die Vermittlung in Konflikten, die Konfliktprävention, den Kampf gegen diverse Arten von Waffen und die Stärkung der Menschenrechte. Die Herausforderungen in diesem Zusammenhang haben sich in den letzten Jahren vervielfacht und globale Dimensionen angenommen. Dies gilt auch für das Thema Migration, das heute weltweit zu den politischen und gesellschaftlichen Schlüsselfragen zählt. Aus diesem Grund wurde vorliegendem Bericht ein eigenes Migrationskapitel angegliedert (Ziff. 4.3.).

Entwicklungszusammenarbeit Die weltwirtschaftliche Entwicklung ist unter den Bedingungen der Globalisierung durch vielfältige Ungleichheiten sowohl zwischen als auch innerhalb der Gesellschaften geprägt. Die Industrieländer versuchen, ihren weltwirtschaftlichen Besitzstand zu wahren, während namentlich bei schnell wachsenden Schwellenländern das Interesse an einer rasch aufholenden Entwicklung im Vordergrund steht. Die internationale Finanzkrise und ihre unmittelbaren Folgen auf die öffentlichen Haushalte vieler Industrieländer werden Auswirkungen auf die Entwicklungsländer haben. Die Binnen- und Aussenschulden müssen unter Kontrolle gehalten und die lokalen Finanzmärkte weiter entwickelt werden, um von den internationalen Kapitalmärkten unabhängiger zu werden. Mit dem Bundesbeschluss über die Weiterführung der technischen Zusammenarbeit und der Finanzhilfe zugunsten von Entwicklungsländern, den das Parlament im Dezember 2008 verabschiedet hat, wurde in der Entwicklungspolitik des Bundes zum ersten Mal eine einheitliche entwicklungspolitische Strategie aller involvierten Bundesstellen erarbeitet. Vor diesem Hintergrund zeigt der Aussenpolitische Bericht 2010 den Beitrag der Schweiz zur Lösung globaler entwicklungspolitischer Probleme auf. Dabei geht er auch auf die
Diskussion um die Neuverteilung der Stimmrechte zugunsten von Entwicklungs- und Transitionsländern in den Bretton-Woods-Institutionen ein.

Weitere thematische Schwerpunkte Der Bericht behandelt überdies eine Reihe von zusätzlichen Themen, die für die Schweiz aussenpolitisch wichtig sind und deren internationale Dimension von zunehmender Bedeutung ist. Dazu gehören die Abrüstungs- und Non-Proliferationspolitik und das aussenpolitische Engagement der Schweiz in den Bereichen Umwelt, Energie, Gesundheit sowie Bildung, Forschung und Innovation. Das Kapitel wird abgerundet durch einen Absatz zur schweizerischen Neutralitätspolitik.

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Konsularische Aufgaben (Ziff. 5) Die konsularischen Dienstleistungen, die durch die schweizerischen Aussenvertretungen erbracht werden, sind insgesamt volumenmässig weiter im Zunehmen begriffen. Mit der Umsetzung des Schengen-Abkommens sind im Bereich der Visa-Anträge zwar Rückgänge zu verzeichnen, die Verfahrensabläufe wurden allerdings komplexer. Im Bereich des konsularischen Schutzes, d.h. bei der Hilfeleistung für Schweizerinnen und Schweizer, die im Ausland in Notlagen geraten, blieb die Unterstützungsleistung der Aussenvertretungen im Berichtsjahr konstant hoch. Die Herausforderung besteht hierbei in der Sicherstellung von Hilfeleistungen weltweit und rund um die Uhr. Diesem Umstand sollte künftig vermehrt Rechnung getragen werden, weshalb das EDA die Schaffung eines 24-Stunden-Bürgerservice prüft. Im Bereich des Krisenmanagements schliesslich hat das EDA in den letzten Jahren sein Dispositiv modernisiert und professionalisiert. Es wurde eine Krisenzelle geschaffen mit einem Pool von Mitarbeitenden, die im Krisenfall die Vertretungen im Ausland temporär verstärken können.

Aussenpolitik und Öffentlichkeit (Ziff. 6) In der globalen Informationsgesellschaft spielt die Kommunikation im Ausland eine immer grössere Rolle für die Interessenwahrung eines Landes. Aus diesem Grund enthält der vorliegende Bericht ein eigenes Kapitel zu aussenpolitischen Kommunikationsfragen. Die grossen kommunikativen Herausforderungen im Berichtsjahr drehten sich um das Amtshilfeverfahren im Fall UBS, um die Minarett-Abstimmung und um die bilateralen Probleme mit Libyen. Generell verfügt die Schweiz international über ein gutes Image, das trotz der erwähnten Kontroversen insgesamt stabil blieb. Dafür verantwortlich sind nicht zuletzt die Bemühungen um mediale Vermittlung positiv besetzter Themen wie das Engagement der Schweiz zugunsten einer Annäherung von Armenien und der Türkei oder der Schweizer Beitrag zur EU-Osterweiterung.

Führung der Aussenpolitik (Ziff. 7) Die wirtschaftlichen und politischen Folgen der Globalisierung verändern die Rahmenbedingungen für die Aussenpolitik. Die internationalen Herausforderungen sind von zunehmender Komplexität und gegenseitiger Interdependenz geprägt. In diesem Umfeld ist es wichtig, dass die Schweiz beim Einsatz ihrer Mittel kohärente Strategien entwickelt, um bestmögliche
Wirkung zu erzielen. Das EDA ist daher bestrebt, die verfügbaren personellen und finanziellen Ressourcen effizient einzusetzen und seine Strukturen regelmässig den wechselnden Gegebenheiten anzupassen.

Vor diesem Hintergrund ist eine Reorganisation des Departements im Gang, die auf eine verstärkt wirkungsorientierte Verwaltungsführung hinzielt. Neben Anpassungen bei der DEZA, bei der Direktion für Ressourcen und beim Generalsekretariat wird angesichts des steigenden Bedürfnisses nach konsularischen Dienstleistungen das EDA die Schaffung einer Konsulardirektion prüfen.

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Schlussfolgerungen: Interessenwahrung durch Einflussnahme (Ziff. 8) Der Aussenpolitische Bericht 2010 zeigt auf, wo sich für die Schweiz im internationalen Umfeld Möglichkeiten der Einflussnahme ergeben und wie diese im Berichtsjahr genutzt wurden. Eine der grossen Herausforderungen in diesem Zusammenhang besteht darin, die nationale Selbstbestimmung mit der Notwendigkeit zur internationalen Kooperation in Einklang zu bringen. Nationale Souveränität und internationale Einflussnahme müssen nicht Widersprüche sein. Internationale Zusammenarbeit heisst nicht in erster Linie Abhängigkeit und Verlust von Souveränität. Internationale Zusammenarbeit ist vor allem eine Chance, entsprechend den eigenen Interessen verantwortlich zu handeln. Die im Zuge der Globalisierung entstandenen Institutionen und Vertragswerke haben in diesem Sinn die Optionen der Einflussnahme erhöht. Sie machen eine breite Palette von Möglichkeiten geteilter oder gemeinsam ausgeübter Souveränität verfügbar.

Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass die Schweiz bei ihren internationalen Aktivitäten bestmöglich versucht, Einfluss zu nehmen. Dies kann sie, indem sie durch gemeinsames Handeln mit anderen Mehrwert schafft, beispielsweise, indem sie in internationalen Gremien Initiativen und Anliegen einbringt, sich für tragbare Lösungen einsetzt und sachgerechte Reformvorschläge unterbreitet. Um diesbezüglich erfolgreich zu sein, muss die Schweiz ihre Interessen bekannt machen, bündeln und in internationale Entscheidprozesse einfliessen lassen. Schliesslich gehört zur souveränen Einflussnahme ein aktives Kommunikationsmanagement. In diesem Bereich sind verstärkte Anstrengungen nötig, um sich künftig im globalen Kommunikationskonzert gebührend Gehör verschaffen zu können.

Schliesslich ist es wichtig, dass die Schweiz, zur erfolgreichen Wahrnehmung ihrer Interessen in der globalisierten Welt von heute, weiterhin diversifizierte Ansätze verfolgt, sei dies geografisch, institutionell oder thematisch. Zudem gilt es, der Kohärenz des aussenpolitischen Handelns die nötige Aufmerksamkeit zu schenken.

Das aussenpolitische Instrumentarium muss dabei anpassungsfähig genug ausgestaltet sein, um dem sich ständig verändernden internationalen Umfeld gerecht zu werden.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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Abkürzungsverzeichnis

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1 Einführung: Herausforderungen und Entwicklungstendenzen

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2 Geografische Schwerpunkte der schweizerischen Aussenpolitik 2.1 Einleitende Bemerkungen 2.2 Europapolitik 2.2.1 Europäische Union 2.2.2 Europarat 2.2.3 OSZE 2.2.4 EFTA 2.2.5 Beziehungen zu ausgewählten europäischen Staaten 2.3 Politik gegenüber dem amerikanischen Kontinent 2.4 Politik gegenüber Asien und Ozeanien 2.5 Politik gegenüber dem Nahen und dem Mittleren Osten sowie Nordafrika 2.6 Politik gegenüber Subsahara-Afrika

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3 Globale und regionale Organisationen und Foren 3.1 Multilateralismus politischen, sicherheitspolitischen und rechtlichen Charakters 3.1.1 UNO 3.1.2 Euro-Atlantischer Partnerschaftsrat und Partnerschaft für den Frieden 3.1.3 Frankophonie 3.1.4 Aussereuropäische regionale Zusammenschlüsse 3.1.5 Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) 3.1.6 Internationale Strafjustizorgane 3.2 Multilateralismus wirtschaftlichen Charakters 3.2.1 G-20 3.2.2 Financial Stability Board 3.2.3 OECD 3.2.4 Welthandelsorganisation (WTO) 3.3 Multilateralismus kulturellen und wissenschaftlichen Charakters 3.3.1 Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) 3.3.2 Europäische Organisation für Teilchenphysik (CERN) 3.3.3 Europäische Weltraumorganisation (ESA) 3.3.4 Ausschuss der Vereinten Nationen für die friedliche Nutzung des Weltraums (UN COPUOS)

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4 Wichtige Themen der Schweizer Aussenpolitik 4.1 Internationale Finanz- und Wirtschaftspolitik 4.1.1 Überwindung der Finanz- und Wirtschaftskrise 4.1.2 Der Schweizer Finanzplatz

1124 1124 1124 1127

1020

1089 1089 1089

1120 1120 1122 1123

4.1.3 Korruptionsbekämpfung 4.1.4 Problematik der unrechtmässig erworbenen Potentatengelder 4.2 Menschliche Sicherheit 4.2.1 Herausforderungen 4.2.2 Friedensförderung 4.2.3 Menschenrechtspolitik 4.2.4 Humanitäre Politik 4.2.5 Stärkung des humanitären Völkerrechts 4.3 Migrationsaussenpolitik 4.3.1 Migrationsaussenpolitische Interessen 4.3.2 Aktuelle Herausforderungen 4.3.3 Der schweizerische Lösungsansatz 4.3.4 Perspektiven 4.4 Reduktion der Armut und humanitäre Hilfe 4.4.1 Wirtschaftskrise und Entwicklungspolitik 4.4.2 Globaler Wandel und Entwicklungspolitik 4.4.3 Beitrag der Schweiz zur Armutsreduktion 4.4.4 Bretton-Woods-Institutionen und Armutsreduktion 4.4.5 Regionale Entwicklungsbanken und Armutsreduktion 4.4.6 Humanitäre Hilfe 4.5 Abrüstungs- und Nonproliferationspolitik 4.5.1 Herausforderungen 4.5.2 Politik und Aktivitäten der Schweiz 4.5.3 Für eine aktivere Politik in Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nonproliferation 4.6 Umweltaussenpolitik 4.6.1 Biodiversität 4.6.2 Klima-Aussenpolitik 4.7 Energieaussenpolitik 4.8 Gesundheitsaussenpolitik 4.9 Aussenpolitik im Bereich Bildung, Forschung und Innovation 4.10 Neutralität

1130 1134 1137 1137 1144 1153 1159 1160 1162 1162 1163 1165 1167 1168 1169 1171 1174 1184 1187 1189 1191 1191 1193 1200 1201 1201 1202 1204 1209 1213 1216

5 Service Public 5.1 Konsularische Aufgaben 5.2 Konsularischer Schutz 5.3 Krisenprävention und Krisenmanagement 5.4 Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer

1218 1218 1221 1222 1223

6 Aussenpolitik und Öffentlichkeit 6.1 Medienarbeit 6.2 Strategische Landeskommunikation 6.3 Herausforderungen und Perspektiven

1226 1226 1227 1231

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7 Führung der Aussenpolitik 7.1 Herausforderungen 7.2 Reorganisation des EDA

1231 1231 1232

8 Schlussfolgerung: Interessenwahrung durch Einflussnahme

1236

Anhänge 1 Ergänzende Angaben zum Europarat (2009­Mai 2010) 2 Bericht über die Menschenrechtsaussenpolitik der Schweiz (2007­2011)

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1246 1269

Abkürzungsverzeichnis 3G

Global-Governance-Gruppe

APEC

Asiatisch-pazifische wirtschaftliche Zusammenarbeit (Asia-Pacific Economic Cooperation)

APD

Öffentliche Entwicklungshilfe (Aide publique au développement)

APK

Aussenpolitische Kommission(en)

ASEAN

Association of Southeast Asian Nations

ASEM

Asien-Europa-Treffen

ASO

Auslandschweizerorganisation

AU

Afrikanische Union

BAKOM

Bundesamt für Kommunikation

BFM

Bundesamt für Migration

BLW

Bundesamt für Landwirtschaft

BRIC

Gruppe der folgenden vier grossen Schwellenländer: Brasilien, Russland, Indien und China

BWI

Bretton-Woods-Institutionen

CDM

Clean Development Mechanism

CERN

Europäische Organisation für kernphysikalische Forschung (Organisation européenne pour la recherche nucléaire)

CFT

Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung (Combating Financing Terrorism)

CGIAR

Beratungsgruppe für Internationale Agrarforschung (Consultative Group on International Agricultural Research)

COPUOS

Ausschuss für die friedliche Nutzung des Weltraums Committee on the Peaceful Uses of Outer Space)

CPT

Europäisches Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (Committee fort he Prevention of Torture)

CTBT

Kernwaffenstopp-Vertrag (Comprehensive Test Ban Treaty)

DAC

Entwicklungshilfeausschuss der OECD (Development Assistance Committee)

DCAF

Genfer Zentrum für demokratische Kontrolle von Armeen (Geneva Centre for the Democratic Control of Armed Forces)

DEZA

Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit

EAPC

Euro-atlantischer Partnerschaftsrat

EBRD

Europäische Entwicklungsbank (European Bank for Reconstruction and Development) 1023

ECOSOC

Wirtschafts- und Sozialrat der UNO (Economic and Social Council)

ECOWAS

Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (Economic Community of West African States)

EDA

Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten

EDI

Eidgenössisches Departement des Innern

EFD

Eidgenössisches Finanzdepartement

EFTA

Europäische Freihandelsassoziation (European Free Trade Association)

EG

Europäische Gemeinschaft

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EJPD

Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement

EKM

Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen

EMRK

Europäische Menschenrechtskonvention

ESA

Europäische Weltraumorganisation (European Space Agency)

EU

Europäische Union

EUFOR

Multinationale Militärverbände der Europäischen Union (European Union Force)

EuGH

Europäischer Gerichtshof

EULEX

Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Union

EVD

Eidgenössisches Volkswirtschaftsdepartement

EVG

Eidgenössisches Versicherungsgericht

EWR

Europäischer Wirtschaftsraum

FAO

Nahrung- und Landwirtschaftsprogramm der UNO (Food and Agriculture Programme)

FIPOI

Immobilienstiftung für die internationalen Organisationen

FSB

Financial Stability Board

G-8

Gruppe der 8 (USA, Deutschland, Japan, Grossbritannien, Kanada, Frankreich und Italien (G-7) + Russland)

G-20

Gruppe der 20 (USA, Japan, Deutschland, China, Grossbritannien, Frankreich, Italien, Kanada, Brasilien, Russland, Indien, Südkorea, Australien, Mexiko, Türkei, Indonesien, Saudi-Arabien, Südafrika, Argentinien, Europäische Union)

G-24

Gruppe der 24 zu internationalen Finanzangelegenheiten (Algerien, Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Demokratische Volksrepublik Kongo, Elfenbeinküste, Aegypten, Aethiopien, Gabon, Ghana, Guatemala, Indien, Iran, Libanon, Mexiko, Nigeria,

1024

Pakistan, Peru, Philippinen, Südafrika, Sri Lanka, Syrien, Trinidad & Tobago, Venezuela) GATT

Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement on Tariffs and Trade)

GCSP

Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik (Geneva Centre for Security Policy)

GEF

Globaler Umweltfonds (Global Environment Fund)

GRECO

Staatengruppe gegen Korruption (Groupe d'États contre la corruption)

GSVP

Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union (Common Security and Defence Policy)

GUS

Gemeinschaft unabhängiger Staaten

HCHR

Hochkommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen (High Commissioner for Human Rights)

HCR

UNO-Menschenrechtsrat (Human Rights Council)

IAEA

Internationale Atomenergiebehörde (International Atomic Energy Agency)

IBRD

Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (International Bank for Reconstruction and Development)

ICC

Internationaler Strafgerichtshof (International Criminal Court)

ICTR

Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda

ICTY

Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien

IDA

Internationale Entwicklungsassoziation (International Development Association)

IEA

Internationale Energie-Agentur

IEF

Internationales Energieforum

IFC

International Finance Corporation

IGH

Internationaler Gerichtshof in Den Haag (auch ICJ International Court of Justice)

IKRK

Internationales Komitee vom Roten Kreuz

ILO

Internationale Arbeitsorganisation

ISAF

Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe für Afghanistan (International Security Assistance Force)

IWF

Internationaler Währungsfonds (auch IMF International Monetary Fund)

KFOR

Kosovo Force

KSE

Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa 1025

KSZE

Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

MDG

Millenniumentwicklungsziele (Millennium Development Goals)

MERCOSUR Gemeinsamer Markt Südamerikas (Mercaqdo Común del Sur) MoU

Absichtserklärung (Memorandum of Understanding)

NAFTA

Nordamerikanische Freihandelszone (North American Free Trade Agreement)

NATO

Nordatlantisches Bündnis (North Atlantic Treaty Organisation)

NGO

Nichtregierungsorganisation (Non-Governmental Organisation)

NPT

Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons)

NSG

Gruppe der Nuklearlieferländer (Nuclear Suppliers Group)

OAS

Organisation Amerikanischer Staaten (Organisation of American States)

OCHA

UNO-Büro für die Koordination der Humanitären Hilfe (Office for the Coordination of Humanitarian Affairs)

OECD

Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Cooperation and Development)

OIC

Organisation der Islamischen Konferenz

OIF

Internationale Organisation der Frankophonie (Organisation internationale de la Francophonie)

OSZE

Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

PfP

Partnerschaft für den Frieden (Partnership for Peace)

SADC

Südafrikanische Entwicklungsgemeinschaft

SCO

Shanghai Cooperation Organisation

SECO

Staatssekretariat für Wirtschaft

SKH

Schweizerisches Korps für humanitäre Hilfe

SNB

Schweizerische Nationalbank

Swisscoy

Swiss Company (Einheit der Schweizer Armee im Kosovo)

TIPH

Internationale Beobachtermission in Hebron (Temporary International Presence in the City of Hebron)

TAP

Transadriatische Pipeline

UNASUR

Union Südamerikanischer Nationen

1026

UNCAC

Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption (United Nations Convention against Corruption)

UNDP

Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Program)

UNEP

Umweltprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Environment Program)

UNESCO

Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization)

UNFCCC

United Nations Framework Convention on Climate Change

UNFPA

Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (United Nations Population Fund)

UNHCR

Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (United Nations High Commissioner for Refugees)

UNICEF

Kinderhilfsfonds der Vereinten Nationen (United Nations Children's Fund)

UNIOGBIS

Integriertes UNO-Friedensmissionsbüro in Guinea-Bissau (United Nations Integrated Peacebuilding Office in Guinea-Bissau)

UNMIL

Mission der Vereinten Nationen in Liberia (United Nations Mission in Liberia)

UNO

Organisation der Vereinten Nationen (United Nations Organisation)

UNODC

Büro der Vereinten Nationen für Drogen und Verbrechensbekämpfung (United Nations Office on Drugs and Crime)

UNRWA

Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East)

UPR

Universal Periodic Review

VBS

Eidgenössisches Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport

WEKO

Wettbewerbskommission

WFP

Welternährungsprogramm (World Food Programme)

WHO

Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation)

WMO

Welt-Meteorologie-Organisation

WTO

Welthandelsorganisation (World Trade Organisation)

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Bericht 1

Einführung: Herausforderungen und Entwicklungstendenzen

Die schweizerische Öffentlichkeit hat das aussenpolitische Geschehen des vergangenen Jahres in hohem Mass unter dem Eindruck von drei Entwicklungen wahrgenommen, die die politische Agenda des Landes beschäftigten: die Beziehungen zu Libyen, die internationalen Diskussionen zu Finanzplatz, Bankgeheimnis und Steuerpolitik sowie die Reaktionen des Auslandes auf das Ergebnis der MinarettAbstimmung. Mancherorts entstand dabei der Eindruck, die Schweiz werde von der internationalen Gemeinschaft allein gelassen und mittels äusserem Druck dazu gedrängt, entgegen ihren nationalen Interessen zu handeln.

Bei genauerer Betrachtungsweise zeigt sich jedoch, dass die Schweiz alle drei erwähnten Herausforderungen in bestmöglicher Wahrung ihrer Interessen und oft auch mit tatkräftiger internationaler Unterstützung gemeistert hat. Was bei diesen Beispielen indessen auch klar zum Ausdruck kommt, ist das Spannungsfeld zwischen innenpolitischer und aussenpolitischer Betrachtungsweise. Der Fall Libyen ist dafür symptomatisch: Aus innenpolitischer Perspektive wird er als schwieriges Kapitel unserer Aussenpolitik wahrgenommen. Aus aussenpolitischer Sicht indessen hat er gezeigt, wie internationales Engagement für nationale Interessen eingesetzt werden kann: Die Mitgliedschaft der Schweiz bei Schengen und die damit verbundene Möglichkeit zu Visa-Restriktionen für den ganzen Schengen-Raum hat eine direkte Unterstützung duch die europäischen Partner, namentlich durch Deutschland und durch Spanien als EU-Vorsitzland, möglich gemacht, die zur Lösung der Krise wesentlich beigetragen hat.

Auch bei den Diskussionen mit den USA zur Steuerproblematik sind Innensicht und Aussensicht weit auseinandergeklafft. Während in der innenpolitischen Debatte bald einmal von einem «Diktat» die Rede war, ist es der Schweiz auf internationaler Ebene gelungen, ihrer Rechtsordnung Geltung zu verschaffen und mit dem Staatsvertrag zur aussergerichtlichen Regelung des UBS-Verfahrens die bestmögliche Lösung für ein komplexes Problem anzubieten, wobei allerdings der endgültige Entscheid des Bundesgerichts noch aussteht.

Was die internationalen Reaktionen zur Minarett-Initiative betrifft, ist die Schweiz diesen mit einer Strategie der konstruktiven Diskussion begegnet. Durch zielgerichtete Kommunikation, insbesondere mit muslimischen Staaten, sowie
durch die Intensivierung des Austausches mit der muslimischen Gemeinschaft in der Schweiz und durch den manifesten Willen, eine Aussenpolitik des kritischen Dialogs der Zivilisationen zu führen, konnte ein besseres internationales Verständnis für das Ergebnis der Volksabstimmung geschaffen werden.

Die erwähnten Beispiele aussenpolitischer Herausforderungen verweisen nicht nur auf offensichtliche Perzeptionsunterschiede zwischen innenpolitischen Sensibilitäten und internationaler Öffentlichkeit. Sie zeigen auch, dass die Vermittlung zwischen aussen- und innenpolitischen Entwicklungen zunehmend komplexer geworden ist und dass die Schweiz, wie jedes Land, Einflüssen ausgesetzt ist, die sie alleine nur beschränkt mitgestalten kann. Folglich muss sie, um ihre Interessen wahren zu

1028

können, aussenpolitische Probleme gemeinsam und in Absprache mit internationalen Partnern angehen.

Zusätzlich zu diesen an der Aktualität orientierten Themen haben sich die globalen Entwicklungen und Herausforderungen, die der Bundesrat im letztjährigen aussenpolitischen Bericht erwähnt hat, bestätigt. Sie stellten somit auch im Berichtsjahr die Leitplanken aussenpolitischen Wirkens dar: ­

Die wirtschaftliche und politische Gewichtsverschiebung in Richtung Asien hat sich ebenso fortgesetzt wie die regionalen Integrationsbestrebungen in Europa und auf anderen Kontinenten.

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Die Komplexität und die gegenseitigen Interdependenzen globaler Krisen, nicht nur wirtschaftlicher und finanzwirtschaftlicher Natur, sondern auch in Bereichen wie Klima, Energie, Gesundheit und Bildung, nahmen weiter zu, ebenso die kontroversen Diskussionen um Lösungsansätze in diesem Zusammenhang. Die weltweiten Abhängigkeiten akzentuierten sich im Zuge der Finanzkrise und machten deutlich, dass die Abschottung von Finanzund Wirtschaftsräumen weitgehend zu einer Illusion geworden ist. Der abnehmenden Dynamik der Weltwirtschaft folgen auf soziale Spannungen, stärkerer Migrationsdruck und politische Konflikte auf dem Fuss. Die Verfügbarkeit von Energieträgern ist zu einem wichtigen Angelpunkt des weltpolitischen Geschehens geworden und birgt Risiken für Verteilungskämpfe.

­

Globale Umweltveränderungen beeinflussen die natürlichen Lebensgrundlagen eines Grossteils der Menschheit und verschärfen die Armut in vielen Weltregionen. Von den Folgen des Umweltwandels sind Entwicklungsländer besonders betroffen. Angesichts der globalen Interdependenzen ist die Entwicklungszusammenarbeit ein wichtiges Instrument bei der Suche nach Lösungen für eine stabile und faire Globalisierung. Weil Armut, Staatenund Gesellschaftszerfall und religiöse Fundamentalismen sich wechselseitig bedingen, ist das Engagement zur Erreichung der international vereinbarten Millenniums-Entwicklungsziele eine wichtige Voraussetzungen für die globale Zukunftssicherung.

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Die grossen Herausforderungen wie Armutsbekämpfung und nachhaltige Nutzung der Ressourcen erfordern wirksame Regelwerke und handlungsfähige internationale Organisationen. Sie erhöhen den Druck auf nationale und multilaterale Gremien und verstärken die Notwendigkeit für institutionelle Reformen. Damit einher geht der Bedarf an einer entsprechenden Klärung internationaler Gouvernanzfragen.

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Schnell wachsenden Volkswirtschaften wie diejenigen Chinas, Brasiliens oder Indiens spielen für die Entwicklung in der jeweiligen Weltregion eine Schlüsselrolle. Sie sind aufgrund ihrer Grösse für die Lösung globaler Probleme von besonderer Bedeutung. Wenn es daher um Strategien zur Durchsetzung nachhaltiger Entwicklung geht, ist eine Zusammenarbeit mit diesen Ländern unverzichtbar.

Im Zeichen dieser Herausforderungen verändern sich auch die Arbeits- und Kommunikationsformen der Aussenpolitik. Da zunehmend mehr Themen in multilateralen Foren diskutiert werden, verwischen sich die Übergänge zwischen bilateraler und multilateraler Diplomatie. Traditionelle bilaterale Kontakte sind zwar weiterhin wichtig. Bilaterale Anliegen werden aber immer öfter auch am Rande von multilate1029

ralen Veranstaltungen, über Telefonkontakte, Videokonferenzen oder beim Austausch im Rahmen von thematischen Allianzen diskutiert.

Die Schweiz hat in mancher Hinsicht erfolgreich auf diese Trends reagiert. Sie hat sich, auch in den multilateralen Foren, als Akteurin in die internationale Gemeinschaft eingebracht und ihr Beziehungsnetz weiter gestärkt. Die traditionellen Interessenvertretungsmandate, die sie für verschiedene Staaten, namentlich auch für die USA und Russland, wahrnimmt, verhelfen ihr dabei zu privilegierten Kontakten mit den involvierten Regierungen. Wichtige Engagements waren auch die VermittlerTätigkeit im Annäherungsprozess zwischen Armenien und der Türkei sowie der Beitrag zur Aufrechterhaltung der Kommunikationskanäle zwischen den verschiedenen Parteien im Nahost-Konflikt.

Die Schweiz hat sich in diversen Ländern und Regionen an Stabilisierungsbemühungen beteiligt, so im Westbalkan, im Kaukasus, in Zentralasien, in der afrikanischen Region der Grossen Seen, in Nepal oder in Kolumbien. Auch hat sie mit ihrer flexiblen und effizienten humanitären Hilfe nach dem Erdbeben in Haiti vom Januar 2010 zur Linderung der Not bei der betroffenen Bevölkerung beitragen. In ihrer Entwicklungszusammenarbeit leistet sie Beiträge zur Armutsbekämpfung und zur Verbesserung der Lebensperspektiven der ärmsten Bevölkerungsgruppen. Sie engagiert sich überdies für die Bewältigung globaler Probleme wie Klimawandel, Ernährungssicherheit, Wasserknappheit und Migrationströme. Das multilaterale Engagement der Schweiz konnte sowohl in Europa, durch den Vorsitz im Ministerkomitee des Europarates, als auch bei der UNO unterstrichen werden, wo die Schweiz erstmals einen Hauptausschuss präsidierte und im Jahr 2010/11 zudem mit alt Bundesrat Deiss den Präsidenten der Generalversammlung stellt.

Das vielfältige aussenpolitische Engagement der Schweiz basiert auf einer umfassenden Politik der bilateralen und multilateralen Interessenwahrung und Einflussnahme. Diese äussert sich in aktiven und innovativen Beiträgen zur Suche nach Lösungen für globale Probleme, im Mittragen der damit verbundenen finanziellen Bürden, in der pragmatischen Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten, im besonders engen Austausch mit den europäischen Partnern und in der konstruktiven Nutzung des verfügbaren multilateralen Instrumentariums. Der Aussenpolitische Bericht 2010 gibt einen Überblick über dieses Engagement in seinen diversen Facetten.

2

Geografische Schwerpunkte der schweizerischen Aussenpolitik

2.1

Einleitende Bemerkungen

Die Schweiz verfolgt in ihren diplomatischen Beziehungen eine Politik der Universalität: Sie bemüht sich um enge Beziehungen zu allen Staaten und allen internationalen Organisationen ungeachtet der politischen Positionen und Orientierungen, die sie vertreten. Dieser seit Jahrzehnten praktizierte Ansatz erlaubt es der Schweiz, die weder der Europäischen Union noch einem Militärbündnis angehört, in der ganzen Welt und in allen Bereichen ihre Interessen zu vertreten.

Universalität bedeutet allerdings nicht, dass die Schweiz keine Prioritäten hätte. Sie misst vielmehr ihren strategischen Partnern und ihren Nachbarländern besondere Bedeutung bei. Des Weiteren berücksichtigt die Schweiz die derzeitigen globalen Umschichtungen ­ insbesondere die zunehmende Bedeutung der Schwellenländer 1030

und das Entstehen einer neuen Weltordnung ­, indem sie die Verteilung ihrer personellen und finanziellen Ressourcen entsprechend anpasst.

Im Folgenden werden nicht unbedingt alle Staaten und internationalen Organisationen erwähnt. Dennoch sind alle von ihnen wichtig für die Schweiz, und die einen oder anderen können je nach der Problemlage oder den Umständen Priorität erhalten. Auch werden die einzelnen Länder und Regionen nicht zwingend proportional zur Intensität der Beziehungen mit der Schweiz abgehandelt. Die Ausführungen orientieren sich vielmehr an den Schwerpunkten des Engagements, die die schweizerische Aussenpolitik im Berichtsjahr dominiert haben.

2.2

Europapolitik

Auf die globalen Machtverschiebungen reagiert der europäische Kontinent in erster Linie mit der Intensivierung der Beziehungen zwischen den europäischen Ländern.

Die Verstärkung der europäischen Integration im Rahmen der Europäischen Union (EU) hat sich weiter entwickelt, namentlich durch die ­ wenngleich nicht ganz reibungslose ­ Annahme des Vertrags von Lissabon. Selbst wenn Europa im Vergleich zu anderen Regionen an Einfluss verliert, so stellt die EU mit ihren Mitgliedstaaten dennoch die weltgrösste Wirtschaftsmacht und zudem die dominierende Macht auf diesem Kontinent dar und nimmt in zunehmendem Masse die Rolle einer Wortführerin Europas in der Welt ein.

So hat die EU in den letzten Jahren kontinuierlich ihre Kapazitäten in den Bereichen Aussenpolitik, Sicherheit und Verteidigung ausgebaut. Zudem wird immer deutlicher, dass sie bestrebt ist, mit der Entwicklung neuer und allgemein akzeptierter Rechtsnormen international Massstäbe zu setzen und hiermit auf europäischer Ebene zu beginnen. Dies zeigt sich am wachsenden Einfluss, den die EU beziehungsweise ihre Mitgliedstaaten, die ihr Vorgehen miteinander abstimmen, in anderen internationalen und insbesondere in europäischen Organisationen wie der OSZE und dem Europarat ausüben.

Ein Land wie die Schweiz, das geografisch im Herzen des Kontinents liegt, ohne dessen wichtigster Organisation, der EU, anzugehören, muss diese beiden scheinbar gegenläufigen Entwicklungen ­ zum einen den relativen Bedeutungsverlust des europäischen Kontinents auf globaler Ebene, zum andern die Profilierung der EU als dominierende Macht und als Trägerin einer Harmonisierung von Rechtsnormen auf dem europäischen Kontinent ­ mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgen. Angesichts ihrer ausserordentlich engen Vernetzung mit der EU ist es entscheidend, dass die Schweiz die integrationspolitische Dynamik der Union eng verfolgt und sich entsprechend positioniert. Gleichzeitig muss sie das ihr zusätzlich zur Verfügung stehende aussenpolitische Instrumentarium nutzen. Dazu dienen ihr Organisationen wie der Europarat, die OSZE oder die EFTA, in denen sie Mitglied ist. Dazu dienen ihr auch die engen und gut ausgebauten bilateralen Beziehungen zu den europäischen Ländern.

1031

2.2.1

Europäische Union

Auf der Grundlage des diesbezüglichen Kapitels im Aussenpolitischen Bericht 2009 (BBl 2009 6291) werden nachstehend die aus der Sicht der Schweiz wichtigsten Entwicklungen untersucht und im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Schweiz und ihre Europapolitik evaluiert. Dieses Kapitel befasst sich auch mit der Entwicklung der Beziehungen der Schweiz zur EU. Des Weiteren werden die Ausrichtungen der Europapolitik erörtert, die der Bundesrat am 18. August 2010 auf der Grundlage des Berichts über die Evaluation der schweizerischen Europapolitik (in Beantwortung des Postulats Markwalder [09.3560]) beschlossen hat (BBl 2010 7293).

Konsequenzen der Entwicklungen innerhalb der EU für die Schweiz In den vergangenen Monaten ist es der EU nach einem langwierigen und schwierigen Prozess gelungen, sich einen institutionellen Rahmen zu geben, der es erlaubt, ihre Funktionsweise dauerhaft abzusichern und zugleich ihre demokratische Legitimation zu erhöhen sowie ihre globale Handlungsfähigkeit zu verbessern. Paradoxerweise war sie im Zusammenhang mit der finanzpolitischen Lage Griechenlands und anderer Staaten der Euro-Zone auch mit einer ausserordentlich schwerwiegenden Krise konfrontiert, deren Auswirkungen die Zukunft der Einheitswährung und darüber hinaus auch die Union selbst nachhaltig prägen könnten.

Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon: Um die erweiterte EU mit den für ihr gutes Funktionieren nötigen Instrumenten zu versehen, unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs am 13. Dezember 2007 den Vertrag von Lissabon, nachdem dessen Vorgängerprojekt, eine Europäische Verfassung, am Souverän Frankreichs und der 1032

Niederlanden gescheitert war. Knapp zwei Jahre später, am 1. Dezember 2009, trat dieser Vertrag, der die künftigen Aufgabenbereiche der Union und die Regeln für ihr Funktionieren festlegt, in Kraft.

Die wichtigsten Neuerungen sind: ­

Die EU erhält eine eigene Rechtspersönlichkeit.

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Die Europäische Gemeinschaft wird durch die Europäische Union ersetzt.

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Das bisher geltende Drei-Säulen-Modell wird abgeschafft.

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Eine neue Funktion des Präsidenten des Europäischen Rates wurde geschaffen. Er hat den Vorsitz der EU-Gipfel inne und wird vom Europäischen Rat für einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren (einmal erneuerbar) ernannt.

Dies soll für mehr Kontinuität und Stabilität bei der Arbeit des Europäischen Rates sorgen.

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Das neue Amt eines Hohen Vertreters für die Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik, der zugleich auch das Amt eines Vizepräsidenten der Europäischen Kommission ausübt, wurde geschaffen. Ihm wird ein eigener diplomatischer Dienst der EU (Europäischer Auswärtiger Dienst, EAD) zur Seite gestellt, der am 1. Dezember 2010 operationell werden soll.

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Bezüglich des Abstimmungsverfahrens im Rat der Europäischen Union (EU-Rat) wird die Einstimmigkeit in den meisten Fällen zugunsten des qualifizierten Mehrs aufgehoben (z.B. in der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit oder der Landwirtschaft und Fischerei). Das Einstimmigkeitsprinzip gilt jedoch weiterhin für die Bereiche Steuern, Aussenpolitik, Verteidigung und soziale Sicherheit und auch in dem für die Schweiz verbindlichen Bereich Schengen (vgl. Art. 87 Abs. 3 AEUV).

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Ab 2014 wird das qualifizierte Mehr durch das doppelte Mehr ersetzt. Dieses berechnet sich aufgrund der Mitgliedstaaten und der Bevölkerung und bedingt, dass 55 % der Mitgliedstaaten, gebildet aus mindestens 15 Mitgliedstaaten, die gemeinsam mindestens 65 % der europäischen Bevölkerung auf sich vereinen, einer Entscheidung zustimmen. Für eine Sperrminorität sind mindestens vier Mitglieder des EU-Rates erforderlich.

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Das Europäische Parlament wird gestärkt. So werden seine Kompetenzen in Bezug auf Gesetzgebung, Haushalt und internationale Übereinkommen erweitert. Zudem wird das Mitentscheidungsverfahren ­ welches das Europäische Parlament dem EU-Rat faktisch gleichstellt ­ in weiten Bereichen zum regulären Entscheidungsinstrument der EU-Gesetzgebung. Ausgeschlossen vom Mitentscheidungsverfahren bleiben weiterhin die Politikfelder soziale Sicherheit, Familienrecht, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Vorschriften steuerlicher Art oder der Kapitalverkehr mit Drittstaaten. Neu ist künftig auch die Zustimmung des Europäischen Parlaments zu internationalen Abkommen erforderlich.

Am 9. Februar 2010 hat das Europäische Parlament die von Kommissionspräsident Barroso designierten 26 Kommissarinnen und Kommissare bestätigt. Ihr Mandat läuft bis zum 31. Oktober 2014.

Wie die Zusammenarbeit der verschiedenen und teils neuen Akteure innerhalb der EU erfolgen wird, ist zum heutigen Zeitpunkt noch ungewiss und muss sich erst noch zeigen. Es kann angenommen werden, dass die verschiedenen Organe zu einer 1033

gestärkten institutionellen Zusammenarbeit finden. Damit dürfte die EU für die Schweiz als Vertrags- und Verhandlungspartnerin zwar berechenbarer werden; der Handlungsspielraum der Schweiz könnte dadurch aber auch enger werden.

Die Tatsache, dass die EU durch den Vertrag von Lissabon Rechtspersönlichkeit erlangt, dürfte die Verfahren der Vertragsverhandlungen und des Abschlusses grundsätzlich etwas vereinfachen. Neu muss jedoch das Europäische Parlament ­ wie erwähnt ­ seine Zustimmung zu internationalen Abkommen geben. Dies könnte zur Folge haben, dass das Abschliessen von Verträgen bedeutend mehr Zeit in Anspruch nehmen und in bestimmten Fällen sogar verunmöglicht wird.

Diese Neuerungen sind auch für das Verhältnis Schweiz­EU von Belang, ohne dieses jedoch grundlegend zu verändern. Insbesondere existieren bereits seit geraumer Zeit Anzeichen, dass sich die EU bei der Frage nach der Acquis-Übernahme weniger flexibel zeigt und vermehrt auf Parallelismus pocht. Die gestärkte Rolle des Europäischen Parlaments bedeutet allerdings für die Schweiz, dass sie in gewissen Bereichen die Arbeiten in den Ausschüssen des Europäischen Parlaments vermehrt und präziser verfolgen muss. Von grosser Bedeutung wird nun auch ein gezieltes Lobbying bei gewissen EU-Parlamentarierinnen und -Parlamentariern sein. Ein solches ist ferner nicht nur bei der Gesetzgebung nötig, sondern auch im Rahmen von Verhandlungen über neue Abkommen, da dem Parlament, wie oben erläutert, durch das Mitentscheidungsverfahren erheblich mehr Kompetenzen zugeteilt werden. Zur Wahrung dieser Beobachtungs- und Lobbying-Aufgaben sind die personellen Ressourcen zwar im Rahmen des Möglichen verstärkt worden, doch bleiben sie gegenüber anderen mit der Schweiz vergleichbaren Ländern bescheiden.

Perspektiven der EU im Bereich kollektive Sicherheit auf dem Kontinent: Auch in der Sicherheitspolitik versteht sich die Europäische Union als globale Akteurin, die weltweit Verantwortung übernehmen will. Dies ist explizit in der 2003 verabschiedeten EU-Sicherheitsstrategie verankert. Das wichtigste Instrument der EU zur Umsetzung ihres Anspruchs als sicherheitspolitischer Global Player ist die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Seit dem operationellen Start der GSVP ebenfalls im Jahr 2003 hat die EU bereits über zwanzig zivile und
militärische Friedensförderungsmissionen durchgeführt und dabei die anfängliche Beschränkung auf Europa (Westbalkan) rasch überwunden. Mit dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags, so die Überzeugung der EU, wird nicht nur die GSVP gestärkt, sondern auch die aussenpolitische Kohärenz und damit die Durchsetzungskraft der EU verbessert. Hierzu wurde zum Beispiel eine Hohe Vertreterin für Aussen- und Sicherheitspolitik berufen, die gleichzeitig Vizepräsidentin der Europäischen Kommission ist. Auch wurde der Europäische Auswärtige Dienst, also ein europäischer diplomatischer Dienst, geschaffen.

Die Stärkung der aussenpolitischen Strukturen ­ ohne diesen Politikbereich jedoch zu vergemeinschaften und dem Mehrheitsprinzip zu unterstellen ­ ist für die EU zwingend notwendig, will sie gegenüber den von ihr als natürlichen Partnern angesehenen Staaten (namentlich USA, China, Russland, Indien) bestehen und sich auf internationaler Ebene mehr Gehör und Einfluss verschaffen. Die Tatsache, dass auf aussen- und sicherheitspolitischem Gebiet trotz des Lissabonner Vertrags weiterhin verschiedene Akteure auftreten werden (neben der Hohen Vertreterin auch der neue ständige Präsident des Europäischen Rates und die Mitgliedstaaten, Letztere häufig mit unterschiedlichen Positionen in einzelnen aussen- und sicherheitspolitischen Fragen), dürfte für die EU auch in Zukunft eine grosse Herausforderung darstellen, sich gegenüber anderen zentralen internationalen Playern zu behaupten. Auch die 1034

Effizienz der neuen Funktion der Hohen Vertreterin und Vizepräsidentin, die gleichzeitig den Mitgliedstaaten und der Kommission Rechenschaft abzulegen hat, muss sich in der Praxis erst noch beweisen.

Im sicherheitspolitischen Bereich liegt die besondere Stärke der EU darin, dass sie sowohl zivile als auch militärische Fähigkeiten und Kapazitäten mobilisieren und zur internationalen Friedensförderung einsetzen kann. Diese zivil-militärische Kooperation und Koordination wird dank des Lissabonner Vertrags verstärkt und im Rahmen des Europäischen Auswärtigen Diensts zusammengefasst. Zusammen mit den Bemühungen zur Erhöhung der militärischen Kapazitäten dürfte dies den Handlungsspielraum und die Wirksamkeit der Anstrengungen der EU zur Krisenbewältigung erhöhen. Hinzu kommen weitere Elemente des Lissabonner Vertrags zur Stärkung der sicherheits- und verteidigungspolitischen Schlagkraft der EU: Möglichkeit zur Einführung einer permanenten strukturierten Zusammenarbeit von EUMitgliedstaaten, die in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung weiter gehen wollen; Verankerung einer gegenseitigen Beistandsverpflichtung bei Angriffen auf einen EU-Mitgliedstaat, wobei diese Klausel den besonderen Verpflichtungen einzelner Mitgliedstaaten (NATO-Mitgliedschaft; Allianzfreiheit) Rechnung trägt; Verankerung einer Solidaritätsklausel, falls ein EU-Mitgliedland von einem Terroranschlag oder einer Katastrophe natürlichen oder menschlichen Ursprungs betroffen ist.

Perspektiven im Bereich Erweiterung und Nachbarschaftspolitik: Die vom Aussenpolitischen Bericht 2009 konstatierte Schlüsselstellung der Europäischen Union nicht nur auf dem europäischen Kontinent, sondern auch international besteht unverändert fort. Entsprechend ungebrochen ist die Anziehungskraft der EU auf Drittstaaten in Europa: Seit dem letzten aussenpolitischen Bericht hat Serbien ein Beitrittsgesuch eingereicht, Bosnien-Herzegowina hat diesen Schritt noch vor Ende 2010 in Aussicht gestellt. Somit möchten derzeit über zehn Staaten der EU beitreten.

Über eine offizielle, mehrfach bestätigte Beitrittsperspektive verfügen die Länder des westlichen Balkans. Verhandelt wird allerdings vorderhand nur mit Kroatien, das sich auf der Zielgeraden zum Verhandlungsabschluss befinden dürfte. Nur harzig voran kommen dagegen die Verhandlungen mit der Türkei. Im
Falle des von der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise schwer gebeutelten Island hat die Europäische Kommission dem Rat der EU die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen empfohlen. Der Rat folgte dieser Empfehlung im Juni 2010; die Verhandlungen wurden am 27. Juli 2010 aufgenommen. Weitere Länder, beispielsweise die Ukraine oder Moldawien, haben den EU-Beitritt zum Fernziel ihrer Aussen- und Europapolitik erklärt.

Diese grosse Anzahl an sicheren, wahrscheinlichen und potenziellen Neumitgliedern stellt für die EU trotz angepassten institutionellen Strukturen dank des Inkrafttretens des Lissabonner Vertrags eine grosse Herausforderung dar, denn die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse der einzelnen nach EU-Mitgliedschaft strebenden Länder unterscheiden sich teilweise stark voneinander. Im Lichte der mit den Erweiterungsrunden von 2004 und 2007 gemachten Erfahrungen will die EU deshalb der Erfüllung der Beitrittskriterien durch die Bewerberstaaten, und zwar vor deren Beitritt, konsequentere Beachtung schenken. Hinzu kommt, dass die derzeit 27 Mitgliedstaaten teilweise unterschiedliche Auffassungen vertreten, was neue Erweiterungen betrifft. Wird die Beitrittsperspektive für die westlichen Balkanländer EU-intern nicht in Frage gestellt, so fehlt dieser Konsens in Bezug auf die Türkei: Mehrere Mitgliedstaaten ­ namentlich Frankreich, Deutschland und Österreich ­ 1035

sprechen sich inzwischen mehr oder weniger offen gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei aus. Auch die nach wie vor ungelöste Zypern-Frage wirkt sich als Bremsklotz für die Verhandlungen mit Ankara aus.

Die EU ist sich bewusst, dass der Erweiterungsprozess nicht ad infinitum weitergehen kann. Doch auf die Frage, wo die ­ nicht zuletzt geografischen ­ Grenzen der EU-Erweiterung liegen, gibt es derzeit EU-intern keine Antwort. Eine der wichtigsten Fragen in diesem Zusammenhang ist zudem, wie die EU künftig ihr Verhältnis zu Russland ausgestalten soll. Auch allfällige Auswirkungen der Bewältigung der Krise um den griechischen Staatshaushalt auf den Erweiterungsprozess bleiben abzuwarten.

Im Bewusstsein, dass die erweiterte EU keine neuen Teilungen in Europa schaffen darf, unterstützt die Union ihre neuen Nachbarn an den Grenzen im Osten und Süden mithilfe verschiedener Politiken, die teilweise dieselben Länder betreffen und sich teilweise überschneiden: Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP), Östliche Partnerschaft (ÖP) sowie Union für den Mittelmeerraum (UfM). Alle diese Politiken offerieren den davon betroffenen Ländern eine weitgehende Zusammenarbeit auf politischer und wirtschaftlicher Ebene, aber unterhalb der Schwelle zum EUBeitritt. Einzig bei der UfM machen auch vier Länder mit, die entweder bereits über ihren Beitritt zur EU verhandeln (Kroatien, Türkei) oder von der EU 2003 eine Beitrittsperspektive erhalten haben (Bosnien-Herzegowina, Montenegro).

Es stellt sich allerdings die Frage, ob die genannten Drittstaatpolitiken die Erwartungen der Partnerländer auf längere Sicht zu erfüllen vermögen. Hier sind Zweifel angebracht, haben doch bereits mehrere dieser Länder klar ihren Willen bekundet, dereinst der EU beizutreten (z.B. die Ukraine). Ob deshalb ENP, ÖP und UfM auf Dauer genügend Anreize bieten können, um die betroffenen Länder zur Durchführung nachhaltiger politischer, rechtsstaatlicher und wirtschaftlicher Reformen zu bewegen, ist offen.

Mit diesen Faktoren ­ geografische Endlichkeit des EU-Erweiterungsprozesses, EUinterne Uneinigkeit über die Zukunft des Erweiterungsprozesses, fragliche Attraktivität der existierenden EU-Drittstaatpolitiken in längerfristiger Perspektive ­ wird sich die EU früher oder später befassen müssen, um der Gefahr des Auftretens neuer Spannungen auf dem
europäischen Kontinent zu begegnen. Für die EU dürfte sich somit die Frage stellen, ob nicht neue Formen der Kooperation mit europäischen Drittstaaten geschaffen werden könnten oder sollten, die unterhalb des Beitritts bleiben, aber eine engere Integration namentlich in den EU-Binnenmarkt bringen, als dies bei ENP, ÖP und UfM der Fall ist. Mit anderen Worten: die Schaffung von mit dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) vergleichbaren Zusammenarbeitsformen oder einer Art von differenzierter EU-Mitgliedschaft. Solche Überlegungen wären auch EU-intern nicht neu, wurde doch bereits Ende der Neunzigerjahre vom Modell der konzentrischen Kreise oder vom Modell der abgestuften Mitgliedschaft (Beitritt mit permanenten Ausnahmen) gesprochen. Möglicherweise lägen solche Zusammenarbeitsformen im Interesse sowohl der EU als auch von europäischen Drittstaaten. Die EU könnte weiterhin zur Förderung von Frieden, Stabilität und Wohlstand auf dem gesamten europäischen Kontinent beitragen, aber eine Überforderung und Überdehnung ihrer Strukturen und Institutionen verhindern. Interessierte Drittstaaten verfügten über attraktive, gegenüber den heutigen EU-Drittstaatpolitiken einen Mehrwert schaffende Kooperationsgefässe mit der Union.

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Solche neuen, differenzierten Kooperationsmodelle mit der EU könnten, falls sie sich tatsächlich verwirklichen sollten, auch für die Schweiz von Interesse sein. Die Schweiz tut deshalb gut daran, die Drittstaaten- und Erweiterungspolitik der EU weiterhin aufmerksam zu verfolgen.

Euro-Krise: Seit dem Frühjahr 2010 befindet sich die gemeinsame Währung der 16 EU-Mitgliedstaaten, die den Euro-Raum bilden, in einer Krise, die viele Fragen bezüglich der Zukunft des vor elf Jahren eingeführten Euro aufwirft.

Die Verwerfungen der globalen Finanzkrise von 2007 und 2008 schärften das Risikobewusstein der Kapitalmärkte und den Blick für interne Spannungszonen der Währungsunion, die mit der komplexen Aufgabe befasst ist, eine stabilitätsorientierte Geldpolitik für nach wie vor heterogene Volkswirtschaften durchzusetzen.

Denn divergierende Wettbewerbsfähigkeiten, Realzinsen und Verhaltensweisen bezüglich der Haushaltsdisziplin hatten zu Ungleichgewichten innerhalb der Zahlungsbilanzen der Euro-Zone und einer hohen Verschuldung in der Euro-Zone geführt. Nachdem das Vertrauen der Kapitalmärkte in die Zahlungsfähigkeit einiger Euro-Staaten geschwunden war, schnürte die EU beispiellose Rettungspakete, um gemeinsam mit dem IWF die ausbleibende Marktliquidität vorläufig zu ersetzen oder wieder in Gang zu bringen.

Gleichzeitig lancierte die EU eine Diskussion über längerfristige Reformen, die über die eilends vereinbarten Rettungsmassnahmen hinausgehen würden. Zurzeit diskutierte Reformvorschläge zielen vor allem auf eine stringentere Durchsetzung der Haushaltsdisziplin, aber auch auf die Bildung einer stärkeren fiskalpolitischen Koordination und wirtschaftspolitischen Konvergenz der Mitglieder der Währungsunion. Zurzeit ist offen, inwiefern die Ideen konkrete Änderungen für die Euro-Zone und gegebenenfalls die gesamte EU nach sich ziehen werden. Sie deuten jedoch in die Richtung einer vertieften Integration. Die gemeinsame Währung ist eine vertragsrechtlich festgelegte Finalität der EU. Ein Scheitern der Stabilisierung des Euro oder gar der Währungsunion könnte schlimmstenfalls das bisher erfolgreiche Projekt der europäischen Einigung in seinen Grundfesten erschüttern.

Die EU-interne Problematik der gefährdeten Währungsunion entzieht sich der direkten Einflussmöglichkeit der Schweiz. Die schweizerische
Exportwirtschaft wird jedoch mit zusätzlichen Unsicherheiten konfrontiert, die vor allem den Wechselkurs des Schweizerfrankens gegenüber dem Euro und die wirtschaftliche Dynamik eines ihrer wichtigsten Absatzmärkte betreffen. Die von der EU zu bewältigende Aufgabe dürfte einiges an politischem Einsatz absorbieren und den Blick der EU vermehrt nach innen richten. Disharmonien unter den Mitgliedstaaten sind nicht auszuschliessen, selbst wenn die EU-internen Diskussionen schlussendlich zu einer noch enger zusammenarbeitenden Union führen könnten. Die damit verbundenen Unwägbarkeiten könnten die Schweiz in ihrem engen Verhältnis zur EU vor neue Herausforderungen stellen.

Je intensiver die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU sind, desto stärker wird die schweizerische Wirtschaft von den Konjunkturschwankungen ihres wichtigsten Partners betroffen sein, einschliesslich der Wechselkursschwankungen des Schweizerfrankens gegenüber dem Euro. Die SNB hat bekanntlich umfangreiche Euro-Käufe getätigt, um den anhaltenden Aufwertungsdruck auf den Schweizerfranken zu verringern. Der Umfang dieser Euro-Reserven wiederum macht deutlich, dass die Schweiz grosses Interesse an der Stabilität der europäischen Einheitswährung hat.

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Der bilaterale Weg vor neuen Herausforderungen Der Bundesrat hat an seiner Klausur vom 18. August 2010 bekräftigt, dass er an der Strategie des bilateralen Weges festhalten will.1 Einer der Vorteile des bilateralen Weges ist die Tatsache, dass er sektorielle Kooperationen in klar abgegrenzten Bereichen betrifft, während er in Bereichen, in denen keine vertraglichen Beziehungen zur EU bestehen, Handlungsspielräume zulässt, die autonome, gegebenenfalls auch vom EU-Recht abweichende Lösungen erlauben. In der EU sind jedoch Entwicklungen festzustellen, die solche Handlungsspielräume enger werden lassen2.

Daher sollten die Spielräume namentlich in den Bereichen Steuer-, Wirtschafts- und Handelspolitik weitestmöglich ausgenutzt werden, wobei die Grenzen dieser Spielräume realistisch einzuschätzen sind3.

Es In diesem Sinne ist auch die Frage einer Einflussnahme der Schweiz auf Entscheide zu untersuchen, die sie direkt oder indirekt betreffen. So ist zu bedenken, dass die durch den bilateralen und sektoriellen Ansatz ermöglichte Erhaltung autonomer Bereiche, die vom EU-Recht nicht berührt werden, zwar Vorteile namentlich in den Beziehungen zu Drittstaaten mit sich bringt, dass sie aber auch zunehmendes Diskriminierungspotenzial vor allem im Hinblick auf den Zugang zum Binnenmarkt des wichtigsten Wirtschafts- und Handelspartners birgt4. Unabhängig vom konkreten Grad der Kompatibilität zwischen EU-Acquis und Schweizer Recht in einzelnen Sachbereichen ist generell festzuhalten, dass das ­ sich permanent weiter entwickelnde ­ Recht der EU für die Schweiz ein zentraler Parameter für ihre eigene Rechtssetzung ist, vor allem zum Erhalt und zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft auf dem europäischen Markt. Will die Schweiz zudem bilaterale Abkommen in neuen Sektoren abschliessen, ist der EU-Acquis im betreffenden Bereich die Richtschnur. Die Integration der Schweiz in den Rechtsraum der EU dürfte sich somit in Zukunft weiter verstärken, auch wenn sie institutionell den bisherigen bilateralen Weg weiterverfolgt.Auf politischer Ebene gilt es, diese Handlungsspielräume zu analysieren, und zwar zum einen im Hinblick auf autonome aussenpolitische Handlungsmöglichkeiten, namentlich im Bereich der Vermittlung und der guten Dienste5, und zum anderen im Hinblick auf die Solidarität zwischen den
Mitgliedstaaten der EU. Die jüngsten Entwicklungen zeigen, dass eine solche Solidarität in einer Krisensituation nützlich und sogar entscheidend sein kann. Bis anhin hat die Schweiz freiwillig weitgehend auf diese Solidarität verzichtet. Als Beispiel hierfür sei die zunehmende Konsequenz der EU-Mitgliedstaaten bei der Unterstützung von Kandidaturen ihrer eigenen Staatsangehörigen für wichtige Ämter in internationalen Organisationen genannt, bei denen die Schweiz das Nachsehen hat.

1

2 3 4 5

Bericht des Bundesrates über die Evaluation der schweizerischen Europapolitik (in Beantwortung des Postulats Markwalder [09.3560] «Europapolitik. Evaluation, Prioritäten, Sofortmassnahmen und nächste Integrationsschritte» vom 17. September 2010, BBI 2010 7239 ff.

Aussenpolitischer Bericht vom 2. September 2009, BBl 2009 6334 ff.

Aussenpolitischer Bericht vom 2. September 2009, BBl 2009 6336.

Bericht des Bundesrates vom 17. September 2010 über die Evaluation der schweizerischen Europapolitik, Ziff. 2.2., BBl 2010 7293 L. Goetschel, D. Michel «Der aussenpolitische Handlungsspielraum der Schweiz als Nichtmitglied des Europäischen Union: ein Blick auf einige Aspekte der Friedensförderung», Basler Schriften zur europäischen Integration, Nr. 89, 2009.

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Der Einbezug von EU-Partnern in die Bemühungen der Schweiz um die Freilassung der Schweizer Bürger, die willkürlich in Libyen festgehalten wurden, ist in diesem Zusammenhang ebenfalls zu erwähnen. Es ist namentlich der Beteiligung der Schweiz an den Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen des Schengener Gemeinschaftsgebiets zu verdanken, dass sie auf das Engagement ihrer Schengen-Partner und insbesondere der spanischen Präsidentschaft und der Bundesrepublik Deutschland als Vermittler zählen konnte. Diese Unterstützung seitens starker Partner, die bei den zahlreichen Verhandlungen in Madrid und Berlin auf hoher Ebene tätig wurden, trug massgeblich zur Freilassung der beiden Schweizer Geiseln in Libyen bei.

Mehr als je zuvor muss die Schweiz also die Vor- und Nachteile einer zweifellos sehr weit entwickelten, aber sektoriellen europäischen Integration abwägen. Dies geschieht in einem Umfeld, das von steigenden Forderungen der EU bezüglich der Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des bilateralen Weges sowie von zunehmenden Schwierigkeiten beim Zugang zum EU-Binnenmarkt für Schweizer Wirtschaftsakteure geprägt ist.

Ausblick Hinsichtlich der künftigen Entwicklung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU gilt es, Folgendes zu beachten:

6

­

Die Europapolitik ist ein Instrument im Dienst der Verfassungsziele: Die Schwierigkeit der Europapolitik liegt nicht in der Festsetzung der Ziele, sondern in der Festlegung, wie diese Ziele am besten erreicht werden können.

Es stellt sich mit anderen Worten nicht die Frage, ob es angezeigt ist, der EU beizutreten, sondern die Frage, welcher Umgang mit ihr am sinnvollsten ist.

­

Positive Bilanz hinsichtlich Wohlstand, Sicherheit und nachhaltiger Entwicklung: Auf dieser Ebene hat der bilaterale Weg bis jetzt die weitgehende Verwirklichung der Ziele der Schweiz erlaubt. Zudem wird dieser Weg von einer grossen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt, wie mehrere Volksabstimmungen in jüngerer Zeit bestätigten.

­

Gemischte Bilanz hinsichtlich Unabhängigkeit und Souveränität: In immer mehr Bereichen muss die Schweiz europäisches Recht übernehmen, an dessen Ausarbeitung sie nicht teilgenommen hat6. Als Nichtmitglied der EU ist die Schweiz zudem einem hohen Risiko der politischen und wirtschaftlichen Diskriminierung ausgesetzt. Darüber hinaus will die EU das europäische Recht auf Drittländer wie die Schweiz ausdehnen. Daher wünscht sie, dass die Schweiz sich beim Abschluss künftiger Abkommen verpflichtet, auch die Weiterentwicklungen des entsprechenden Gemeinschaftsrechts zu übernehmen. Für die Schweiz steht fest, dass die Abkommen veränderten Bedürfnissen angepasst werden müssen, dass jedoch eine automatische Übernahme von EU-Rechtsvorschriften ausgeschlossen ist. Die Entwicklungen müssen umso aufmerksamer verfolgt werden, als sie unsere Souveränität und unsere Autonomie zu beeinträchtigen tendieren.

Nach verschiedenen Studien (z.B. Emilie Kohler 2009, Influences du droit européen sur la législation suisse: analyse des années 2004 à 2007; Ali Arbia 2006, The Road not Taken ­ Europeanisation of Laws in Austria and Switzerland 1996­2005) beträgt der Prozentsatz der (zumindest teilweisen) Anpassung der jüngsten Rechtsvorschriften des Bundes an EU-Recht zwischen 40 % und 60 %.

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Die grösste Herausforderung der Europapolitik besteht darin, die Voraussetzungen unseres Wohlstands in einer Weise zu sichern, die der Schweiz maximalen Handlungsspielraum bietet und es ihr erlaubt, ihre Souveränität zu wahren. In keinem anderen Bereich ist das Spannungsfeld zwischen der Ausübung der nationalen Souveränität und der Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit so deutlich wie in den Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU. Hier steht vieles auf dem Spiel, denn der Einfluss der EU nimmt in einer ganzen Reihe von Bereichen auf Kosten des nationalen Entscheidungsspielraums zu. Im Übrigen ist auch festzuhalten, dass sich die Durchsetzungsmöglichkeiten der EU-Mitgliedstaaten mit dem Integrationsprozess verbessert haben. So hat etwa die Stellungnahme eines nicht der EU angehörenden Staates zwar eine gewisse Resonanz, aber weniger Gewicht. Mit dem Beitritt zur EU treten die Staaten zwar Entscheidungsbefugnisse nationaler Behörden an die EU ab, aber sie gewinnen durch die Vergemeinschaftung ihrer Interessen und Stellungnahmen auch an Einfluss und können ihre Souveränität gegenüber der restlichen Welt mit mehr Nachdruck ausüben.

Die Frage, inwieweit gerade in der Europapolitik die zunehmende internationale Zusammenarbeit zu einem Verlust der Unabhängigkeit und der Souveränität führt, verdient eine offene Debatte, die über polarisierende und einseitige Argumentationslinien hinausgeht. Wir müssen die Kosten und die Vorteile einer Teilnahme bzw.

Nichtteilnahme an internationalen Institutionen und Gremien abwägen. Wenn wir beitreten und uns an den europäischen Steuerungsprozessen beteiligen würden, könnten wir zwar stärker auf die Entscheide Einfluss nehmen, aber das Spannungsverhältnis zwischen nationaler Souveränität und internationalem Einfluss würde bestehen bleiben. Andererseits birgt isoliertes Handeln auch die Gefahr von feindseligen Reaktionen oder Retorsionsmassnahmen und fordert manchmal einen Preis, der höher ist als der Preis der Zusammenarbeit. Es wäre ein Irrtum zu glauben, ein so reiches Land wie die Schweiz könne sich den Luxus erlauben, die Leistung eines Beitrags zur Lösung der Probleme des Kontinents abzulehnen. Eine solche Haltung wird heute immer kostspieliger. Daher ist der Bundesrat der Überzeugung, dass ­ insbesondere in der Europapolitik ­ ein Alleingang nicht in
Frage kommt7.

Bei den derzeitigen Gesprächen mit der EU über die Möglichkeiten, wie wir unsere Beziehungen den neuen Bedürfnissen anpassen können, geht es in erster Linie um die Frage, wie wir die Wahrung unserer Souveränität und unserer Autonomie vereinbaren können mit unserem Interesse, an Entscheidungen beteiligt zu sein, die uns direkt oder indirekt beeinflussen. Es geht namentlich darum zu gewährleisten, dass jede Übernahme von EU-Rechtsvorschriften im Rahmen der bilateralen Abkommen mit einer angemessenen Beteiligung an der Ausarbeitung dieser Normen verbunden ist.

Abschliessend ist festzuhalten, dass der Bundesrat den bilateralen Weg fortsetzen und weiterentwickeln will, jedoch der Auffassung ist, dass hierzu die institutionellen Voraussetzungen überprüft werden müssen, damit der Zugang zum Markt möglichst gut vereinbart werden kann mit der Wahrung unserer Entscheidungsautonomie. Dies ist der Massstab, an dem die Ergebnisse der gemeinsamen Arbeitsgruppe Schweiz­ EU, die sich mit den institutionellen Fragen befasst, zu messen sind. Längerfristig ist zu überlegen, ob die effektive Ausübung unserer Souveränität und die materiellen

7

Bericht des Bundesrates vom 17. September 2010 über die Evaluation der schweizerischen Europapolitik, Ziff. 3.2.1., BBl 2010 7287

1040

Vorteile der bilateralen Abkommen auch weiterhin die mit dem bilateralen Weg verbundene mangelnde Beteiligung an den Entscheidungsprozessen kompensieren.

2.2.2

Europarat

Allgemeines Der Europarat ist die einzige gesamteuropäische zwischenstaatliche Organisation mit nahezu umfassender Mitgliedschaft8. Nachdem die osteuropäischen Staaten ­ allen voran Russland und die Ukraine ­ sowie die Türkei der Europäischen Union auf absehbare Zeit nicht beitreten dürften, wird der Europarat auf lange Sicht ein wichtiges Forum für die gesamteuropäische Zusammenarbeit bleiben. Dabei steht der Europarat für die wesentlichen Grundwerte unseres Kontinents ein, zu denen sich alle Mitgliedstaaten unabhängig von ihren Partikularinteressen bekennen.

Gleichzeitig stellen die verschiedenen Organe des Europarats wertvolle Gefässe für eine enge Zusammenarbeit nationaler Entscheidungsträger auf verschiedenen Ebenen bereit.9 Von Bedeutung sind ebenfalls die rechtliche Verbindlichkeit der in völkerrechtlichen Konventionen festgehaltenen Standards, welche zum Teil durch

8

9

Weissrussland, Kosovo sowie der Heilige Stuhl gehören dem Europarat bisher nicht an.

Sie sind ­ mit Ausnahme von Kosovo ­ Mitglieder der OSZE (siehe Ziff. 2.2.3), der zusätzlich auch die USA, Kanada, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan angehören.

Das Ministerkomitee auf Regierungsebene, die Parlamentarische Versammlung für die Vertreter der nationalen Parlamente, der Kongress der Gemeinden und Regionen Europas für lokale und regionale Mandatsträger, diverse Ausschüsse für nationale Regierungs- und Nichtregierungsexpertinnen und -experten.

1041

entsprechende Überprüfungsmechanismen ergänzt werden10, durch die sich der Europarat etwa von der OSZE (siehe Ziff. 2.2.3.) unterscheidet.

Für die Schweiz hat der Europarat eine doppelte Bedeutung: Einerseits decken sich die vom Europarat propagierten Prioritäten der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie weitgehend mit den in der Bundesverfassung verankerten Grundsätzen und tragen damit zu deren Verbreitung im strategischen Umfeld der Schweiz bei. Andererseits ergeben sich für die Schweiz Möglichkeiten zur Mitwirkung an der Gestaltung europäischer Politik in den vom Europarat betreuten Bereichen.

Der Europarat bietet sich daher aus schweizerischer Sicht als Plattform für einen europaweiten Dialog über und für die Suche nach Lösungen für eine Reihe von internationalen Herausforderungen an, unter Berücksichtigung der vollen Achtung der Menschenrechte, der Anwendung der Rechtsstaatlichkeit sowie der Förderung der Demokratie. Die Schweiz verfügt auf diesen Gebieten aufgrund ihres politischen Systems, ihrer föderalistischen Struktur und ihrer politischen Kultur über einschlägige Erfahrungen, die sie in den Europarat einbringen kann.

Vorsitz der Schweiz im Ministerkomitee Die Schweiz hatte vom 18. November 2009 bis zum 11. Mai 2010 turnusgemäss den Vorsitz des Ministerkomitees inne. Dieser Vorsitz ging mit einer Erhöhung von diplomatischen Aktivitäten sowie zusätzlichen, teilweise auch für eine breitere Öffentlichkeit bestimmten Anlässen einher. Der schweizerische Vorsitz hat diese Gelegenheit genutzt, um dem Europarat einige gezielte Impulse zu verleihen. Wichtigstes Anliegen war dabei die Lancierung eines Reformprozesses für den chronisch überlasteten Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg, der sich zurzeit mit ungefähr 120 000 hängigen Beschwerden konfrontiert sieht und dadurch in seiner Handlungsfähigkeit stark beschränkt wird. Aus diesem Grund hat sich die Schweiz während ihres Vorsitzes im Ministerkomitee des Europarates dafür eingesetzt, die Reform des Gerichtshofs energisch voranzutreiben. Ein erster Erfolg konnte im Rahmen der von der Schweiz organisierten Ministerkonferenz vom 18./19. Februar 2010 über die Zukunft des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Interlaken erreicht werden, anlässlich welcher Russland das 14. Zusatzprotokolls zur
EMRK ratifizierte und damit die Möglichkeit zu wichtigen Massnahmen zugunsten des Gerichtshofs ebnete.

Dazu legte der schweizerische Vorsitz den Mitgliedstaaten den Entwurf einer Erklärung mit Aktionsplan vor. Die Erklärung konnte an der zu diesem Zweck einberufenen hochrangigen Konferenz am 19. Februar 2010 in Interlaken erfolgreich verabschiedet werden. Die Mitgliedstaaten bekräftigen darin ihr politisches Engagement für den Gerichtshof und legen Eckwerte sowie einen Zeitplan für den weiteren Reformprozess fest. Die «Erklärung von Interlaken» und der daraus entstandene «Interlakener Prozess» werden die Reformdiskussion der kommenden Jahre stark

10

Zu diesen zählen neben dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte das Europäische Komitee zur Verhütung der Folter (CPT), die Staatengruppen gegen Korruption (GRECO) und gegen Menschenhandel (GRETA) sowie die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI). Diese Mechanismen tragen nicht nur zu einer effektiven nationalen Umsetzung der entsprechenden Übereinkommen, sondern auch zur Schaffung eines einheitlichen Rechtsraums in Europa bei. Eine wichtige Rolle spielt daneben auch der Menschenrechtskommissar, der in seinen Berichten auf Menschenrechtsprobleme in den Mitgliedstaaten hinweist und über eine grosse Autorität verfügt.

1042

prägen. Damit konnte auch der Ruf der Schweiz als den Menschenrechten und ihrer konkreten Durchsetzung stark verpflichtetes Land nachhaltig gefestigt werden.

In ihrer Eigenschaft als Vorsitzende des Ministerkomitees engagierte sich die Chefin des EDA persönlich für Fortschritte in verschiedenen politischen Fragen, die das Ministerkomitee regelmässig beschäftigen. So reiste sie im Januar 2010 nach Georgien und im April 2010 nach Bosnien-Herzegowina, um sich vor Ort über die Umsetzung von Reformen zu informieren und um die Arbeit des Europarats in diesen Ländern zu unterstützen. In Georgien setzte sie sich unter anderem für die Arbeit des Kommissars für Menschenrechte des Europarats und insbesondere für einen besseren Zugang internationaler Organisationen zur notleidenden Bevölkerung in den abtrünnigen Provinzen ein. In Bosnien-Herzegowina ermunterte sie die Behörden, die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verordneten Reformen rasch umzusetzen und dabei auf die Expertise des Europarats und insbesondere der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (VenedigKommission) zurückzugreifen.

Die Vorsitzende unternahm überdies erhebliche Anstrengungen zugunsten einer Annäherung Weissrusslands gegenüber dem Europarat und traf sich in diesem Zusammenhang mit den höchsten Vertretern dieses Landes. Wegen des Vollzugs zweier Todesurteile im März erfuhren diese Bemühungen allerdings einen Rückschlag. Auch nach Ende des Vorsitzes unterstützt die Schweiz diesen wichtigen Prozess weiterhin und hat dem Generalsekretariat des Europarats dafür einen Experten zur Verfügung gestellt.

Ausserdem setzte sich die Vorsitzende für eine engere Zusammenarbeit des Europarats mit anderen internationalen Organisationen sowie für vermehrte Effizienz und Transparenz der Strassburger Organisation ein. Sie arbeitete zu diesem Zweck eng mit dem Ende September 2009 neu gewählten Generalsekretär der Organisation zusammen. Auf dessen Wunsch stellte die Schweiz dem Europarat einen erfahrenen Diplomaten als Berater für die Reformen innerhalb der Organisation zur Verfügung.

Die Beziehungen zwischen der Parlamentarischen Versammlung und dem Ministerkomitee, den beiden Hauptorganen des Europarats, hatten im Zuge des Wahlverfahrens des neuen Generalsekretärs 2009 eine erhebliche Belastung erfahren. Der Schweizer Vorsitz
setzte sich für eine vertiefte Zusammenarbeit zwischen dem Ministerkomitee und der Parlamentarischen Versammlung ein. Dies gelang umso besser, als in der Schweiz die Beziehungen zwischen der parlamentarischen Europaratsdelegation und den zuständigen Stellen in der Bundesverwaltung traditionell eng und intensiv sind.

Die Schweiz hat als Vorsitzland des Ministerkomitees in Zusammenarbeit mit dem Europarat sowie mit verschiedenen schweizerischen Stellen und Institutionen rund ein Dutzend Veranstaltungen in allen Landesteilen der Schweiz durchgeführt oder durchführen lassen. Zu diesen zählen neben der bereits erwähnten Interlakener Konferenz über die Zukunft des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte insbesondere eine Konferenz über Demokratie und Dezentralisierung in St. Gallen

1043

(3. und 4. Mai 2010), die auf reges Interesse im In- und Ausland stiess und einen Beitrag zur Stärkung der Demokratie leistete.11 Insgesamt hat es der Vorsitz des Ministerkomitees des Europarats der Schweiz erlaubt, ihr politisches Profil im gesamteuropäischen Umfeld zu schärfen und in wichtigen Fragen ihre Erfahrung und ihre Kapazitäten zur Lösung von Problemen unter Beweis zu stellen. Sowohl im Ausland als auch im Inland gelang es, dem Europarat mehr Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit zu verschaffen.

Die unter dem schweizerischen Vorsitz eingeleiteten Reformen werden im Europarat in den kommenden Jahren eine prägende Rolle spielen. Dies gilt sowohl für den langfristig angelegten Folgeprozess von Interlaken über die Zukunft des Gerichtshofs als auch für die vom Generalsekretär vorangetriebenen institutionellen und administrativen Anpassungen und Veränderungen. Zudem dürfte sich das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, der unter anderem den Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vorsieht, auch auf das institutionelle Verhältnis zwischen Europarat und EU auswirken. Diese für Mitgliedstaaten und Nicht-Mitgliedstaaten der EU gleichermassen bedeutende Frage wird die Strassburger Organisation in der nächsten Zeit zweifellos intensiv beschäftigen.

Perspektiven Die raschen und teils tiefgreifenden Veränderungen des wirtschaftlichen und sozialen Umfelds setzen nicht nur Menschen, Gesellschaften und Staaten zu. Durch die zunehmenden sozialen Spannungen gerät auch der europäische Grundwertekanon unter Druck. Der mit der Gewährleistung der menschenrechtlichen, rechtsstaatlichen und demokratischen Grundwerte beauftragte Europarat ist hier mit einer zunehmend anspruchsvollen Aufgabe konfrontiert, die er mit gleich bleibenden oder gar schwindenden Mitteln ­ Stichwort Nullwachstum ­ bewältigen muss.

11

Weitere Veranstaltungen: ­ Tagung des Präsidiums und des Ständigen Ausschusses der Parlamentarischen Versammlung, Bern, 19.­20. November 2009.

­ Tagung des Ständigen Ausschusses des Übereinkommens von Bern (Übereinkommen über die Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume), 30-jähriges Jubiläum, Bern, 23.­26. November 2009.

­ Interkulturelle Städte / Internationales Treffen in Neuenburg: «Kulturelle Vielfalt in der Schweiz: Welche Gouvernanz?», Ansprache der amtierenden Präsidentin, Neuenburg, 27. November 2009.

­ Tagung des Vorstands des Kongresses der Gemeinden und Regionen, Lugano, 15. Januar 2010.

­ Treffen europäischer Expertinnen und Experten für Kulturpolitik im Rahmen des Projekts Compendium des Europarates, Zürich, 9.­10. April 2010.

­ Tagung des Netzwerks der Pilotgerichte der zum Europarat gehörigen Europäischen Kommission für die Wirksamkeit der Justiz, Genf, 12.­14. April 2010.

­ Internationale Konferenz über die Vorbereitung der praktischen Umsetzung des Europaratsübereinkommens zur Bekämpfung von Fälschungen medizinischer Produkte und ähnlichen Straftaten, die die öffentliche Gesundheit bedrohen (Übereinkommen MEDICRIME), Basel, 15.­16. April 2010.

­ Kolloquium über die Schweiz und die grenzüberschreitenden Beziehungen, Montreux, 22. April 2010.

­ Informationsveranstaltung über den Beitrag des Europarats zur Förderung der Jugendpolitik in der Schweiz, Bern, 28. April 2010.

­ Seminar über Minderheiten und Völkerrecht, Ansprache der amtierenden Präsidentin, Zürich, 29.­30. April 2010.

­ Europatag der Universität Freiburg, Vortrag und Diskussion, Freiburg, 5. Mai 2010.

1044

Vor diesem Hintergrund zielen die von Generalsekretär und Mitgliedstaaten gemeinsam vorangetriebenen Reformen auf die Stärkung der politischen Relevanz und die erhöhte Effizienz des Europarats ab. Ein wesentliches Element ist dabei der bevorstehende Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Damit wird die EU Teil eines gesamteuropäischen Rechtsraums und würde den Europarat in seinen Kernbereichen nicht mehr wie bis anhin zumindest implizit konkurrenzieren.

Eine weitere Herausforderung für den Europarat besteht darin, die noch bestehenden geografischen Lücken in diesem Rechtsraum zu füllen. Diese Lücken betreffen einerseits das Nichtmitglied Weissrussland sowie den ­ nicht von allen Mitgliedstaaten anerkannten ­ Kosovo, andererseits aber auch Konfliktgebiete auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion wie Transnistrien, Abchasien, Südossetien und Berg-Karabach.

Erste Ansätze zu einer stärkeren politischen Rolle des Europarats in diesem Bereich äussern sich in der Schaffung eines politischen Planungsstabs im Sekretariat sowie den Vermittlungsbemühungen des Generalsekretärs zwischen Regierung und Opposition in Moldawien. Aus schweizerischer Sicht ist dabei auch von Bedeutung, dass diese Aktivitäten zu keinen Doppelspurigkeiten mit anderen Organisationen führen.

Die eingangs genannte Anpassungskrise ist in der Schweiz bisher weniger stark spürbar geworden als in anderen europäischen Ländern. Von den genannten gesellschaftspolitischen Herausforderungen ist sie jedoch gleichermassen betroffen. Zwar wird die Schweiz auch im Europarat weiterhin oft als Vorbild genannt. Politische Entscheide wie beispielsweise das Minarettverbot stossen jedoch verbreitet auf Kritik und Ablehnung und werden generell aufmerksamer wahrgenommen als früher. Für die schweizerische Aussenpolitik ergibt sich daraus auch in Strassburg ein erhöhter Erklärungsbedarf, und es kommt zu Rückwirkungen auf die öffentliche Diskussion in der Schweiz. Allgemein ist absehbar, dass die Bedeutung des Europarats als Schnittstelle für gesellschaftspolitische Diskussionen gegenüber dem Ausland eher noch zunehmen wird.

2.2.3

OSZE

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) steht an einem Scheideweg. Gelingt es ihr, die gegenwärtige Blockbildung zwischen den 1045

NATO-Staaten einerseits sowie Russland und gleichgesinnten Staaten andererseits zu durchbrechen, so könnte sie als regionale Organisation wieder vermehrt die Rolle in der internationalen Sicherheitspolitik spielen, für die sie das Potenzial hat. Einerseits ist die OSZE eine Diskussionsplattform, die den euro-atlantischen und den euro-asiatischen Raum kombiniert, andererseits verfügt die Organisation über ein einzigartiges, multidimensionales Sicherheitskonzept. Dessen Grundgedanke besteht darin, dass zur Gewährung langfristiger Sicherheit nicht nur militärische Aspekte beachtet werden müssen, sondern auch wirtschaftlich-umweltpolitische sowie die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Menschenrechte.

Wegen erheblicher Differenzen über die Umsetzung dieser Prinzipien und infolge einer Verschiebung des militärischen Kräftepotenzials in Europa zugunsten der NATO entwickelte sich unter den OSZE-Teilnehmerstaaten eine wachsende Vertrauenskrise. Diese hindert die OSZE daran, ihr Potenzial voll zur Geltung zu bringen. Die OSZE ist besonders auf Vertrauen zwischen ihren Teilnehmerstaaten angewiesen, denn die Entscheide, die ausschliesslich im Konsens gefällt werden, sind in der Regel nur politisch und nicht rechtlich verbindlich. Die OSZE funktioniert zudem häufig mit einem Ansatz der «Best Practices», was die Bereitschaft der Staaten voraussetzt, voneinander zu lernen. Als Organisation ohne Charta und mit verhältnismässig geringen institutionellen Kapazitäten ist die OSZE noch stärker vom politischen Willen der Staaten zur Zusammenarbeit abhängig als andere vergleichbare Organisationen.

Der Handlungsspielraum der OSZE ist angesichts der Erweiterung der NATO wie auch der EU in Osteuropa eher kleiner geworden. Des Weiteren werden wichtige sicherheits- und abrüstungspolitische Fragen wieder vermehrt bilateral und direkt zwischen den USA und Russland gelöst. Daraus resultiert eine gewisse Schwächung des Multilateralismus, was insbesondere für kleinere, unabhängige Staaten wie die Schweiz eine Herausforderung darstellt.

Für die OSZE kommt erschwerend hinzu, dass die Prioritäten der Teilnehmerstaaten innerhalb der Organisation und ihre Vorstellungen über die Zukunft der Organisation stark voneinander abweichen. Auf der einen Seite rückt Russland die militärisch-politische Dimension in
den Vordergrund, vor allem Aspekte der Rüstungskontrolle. Auf der anderen Seite bestehen viele Länder der EU, der NATO und auch die Schweiz weiterhin auf einer effektiveren Umsetzung der OSZE-Verpflichtungen bei den Prinzipien der Menschenrechte, Rechtstaatlichkeit und Demokratie. Die USA sowie Kanada und Grossbritannien legen zudem grossen Wert auf ein verstärktes Engagement der OSZE im benachbarten Afghanistan. Kasachstan ­ dessen OSZE-Vorsitz 2010 die zunehmende Bedeutung Zentralasiens für die OSZE spiegelt ­ ist ebenfalls bemüht, die Zusammenarbeit mit Afghanistan vor allem in den Bereichen der Bekämpfung des Drogenschmuggels und des Terrorismus zu vertiefen.

Diese Bereiche, die Teilbereiche eines weiteren Begriffs der nicht-militärischen Sicherheit sind, haben in den letzten Jahren zunehmend Gewicht erlangt. Allerdings fehlte ein kohärenter Ansatz, denn einzelne Teilnehmerstaaten haben Partikularinteressen priorisiert und einzelne Aspekte mit ausserbudgetären Mitteln vorangetrieben.

Nicht zuletzt aufgrund dieser Interessengegensätze tendiert die OSZE dazu, sich in immer breiter gefassten Aktionsfeldern zu verzetteln.

Das oben erwähnte Vorhaben Russlands, den vertraglichen Status quo in der europäischen Sicherheitspolitik zu verändern, stellt für die OSZE eine grosse Herausforderung dar. Die russischen Vorschläge reichen von einem möglichst raschen Inkrafttreten des angepassten Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa 1046

(KSE-Vertrag) sowie dessen Weiterentwicklung bis zu einem ambitiösen Projekt Präsident Medwedews für einen «Neuen Europäischen Sicherheitsvertrag», der alle Fragen zur Sicherheit und Rüstungskontrolle in Europa klären soll.

Vor dem Hintergrund der Blockierung der OSZE, der erwähnten Initiative Präsident Medwedews sowie des russisch-georgischen Konflikts von 2008 einigten sich die OSZE-Teilnehmerstaaten 2009 an der Konferenz von Korfu auf einen breit angelegten Reformdialog. Dieser sogenannte Korfu-Prozess soll das gegenseitige Vertrauen der Staaten stärken, indem politische Differenzen offen thematisiert und die Defizite der OSZE angesprochen werden. Gleichzeitig sollen die mit der Helsinki-Charta und ihren Folgedokumenten übernommenen Verpflichtungen bekräftigt werden. Aus diesem Prozess sollen Reformvorschläge resultieren, die eine umfassendere, einheitliche und unteilbare Sicherheit im ganzen euro-atlantischen und euro-asiatischen Gebiet ermöglichen.

Die Schweiz ist daran interessiert, dass die OSZE gestärkt wird, denn die OSZE ist die einzige europäische sicherheitspolitische Organisation, in der die Schweiz gleichberechtigtes und vollumfängliches Mitglied ist. Die OSZE verfolgt zudem Ziele und Werte, die von der Schweiz geteilt werden, und umfasst als regionale Organisation einen geografischen Raum (unter anderem Balkan, Kaukasus, Zentralasien), der für die Schweiz von sicherheitspolitischer Bedeutung ist. Dabei ist unter anderem zu berücksichtigen, dass diverse Sicherheitsrisiken wie Menschenhandel, Drogenhandel und organisierte Kriminalität prinzipiell aus diesem Raum auf die Schweiz einwirken. In ihm liegen aber auch diverse reale und potenzielle Krisenherde, zu deren Beilegung eine funktionierende OSZE einen gewichtigen Beitrag leisten kann.

Auf der rüstungspolitischen Ebene erlaubt die Verifikationstätigkeit im Rahmen der vertrauens- und sicherheitsbildenden Massnahmen der Schweiz Einblicke in die Entwicklung der Streitkräfte anderer OSZE-Teilnehmerstaaten. Die Schweiz hat im Übrigen historisch bei der Entstehung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), also der Vorläuferorganisation der OSZE, wichtige Impulse gegeben. Insofern trägt ein anhaltender Erfolg der OSZE zum Erfolg der Schweizer Aussenpolitik bei.

Im Sinne einer Stärkung der OSZE beteiligt sich die
Schweiz am Korfu-Prozess. Sie arbeitet darauf hin, dass sich die OSZE wieder vermehrt auf ihre Kernkompetenzen besinnt, also auf jene Bereiche, in denen ihre Aktivitäten einen klaren Mehrwert bringen. Doppelspurigkeiten mit anderen internationalen Organisationen sollen vermieden werden. Dies gilt insbesondere für die wirtschaftlich-umweltpolitische Dimension, wo andere internationale Akteure oft besser positioniert sind. Die Schweiz bemüht sich zudem, im Korfu-Prozess substanzielle Diskussionsbeiträge zu spezifischen Themen zu leisten. Zu diesen gehören die Krisenprävention, die Frage der transnationalen Minderheiten sowie die Beteiligung an Wahlbeobachtungen.

Komplementär zum Korfu-Prozess hat die Schweiz bereits zweimal informelle Rundtischgespräche auf Expertenebene organisiert. In Chambésy bei Genf wurden dabei die jüngsten Entwicklungen in der europäischen Sicherheitspolitik diskutiert, mit Schwerpunkt auf dem russischen Projekt eines neuen europäischen Sicherheitsvertrags. An den Gesprächen nahmen Expertinnen und Experten verschiedener Länder, internationaler Organisationen sowie Think-Tanks teil. Ziel war es, in einem informellen Rahmen den Spielraum für Kompromisse zu ermessen und damit zu einer Annäherung der Positionen beizutragen.

1047

2.2.4

EFTA

Im Mai 2010 feierte die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA) ihr 50-jähriges Bestehen. Sie wurde 1960, kurz nach der Unterzeichnung des Vertrags von Rom und der Schaffung einer Zollunion durch die Gründerstaaten der heutigen EU ins Leben gerufen. Die EFTA umfasste mit Dänemark, Grossbritannien, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden und der Schweiz ursprünglich sieben Mitglieder. Mit der stetigen Erweiterung der EU, der nach und nach auch ehemalige EFTA-Mitgliedstaaten beitraten, veränderte sich die Mitgliedschaft der Organisation. Sie besteht seit 1995 aus Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz. Sinn und Zweck der Organisation ist die Förderung des Freihandels, sei es unter den Mitgliedern oder im Verkehr mit Drittstaaten ausserhalb der EU.

Inzwischen unterhält die EFTA ein Netz von über 20 Freihandelsabkommen mit Staaten oder Territorien in der ganzen Welt, das auch in Zukunft weiter ausgebaut werden soll. Island, Liechtenstein und Norwegen sind als Mitglieder des Europäischen Wirtschaftsraums EWR im Binnenmarkt der EU integriert. Die Schweiz verfolgt als Nicht-Mitglied des EWR eine andere Europapolitik als die übrigen EFTA-Staaten. Die Organisation umschliesst somit heterogene handelspolitische Aufgaben und Interessen.

Oberstes politisches Organ ist der EFTA-Rat auf Ministerebene, der in der Regel zweimal im Jahr tagt und die politischen Leitlinien der Organisation im Konsensverfahren festlegt. Zwischen den Treffen des Rats auf Ministerebene finden jeden Monat weitere Tagungen auf Botschafterebene statt. Als vollwertiges Mitglied der EFTA verfügt die Schweiz in diesen Gremien, abgesehen von den EWR-relevanten Fragen, über die gleichen Rechte und Pflichten wie die anderen EFTA-Mitgliedstaaten. Alle zwei Jahre übernimmt die Schweiz für sechs Monate den Vorsitz.

Zudem ist die Schweiz in den zahlreichen Ausschüssen und Expertengruppen, die dem Rat unterstehen, mit Spezialistinnen und Spezialisten vertreten und beteiligt 1048

sich aktiv an den Prozessen zur Entscheidfindung. Zurzeit stellt die Schweiz einen der zwei stellvertretenden Generalsekretäre am Hauptsitz der EFTA in Genf und hat eine gute Präsenz in der Verwaltung der Organisation.

Island reichte im Juli 2009 ein EU-Beitrittsgesuch ein. Nachdem die EU-Kommission im Februar 2010 die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen empfohlen und der Rat der Europäischen Union im Juni 2010 grünes Licht gegeben hatte, wurden im Juli 2010 Beitrittsverhandlungen aufgenommen. Es ist schwierig vorherzusagen, welches Ergebnis dieser Prozess haben wird, da das Verhandlungsresultat der Bevölkerung in einem Referendum vorgelegt werden wird. Die Konsequenzen eines möglichen Austritts von Island auf das Funktionieren der Organisation müssen zu gegebener Zeit geprüft werden.

Die Schweizer EFTA-Mitgliedschaft stellt ein wirksames Instrument für die Gestaltung der schweizerischen Handelspolitik dar. Die EFTA unterhält zudem eine institutionelle Struktur für die Umsetzung der EWR-Mitgliedschaft der EFTA-Länder Island, Liechtenstein und Norwegen, innerhalb derer die Schweiz den Beobachterstatus hat und dadurch wertvolle Einblicke in die alltägliche Funktionsweise des europäischen Binnenmarkts gewinnt.

2.2.5

Beziehungen zu ausgewählten europäischen Staaten

Die Schweiz ist mit den Staaten Europas politisch, wirtschaftlich, kulturell und migrationsmässig äusserst eng verflochten und wird dies auch weiterhin bleiben. Die europäischen Länder sind die wichtigsten Wirtschaftspartner der Schweiz: 70 % der Schweizer Exporte gehen in EU-Staaten, während 73 % der Importe von dort kommen. Regelmässig erzielen die EU-Staaten einen beachtlichen Handelsbilanzüberschuss; 2009 betrug er 20 Milliarden Franken. Schweizer Unternehmen unterhalten in europäischen Ländern 900 000 Arbeitsplätze, über eine Million Bürgerinnen und Bürger aus EU-Staaten leben und arbeiten in der Schweiz. Deutliches Potenzial zum Ausbau der politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit besteht mit der Türkei, mit Russland sowie mit weiteren Staaten der Region.

Im Folgenden werden Interessenlage und Entwicklungen in den einzelnen Regionen dargestellt, aus denen sich für die Aussenpolitik der Schweiz Herausforderungen, aber auch Möglichkeiten zur Einflussnahme ergeben. Dabei soll aufgezeigt werden, wie die Schweiz diesen Herausforderungen begegnen kann.

Nachbarstaaten Beziehungen mit den Nachbarn als politisches «Brennglas»: Was für die Beziehungen der Schweiz mit den Staaten der EU gilt, trifft in noch stärkerem Mass für die Nachbarstaaten zu. Mit ihnen bestehen die intensivsten und engsten Beziehungen überhaupt, und dies in sämtlichen Bereichen. Beispielsweise wickelt die Schweiz rund die Hälfte ihres Aussenhandels mit Deutschland, Italien, Frankreich und Österreich ab (Schweizer Importe aus Nachbarstaaten 2009: 96 033 Mio.CHF, Schweizer Gesamtimporte 2009: 180 287 Mio. CHF; Schweizer Exporte in Nachbarstaaten 2009: 72 818 Mio. CHF, Schweizer Gesamtexporte 2009: 160 123 Mio.

CHF). Besonders eng ist die Verflechtung in den Grenzregionen, wo auf verschiedensten Ebenen grenzüberschreitend zusammengearbeitet wird (siehe Absatz zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit). Im Berichtsjahr haben mit allen Nachbarländern diverse Treffen auf höchster Ebene stattgefunden, welche es erlaubt haben, 1049

verschiedene aktuelle Probleme zu deblockieren. Im September 2010 fand der Staatsbesuch des neuen deutschen Bundespräsidenten statt.

Diese Konzentration der Beziehungen hat zur Folge, dass Probleme, die sich aus globalen oder europäischen Entwicklungen für die Schweiz ergeben, oft zuerst und am heftigsten mit den Nachbarstaaten thematisiert werden. Klar zeigte sich diese «Brennglas»-Wirkung bei der aussenpolitischen Auseinandersetzung um das Bankgeheimnis, die die bilateralen Beziehungen zu Italien, Frankreich und Deutschland zeitweise beeinträchtigte (z.B. italienische Massnahmen zur Durchsetzung des «scudo fiscale»; Behändigung der Bankdaten, die der HSBC gestohlen wurden, durch Frankreich; Kauf gestohlener Kundendaten von Schweizer Banken durch Deutschland). Zugleich akzentuierte sich im Fiskalbereich die auf gleichgelagerte Werte und Interessen gestützte Partnerschaft mit Österreich.

Es ist deshalb unerlässlich, dass die Schweiz bei ihren Nachbarn Einfluss nimmt, um den Herausforderungen zu begegnen, die sich aus globalen oder europäischen Entwicklungen stellen. Dazu ist ein Dialog auf allen Ebenen und mit sämtlichen Beteiligten notwendig. Zudem ist wesentlich, dass der Dialog auch über die Medien geführt wird.

Grenzüberschreitende Zusammenarbeit ­ gute Rahmenbedingungen für das Prosperieren der Regionen schaffen und Entwicklungshemmnisse beseitigen: Die grenzüberschreitenden Wirtschafts- und Lebensräume wie die Region Oberrhein mit Deutschland, Frankreich und der Schweiz, die Bodensee-Region mit Deutschland, Österreich und der Schweiz, die Region Genf mit Frankreich oder die grenznahen Zentren des Tessins zusammen mit Italien bilden eigentliche Wachstumspole.

Wesentliches Element ist dabei die direkte grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den Kantonen und den entsprechenden Gebietskörperschaften auf der anderen Seite der Grenze. Zugleich haben die Bundesbehörden diese unmittelbare Zusammenarbeit vor allem aussenpolitisch zu unterstützen und zu begünstigen.

Dazu gehört es, günstige Rahmenbedingungen für ihr Prosperieren zu bewirken und gemeinsam Hindernisse für die Entwicklung der Regionen aus dem Weg zu schaffen. Beispiele dafür bilden die laufenden Arbeiten mit Frankreich zum EuroAirport Basel-Mulhouse-Freiburg sowie mit Deutschland zum Flughafen Zürich.

EuroAirport Basel-Mulhouse-Freiburg
­ Verhandlungen mit Frankreich: Es geht darum, zusammen mit Frankreich den Staatsvertrag von 194912 den heutigen Realitäten anzupassen. So hat sich der schweizerische Sektor des Flughafens zu einem wichtigen Standort für Unternehmen entwickelt, die beim Umbau und Unterhalt von Flugzeugen führend sind. Dank diesen Schweizer Firmen ist der EuroAirport heute der zweitgrösste Arbeitgeber der Region Elsass und beschäftigt über 4000 Arbeitnehmende aus Frankreich. Mit hoher Dringlichkeit sind nun Lösungen beim Arbeitsund Sozialrecht zu treffen. Zusammen mit der französischen Regierung hat die Schweiz das Ziel, die Attraktivität, die Aktivität und Beschäftigung durch den Flughafen und die dort ansässigen Unternehmen zu wahren. Wie bei anderen Verhandlungsprozessen ist auch hier die schweizerisch-interne Koordination wesentlich, damit sämtliche Schweizer Partner gegenüber Frankreich kohärente Positionen vertreten und entsprechend einwirken.

12

Französisch-schweizerischer Staatsvertrag vom 4. Juli 1949 über den Bau und Betrieb des Flughafens Basel-Mülhausen in Blotzheim, SR 0.748.131.934.92.

1050

Flughafen Zürich ­ gemeinsame Lärmanalyse als Grundlage für eine Lösung: Der Flughafen Zürich ist die wichtigste Luftverkehrsinfrastruktur der Schweiz und bildet einen wesentlichen Faktor sowohl für die Schweizer Volkswirtschaft als auch für die grenzüberschreitende Region. Die deutschen Anflugbeschränkungen belasten die Beziehungen mit Deutschland seit Jahren. Die Ungleichbehandlung schränkt den Flughafen Zürich im Vergleich zu den Konkurrenten Frankfurt und München ein, obschon die Flugbewegungen einen deutlichen Bezug zu Deutschland haben. So werden rund 70 % der Flugbewegungen am Flughafen Zürich von deutschen Fluggesellschaften ausgeführt oder solchen, die in deutschem Besitz sind (darunter Swiss, Lufthansa, Air Berlin). Fast ein Viertel der Flugbewegungen finden von und nach Deutschland statt. Die im November 2009 veröffentlichte gemeinsame Lärmanalyse, die im April 2008 mit Bundeskanzlerin Merkel vereinbart wurde, zeigt, dass der vom Flughafen Zürich ausgehende Lärm auf deutschem Gebiet unterhalb der Lärmgrenzwerte sowohl des deutschen wie des schweizerischen Rechts liegt.

Die zuständigen Verkehrsminister haben am 22. März 2010 den weiteren Lösungsweg festgelegt. Sie haben einer gemeinsamen Arbeitsgruppe unter Leitung der Luftfahrtsbehörden den Auftrag erteilt, bis Ende 2010 die Eckpunkte einer neuen Vereinbarung zu finalisieren. Basis bildet die gemeinsam durchgeführte Lärmanalyse. Dies wurde an einem Treffen zwischen Bundespräsidentin Leuthard und Bundeskanzlerin Merkel im Mai 2010 nochmals bekräftigt.

Der intensive grenzüberschreitende Austausch bringt Unterschiede in Bezug auf Zollregime, Rechtsnormen und Sozialsysteme, sei es auf nationaler Ebene oder auf EU-Ebene, zu Tage. Oft erfordert dies von den Bürgerinnen und Bürgern, aber auch von den Unternehmen, schwierige Anpassungen und zusätzliche Formalitäten. Es läge im Interesse der Entwicklung der grenzüberschreitenden Wirtschafts- und Lebensräume, wenn gemeinsam lokal beschränkte Lösungsmodelle gefunden werden könnten, damit die jeweils vorteilhaftesten Bedingungen ­ seien es jene der Schweiz oder eines Nachbarstaates ­ Anwendung finden könnten. Allerdings sind für Liberalisierungsansätze klare innenpolitische Leitplanken zu beachten, wie die Diskussion um die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit zeigt.

Gerade im
grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr wären weder Lohn- noch Sozialdumping akzeptabel.

West- und Zentraleuropa Interessenwahrung als Nichtmitglied der EU: Alle west- und mitteleuropäischen Länder mit Ausnahme der Schweiz, Norwegens, Islands und einiger Kleinstaaten sind Mitglied der EU. Diese Tatsache stellt eine Herausforderung für die Aussenpolitik der Schweiz dar. In den EU-Institutionen treffen sich die Vertreterinnen und Vertreter der Regierungen sowie die von diesen Staaten gewählten Abgeordneten sehr häufig. Zusammen erörtern sie ihre jeweiligen Interessen und suchen nach Kompromissen, die langfristig machbar sind. Die Schweiz hingegen muss, wenn sie ihre Interessen wahren will, in den europäischen Hauptstädten ständig ihren Standpunkt erläutern und beispielsweise bei jedem Regierungswechsel von Neuem damit beginnen, ein Klima des gegenseitigen Verständnisses zu schaffen. Denn nicht nur in Brüssel, sondern auch in diesen Hauptstädten wird der künftige Kurs der EU vorbereitet und fallen die Entscheidungen, die auch die Interessen der Schweiz direkt berühren.

1051

Auch in den multilateralen Organisationen spürt die Schweiz die Auswirkungen der Absprachen, die die Mitglieder verschiedener Gruppierungen ihrer Nachbarstaaten getroffen haben. Dies gilt etwa für den Bereich der Menschenrechte, in dem die Schweiz ihre Positionen vertritt und Allianzen eingeht, um ihre aussenpolitischen Ziele zu erreichen oder um in den internationalen Organisationen Schweizer Kandidaten zu platzieren. In dieser Hinsicht ist der Meinungsaustausch mit den europäischen Hauptstädten ebenfalls unverzichtbar.

Der bilaterale Austausch mit den EU-Partnern wird in den technischen Bereichen erleichtert, zum Beispiel dort, wo die Schweiz an der europäischen Komitologie teilnimmt, im Schengen/Dublin-Bereich und in der Verkehrspolitik, denn hier ist die Schweiz in den Gesprächen auf europäischer Ebene vertreten. Zur Aussen- und zur Sicherheitspolitik hingegen unterhält die Schweiz keinen institutionalisierten Dialog mit der EU. Daher sind die bilateralen Kontakte der Schweiz, die die Vertreterinnen und Vertreter des EDA so systematisch wie möglich unterhalten, umso wichtiger.

Die Schweiz beteiligt sich an den aussenpolitischen Debatten der europäischen Gremien dann, wenn die EU an ihrer diplomatischen Tätigkeit interessiert ist und diese als Mehrwert zu eigenen Massnahmen betrachtet. Das Gleiche gilt auch im Hinblick auf andere wichtige Partner wie die USA. So führte zum Beispiel die Vermittlung der Schweiz zwischen Armenien und der Türkei zu Verhandlungen und Treffen mit Vertreterinnen und Vertretern der türkischen und der armenischen Regierung auf Ministeriums- und Staatssekretariatsebene, die sich allein im Jahr 2009 auf mehr als 100 Stunden beliefen. Sie führten auch zu Kontakten mit den USA ­ darunter auch Kontakte mit dem Präsidenten ­ und der EU, die zeitweise wöchentlich oder sogar täglich stattfanden. Hinsichtlich des Nahen Ostens wird die Schweiz zu den von der EU organisierten Tagungen der Aussenministerinnen und Aussenminister sowie zu den sogenannten transatlantischen Tagungen, die die USA organisieren, eingeladen. Auch die gemeinsamen Anstrengungen zur Beilegung bilateraler und internationaler Krisen vertieft den Austausch und die gegenseitige Kenntnis. Selbstverständlich werden diese Foren genutzt, um bei bilateralen Angelegenheiten voranzukommen, doch bei diesem Ansatz wird
in anderer Weise erklärt und Einfluss gesucht, nämlich verstärkt auf der Ebene der Zentrale und auf Ministerebene.

Steuer- und Finanzproblematik: Die Herausforderungen, mit denen der Schweizer Finanzplatz konfrontiert ist, werden unter Ziffer 4.1.2 dieses Berichts behandelt. An dieser Stelle sei lediglich daran erinnert, dass es anlässlich der Finanzkrise, die 2009 ihre Dynamik entfaltete, zu ständigen Angriffen auf die Schweiz und ihr Bankgeheimnis kam. Sowohl auf multilateraler Ebene ­ insbesondere von der OECD und der G-20 ­ als auch auf bilateraler Ebene wurde Druck ausgeübt. Manche westeuropäische Partner sind in der G-20 (und in der OECD) vertreten und waren in dieser Eigenschaft besonders aktiv bemüht, den Finanzplatz zu destabilisieren. Daraufhin begann die Schweiz, die Doppelbesteuerungsabkommen unter Einbezug des OECDStandards bei der Amtshilfe in Steuersachen neu zu verhandeln. Mehrere revidierte Abkommen mit west- und mitteleuropäischen Ländern (Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Grossbritannien, Irland, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Rumänien, Schweden, Slowakei, Spanien) sind inzwischen unterzeichnet oder paraphiert. Die ersten revidierten Abkommen sind im November 2010 in Kraft getreten (Dänemark, Frankreich, Luxemburg). Die grossen Nachbarländer stehen im Mittelpunkt der Steuerstreitigkeiten mit der Schweiz (siehe den Absatz über die Nachbarländer). Grossbritannien ist ein besonderer Fall, denn 1052

London ist ein direkter Konkurrent des Schweizer Finanzplatzes. Luxemburg und Österreich sind derzeit noch objektive Verbündete der Schweiz, da sie ähnliche Interessen haben (Aufrechterhaltung des Bankgeheimnisses); die Situation kann sich allerdings je nach den Entwicklungen im Steuerbereich in der EU ändern. Gerade gegenüber den Staaten West- und Zentraleuropas wird es darum gehen, die Finanzplatzstrategie des Bundesrats weiter umzusetzen und die nötigen Kommunikationsmassnahmen zu ergreifen.

Erweiterungsbeitrag: Die wichtigsten Bereiche der Zusammenarbeit in diesem Rahmen sind Sicherheit, Justiz, Infrastrukturen, Umweltschutz, Privatsektor, Forschung und Stipendien sowie institutionelle Partnerschaften. Bis anhin haben die DEZA und das SECO konkrete Projekte in Höhe von mehr als 500 Millionen Franken gebilligt. Je nach Art des Projekts werden entweder institutionelle Partnerschaften zwischen Einrichtungen des Partnerlandes und der Schweiz geknüpft, oder öffentliche Institutionen der Schweiz bieten in Zusammenarbeit mit vergleichbaren Institutionen im Partnerland Fachwissen an. Der im Dezember 2009 bewilligte Rahmenkredit für Bulgarien und Rumänien dehnt das Handlungsfeld der Schweiz auf diese beiden Länder aus.

Zudem schafft der Erweiterungsbeitrag dank der Sichtbarkeit der Projekte eine Dynamik, die den Interessen der Schweiz dient, indem er die bilateralen Beziehungen zu den Partnerländern fördert. Dies wiederum konsolidiert den guten Ruf der Schweiz, und die Schweizer Vertretungen vor Ort können sich auf diese Zusammenarbeit stützen, um die bilateralen Beziehungen zwischen dem Gaststaat und der Schweiz zu stärken. Auch Schweizer Unternehmen können die Möglichkeiten nutzen, die sich mit der Öffnung der Märkte anbieten, sowohl im Rahmen des Erweiterungsbeitrags als auch im Rahmen von Projekten, die die EU finanziert.

Was die längerfristige Entwicklung anbetrifft, so soll die Wirkung der Projekte evaluiert und in der Schweiz wie im Ausland über die Ergebnisse informiert werden.

Des Weiteren sollen die Projekte ­ möglichst von Schweizer Akteuren ­ betreut werden, damit sie effektiv für die Zielgruppen zum Tragen kommen. Und schliesslich soll der politische Goodwill genutzt werden, der auf diese Weise in den neuen EU-Mitgliedstaaten geschaffen wird.

Südosteuropa Westbalkan: Europäische
Prägung. Der Westbalkan ist für die Schweizer Aussenpolitik eine Schwerpunktregion. Gemäss der 2005 genehmigten SüdosteuropaStrategie des Bundesrates konzentrieren sich die Interessen der Schweiz in der Region oder im Zusammenhang mit der Region im Wesentlichen auf vier Bereiche: erstens die Stabilität der Region, und zwar im Sinne der Prävention von Konflikten, die sich auch auf die Schweiz direkt auswirken würden; zweitens die Sicherheit im Sinne der Sicherheit des ganzen Kontinents wie auch der inneren Sicherheit der Schweiz; drittens die Wirtschaft in dem Bestreben, das mittelfristige Potenzial der Region bestmöglich zu nutzen, und viertens die Migration, denn in dieser Hinsicht ist die Region von nicht unerheblicher Bedeutung. Trotz der Veränderungen, die sich seit 2005 in der Region vollzogen, namentlich der Unabhängigkeitserklärung Kosovos und der Fortschritte mehrerer Länder im Hinblick auf ihre Aufnahme in die NATO (Albanien, Kroatien) und in die EU sind diese Prioritäten der Schweiz nach wie vor relevant. Zudem liegt es im Interesse der Schweiz, dass die Staaten Südosteuropas den EU-Beitrittprozess fortsetzen. Sie alle wollen diesen Beitritt, und ihre europäische Prägung dürfte ihn erleichtern. Der Beitrittsprozess ist gleichbedeutend 1053

mit sozioökonomischer und politischer Entwicklung und folglich mit Stabilität. Auf «technischer» Ebene ist er abhängig von den Kriterien, die die EU aufgestellt hat und die auch das Tempo jedes dieser Länder auf dem Weg zum Beitritt bestimmen.

Damit ist der allgemeine strategische Rahmen für das Vorgehen festgelegt.

Im Wesentlichen müssen diese Staaten in dreierlei Hinsicht einen grundlegenden Wandel zustande bringen: eine Nachkriegs-Transition, eine demokratische Transition und eine wirtschaftliche Transition.

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Nachkriegs-Transition: Die Konflikte und Krisen (Kroatien, BosnienHerzegowina, Kosovo, Serbien, Mazedonien) nach dem Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens oder dem Sturz der Diktatur (Albanien) haben selbstverständlich tiefe materielle und psychische Spuren hinterlassen. Dieser Faktor unterscheidet den Balkan von den anderen osteuropäischen Ländern, die ebenfalls eine demokratische und eine wirtschaftliche Transition vollziehen mussten, und er bringt den Balkan in eine erheblich schwierigere Lage.

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Demokratische Transition: Die politische und demokratische Kultur entspricht noch nicht ganz den europäischen Standards. Die rechtsstaatlichen Strukturen müssen noch konsolidiert und die Regierungsführung muss verbessert werden. Die Zivilgesellschaft ist noch zu schwach. Die Menschenrechtssituation und die Lage der Minderheiten sind unbefriedigend.

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Wirtschaftliche Transition: Der Übergang zu einer Marktwirtschaft ist nicht die geringste Herausforderung. Alles muss reformiert werden ­ die Infrastrukturen, die Rechtsordnung, die Wirtschaftskultur. Die sozioökonomischen Auswirkungen sind sehr weitreichend, und zwar insbesondere für die sozial schwächsten Gruppen, und sie werden durch die derzeitige Wirtschafts- und Finanzkrise noch verschärft.

Die Schweiz will diese dreifache Transition dadurch unterstützen, dass sie gezielt auf die Bedürfnisse eingeht und hierbei auch ihre eigenen aussenpolitischen Interessen und Ziele berücksichtigt. So werden Programme der technischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit in den folgenden Bereichen umgesetzt: Dezentralisierung und gute Regierungsführung auf lokaler Ebene, soziale Entwicklung (Bildung, Gesundheit, Berufsausbildung), Infrastruktur (Wasser oder Elektrizität), Förderung der Beschäftigung, Schaffung von Einkommen und Unterstützung kleiner Unternehmen. Auch Bemühungen um regionale Zusammenarbeit in Bereichen wie Polizei, Kultur und Forschung werden gefördert. In diesem Sinne unterstützt die Schweiz auch den Regionalen Kooperationsrat mit Sitz in Sarajewo, der sich als wichtiger Akteur für die Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Staaten der Region sowie zwischen ihnen und ihren europäischen Partnern erwiesen hat. Des Weiteren ist die Schweiz Migrationspartnerschaften mit mehreren Ländern der Region eingegangen, um gemeinsam mit ihnen und unter Achtung der jeweiligen Interessen die Herausforderungen aufzugreifen, die sich im Zusammenhang mit Wanderungsbewegungen stellen.

In der Friedenspolitik konzentriert sich die Schweiz auf drei Arbeitsschwerpunkte: Erster Schwerpunkt sind Tätigkeiten der Konflikttransformation und der Vertrauensbildung («Confidence Building») zwischen verschiedenen Gemeinschaften oder zwischen Staaten, Ermöglichung und Förderung des politischen Dialogs und des Dialogs zwischen Gemeinschaften. Zweiter Schwerpunkt sind Tätigkeiten der Aufarbeitung der Vergangenheit sowie von Unrecht, welche die Durchsetzung des Rechts auf Wahrheit, des Rechts auf Gerechtigkeit, des Rechts auf Wiedergutma1054

chung und der Garantie der Nichtwiederholung ermöglichen. Dritter Schwerpunkt ist die Förderung der Rechte von Minderheiten mit dem Ziel, ihnen mehr Möglichkeiten der politischen Mitwirkung zu bieten und die Schaffung eines Verfassungs-, Rechts- und Institutions-Rahmens zu unterstützen, der den Schutz und die gesellschaftliche Gleichberechtigung der Mitglieder von Minderheiten gewährleistet.

Darüber hinaus beteiligt sich die Schweiz an zivilen und militärischen Einsätzen der NATO und der EU in Kosovo (KFOR/Swisscoy, EULEX, ICO) und in Bosnien und Herzegowina (EUFOR).

Diese Tätigkeiten finden auf bilateraler Ebene mit jedem der Staaten der Region, aber auch auf multilateraler Ebene statt. Sie bieten so auch Gelegenheit, die Zusammenarbeit und die Beziehungen mit den für die Schweiz wichtigen internationalen Partnern (EU, USA, Türkei), mit denen die Schweiz ihre Politik der Transitionsunterstützung abstimmt, zu verstärken. Mit diesen Partnern ist sie auch zunehmend im Gespräch über die Probleme im Zusammenhang mit dieser für die Schweiz prioritären Region.

Die Türkei: Beitrittskandidatin und regionale Akteurin. Als dezidierte EU-Beitrittskandidatin, deren Bestrebungen, sich der europäischen Wertegemeinschaft anzuschliessen, von der Schweiz unterstützt werden, als neunzehntgrösste Volkswirtschaft der Welt, als Mitglied der G-20 und als aktive Akteurin auf verschiedenen Schauplätzen in ihren Nachbarländern profiliert sich die Türkei als eine immer wichtigere Partnerin auf der regionalen wie auch zunehmend auf der internationalen Ebene. Sie ist in verschiedener Hinsicht eine wichtige Partnerin der Schweiz. Die Schweiz gehört zu den 20 wichtigsten Handelspartnern der Türkei, und obwohl die jüngste Krise den Handel nicht unerheblich beeinträchtigte, beläuft sich das Handelsvolumen auf 2,5 Milliarden Franken. Auch ist die Schweiz mit rund 2 Milliarden US-Dollar (laut verfügbaren türkischen Statistiken) ein wichtiger Investor in der Türkei; dort sind 450 Schweizer Firmen mit rund 14 000 Arbeitsplätzen niedergelassen oder vertreten. Die Beziehungen sind also schon heute intensiv (in diesem Zusammenhang ist auch der Tourismus zu erwähnen: jedes Jahr reisen 280 000 Schweizerinnen und Schweizer in die Türkei) und können noch erheblich ausgebaut werden. Dies gilt insbesondere für den Energiesektor, für den
die beiden Länder im November 2009 ein Memorandum of Understanding (MoU) unterzeichnet haben.

Aufgrund ihrer aktiven Rolle auf dem Balkan, im Nahen Osten und im Südkaukasus ­ alles Schwerpunktregionen der Schweiz ­ ist die Türkei eine wichtige Ansprechpartnerin für die Schweiz, die das Engagement, die Sachkenntnis und die Kontakte Ankaras nutzen kann. Im Gegenzug ist auch die Türkei daran interessiert, das Knowhow und die Positionierung der Schweiz in diesen Regionen zu nutzen. Das zeigte insbesondere die Vermittlung der Schweiz zwischen Armenien und der Türkei, die am 10. Oktober 2009 in Zürich mit der Unterzeichnung zweier bilateraler Protokolle abgeschlossen werden konnte.

Die engen Beziehungen zur Türkei sind auch und vor allem angesichts der Abstimmung über die Minarett-Initiative von Nutzen, die in der Türkei auf grosses Unverständnis stiess. Da in der Schweiz eine umfangreiche Gemeinschaft von aus der Türkei stammenden Personen lebt und die Türkei in den mehrheitlich muslimischen Ländern und vor allem im Nahen Osten zunehmend an Einfluss gewinnt, liegt es ganz klar im Interesse der Schweiz, einen möglichst engen Dialog zu unterhalten und die Zusammenarbeit in diesen Fragen zu intensivieren, wie es bereits in der Allianz der Zivilisationen der Fall ist. Schon unmittelbar nach der Abstimmung vom 29. November 2009 gab es zahlreiche politische Kontakte mit türkischen Gesprächs1055

partnern, die Gelegenheit boten, diese heiklen Fragen in einer Weise anzusprechen, die sich nicht nachteilig auf die bilateralen Beziehungen auswirkte. Ein Ausdruck der guten Beziehungen war auch der Staatsbesuch des türkischen Präsidenten Ende November 2010.

Die Türkei ist also aufgrund ihrer strategischen Position, ihres zunehmenden Einflusses auf internationaler Ebene und ihres bedeutenden wirtschaftlichen Potenzials eine wichtige Partnerin. Die bilateralen Beziehungen zu ihr sind bereits seit mehreren Jahren Gegenstand einer Konsolidierung, die ihre strategische Bedeutung erkennen lässt und es zugleich möglich macht, gelassen mit allfälligen Differenzen im Ansatz und in der Einschätzung umzugehen. Auf politischer Ebene erlauben die verschiedenen Kontakte im Rahmen der gemeinsamen Absichtserklärung zu regelmässigen politischen Konsultationen die Bearbeitung von teilweise recht schwierigen Dossiers in den Bereichen Konsularangelegenheiten, polizeiliche und justizielle Rechtshilfe sowie Migrationszusammenarbeit.

Osteuropa und Zentralasien Russland: Der Bundesrat hat über die letzten Jahre einer Intensivierung der bilateralen Beziehungen zu Russland strategische Wichtigkeit beigemessen und sie aktiv gefördert. Heute figuriert die Schweiz unter den zehn bedeutendsten Investoren im wirtschaftlich aufstrebenden und rohstoffreichen Russland, während die russischen Firmenbeteiligungen und Kapitalströme für die Schweiz volkswirtschaftliche Bedeutung haben. Gestützt auf das Memorandum of Understanding vom 9. November 2007 konnten die Konsultationen mit Russland auf den verschiedensten Gebieten intensiviert werden. Neben dem Dialog auf der aussenpolitischen und wirtschaftlichen Ebene finden Gespräche auch zu Themen wie Forschung, Kultur, Menschenrechte, Transport, Energie, Sicherheitspolitik, Polizei- und Justizzusammenarbeit statt. Die Konsultationen in Bern und Moskau bieten zudem Gelegenheit, auf Verpflichtungen im Bereich Rechtstaatlichkeit einzugehen, wobei die Schweiz entsprechende Reformen Moskaus begrüsst. Einen Höhepunkt der oft hochrangigen Kontakte bildete im September 2009 der erste Staatsbesuch eines russischen Präsidenten in der Schweiz. Im August 2010 folgte bereits eine Gegeneinladung des russischen Präsidenten nach Sotchi. Zudem führen das Interesse Moskaus an einer neuen europäischen
Sicherheitsarchitektur und entsprechende Gespräche im Rahmen der NATO und der OSZE zu Expertendiskussionen, zu welchen auch die Schweiz beitragen kann (siehe Ziff. 3.2.2).

Russland ist als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats, als Mitglied der G-8 und der G-20 sowie als Teilnehmer an den meisten Debatten über die Zukunft des europäischen Kontinents ein für die Schweiz sehr wichtiger politischer Partner, dessen Beitrag zur internationalen Sicherheit sowohl in militärischer Hinsicht als auch in Bezug auf die Versorgung nicht zu unterschätzen ist. Für die multilateralen Klimaverhandlungen zum Beispiel stellte der Auftritt Russlands einen entscheidenden Vorteil dar. Wenn wir gegenüber Russland die Positionen der Schweiz geltend machen und unsere jeweiligen Standpunkte zu internationalen Fragen vergleichen, dann gehört auch dies zu den Bemühungen, den Einfluss der Schweiz auf Weltebene zu stärken.

Andere osteuropäische Länder: Sechs Länder, die früher der Sowjetunion angehörten ­ die Ukraine, Weissrussland, Moldawien, Georgien, Aserbaidschan und Armenien ­ sind der EU-Nachbarschaftspolitik, den bilateralen Politiken Russlands, den Interessen der USA sowie der zunehmenden Präsenz der Türkei mehr oder weniger 1056

direkt ausgesetzt. Die Schweiz wendet umfangreiche Mittel für diese Regionen und Staaten auf, die für sie in verschiedener Hinsicht wichtig sind (Sicherheit, Energie, Migration, Wirtschaftspotenzial). Ebenso wie andere Akteure engagiert sich die Schweiz auf bilateraler Ebene (diplomatische Präsenz vor Ort, politische Kontakte, Zusammenarbeit, Wirtschaftsbeziehungen) und auf multilateraler Ebene (in der OSZE und im Europarat) für Demokratisierung, Rechtsstaat sowie wirtschaftliche und soziale Entwicklung in diesen Ländern.

Die Schweiz hat hier seit Mitte der 1990er-Jahre offizielle Vertretungen eingerichtet, vor allem um humanitäre Hilfe für die Opfer von Konflikten oder Naturkatastrophen zu leisten und um die Umsetzung technischer und finanzieller Hilfe zu koordinieren.

Die wirtschaftliche Zusammenarbeit wurde in einem Umfeld entwickelt, das noch von der langjährigen zentralen Planung geprägt war. In ihren Kooperationsprogrammen und durch politische Konsultationen mit diesen Staaten erweiterte die Schweiz ihren Interessenbereich namentlich um Sicherheitspolitik, Migration, Bekämpfung verschiedener Formen grenzüberschreitender Kriminalität und Gewalt, Wissenschaft und Forschung, Umwelt und Klima sowie Sicherheit der Energieversorgung.

Die Schweiz führt ihre Aktivitäten zwar teilweise auch mit anderen Gebern durch, doch wahrt sie dabei ihre Unabhängigkeit. Wie wichtig dies ist, zeigt sich im Südkaukasus, der aufgrund der nach wie vor bestehenden Spannungen nicht nur zwischen Georgien und Russland sondern auch zwischen Armenien und Aserbaidschan noch immer nicht stabilisiert werden konnte.

Die unabhängige Position der Schweiz gegenüber Weissrussland, der Ukraine und Moldawien ist namentlich daran zu erkennen, dass die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit dieser Staaten zu Militärbündnissen nicht als Element betrachtet wird, das für unsere Beziehungen von entscheidender Bedeutung wäre. Die Achtung der Grundwerte der europäischen Staaten, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihren Protokollen verankert sind, ist für die Schweiz hingegen eine Grundvoraussetzung für die Stärkung der politischen Beziehungen. Aus diesem Grund steht Weissrussland, das nicht Mitglied des Europarats ist, bei den Bemühungen der Schweiz, gute Kontakte aufrechtzuerhalten, noch im Hintergrund. Insbesondere
die an der EU-Aussengrenze gelegene Ukraine, die als Brücke zwischen der EU und Russland fungiert, könnte für die Schweiz eine wichtigere Partnerin werden, als es ihre politische Instabilität der letzten Jahre erlaubt hat.

Zentralasien: Zu den regional benachbarten Ländern mit weiteren Zusammenarbeitsmöglichkeiten zählen auch Staaten wie z.B. Kasachstan, die für die Schweiz nicht zuletzt aufgrund ihres Wirtschaftspotenzials, ihrer OSZE-Mitgliedschaft sowie ihrer Beziehungen zu Russland, China, Indien und zum Westen von Bedeutung sind.

Von spezifischer Bedeutung sind aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den schweizerischen Stimmrechtsgruppen in den Bretton-Woods-Institutionen (IBW), im Globalen Umweltfonds (GEF) und in der Europäischen Entwicklungsbank (EBRD) Kirgisistan, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan. Seit der Bildung dieser Stimmrechtsgruppe 1992 anlässlich ihres Beitritts zu den BWI trägt die Schweiz zur Weiterbildung von Vertreterinnen und Vertretern der Finanzministerien und Zentralbanken dieser Staaten bei. Mit technischer Hilfe und Beratung in diesen Ländern fördert sie zudem die Verbesserung der Finanzaufsicht. Die Kontakte in der Stimmrechtsgruppe bilden für die Schweiz einen Türöffner zu einer aufstrebenden Region, mit der sie die Beziehungen laufend vertieft. Dazu dient auch die jüngste Verstärkung des diplomatischen Netzes durch die Eröffnung von Botschaften in der Region.

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Das grosse Potenzial der Region lässt sich letztlich jedoch nur unter friedlichen Verhältnissen ausschöpfen. Eine schwere Bedrohung für deren Stabilität stellten die gewaltsamen Übergriffe im Juni 2010 gegen die usbekische Bevölkerung im Süden Kirgisistans dar, als die Lage nach dem Sturz von Präsident Bakijew im April und der Bildung einer provisorischen Regierung von Unsicherheit geprägt war. Die Schweiz leistete nicht nur einen Beitrag zur multilateralen humanitären Hilfe für die vertriebene usbekische Bevölkerung und die Flüchtlinge im benachbarten Usbekistan, sondern sie setzte sich auch vor Ort und in den internationalen Gremien dafür ein, dass der neuen kirgisischen Regierung, die versichert hatte, mit den Praktiken des bisherigen Regimes Schluss zu machen, die für eine friedliche Konsolidierung ihrer Autorität erforderliche Unterstützung zur Verfügung gestellt wurde. Insbesondere förderte die Schweiz die Ausarbeitung einer neuen Verfassung und unterstützt die Organisation von Parlamentswahlen, die die Rückkehr des Landes zu einer demokratisch legitimierten Ordnung erlauben sollen.

Energiesicherheit In der europäischen Energieversorgung kommt Russland und zum Teil auch zentralasiatischen Förderländern sowie der Türkei als Transitland eine Schlüsselrolle zu.

Russland ist der weltweit zweitwichtigste Erdgas- und Erdölproduzent und fast unumgängliches Transitland für fossile Energie aus Zentralasien. Mit dem weiteren Ausbau der bereits auf Europa ausgerichteten Versorgungsstränge für fossile Energien aus Russland, Zentralasien und der Region des Kaspischen Meeres wird die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit unter politisch und wirtschaftlich stabilen Verhältnissen verstärkt.

Wie in der Energiestrategie des Bundesrats von 2009 dargelegt, besteht seitens der Schweiz ein Bedürfnis nach langfristiger Energiesicherheit, das die Interessen der Anbieter, der Transitländer und der Konsumentinnen und Konsumenten sowie den Schutz der Umwelt ausgewogen berücksichtigt. Erdöllieferanten können gegenwärtig relativ rasch wechseln, wie das Beispiel Kasachstans zeigt, welches in kurzer Zeit zu einem der wichtigsten Erdöllieferanten der Schweiz aufgestiegen ist. Dies ist beim vornehmlich über Pipelines gelieferten Erdgas indessen kaum möglich.

Es ist deshalb wichtig, dass die schweizerische Aussenpolitik
gegenüber Russland, der Türkei und Zentralasien die Energiestrategie des Bundesrats weiter umsetzt und zudem einen dafür günstigen bilateralen Rahmen schafft. Dieser Notwendigkeit entspricht die Entsendung von EDA-Personal für die Behandlung internationaler Energiefragen in das Bundesamt für Energie und nach Brüssel. Im Übrigen tragen die Schweizer Botschaften konsequent zum Abschluss der erforderlichen Abkommen bei, um die Energiezusammenarbeit der Schweiz zu verankern, wie es bei der Unterzeichnung des vorstehend erwähnten Memorandum of Understanding mit der Türkei geschehen ist.

Friedenspolitisches Engagement, gute Dienste, Vermittlung der Schweiz Die Region des Südkaukasus mit ihren zwischenstaatlichen Konflikten und ihren Spannungen zwischen benachbarten Gemeinschaften illustriert verschiedene Möglichkeiten, die der Schweizer Friedensförderung zur Verfügung stehen. Eines der von ihr bevorzugten Instrumente ist die Unterstützung internationaler Organisationen, deren Mitglied sie ist. Die OSZE mit den Unterhändlern der Minsker Gruppe spielt die Hauptrolle bei den Versuchen, den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach beizulegen. In Georgien mussten die OSZE- und 1058

die UNO-Mission 2009 ihre Tätigkeit einstellen, doch Vertreterinnen und Vertreter dieser beiden Organisationen sowie der Vertreter der EU leiten die «Genfer Gespräche», an denen seit dem Waffenstillstand alle Parteien des Konflikts von 2008 beteiligt sind. Die Schweiz nimmt nicht an diesen Gesprächen teil, erleichtert jedoch als Gaststaat alles in ihren Kräften Stehende. Sie ist in der EU-Mission EUMM nicht vertreten, unterstützt aber mit Nachdruck die Delegation des Europarats in Georgien und die dortigen humanitären Aktivitäten des Menschenrechtskommissars des Europarates. Besonders deutlich wurde dies, als die Schweiz den Vorsitz des Ministerkomitees dieser Organisation innehatte.

Seit die Schweiz im März 2009 die Vertretung der Interessen Russlands in Georgien und Georgiens in Russland übernahm, erleichtert sie den Verkehr zwischen den beiden Staaten, die ihre Beziehungen abgebrochen haben, und trägt zum Schutz von Personen bei, indem sie die konsularischen Dienstleistungen sicherstellt.

Zudem stellt sie für weitere punktuelle Verbesserungen der Lebensbedingungen der Bevölkerung ihre Kanäle zur Verfügung, so etwa für die Wiedereröffnung eines Grenzübergangs oder für die Wiederaufnahme des Luftverkehrs. Die Aufgaben der Schweizer Botschaften in Tiflis und in Moskau wurden in den Mandaten festgelegt, die durch Notenaustausch mit den beiden Regierungen erteilt wurden: Die reguläre konsularische Arbeit wird von einer russischen bzw. georgischen «Interessensektion» geleistet, deren Personal vom betreffenden Staat gestellt wird. Dieses Personal gilt rechtlich als Teil der Schweizer Botschaft, die alle dieses Personal betreffenden Formalitäten gegenüber dem Aufnahmestaat erledigt. Was die diplomatischen Tätigkeiten anbetrifft, so haben die beiden Parteien vereinbart, auf die Vermittlung des Schweizer Botschafters oder seines Stellvertreters zurückzugreifen: Notifikationen und diplomatische Korrespondenz, die ihnen übergeben werden, leiten sie an den jeweiligen Adressaten weiter.

An dieser Stelle kann nochmals die Annäherung Armeniens und der Türkei erwähnt werden, bei der dank der Vermittlung der Schweiz zwei Protokolle aufgesetzt und am 10. Oktober 2009 in Zürich unterzeichnet wurden. Die Protokolle müssen von den beiden Parlamenten noch ratifiziert werden. In den genannten Fällen bewährten sich
die 2001 etablierte Botschaft in Tiflis und die 2009 eröffnete diplomatische Vertretung in Eriwan.

In Kirgisistan, wo es im Juni dieses Jahres zu schweren Unruhen kam, trägt die Schweiz zur zivilen Friedensförderung bei, indem sie ihr Programm der Entwicklungszusammenarbeit in Schlüsselbereichen fortsetzt, darunter Basisgesundheitsversorgung, Wasserversorgung, Entwicklung des Privatsektors, Verwaltung der öffentlichen Finanzen und Energie. Wie bereits erwähnt, setzt sich die Schweiz auch dafür ein, dass der neuen kirgisischen Regierung, die versichert hat, mit den Praktiken des bisherigen Regimes Schluss zu machen, die für eine friedliche Konsolidierung ihrer Autorität erforderliche Unterstützung zur Verfügung gestellt wird. Die OSZE ernannte einen Schweizer zum Leiter ihrer Polizeimission in Kirgisistan.

Herausforderungen und Perspektiven Die Ziele, die die Schweiz in Europa verfolgt, sind die gleichen wie die in Artikel 54 der Bundesverfassung festgelegten. Es ist jedoch zu unterstreichen, dass die Unabhängigkeit und die Wohlfahrt der Schweiz in ihrem unmittelbaren Umfeld vor allem abhängen von der weiteren Entwicklung, dem politischen Zusammenhalt und der Wohlfahrt in den Mitgliedstaaten der EU und insbesondere der Euro-Zone sowie in den Mitgliedstaaten der NATO mit ihrer Fähigkeit, die Position Westeuropas inner1059

halb des Bündnisses und gegenüber anderen Organisationen kollektiver Sicherheit zu schützen. Die Schweiz verfolgt eine Politik, die eine Erweiterung der EU, sofern diese sich noch erweitern will, befürwortet. Sie steht den Militärbündnissen, denen sie sich nicht anschliessen will, nicht ablehnend gegenüber, aber sie möchte vermeiden, dass der europäische Kontinent erneut Schauplatz oder Akteur einer militärischen Katastrophe wird. Um zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker beizutragen, unterstützt die Schweiz auch in Europa die Linderung von Not und Armut und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Insbesondere setzt sie sich dafür ein, dass die Menschenrechte und die Demokratie überall dort geachtet werden, wo ihre Umsetzung noch zu wünschen übrig lässt. Hierbei spielen die multilateralen politischen Organisationen, denen die Schweiz angehört, d.h. der Europarat und die OSZE, eine unersetzliche Rolle.

Der Einfluss, den die Schweiz in Europa nehmen kann, hängt davon ab, in welchem Umfang sie sich solidarisch an den Angelegenheiten des Kontinents beteiligt, sowie auch von ihrer Vernetzung mit den europäischen Staaten und den zahlreichen internationalen Institutionen, die die Beziehungen zwischen den Staaten regeln.

Die Schweiz verfügt in der nördlichen Hemisphäre über ein engmaschiges Netz an Vertretungen. Zu allen europäischen Ländern unterhält sie gute Beziehungen, die je nach Gemeinsamkeiten, Interessen und geografischer Nähe unterschiedlich intensiv sind. Mit der EU und ihren Mitgliedstaaten ist sie durch ein sehr engmaschiges Netz bilateraler Verträge verbunden, und mit ihren Nachbarn unterhält sie zudem einen lebhaften grenzüberschreitenden Dialog. Mit den europäischen Ländern, die nicht Mitglied der EU sind, unterhält die Schweiz ebenso vielfältige Beziehungen, insbesondere zu Russland und der Türkei. Sie beteiligt sich an den Arbeiten regionaler und internationaler Organisationen im Rahmen der UNO, der Bretton-WoodsInstitutionen und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), der Welthandelsorganisation (WTO), der OECD, der OSZE und des Europarats sowie schliesslich auch der EFTA. Sie beteiligt sich an den Bemühungen, die spezifische Rolle dieser Organisationen zu stärken: diversifizierte Sicherheit im Fall der OSZE, Schutz der Menschenrechte und Förderung
demokratischer Institutionen im Fall des Europarates. Als Nichtmitglied der EU und der NATO verfügt die Schweiz über Handlungsspielraum bei der Festlegung ihrer Politik. Letzten Endes jedoch setzt sie sich ein für einen stärkeren Zusammenhalt des ganzen Kontinents und stellt ihre Kooperationsinstrumente in den Dienst des Ideals, das auch die EU und ihre Mitglieder verfolgen: Stabilität und Wohlstand in ganz Europa unter Wahrung der individuellen Freiheit und der Rechtsstaatlichkeit.

Die Schweiz engagiert sich seit Langem in der Region, und sie profiliert sich dabei als glaubwürdige und zuverlässige, unabhängige und neutrale, einsatzbereite und aktive Partnerin. In manchen Situationen, in denen die Probleme zu umfangreich und zu komplex sind, als dass sie von einem einzigen Akteur gelöst werden könnten, und in denen folglich ein koordiniertes Vorgehen sehr viel sinnvoller ist, erweist sich eine multilaterale Zusammenarbeit als unumgänglich. Diesen Ansatz praktiziert die Schweiz: Sie engagiert sich für die Beilegung von Konflikten und die Lösung von Problemen. Sie ist vor Ort präsent und sie entwickelt und verstärkt die politischen Beziehungen zu den zahlreichen Akteuren, mit denen sie zusammenarbeitet.

So baut sie ihren Einfluss aus und stärkt zugleich ihre Souveränität.

1060

2.3

Politik gegenüber dem amerikanischen Kontinent

Aktuelle Tendenzen in der Region Die Entwicklung einer multipolaren Weltordnung und die damit verbundene neue internationale Konstellation haben auch Auswirkungen auf den amerikanischen Kontinent. So entwickelt sich auf dem amerikanischen Kontinent neben der Grossmacht USA Brasilien zunehmend zu einem ernstzunehmenden und selbstbewussten Akteur auf dem internationalen Parkett, sei dies in politischer, wirtschaftlicher oder sicherheitspolitischer Hinsicht.

Bei seinem Amtsantritt Anfang 2009 weckte der amerikanische Präsident Barack Obama grosse Hoffnungen. Der Regierungswechsel gab auch den Beziehungen zwischen der Schweiz und den USA neue Impulse: Aussenpolitisch setzt die Obama-Administration verstärkt auf internationale Zusammenarbeit und multilaterale Initiativen, und dies eröffnet der Schweiz zusätzliche Bereiche der Zusammenarbeit. Gleichzeitig muss die Schweiz politische Herausforderungen bewältigen, die die bilateralen Beziehungen namentlich im Steuerbereich belasten und die unter Berücksichtigung der Interessen beider Seiten zu lösen sind. Das AmtshilfeAbkommen betreffend die Schweizer Grossbank UBS hat in diesem Zusammenhang dazu beigetragen, einen Rechts- und Souveränitätskonflikt mit den USA zu vermeiden.

Angesichts ihrer wirtschaftlichen und politischen Bedeutung sind die USA ein ausserordentlich wichtiger Ansprechpartner der Schweiz. Globale Probleme wie die Wirtschafts- und Finanzkrise, die Gefahr nuklearer Proliferation und der Terrorismus können ohne das Engagement der USA nicht gelöst werden. In ihren Beziehungen zu den USA muss die Schweiz darauf achten, dass wichtige Interessen namentlich im Wirtschafts- und Finanzbereich gewahrt bleiben. Daher muss ihre politische Strategie gegenüber den USA eine Stärkung der Zusammenarbeit in Bereichen gemeinsamen Interesses anstreben.

In Lateinamerika gab es weitreichende politische Veränderungen. Sie verleihen der Region neue Bedeutung und wecken auf Seiten verschiedener Partner neues Interesse an dieser Region. Die Umsetzung stabilitätsfördernder makroökonomischer Politiken seit gut einem Jahrzehnt sowie die relative Widerstandsfähigkeit in der Wirtschafts- und Finanzkrise tragen zu einer teilweisen Modernisierung der Gesellschaften und einer Steigerung der Kaufkraft bei. Zudem ist es vielen lateinamerikanischen Ländern gelungen,
demokratische und rechtsstaatliche Strukturen zu konsolidieren. Dennoch gibt es nach wie vor Armut und Ausgrenzung und sogar Rassendiskriminierung, die eine Gefahr für den sozialen Zusammenhalt und das Entstehen nationaler Entwicklungsprojekte darstellen.

Bemerkenswerte Anstrengungen werden bei der Bekämpfung der Armut und im Bestreben unternommen, den von der Entwicklung ausgeschlossenen Gruppen (Landbevölkerung, indigene und afrikanischstämmige Bevölkerung) wieder soziale Anerkennung zu verschaffen, doch in der Region sind auch gegenläufige Tendenzen zu beobachten, und daher sind die Fortschritte in einigen Ländern keineswegs gesichert. Mehrere lateinamerikanische Länder haben mit einer ganzen Reihe von Problemen zu kämpfen, darunter Korruption (die für den Staat und die öffentliche Verwaltung eine Belastung darstellt), mangelnde Stabilität der Institutionen (insbesondere der Justiz) und ihre Unfähigkeit, die erwarteten Dienstleistungen bereitzustellen, organisierte Kriminalität (insbesondere im Zusammenhang mit dem Drogen1061

handel) sowie bewaffnete Gewalt, die im Übrigen immer seltener mit politischen Forderungen verbunden und immer häufiger krimineller Natur ist. In manchen lateinamerikanischen Ländern schliesslich sind auch zunehmend starke populistische und autoritäre Strömungen zu beobachten.

Trotz der grossen Probleme, die hinsichtlich einer gerechten Verteilung von Einkommen und Eigentum sowie der Wachstumsgewinne fortbestehen, ist in der Region eine Veränderung der Verhältnisse festzustellen: Gesellschaften, für die Programme der Entwicklungszusammenarbeit durchgeführt worden waren, werden nach und nach zu wichtigen Wirtschaftspartnern und Destinationen ausländischer Direktinvestitionen vor allem im Energiesektor und im Bergbau, aber auch im agroindustriellen Bereich. Hier treten neue Akteure wie China, Indien oder Russland auf, die sich im globalen Wettlauf Ressourcen für die Entwicklung ihrer Industrien sichern wollen.

Bemühungen um regionale Zusammenarbeit und Integration zeigen bis anhin eher bescheidene Resultate, denn sie werden durch ein noch immer stark nationalistisch geprägtes Denken sowie durch eine zunehmende Polarisierung der ideologischen Debatten gebremst. Immer mehr Integrationsprojekte, deren Umsetzung allerdings schleppend vor sich geht, weisen Ansätze zu einer Emanzipation von Mächten auf, die traditionell in der Region tätig sind, insbesondere den USA. Zu dieser Sensibilisierung kommt eine Öffnung gegenüber neuen Akteuren namentlich aus Asien hinzu, die Aussichten auf interessante Exportmärkte, auf umfangreiche Investitionen in die industrielle Entwicklung lateinamerikanischer Länder (vor alle in den Bereichen Energie und Infrastruktur) und auf die Entstehung neuer Süd-Süd-Partnerschaften auf der Grundlage der gemeinsamen Interessen der sogenannten Schwellenländer bietet.

Ausgehend von ihren geschichtlichen und kulturellen Verbindungen zu den lateinamerikanischen Ländern sowie ihren politischen und wirtschaftlichen Interessen will die Schweiz die politische Stabilität, die soziale Integration und den Schutz gemeinsamer Werte wie Rechtsstaat und Menschenrechte fördern. Zugleich bemüht sie sich, den Zugang zu den südamerikanischen Märkten zu erleichtern und die Möglichkeiten für Handel und Investitionen auszubauen, indem sie sich für ein wirtschaftsfreundliches Klima und einen geeigneten
rechtlichen Rahmen einsetzt.

Angesichts der wirtschaftlichen Erfolge der Region wird die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz abgebaut zugunsten einer Zusammenarbeit, die verstärkt auf den wirtschaftlichen Austausch setzt. Allerdings ist die DEZA auch weiterhin in den ärmsten Ländern der Region tätig, insbesondere in Haiti, Bolivien und einigen mittelamerikanischen Ländern sowie im Rahmen ihrer globalen Programme.

Die Schweiz engagiert sich auf dem ganzen Kontinent für die Förderung von Frieden und Menschenrechten und verfolgt aufmerksam Fragen im Zusammenhang mit der Regierungsführung. Auch Themen wie Klimawandel und Umwelt sind in ihr Engagement einbezogen. Wissenschaftliche Kooperation ist ein weiterer Bereich der bilateralen Zusammenarbeit, die sich insgesamt dynamisch entwickelt. Besonders intensiv sind die diesbezüglichen Kontakte zu den USA, doch neue Partner der wissenschaftlichen Zusammenarbeit kommen auch aus Lateinamerika.

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Schwerpunktländer in der Region Die USA und Brasilien sind die wichtigsten Partner in der Zusammenarbeit der Schweiz mit dem amerikanischen Kontinent. Die beiden Länder gehören gemäss der aussenpolitischen Strategie des Bundesrates von 2005 zu den prioritären Partnern.

Sie sind auch diejenigen Länder, zu denen die Schweiz ihre bilateralen Beziehungen im Lauf der letzten Jahre am stärksten intensiviert hat, um ihre Interessen bestmöglich zu wahren und zu fördern.

USA: Als politische, wirtschaftliche und militärische Supermacht, ständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrates und Mitglied der G-8 und der G-20 sind die USA ein unumgänglicher Akteur auf der Weltbühne. Sie sind für viele Länder ein wichtiger und gesuchter Gesprächspartner. Die Schweiz, für die die USA bei zahlreichen aussenpolitischen Aktivitäten eine wichtige Rolle spielen, muss sich daher bemühen, eine glaubwürdige und anerkannte Partnerschaft zu unterhalten, wenn sie sich den Zugang zu den amerikanischen Entscheidungsträgern sichern will.

Auf bilateraler Ebene sind die USA der zweitgrösste Exportmarkt für Schweizer Produkte und die wichtigste Destination für Schweizer Investitionen ausserhalb Europas. Mit 350 000 Arbeitsplätzen (Ende 2008) in den amerikanischen Niederlassungen von Schweizer Unternehmen ist die Schweiz auf dem U.S.-Markt eine wichtige Arbeitgeberin und eine bedeutende Akteurin im technologischen Bereich. In mehreren Sektoren der Industrie und der Dienstleistungen sind Schweizer Unternehmen marktbeherrschend. 70 000 Schweizer Staatsangehörige sind in den USA ansässig; dies schafft enge Kontakte und umfangreichen Handel.

In umgekehrter Richtung tragen die amerikanischen Investitionen in der Schweiz, wo immer mehr amerikanische Firmen tätig sind, erheblich zum Schweizer Sozialprodukt und zum guten Ruf des Wirtschaftsstandorts und seiner Forschungszentren bei. Die Absicht des U.S.-Präsidenten, Arbeitsplätze vor allem in den Bereichen Umwelttechnologie, erneuerbare Energien und öffentlicher Verkehr zu schaffen, bietet zusätzliches Potenzial für die Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern.

Die grössten Herausforderungen, mit denen die amerikanische Regierung konfrontiert ist, stellen sich auf innenpolitischer Ebene in Bezug auf die Folgen der Wirtschaftskrise, die Schaffung von Arbeitsplätzen,
die Umsetzung der Gesundheitsreform und einen Kurswechsel in der Energiepolitik. Die Arbeitslosigkeit beträgt mehr als 10 % und das Haushaltsdefizit wird zunehmend grösser. Nach wie vor werden zwei Kriege ­ in Afghanistan und im Irak ­ geführt, die enorme Mittel verschlingen.

Es ist daher nachvollziehbar, dass der amerikanische Präsident seine Anstrengungen zunächst auf innenpolitische Angelegenheiten richtet.

Aussenpolitisch engagiert sich die Regierung verstärkt in der internationalen Zusammenarbeit vor allem im multilateralen Bereich. Diplomatische Instrumente werden bevorzugt, Gewalt wird zurückhaltender eingesetzt. Priorität gilt dem Dialog und der Zusammenarbeit, selbst mit schwierigen Partnern. Die Öffnung der USA ist vor allem daran abzulesen, dass eine neue Ära der Zusammenarbeit mit Russland begonnen hat und die Beziehungen zu China intensiviert werden. Hinsichtlich des Iran zeichnet sich die US-Politik durch einen direkten Kontakt anlässlich der Geneva Talks13 im Oktober 2009 sowie durch den Willen aus, in der iranischen Nuklearfrage 13

Gespräche zwischen E3 + 3 (Deutschland, Grossbritannien, Frankreich + USA, Russland, China) und dem Iran, organisiert von der Schweiz in Genf, Juli 2008 und Oktober 2009.

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weiterzukommen. Da diese Bemühungen nur begrenzt erfolgreich waren, setzt Washington nunmehr auf eine Verstärkung der Sanktionen.

Zudem hat der amerikanische Präsident klare Botschaften an die arabisch-islamische Welt gerichtet und vielversprechende global relevante Massnahmen ergriffen, darunter den Beitritt der USA zum UNO-Menschenrechtsrat, eine Aufstockung der USEntwicklungshilfe und eine Umweltpolitik, die sich mehr an der internationalen Zusammenarbeit orientiert. Der Schweiz bieten diese Entwicklungen zusätzliche Möglichkeiten der Zusammenarbeit namentlich im Hinblick auf Konvergenzen bei gemeinsamen Interessen.

Auf bilateraler Ebene wurden die Beziehungen zwischen der Schweiz und den USA in den vergangenen Jahren stark geprägt durch die Suche nach Lösungen für Fragen im Zusammenhang mit dem Finanzplatz und der Aushandlung eines Protokolls zur Änderung des bilateralen Doppelbesteuerungsabkommens von 1996. Eine grosse Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Amtshilfe-Abkommen zu, das mit den USA bezüglich Kundendaten der Bank UBS ausgehandelt wurde.

In anderen Bereichen führte die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern zu vielversprechenden Ergebnissen, so etwa bei den gemeinsamen Bemühungen im Rahmen der Verhandlungen über eine Versöhnung zwischen der Türkei und Armenien, im Zusammenhang mit dem Schweizer Beitrag zur Schliessung des Gefangenenlagers Guantánamo sowie in einem allgemeineren Rahmen bei den Schutzmachtmandaten zur Vertretung der Interessen der USA in Iran und Kuba.

Besondere Anstrengungen galten der Intensivierung der Kontakte auf allen Ebenen der U.S.-Regierung und des Kongresses und einem guten Klima der bilateralen Beziehungen. Diese Bemühungen sind in den kommenden Jahren fortzusetzen. Ein engmaschiges und gut entwickeltes Kontaktnetz öffnet den Zugang zu wichtigen Dialogpartnern, namentlich in Situationen, in denen Meinungsverschiedenheiten auftreten.

Auf der Ebene der Parlamente gibt es seit 2003 regelmässige Treffen von Parlamentarierinnen und Parlamentariern beider Länder, die in zwei Verbänden organisiert sind: dem Parlamentarischen Verein Schweiz-USA und, auf amerikanischer Seite, dem Friends of Switzerland Caucus. Diese Verbände bieten die Möglichkeit zu Kontakten mit Vertreterinnen und Vertretern des amerikanischen Kongresses, der eine nicht unerhebliche
aussenpolitische Rolle spielt. Zudem können den amerikanischen Abgeordneten dadurch auch die Anliegen und Interessen der Schweiz vermittelt werden.

Brasilien: Mit bemerkenswerten Wirtschaftswachstumsraten und einer erstarkten Stabilität der Institutionen seit Mitte der 1990er-Jahre ist Brasilien ebenso wie die anderen BRIC-Länder (Russland, Indien, China) zu einem globalen Akteur geworden und spielt auch in der Region die führende Rolle. In den wichtigsten internationalen Instanzen (UNO, G-20, WTO, nachhaltige Entwicklung, Klimawandel) wächst sein Einfluss. In seiner Eigenschaft als wirtschaftliche und politische Weltmacht setzt es sich für eine Reform der internationalen Ordnung, für Abrüstung und für die Eindämmung der nuklearen Proliferation ein und betreibt eine offensive Handelsdiplomatie. Des Weiteren knüpft Brasilien strategische Partnerschaften mit den grossen Schwellenländern und engagiert sich zunehmend stärker in der SüdSüd-Zusammenarbeit. Es positioniert sich als Sprecher der Schwellen- und Entwicklungsländer, die das Recht beanspruchen, ihre eigenen Ziele und Interessen zu

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verfolgen, und die hierbei Gleichberechtigung mit den Akteuren der industrialisierten Welt fordern.

Gleichzeitig hat sich Brasilien sowohl aufgrund seines politischen Gewichts als auch aufgrund der Tatsache, dass es der wirtschaftliche Motor Südamerikas ist, nach und nach zur führenden Regionalmacht entwickelt. In diesem Kontext unterstützt es aktiv Projekte der regionalen Integration, so etwa die Gründung der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) in Brasilia im Mai 2008 oder die am 21. Jährlichen Gipfel der Rio-Gruppe 2010 in Playa del Carmen (Mexiko) beschlossene Gründung der Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten. Zudem strebt Brasilien zunehmend eine Rolle als Vermittler in regionalen Konflikten an. Die Schweiz beobachtet diese Entwicklungen mit Interesse und intensiviert ihre Beziehungen zu Brasilien entsprechend. 2008 ging sie mit der Unterzeichnung eines Memorandum of Understanding eine strategische Partnerschaft mit dem Land ein. Die erste Runde des politischen Dialogs im Rahmen dieser Partnerschaft fand im Juni 2009 in Bern statt.

Auf der Grundlage gemeinsamer Werte und Interessen wollen die Schweiz und Brasilien durch diese Partnerschaft ihre bilateralen Beziehungen konsolidieren und strukturieren sowie ihre Zusammenarbeit in einem breiteren Spektrum von Bereichen von der wissenschaftlichen und technischen Kooperation bis hin zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens ausbauen, beispielsweise mit Hilfe des 2009 in Kraft getretenen Vertrags über Rechtshilfe in Strafsachen und mit polizeilicher Zusammenarbeit. Die Schweiz und Brasilien intensivieren zudem ihren Dialog über internationale Fragen von gemeinsamem Interesse. So entwickelte sich eine Zusammenarbeit mit regelmässigem Gedankenaustausch zu Fragen wie Abrüstung und Bekämpfung der nuklearen Proliferation sowie zur globalen Gouvernanz in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Finanzen und Umwelt. Derzeit werden gemeinsame Entwicklungsprogramme vorbereitet, die sich um globale Probleme drehen, darunter der Klimawandel, die humanitäre Hilfe und die regionale Entwicklung namentlich in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara.

Zusammenarbeit mit anderen Partnern in der Region Neben den Beziehungen zu den grossen Partnern unterhält die Schweiz intensive Kontakte zu anderen Ländern des Kontinents, die international
oder regional von Bedeutung sind oder in den politischen oder wirtschaftlichen Aussenbeziehungen der Schweiz eine wichtige Rolle spielen.

Eines dieser Länder ist Kanada, das mehreren internationalen und regionalen Organisationen angehört. Im Rahmen dieser Foren verfolgt es eine traditionell aktive Politik der Förderung multilateraler Zusammenarbeit und nimmt Einfluss auf wichtige internationale Anliegen. 2010 nutzte Kanada diese Foren besonders intensiv, und zwar vor allem im Rahmen seiner Präsidentschaft der G-8 und seiner Beteiligung an den Arbeiten der G-20 mit dem Ziel, zur Entwicklung der globalen Gouvernanz in einer multipolaren Welt beizutragen. Auch die erfolgreichen olympischen Spiele in Vancouver waren von Bedeutung. In der UNO kandidierte Kanada zum sechsten Mal für einen Sitz im Sicherheitsrat. Im vergangenen Jahrzehnt zeichnete sich Kanada bis zur Wirtschafts- und Finanzkrise durch anhaltend hohe Wachstumsraten aus. Von der Krise ist es weniger durch den Finanzsektor als vielmehr aufgrund der Tatsache betroffen, dass sein Handel sehr stark auf die USA ausgerichtet ist.

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In den letzten Jahren wurden die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Schweiz und Kanada intensiver. Höhepunkt dieser Entwicklung war das Inkrafttreten des Freihandelsabkommens EFTA-Kanada im Juli 2009. Kanada ist der zweitgrösste Handelspartner der Schweiz auf dem amerikanischen Kontinent. In anderen Bereichen kann die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern noch intensiviert werden, so etwa bei Themen wie menschliche Sicherheit und Menschenrechte, Wissenschaften, Energie und Umwelt. Auf der multilateralen Ebene vertreten die Schweiz und Kanada häufig ähnliche Standpunkte und arbeiten eng zusammen, insbesondere im UNO-System und in der Internationalen Organisation der Frankophonie, wo die Schweiz von Kanada die Präsidentschaft übernommen hat. Der erste Besuch eines kanadischen Premierministers in der Schweiz im Oktober 2010 stellte die verschiedenen Gemeinsamkeiten beider Länder erneut unter Beweis.

Eine wichtige Rolle spielt auch die Regionalmacht Mexiko, die das Bindeglied zwischen Nordamerika und Lateinamerika ist. Zwar ist Mexiko als Mitglied der OECD und des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA in den Norden integriert, doch politisch und kulturell versteht es sich als Teil Lateinamerikas.

Damit ist es Schnittstelle und Vermittler zwischen Nord und Süd. Auf globaler Ebene profiliert sich Mexiko in der G-20 und nimmt zunehmend Einfluss auf die Weltpolitik. Innerstaatlich hat es allerdings in einigen Landesteilen noch immer mit erheblichen Entwicklungs- und Gouvernanzprobleme zu kämpfen.

Mexiko ist nach Brasilien der wichtigste lateinamerikanische Handelspartner der Schweiz. Mit diesem Land schloss die Schweiz im Rahmen der EFTA das (2001 in Kraft getretene) erste Freihandelsabkommen auf dem amerikanischen Kontinent, und Ende 2007 verabschiedete sie eine Aussenwirtschaftsstrategie für Mexiko.

Neben dem Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen sind Fortschritte bei den 2008 begonnenen Verhandlungen über ein Abkommen zu verzeichnen, das die Zusammenarbeit bei der Übergabe von Kulturgütern regelt. Auch die Gespräche über eine Absichtserklärung betreffend die Zusammenarbeit in der Umwelttechnologie kommen voran. Seit 2007 werden regelmässig politische Konsultationen auf hoher Ebene geführt. Auch auf multilateraler Ebene ist Mexiko ein wichtiger Partner der Schweiz. Das zeigen die Zusammenarbeit
bei der Gründung des UNO-Menschenrechtsrates, die Kooperation in der Environmental Integrity Group (EIG) zum Thema Klimaverhandlungen, und im Rahmen der WHO der Umgang mit der weltweiten Grippepandemie, die im Frühjahr 2009 in Mexiko ausgebrochen war.

Kolumbien ist ein weiterer Partner auf dem amerikanischen Kontinent, zu dem die Schweiz enge und vielfältige Beziehungen unterhält. Dieses Land verzeichnete in den letzten Jahren Fortschritte auf politischer Ebene und bei der inneren Sicherheit, und es verfügt über bedeutendes wirtschaftliches Potenzial. Der interne bewaffnete Konflikt in manchen Teilen des Landes geht jedoch weiter und führt dazu, dass zahlreiche Menschen im Inland vertrieben werden oder ins Ausland flüchten.

Vor diesem Hintergrund haben die Schweiz und Kolumbien ihre bilateralen Beziehungen insbesondere durch den Abschluss einer ganzen Reihe von Abkommen zu allen Wirtschaftsbereichen verstärkt und diversifiziert. Aufgrund seines wirtschaftlichen Entwicklungsstandes und der Verbesserung der Rahmenbedingungen gehört Kolumbien nunmehr zu den sieben neuen Schwerpunktländern der wirtschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz. Da der interne bewaffnete Konflikt anhält, ist die Schweiz allerdings der Auffassung, dass ihr Engagement in den Bereichen Friedensförderung, humanitäre Hilfe und Menschenrechte nach wie vor sinnvoll ist. Mit ihrer humanitären Hilfe will die Schweiz das Leid der Opfer des inter1066

nen Konflikts lindern. Sie unterhält ein vielseitiges Programm für die Förderung von Frieden und Menschenrechte mit Schwerpunkt auf dem Thema Vergangenheitsbewältigung. Im Rahmen ihres Engagements für den Frieden in Kolumbien hatte die Schweiz im ersten Halbjahr 2010 den Vorsitz der G-24 (einer tripartiten Gruppe, in der die Geberländer, die kolumbianische Regierung und die Zivilgesellschaft vertreten sind). Diese Gruppe begleitet Kolumbien seit 2003 auf seinem Weg zu einem dauerhaften Frieden.

Neben den Ländern, zu denen in den letzten Jahren besonders enge Beziehungen entwickelt wurden, führt die Schweiz den Austausch mit anderen Partnern auf dem amerikanischen Kontinent fort. Mit Argentinien, Venezuela und Peru werden regelmässig politische Konsultationen geführt. Mit Venezuela wurde im Februar 2010 anlässlich eines Treffens in Caracas ein Memorandum of Understanding unterzeichnet, in dem das Instrument der politischen Konsultation offiziell eingeführt wurde.

Mit diesem Mechanismus, in dessen Rahmen sowohl Konvergenzen als auch Meinungsverschiedenheiten angesprochen werden, will die Schweiz den Gedankenaustausch und das gegenseitige Verständnis fördern. Diese Treffen bieten auch Gelegenheit für Gespräche über das Investitionsklima und konkrete Probleme von Schweizer Unternehmen.

Die Schweiz hat sich nicht nur geografische, sondern auch eine Reihe von thematischen Schwerpunkten auf dem amerikanischen Kontinent gesetzt: Sie engagiert sich in der Entwicklungshilfe für die ärmsten Länder, namentlich in Bolivien und Mittelamerika, sowie in der humanitären Hilfe. Die Herausforderungen im Entwicklungsbereich nehmen zunehmend globale Ausmasse an und erfordern koordiniertes Handeln. In Lateinamerika ist die Schweiz in den Bereichen Klimawandel und Wasser tätig und verfolgt einen regionalen Ansatz.

Die Schweiz engagiert sich auch zugunsten fragiler Staaten. Auf dem amerikanischen Kontinent unterstützt sie insbesondere Haiti, das ärmste Land der Region, mit verschiedenen Entwicklungsprojekten und humanitärer Hilfe. Dieses Engagement erlaubte ihr, nach dem Erdbeben, das Haiti im Januar 2010 schwer in Mitleidenschaft zog, schnell und wirksam zu helfen. Zudem bemüht sie sich, die Rückgabe der Duvalier-Gelder durch die Schaffung eines geeigneten rechtlichen Rahmens (siehe Ziff. 4.1.4) sicherzustellen.
Zu Kuba unterhält die Schweiz stabile Beziehungen, deren Grundlage ein langjähriges Programm der Entwicklungszusammenarbeit ist. Sie organisiert regelmässig politische Konsultationen auf hoher Ebene und spricht in diesem Rahmen zahlreiche Fragen von beiderseitigem Interesse an. Die Qualität der Beziehungen erlaubte es, die Bandbreite der Themen um einen Dialog über die Menschenrechte sowie Gespräche über Migrations- und Visafragen zu erweitern, die von beiden Seiten mit Interesse weiterverfolgt werden.

Herausforderungen und Perspektiven Die Schweiz will ­ insbesondere mit den Schwerpunktländern USA und Brasilien ­ gute Beziehungen unterhalten und diese durch Zusammenarbeit in Bereichen von gemeinsamem Interesse ausbauen. Dazu ist eine starke Präsenz vor Ort und folglich ein angemessenes Netz von Vertretungen erforderlich.

Vor diesem Hintergrund ist es namentlich mit Blick auf die USA wichtig, die Meinungsverschiedenheiten in Steuerangelegenheiten in beiderseitigem Interesse zu regeln und das ausgehandelte Amtshilfe-Abkommen in Sachen UBS in Kraft zu 1067

setzen. Daneben gilt es, das gut entwickelte Kontaktnetz zur amerikanischen Administration und den privilegierten Zugang zu wichtigen Entscheidungsträgern weiter zu pflegen. Wichtig ist dabei, dass Bereiche der Zusammenarbeit identifiziert werden, die für die amerikanische Seite von Interesse sind und in die die Schweiz sich einbringen kann. Auf längere Sicht muss sich die Schweiz bemühen, die Rahmenbedingungen für den Austausch und die Zusammenarbeit mit den USA zu verbessern, und zwar in allen Bereichen von der Wirtschaft über die Wissenschaften bis hin zum Personenverkehr und anderen Themen von beiderseitigem Interesse. In diesem Zusammenhang ist zu vermerken, dass sich die Schutzmachtmandate der Schweiz zur Vertretung der Interessen der USA in Iran und Kuba positiv auf die bilateralen Beziehungen zu den USA auswirken. In jedem Fall eröffnet die Bereitschaft der Administration Obama zu verstärkter internationaler Zusammenarbeit der Schweiz Zugang zu neuen Bereichen gemeinsamer Aktivitäten. Damit kann sich die Schweiz besser positionieren und ihre Beziehungen zur amerikanischen Regierung und den Behörden der USA intensivieren.

Im Hinblick auf Lateinamerika ist es für die Schweiz von ausschlaggebender Bedeutung, die bestehenden engen Beziehungen zu pflegen und weiter zu vertiefen. Hierbei gilt es, den wachsenden Wohlstand der Länder dieser Region und ihre zunehmend wichtige Rolle auf der internationalen Ebene zu berücksichtigen. In Bereichen von gemeinsamem Interesse sollten Kooperationen und Allianzen insbesondere mit den gleichgesinnten Ländern angestrebt werden.

Im Rahmen dieser politischen und wirtschaftlichen Partnerschaften muss die Schweiz im Übrigen einen freimütigen, offenen und konstruktiven Dialog über Rahmenbedingungen wie Rechtsstaat, Achtung der Menschenrechte, der Grundfreiheiten und der Minderheiten, demokratische Strukturen und Unabhängigkeit der Justiz pflegen. Ein solcher Dialog ist unverzichtbar für die Entwicklung der bilateralen Beziehungen. Auch die Risiken, denen sich Schweizer Unternehmen vor allem bei iher Investitionstätigkeit gegenübersehen, stellen in diesem Zusammenhang eine Herausforderung dar. Das Gespräch mit den betreffenden Regierungen muss weitergeführt werden, um gemeinsam Lösungen zu finden. Die Schweiz setzt dabei auf die Stärkung der Gouvernanz und will auch weiterhin die verschiedenen ihr zur Verfügung stehenden Instrumente für die friedliche Beilegung von Konflikten einsetzen.

2.4

Politik gegenüber Asien und Ozeanien

Aktuelle Tendenzen in der Region Der unaufhaltsame wirtschaftliche und soziale Aufschwung Asiens, der vor etwa zwei Jahrzehnten einsetzte, hat das schwierige Jahr 2009 bemerkenswert gut überstanden. Mit Ausnahme Japans, das wahrscheinlich Ende 2010 von China als zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt abgelöst wird, haben die Wirtschaftsmächte Asiens die Krise gut gemeistert und wachsen auch weiterhin. Sicherlich bringt die Globalisierung nicht nur Chancen, sondern auch Risiken mit sich: Die vorwiegend exportorientierten und daher weitgehend in die Weltwirtschaft integrierten Volkswirtschaften Ostasiens müssen mehr für ihren Binnenmarkt tun. Länder wie Indien und selbst Indonesien, die weniger mit dem Welthandel verflochten sind und über einen grossen Markt an Konsumenten verfügen, blieben von den Auswirkungen der Krise weitgehend verschont. In diesem Kontext ist die zurzeit erfolgende Stärkung der Wirtschaftsbeziehungen ­ zum Beispiel durch das 2009 in Kraft getretene Partner1068

schafts- und Freihandelsabkommen mit Japan ­ nach wie vor der Eckpfeiler des von der Schweiz praktizierten regionalen Ansatzes. Dies gilt auch für ähnlich expandierende Bereiche wie Wissenschaft und Forschung.

Damit fällt die Bilanz 2009 im Hinblick auf die Armutsverringerung, das Wachstum der Mittelklasse, den Anteil am Welthandel und die Investitionstätigkeit deutlich positiver aus als in der übrigen Welt. Die politische, soziale und ökonomische Geometrie Asiens ist nach wie vor sehr vielfältig. Auf dem Kontinent gibt es Länder, die vollkommen in die demokratisch organisierte Welt integriert sind, aber auch Länder, die ihren Markt öffnen, ohne Meinungsfreiheit zuzulassen. Neben alten und neuen Demokratien gibt es Diktaturen, die aus anderen Zeiten zu stammen scheinen; in ein und demselben Land finden sich moderne politische Institutionen und Finanzeinrichtungen neben Stammes- und Kastenstrukturen. Doch heute steht fest, dass der immense asiatische Raum vom Hindukusch bis zum japanischen Archipel, von den mongolischen Steppen bis zu den indonesischen und pazifischen Inselwelten Fermente und Dynamiken enthält, die von wesentlicher Bedeutung für das 21. Jahrhundert sind.

Allerdings werden die Wachstumsgewinne und der von diesem Kontinent zu erwartende positive Einfluss heute noch stark relativiert durch die Probleme im Zusammenhang mit der Umwelt, der Bevölkerungsentwicklung, der Sicherheit und dem zunehmenden sozialen Gefälle. Die anlässlich des Umweltgipfels von Kopenhagen deutlich gewordenen Blockierungen zeigen, dass die Schwellenländer trotz der zunehmenden Gefahren für die Umwelt noch immer zögern, sich ernsthaft mit der Frage der Nachhaltigkeit zu befassen. Diese Länder lehnen es im Allgemeinen ab, sich durch zwingende völkerrechtliche Mechanismen und Instrumente zu binden.

Zudem stellen die Waffenarsenale, die von den wichtigsten asiatischen Akteuren in einem Umfeld entwickelt wurden, das von einer unzureichenden Sicherheitsarchitektur sowie offenen oder latenten Spannungen geprägt ist, eine Bedrohung für die Stabilität der beiden wichtigsten Regionen des Kontinents dar. Schliesslich ist in vielen asiatischen Ländern auch religiöse Intoleranz (islamischer, buddhistischer oder hinduistischer Provenienz) von Seiten bewaffneter Gruppen oder autoritärer Regimes eine Ursache von Spannungen. Ein
weiterer Grund für potenzielle Unruhen ist das soziale Gefälle, das durch die Wirtschaftsreformen verschärft wird und ein Nährboden für den Extremismus und die mit ihm verbundene Destabilisierung ist.

Was die Interessen der Schweiz in der Region betrifft, so zeichnen sich drei Grossmächte durch den Umfang, die Komplexität und die Dynamik der bilateralen Beziehungen zur Schweiz besonders aus. Die drei wirtschaftlichen Schwergewichte Asiens ­ China, Indien und Japan ­ sind globale Akteure, die ihre Tätigkeit auf den asiatischen Raum konzentrieren und hier um Einfluss kämpfen. Sie sind wichtige Partner für die Schweiz, wie die intensiven Beziehungen auf wirtschaftlicher und Regierungsebene zeigen. Dies entspricht der Ausrichtung des Bundesrats, der diese Staaten 2005 zu Schwerpunktländern erklärt hatte. Dennoch spielen auch viele andere Länder der Region für die Schweiz eine Rolle. Sie sind in der Gesamtheit der bilateralen Beziehungen zwar weniger präsent, doch sie sind attraktive Partner in Bereichen wie Handel und Investitionen, Wissenschaft, Tourismus, Entwicklung, menschliche Sicherheit, Umwelt und multilaterale Angelegenheiten.

1069

Schwerpunktländer in der Region China: Gemäss der Chinastrategie des Bundesrates vom Juni 2007 werden vier Kooperationsbereiche schwerpunktmässig verfolgt: Politik und Menschenrechte, Wirtschaft, Wissenschaft/Technologie/Bildung sowie Umwelt und Energie.

Daneben umfassen die bilateralen Beziehungen heute zahlreiche weitere Themenbereiche, wie Gesundheit, Migration, Kultur oder Sicherheit.

Das wichtigste politische Instrument ist der im Memorandum of Understanding (MoU) vom September 2007 verankerte regelmässige Dialog. Er trägt der sogenannten Ein-China-Politik Rechnung, die die Schweiz seit ihrer Anerkennung der Volksrepublik China im Jahr 1950 verfolgt. Der Besuch des chinesischen Vize-Premierministers im Januar 2010, der den Auftakt zum Jubiläumsjahr «60 Jahre diplomatische Beziehungen» bildete, sowie im Juli 2010 des Präsidenten des Nationalen Volkskongresses, des zweithöchsten Würdenträgers in der chinesischen Hierarchie, sind als weitere Vertrauenszeichen Pekings gegenüber der Schweiz zu werten. Im August 2010 wurde Bundespräsidentin Leuthard in Peking auch vom chinesischen Präsidenten empfangen. Gemeinsam würdigten sie die gemeinsame Machbarkeitsstudie zum bilateralen Freihandelsabkommen und lancierten die Verhandlungen. Im Rahmen des Menschenrechtsdialogs, der 1991 auf Wunsch Pekings aufgenommen wurde, werden auch heikle Themen wie Rechtsreformen, Strafrecht, Strafvollzug, Religionsfreiheit und Minderheitenrechte (einschliesslich in den Gebieten Xinjiang und Tibet) angesprochen. Die elfte Dialogrunde ist im zweiten Halbjahr 2010 vorgesehen. Der Migrationsdialog könnte dieses Jahr aufgenommen werden.

In wirtschaftlicher Hinsicht ist China (mit der Besonderen Verwaltungsregion Hongkong) seit 2002 der wichtigste Handelspartner der Schweiz in Asien, gefolgt von Japan. Die Schweiz gehört zu den wenigen westlichen Ländern, die mit China einen Handelsüberschuss erzielen (seit 2003). 2009 betrug das bilaterale Handelsvolumen rund 10,7 Milliarden Franken, und die Schweizer Direktinvestitionen in China beliefen sich Ende 2008 auf rund 6,8 Milliarden Franken. In Anbetracht der globalen Finanzkrise muss der Dialog mit Peking auf diesem Gebiet weiter intensiviert und ausgedehnt werden, da China ein wichtiger Akteur in der G-20 und in der internationalen Finanzarchitektur ist.

Anstehende Wirtschaftsfragen
werden nach wie vor hauptsächlich in der Gemischten Wirtschaftskommission behandelt. Einige Dossiers sind vorangekommen, bei anderen wichtigen Fragen müssen noch Fortschritte erzielt werden. Dies gilt zum Beispiel für den Schutz des geistigen Eigentums im weitesten Sinn.

Im Bereich Wissenschaft, Technologie und Bildung ist China ein Schwerpunktland und das im August 2008 eröffnete Swissnex Shanghai ein zentrales Element.14 Die wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Forschungsinstituten wurde in diesem Rahmen ebenfalls 2008 aufgenommen und letztes Jahr unter vermehrtem Einbezug der Industrie auf neue Bereiche ausgedehnt.

Ein DEZA-Programm in China unterstützt die Schulung hoher Verwaltungskader; die humanitäre Hilfe wirkt an der Ausbildung chinesischer Katastrophenhilfekorps (Urban Search and Rescue) mit, die sich beim Erdbeben von Sichuan im Jahre 2008 bereits bewähren konnten.

14

Vgl. Botschaft vom 24. Jan. 2007 über die Förderung von Bildung, Forschung und Innovation in den Jahren 2008­2011, BBl 2007 1223.

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Im Bereich Umwelt und Energie haben die Olympischen Spiele in Peking Probleme sichtbar gemacht, die die Behörden zu einer neuen Priorität erklärt haben. Wie auch die Projekte zur nachhaltigen Entwicklung (Wasser- und Waldwirtschaft) verdienen es die Schweizer Initiativen für eine «saubere» Industrieproduktion und Abfallbewirtschaftung, fortgesetzt zu werden. Im Umweltbereich wurde im Februar 2009 ein erstes MoU über wirtschaftliche Zusammenarbeit im Bereich Umwelttechnologie unterzeichnet, ein zweites über Wassermanagement und Gefahrenprävention folgte im April 2009. Im Jahr 2010 wird die Zusammenarbeit im Klimabereich verstärkt.

Sämtliche Kooperationsbereiche stehen auch künftig im Zentrum unserer bilateralen Zusammenarbeit. Das Image der Schweiz ist weiterhin sehr gut und das chinesische Interesse an schweizerischem Fachwissen und am Austausch in fast allen Politikbereichen gross. Im Gegenzug sollen sowohl unsere politischen und gesellschaftlichen Institutionen als auch die Unternehmen, d.h. der Standort Schweiz mit der Zivilgesellschaft insgesamt, durch die Auseinandersetzung mit dem aufstrebenden asiatischen Partner ihre Chinakompetenz stärken. Nachdem schon die Olympischen Spiele 2008 in Peking mit dem populären House of Switzerland und dem «Vogelnest»-Stadium für das Image der Schweiz gewinnbringend waren, erweist sich der Schweizer Pavillon an der Weltausstellung in Shanghai als wahrer Publikumsmagnet. In den nächsten Jahren wird es in unseren Beziehungen mit China darum gehen, bestehende Kontakte zu vertiefen, Netzwerke zu erweitern und gleichzeitig gegenüber China koordiniert aufzutreten und Synergien vermehrt zu nutzen. Angesichts des rasch zunehmenden Einflusses Chinas auf der Weltbühne soll auch die Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Staaten verstärkt werden, um China als verantwortungsvollen Partner in die Lösung der Probleme und Herausforderungen unserer Zeit einzubinden.

Indien: Die Indien-Politik der Schweiz weist zunehmend Ähnlichkeiten mit der China-Strategie des Bundesrats auf. Die Zusammenarbeit findet in ähnlichen Bereichen statt (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft/Technologie/Ausbildung und Umwelt/ Energie). Nachdem Indien nahezu fünf Jahrzehnte lang eines der Schwerpunktländer der Entwicklungszusammenarbeit war, wird diese Zusammenarbeit nunmehr durch kleinere und gezielte
Programme ersetzt. Die Schweiz bemüht sich ­ nicht ganz ohne Schwierigkeiten ­ ihr Netz von Vertretungen in Indien auszubauen und den institutionellen Rahmen bilateraler Konsultationen zu konsolidieren.

Auf politischer Ebene halten die Aussenministerien jährliche Konsultationen ab, die sich mit allen bilateralen Fragen sowie wichtigen regionalen und multilateralen Dossiers befassen. Diese Gespräche sollen ein kohärentes und koordiniertes Herangehen an die zahlreichen bilateralen Dossiers (einschliesslich Verträgen) sicherstellen, deren Tragweite und Komplexität ebenso zunehmen wie der Verkehr von Personen und Gütern und der Austausch von Ideen. Die Tatsache, dass Indien eine wichtige Rolle auf multilateraler Ebene spielt (Handel, Umwelt, Nuklearprogramm usw.), erhöht weiter das Interesse an solchen Konsultationen sowie an bilateralen Besuchen und Gesprächen auf Ministerebene.

Die indische Wirtschaft hat die Finanzkrise im Grossen und Ganzen gut überstanden, der Handel und die Investitionen haben weiter zugenommen. Das Volumen des bilateralen Handels, das seit 2000 stark angestiegen war und 2008 einen Wert von 3,5 Milliarden Franken erreicht hatte, ging 2009 auf 2,97 Milliarden zurück und steigt 2010 wieder; für die Schweiz ist die Handelsbilanz positiv. Ende 2008 betrugen die Schweizer Direktinvestitionen in Indien 2,38 Milliarden Franken. Das entsprechende Potenzial ist nach wie vor erheblich, und die Rahmenbedingungen 1071

müssen konsolidiert werden. Im Rahmen der EFTA wird derzeit ein weitreichendes Handels- und Investitionsabkommen ausgehandelt. 2007 wurde eine Arbeitsgruppe zum geistigen Eigentum gebildet. Die Gemischte Kommission bleibt das wichtigste Diskussionsforum für hängige Fragen.

Im Bereich Wissenschaft und Technologie ist Indien eines der acht Schwerpunktländer der Schweiz.15 Mehrere ambitionierte bilaterale Programme sind angelaufen, und in Bangalore soll gleichzeitig mit einem Generalkonsulat ein Swissnex eröffnet werden (das fünfte dieser Art und das dritte in Asien); die Schweiz hat sich mit allem Nachdruck dafür eingesetzt, dass die erforderlichen Bewilligungen erteilt werden. Die Zusammenarbeit zwischen schweizerischen und indischen Hochschulen erfolgt im Rahmen des Programms der bilateralen Forschungszusammenarbeit des Staatsekretariats für Bildung und Forschung.

Die Zusammenarbeit im Umwelt- und Energiebereich soll in Zukunft weiter ausgebaut werden. Als weltweit drittgrösster CO2-Emittent steht Indien heute vor der Aufgabe, seinen Verbrauch zu steuern und seine Ressourcen sehr sorgfältig zu verwalten. Die Entwicklung eines zivilen Nuklearprogramms, das aufgrund der Kriterien für die Nichtverbreitung von Kernwaffen problematisch ist, kann als Folge davon gewertet werden. Eine der Prioritäten der Schweiz war und ist es denn auch, ihre Anliegen im Forum der «Nuclear Suppliers Group» (NSG) einzubringen. Auf der Agenda der künftigen Zusammenarbeit figuriert jedoch auch die Förderung von sauberer Energie und neuen Technologien. Im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit bilden daher Klimafragen (Mitigation und Adaptation) sowie der Föderalismus die Schwerpunkte der Entwicklungszusammenarbeit. Die DEZA will die bisherigen Erfahrungen der Schweiz in diesen Bereichen nutzen und weiterentwickeln und zugleich regionale und trilaterale Kooperationen in Südasien entwickeln. Auf diese Weise lassen sich die öffentliche Entwicklungshilfe der Schweiz optimieren und Errungenschaften langfristig im indischen Kontext verankern. In Indien steht die Armutsbekämpfung weiterhin im Vordergrund, namentlich auch um die Ursachen von Gewalt und Diskriminierung zu beseitigen.

Japan: Die bilateralen Beziehungen mit Japan sind für die Schweiz von grosser Bedeutung, denn sie beruhen auf tiefgreifenden systemischen Gemeinsamkeiten.
Was die Aussenhandelszahlen anbelangt, wurde Japan zwar von China und Hongkong vor einigen Jahren überholt, für die Schweiz ist Japan aber das wichtigste Investitionsland in Asien. Ende 2008 beliefen sich die schweizerischen Direktinvestitionen in Japan auf rund 15 Milliarden Franken; das sind 1,8 % der gesamten schweizerischen Direktinvestitionen im Ausland. Gemäss japanischen Angaben stammten 2009 2,5 % der gesamten ausländischen Direktinvestitionen in Japan aus der Schweiz, womit die Schweiz an achter Stelle liegt. Die Schweizer Unternehmen beschäftigen in Japan rund 64 000 Personen. Das bilaterale Handelsvolumen betrug 2009 über 10,7 Milliarden Franken, was einem krisenbedingten Rückgang im Vergleich zu 2008 von ungefähr 4,3 % entspricht.

Japan, das trotz seiner Einbusse an Wirtschaftsmacht in Bezug auf China nach wie vor als eines der innovativsten Länder gilt, ist auch ein wichtiger Partner im wissenschaftlichen und technologischen Bereich. Dies kommt auch im bilateralen

15

Botschaft vom 24. Jan. 2007 über die Förderung von Bildung, Forschung und Innovation in den Jahren 2008­2011, BBl 2007 1223.

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Abkommen vom 10. Juli 200716 über die wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit zum Ausdruck.

Als zentrales Ereignis der bilateralen Beziehungen der letzten Jahre kann das Inkrafttreten am 1. September 2009 des Abkommens vom 19. Februar 200917 über Freihandel und wirtschaftliche Partnerschaft, des für die Schweiz wohl wichtigsten bilateralen Freihandelsabkommens seit jenem mit der Europäischen Gemeinschaft gewertet werden. Es ist das erste dieser Art, das Japan mit einer westlichen Industrienation abgeschlossen hat. Das für andere Industrieländer wegweisende Abkommen ist Ausdruck der vielen gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen und betont gleichzeitig die engen und strukturierten bilateralen Beziehungen.

Auch bei den Erfahrungen in multilateralen Foren, namentlich in der Welthandelsorganisation (WTO), haben sich durch die gemeinsamen Interessen Synergien ergeben. Dabei werden in Zukunft vor allem Umweltanliegen (nach Kyoto und Kopenhagen), die Fortsetzung und Intensivierung unserer Kooperation im wissenschaftlichen und technologischen Bereich, die Reformen des UNO-Systems, Konvergenzen in Sachen Entwicklungszusammenarbeit (z.B. Asiatische Entwicklungsbank) und die Nichtverbreitung von Kernwaffen im Vordergrund stehen. Als weitere Felder einer verstärkten bilateralen Zusammenarbeit sind ein regelmässiger Austausch über regionale Fragen wie z.B. die Entwicklung auf der koreanischen Halbinsel und in Afghanistan/Pakistan sowie Demokratie, Institutionenbildung und gute Regierungsführung in Drittstaaten und schliesslich der Kulturaustausch zu erwähnen.

Im Bereich Tourismus bleibt für Japanerinnen und Japaner die Schweiz das beliebteste europäische Land, umgekehrt stellt Japan nach Thailand auf dem asiatischen Kontinent das bevorzugte Land von Schweizerinnen und Schweizern dar. Diese übereinstimmende Wahrnehmung wirkt sich positiv auf die Wirtschaft und den Personenverkehr aus (Tourismus, Forschung, Praktika) und hat indirekt auch zum wichtigen Wirtschaftsabkommen geführt.

Gestützt auf die Konvergenz und das Memorandum vom 5. Juli 2010 zur Schaffung eines Rahmens für eine Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen den beiden Aussenministerien wurde vereinbart, einen ausgewogenen und differenzierten politischen Dialog einzurichten, der der Umsicht Japans in diesem Bereich Rechnung trägt. Eine
gemeinsame politische Erklärung zwischen den Aussenministerien soll dieses Ziel besiegeln, was eine Systematisierung und Institutionalisierung der bilateralen Kontakte auf hoher Ebene erlauben wird.

2014 jährt sich das erste bilaterale Abkommen zwischen der Schweiz und Japan, nämlich der Freundschafts- und Handelsvertrag von 1864, zum 150. Mal. Die nächsten Jahre und insbesondere das Jubiläumsjahr werden Gelegenheit bieten, die Zusammenarbeit mit dem in vielen Punkten gleichgesinnten Japan in einem sich rasch ändernden asiatischen Kontext auszubauen.

Bilaterale Zusammenarbeit mit anderen Partnerländern der Region Die Präsenz und die Interessen der Schweiz in Asien beschränken sich jedoch nicht auf diese drei Hauptpartner. Die Aufmerksamkeit, die die Schweiz im Rahmen ihrer Aussenpolitik (Dialog, Sicherheit) den muslimischen Ländern widmet, gilt nicht nur 16 17

SR 0.420.463.1 SR 0.946.294.632

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dem Nahen Osten, sondern auch Süd- und Südostasien mit den drei grössten islamischen Gesellschaften der Welt: Indonesien, Pakistan und Malaysia.

In jüngerer Zeit ist in mehreren asiatischen Ländern neben dem problematischen Fortbestehen archaischer Systeme (Kasten, Stämme) eine Verschärfung der religiös motivierten Gewalt und des sozialen Gefälles zu beobachten. Gleichzeitig sind in letzter Zeit bemerkenswerte Fortschritte bei der Demokratisierung namentlich in Bhutan, auf den Malediven und in Bangladesch zu verzeichnen. In Sri Lanka ging ein blutiger Bürgerkrieg zu Ende, und in Nepal wird der Friedens- und Versöhnungsprozess fortgesetzt. In wirtschaftlicher Hinsicht zeigen zwei weitere Mitglieder der G-20, Südkorea und Australien, eine ausserordentliche Dynamik, welche die Schweiz nutzen kann. Diese unterschiedlichen Entwicklungen veranlassen den Bund, die Instrumente seiner Aussenpolitik vorzuschlagen und einzusetzen und damit auf neue Erfordernisse und Chancen einzugehen.

Die Partnerländer der Schweiz im asiatisch-pazifischen Raum können etwas vereinfacht vier Kategorien zugeordnet werden, die allerdings genügend Spielraum für Entwicklungen lassen: ­

systemisch vergleichbare Länder (etablierte Demokratien, vergleichbarer Entwicklungsstand, bilaterale und multilaterale Geber, gleichgesinnte Länder, OECD-Mitglieder, Länder mit den gleichen gesellschaftlichen Herausforderungen)

­

hauptsächlich wirtschaftliche Partner (substanzieller wirtschaftlicher Austausch, umfangreiche Investitionen, politische Systeme mit demokratischer Tendenz, Touristenziele)

­

Entwicklungspartner (starkes bilaterales Engagement, Unterstützung bei der Transition oder Globalisierung, noch bescheidener wirtschaftlicher Austausch)

­

Empfänger von humanitärer Hilfe und Kleinstaaten des Pazifik (im Allgemeinen marginalisierte Länder, die systemisch anfällig oder durch den Klimawandel in ihrer Existenz bedroht sind).

Zur Kategorie der systemisch vergleichbaren Länder zählen namentlich die Republik Korea (Südkorea) und Australien, die zu den fünfzehn grössten Volkswirtschaften der Welt gehören. Der Austausch mit der Schweiz findet im Rahmen multilateraler Foren statt, und die seltenen bilateralen Probleme werden im «Courant normal» geregelt. Die beiden Länder sind für die Schweiz potenzielle Stützen in der G-20, und das Profil der bilateralen Beziehungen zu ihnen ist zwar weniger intensiv, ansonsten aber vergleichbar mit demjenigen Japans. Zurzeit werden die bilateralen Kontakte sowie auch die Arbeit im Bereich Landeskommunikation intensiviert. Der wirtschaftliche Austausch und die Investitionstätigkeit sind solide und nehmen weiter zu; die Fortschritte dieser Länder in den Bereichen wissenschaftliche Forschung, Umwelt und Nichtverbreitung von Kernwaffen lassen deutliche Übereinstimmungen namentlich mit Neuseeland erkennen. Sinnfällig ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass der Bundesrat die Teilnahme der Schweiz an der Weltausstellung 2012 in Yeosu (Südkorea) beschlossen hat.

In die Gruppe der hauptsächlich wirtschaftlichen Partner gehören die meisten ASEAN-Mitglieder, insbesondere die Gründungsmitglieder Thailand, Indonesien, Philippinen, Malaysia und Singapur. Die Wirtschaftsbeziehungen mit diesen Ländern sind stabil oder nehmen weiter zu, die Investitionen sind gut verankert. Zu den 1074

Prioritäten der Schweiz gehört die Stärkung des institutionellen Rahmens, insbesondere durch den Abschluss von Freihandelsabkommen. Zudem bildet die Mehrheit dieser Staaten für die Schweizerinnen und Schweizer beliebte Reiseziele. Vor dem Hintergrund der Annahme der Minarett-Initiative am 29. November 2009 in der Schweiz kommt der Imagepflege, insbesondere in den überwiegend muslimisch dominierten Staaten Südostasiens, eine erhöhte Bedeutung zu. Mit Thailand, dem zweitwichtigsten Handelspartner in der Region, verbindet die Schweiz weiterhin wichtige, ausbaufähige wirtschaftliche Interessen und die grösste Schweizer Gemeinschaft in Asien. Singapur, der wichtigste Handelspartner in Südostasien, ist aufgrund der finanzmarktstrategischen Interessen der Schweiz weiterhin von vorrangigem Interesse. Im Fall Indonesiens hat dessen Mitgliedschaft in der G-20 und die Präsenz des ASEAN-Sekretariats in Jakarta Möglichkeiten eröffnet, die genutzt wurden: Der Schweizer Botschafter in Indonesien wurde bei der ASEAN akkreditiert. Am Staatsbesuch der Bundespräsidentin im Juli 2010 wurde beschlossen, Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen aufzunehmen. Abgesehen von der ASEAN sind auch Pakistan und Vietnam wichtige Wirtschaftspartner (Handel, Investitionen), wobei sie gleichzeitig noch Entwicklungspartner bleiben. Waren die Beziehungen zu Vietnam bislang in erster Linie entwicklungspolitisch geprägt, so entwickelt es sich aufgrund seines anhaltenden Wirtschaftswachstums und seiner beachtlichen Erfolge in der Armutsbekämpfung zu einem Land mit einem durchschnittlich mittleren Einkommen. Dieser Tatsache wird ergänzend zur bilateralen Entwicklungszusammenarbeit der DEZA und zum institutionalisierten Menschenrechtsdialog durch den neuen Status Vietnams als Schwerpunktland der wirtschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit des SECO Rechnung getragen. Ein Ausdruck davon war auch der Besuch des vietnamesischen Präsidenten in der Schweiz im Mai 2010.

Entwicklungspartner: In diesen Ländern werden Entwicklungsinstrumente der DEZA und des SECO in bedeutendem Ausmass und gezielt zur Armutsbekämpfung und zur Stärkung der Gouvernanz (z.B. Korruptionsbekämpfung) eingesetzt.

Obwohl die wirtschaftlichen Leistungen dieser Länder unterschiedlich ausfallen, weisen sie interessante Perspektiven auf. Die sozio-ökonomische Bilanz von
Partnern wie Vietnam, Bangladesch oder Pakistan wirkt sich aufgrund der Bevölkerungszahlen und schwieriger Nachbarschaftsverhältnisse stark auf die Subregionen aus. Die Präsenz der Schweiz vor Ort ist wichtig, denn das wirtschaftliche Potenzial dieser Länder ist vorhanden, wenn auch Herausforderungen bezüglich Sicherheit (Pakistan), institutionelle Fragen (Pakistan, Bangladesch) oder Klimawandel (Bangladesch, Vietnam) unterworfen. Wie im Fall Indiens nimmt die DEZA auch in Pakistan im Rahmen einer allgemeinen Umstrukturierung Anpassungen vor, um die Erfahrungen aus mehr als vierzig Jahren Schweizer Entwicklungszusammenarbeit optimal zu nutzen. Die Auswirkungen der Überschwemmungen im August 2010 machen allerdings eine Neubeurteilung des Engagements nötig, da sich unter den gegebenen Umständen die bisher getätigten Investitionen kaum nachhaltig konsolidieren lassen. Im Rahmen des Mekong-Programms der DEZA schliesslich wird versucht, positive Erfahrungen aus Vietnam in die Entwicklungsarbeit in Laos einfliessen zu lassen. Was die Instrumente des politischen Dialogs (Frieden, Menschenrechte) betrifft, werden diese oft zusammen mit Entwicklungsmassnahmen eingesetzt, so in Nepal oder Sri Lanka.

1075

Empfänger von humanitärer Hilfe: Die eingangs erwähnte Problematik, die auf den unterschiedlichen Entwicklungsfortschritten in Asien beruht, lässt sich an drei Ländern mit Scharnierfunktion verdeutlichen, nämlich Afghanistan, Myanmar und der Demokratischen Volksrepublik Korea (Nordkorea). Sie beeinflussen die jeweiligen Subregionen stark, was sich direkt oder indirekt auf die Sicherheit auswirkt und damit auch die Schweiz betrifft, sei es in Bezug auf Terrorismus, Verbreitung von Kernwaffen, menschliche Sicherheit oder Drogenhandel. Die Schweiz setzt in Bezug auf diese Länder in erster Linie ihr humanitäres Engagement fort, vor allem in Afghanistan, wodurch sie auch ihre Solidarität mit der internationalen Gemeinschaft bekräftigt. In Myanmar ist die Schweiz bereits seit 1998 mit einem humanitären Engagement aktiv, welches auch in den nächsten Jahren mit dem Schwerpunkt der humanitären Unterstützung der Opfer des Zyklon «Nargis» weitergeführt wird.

Im Falle positiver Entwicklungen nach den angekündigten Wahlen in Myanmar im Jahr 2010 wird eine Erweiterung des humanitären Engagements in Myanmar in Erwägung gezogen.

Die Anliegen der Kleinstaaten im Pazifik werden von der Schweiz gebührend berücksichtigt, insbesondere in den multilateralen und regionalen Foren zur Klimapolitik, oder auch durch die Unterstützung ihrer Präsenz in Genf, wobei davon ausgegangen wird, dass dies eine Gegenleistung für ihr Entgegenkommen gegenüber unseren Interessen ist.

Herausforderungen und Perspektiven Auf einem so vielgestaltigen Kontinent wie Asien und dem pazifischen Raum müssen die grossen Trends relativiert und nuanciert werden. Mit Sicherheit wird die dynamische Entwicklung Chinas und in etwas geringerem Masse auch Indiens und Südkoreas der Schweiz auch weiterhin wichtige Möglichkeiten zur Zusammenarbeit bieten. Doch sollte Japan keinesfalls unterschätzt werden, denn es ist nach wie vor einer der solidesten Partner, und sei es auch nur aufgrund der zahlreichen Kooperationen und Verträge mit der Schweiz. Ebenfalls nicht zu unterschätzen ist Australien, wo die Schweizer Präsenz beständig expandiert. Das Potenzial Indonesiens, unter anderen Bedingungen auch Vietnams sowie Thailands ­ sofern es dem Land gelingt, seine internen Streitigkeiten beizulegen ­ wird auch weiterhin die Aufmerksamkeit von Schweizer Unternehmen
und schliesslich auch von der wissenschaftlichen Gemeinschaft in der Schweiz auf sich ziehen. Denn hier liegt vielleicht der grösste Vorteil der Schweiz, wenn man einmal von ihren ständigen Exportüberschüssen gegenüber diesen Ländern absieht: Der Mehrwert des Schweizer Knowhows in den Bereichen Technik, Umwelt und Energie (man denke nur an die Anziehungskraft eines Projekts wie zum Beispiel Solar Impulse) sichert der Schweiz komparative Vorteile sowie Zugang zu wichtigen Instanzen in der ganzen Region.

Die Verdichtung und Stärkung des diplomatischen und konsularischen Netzes sind wesentliche Prioritäten, wenn eine erhöhte Sichtbarkeit der Schweiz gewährleistet werden soll. Dies würde auch zu einer besseren Vernetzung mit Schweizer Fachleuten im Ausland sowie zu einer Erweiterung und Diversifizierung der Verträge im wirtschaftlichen, finanziellen, wissenschaftlichen und technischen Bereich führen.

Zugleich machen die in der Region bestehenden ökologischen, demografischen und sicherheitsbezogenen Risiken sowie die Gefahr der Proliferation deutlich, dass auch andere Bemühungen fortgesetzt werden müssen, namentlich die Unterstützung der Demokratisierung, die Bekämpfung des Klimatwandels und die Förderung von Zusammenarbeit und Sicherheit. Asien mit dem pazifischen Raum ist eine Region, 1076

die immense Hoffnungen weckt und immense Wachstumsmöglichkeiten birgt ­ aber es ist auch eine Region voller Extremismen und Gefahrenherde. Deshalb ist es wichtig, die Partnerschaften mit spezialisierten Einrichtungen (Forschungsinstituten, Think-Tanks, Entwicklungsbanken usw.) auszubauen, und ­ insbesondere bezüglich des Klimawandels ­ bilaterale und multilaterale Kooperationen zu lancieren. Was die Vermittlung der Schweiz in Fragen der menschlichen Sicherheit anbelangt, so sollte sie nach dem Vorbild des Engagements in Nepal und basierend auf dem Mehrwert des guten Rufes neutraler Staat in diesem Bereich weiterhin aktiv bleiben.

2.5

Politik gegenüber dem Nahen und dem Mittleren Osten sowie Nordafrika

Aktuelle Tendenzen in der Region Die Grossregion zwischen Marokko und dem Persischen Golf ist eine klassische Schnittstelle der Kulturen zwischen Abendland und Orient, zwischen West und Ost, eine hochsensible Zone, die von Transit, Kommunikation und Austausch geprägt ist.

Hier gibt es bedeutende Erdöl- und Erdgasvorkommen und damit Rohstoffe, die für die wirtschaftliche Entwicklung höchst wichtig sind. Und hier werden zahlreiche bewaffnete Konflikte ausgetragen: Neben dem weitreichenden israelisch-arabischen Konflikt, der seit mehr als sechzig Jahren anhält und in letzter Zeit erneut zu einem Wiederaufflammen der Gewalt führte, sind in diesem Zusammenhang die Ereignisse im Irak sowie die iranische Nuklearfrage zu nennen. All dies könnte auf längere Sicht eine Umschichtung der regionalen Machtverhältnisse zur Folge haben. Die ausgeprägte Unsicherheit besteht fort, und dies ist eine Bedrohung nicht nur für die derzeitigen Regierungen, sondern auch für die gesamte internationale Gemeinschaft.

Es besteht die Gefahr, dass Staaten mit vielfach künstlichen und umstrittenen Grenzen zerfallen, dass sich ein politischer «Islamismus» entwickelt, der die etablierte Weltordnung aufs Spiel setzt, dass staatliche Autorität von gewalttätigen, gut organisierten Gruppen untergraben wird oder dass Massenvernichtungswaffen verbreitet werden. Die heute bestehenden Gleichgewichte sind höchst anfällig, und unerwartete Entwicklungen könnten sie zerstören. Es gibt den Willen zur Veränderung oder sogar zu einem Neuanfang, es gibt aber auch den Wunsch nach einer Aufrechterhaltung des Status quo. Vor diesem Hintergrund fällt es den einheimischen politischen Eliten schwer, im Inland wie gegenüber den Nachbarn ihre Rolle und ihre Verantwortung wahrzunehmen.

Die Schweiz hat vielfältige Interessen in dieser Region, die ihr geografisch nahe liegt. Aus strategischen Gründen ist der Schweiz ebenso wie der gesamten internationalen Gemeinschaft an einer Atmosphäre des Friedens und der Stabilität in der Region gelegen. Da diese eine wichtige Voraussetzung ihrer eigenen Sicherheit ist, trägt die Schweiz zur Verbesserung der wirtschaftlichen Bedingungen und zur Achtung der Menschenrechte, zur Förderung der Demokratie und zur Schaffung eines Klimas bei, das dem Frieden und dem Dialog in der ganzen Region dient. Die Region verfügt über
eine der weltgrössten Energiereserven, und die Schweiz braucht diese Energie für ihr eigenes Wirtschaftswachstum. Zugleich ist die Region Herkunfts- oder Durchgangsort vieler Menschen, die auf dem europäischen Kontinent Asyl suchen. Und schliesslich sind die Wachstumsmärkte in diesem Teil der Welt für die Schweizer Exportwirtschaft und den Finanzplatz Schweiz von Bedeutung.

1077

Naher und Mittlerer Osten Die Prioritäten der Schweiz im Nahen und im Mittleren Osten sind Friedensförderung und Achtung des Völkerrechts und des humanitären Völkerrechts. Sie gelten für alle Aktivitäten, die darauf abzielen, die Bemühungen der USA und der EU in der gesamten Region zu unterstützen. Die Obama-Administration befürwortet im israelisch-palästinensischen Konflikt die Zweistaatenlösung und will eine Politik des Dialogs mit Iran und Syrien entwickeln; diesen Ansatz verfolgt auch die EU. Die Schweizer Initiativen zu dieser Frage plädieren für eine Beilegung der Spannungen in der Region auf diplomatischem Wege. Die Schweiz praktiziert eine Strategie des Dialogs mit allen Akteuren und bemüht sich, Verhandlungen und Lösungsansätze zu fördern. Um diese Politik umzusetzen, arbeitet sie eng mit der UNO und dem IKRK und mit in- und ausländischen NGO, aber auch mit allen einschlägigen Akteuren zusammen. Sie organisiert ihre Hilfe auf regionaler Ebene, passt sie jedoch an die Verhältnisse vor Ort oder im Land an.

In den Bereichen der Humanitären Hilfe und der Entwicklungszusammenarbeit setzt sich die Schweiz prioritär für den Schutz der Rechte der Zivilbevölkerung und verwundbarer Gruppen ein. Ebenfalls bemüht sie sich um die Sicherstellung der Basisinfrastruktur mit funktionierenden sozialen Netzen und fördert die nachhaltige sozio-ökonomische Entwicklung. Die wichtigsten Zielgruppen in diesem Zusammenhang sind die Palästinaflüchtlinge, Flüchtlinge und interne Vertriebene im Irak und den Nachbarländern und andere sozial und wirtschaftlich vulnerable Personengruppen.

Zur Verringerung der Naturgefahren in der ganzen Region werden die Regierungen der entsprechenden Länder von der humanitären Hilfe des Bundes bei der Umsetzung des «Hyogo-Aktionsrahmens» unterstützt, der 2005 in Hyogo von der Weltkonferenz zur Katastrophenprävention verabschiedet wurde. Dies geschieht beispielsweise durch die Lancierung von Sensibilisierungskampagnen zum Thema Erdbeben, durch die Stärkung fachtechnischer Kapazitäten von Partnerorganisationen sowie durch die Einrichtung nationaler Koordinationsmechanismen. In den kommenden Jahren wird sich die Schweiz vorwiegend mit dem Thema Wasser in der Region befassen. Der Zugang zu Wasser hat sowohl einen sanitären (menschliche Grundbedürfnisse) als auch einen produktionstechnischen
(Landwirtschaft) und einen sicherheitsbezogenen Aspekt.

Bilaterale Beziehungen: Die Schweiz und Israel unterhalten einen regelmässigen und umfassenden politischen Dialog. Das nächste Treffen wird in der zweiten Jahreshälfte 2010 stattfinden. Die politischen Beziehungen sind aktiv und gut entwickelt. Auch und vor allem die Wirtschaftsbeziehungen sind sehr gut entwickelt: Das Volumen der Schweizer Exporte nach Israel belief sich 2009 auf 927,4 Millionen Franken (Israel ist der drittgrösste Handelspartner der Schweiz im Nahen Osten), die Schweizer Direktinvestitionen in Israel betrugen Ende 2008 1,1 Milliarden, die israelischen Direktinvestitionen in der Schweiz eine Milliarde Franken. Nahezu 15 000 Schweizer Staatsangehörige ­ grösstenteils Doppelbürgerinnen und Doppelbürger ­ leben in Israel. Dies ist die grösste Schweizer Kolonie in der Region.

In der Frage der Beilegung des israelisch-arabischen Konflikts und der Massnahmen zur Lösung der Konflikte im Nahen Osten gibt es Meinungsverschiedenheiten.

Ebenso wie die übrige internationale Gemeinschaft anerkennt die Schweiz die Annexion von Territorien (Ost-Jerusalem und Golan-Höhen) durch Israel nicht, und

1078

sie betrachtet die israelischen Siedlungen in diesen Territorien sowie im Westjordanland als illegal.

Die Schweiz ist der Auffassung, dass es insbesondere im Gaza-Streifen noch keine konkreten Ansätze gibt, auf die humanitäre Situation und die Bedürfnisse der Bevölkerung hinsichtlich Wiederaufbau und wirtschaftliche Entwicklung einzugehen. Seit dem jüngsten bewaffneten Konflikt (Dez. 2008 bis Jan. 2009) hat sich die Lage noch verschlechtert. Die Schweiz ruft alle Parteien, darunter auch Israel als Besatzungsmacht, regelmässig auf, ihre Verpflichtungen einzuhalten. Die Sicherheit Israels ist für die Schweiz ein wichtiger Faktor. Um diese Sicherheit zu gewährleisten, ist es wesentlich, für den israelisch-arabischen Konflikt eine dauerhafte Lösung zu finden. Die Schweiz fordert insbesondere eine Öffnung der Übergänge zum Gaza-Streifen sowie die unverzügliche Einstellung sowohl der israelischen Besiedlung des besetzten palästinensischen Gebiets als auch der Zerstörung palästinensischer Häuser.

Darüber hinaus ist die Schweiz nach wie vor der Auffassung, dass für die humanitäre Hilfe und für Wiederaufbauzwecke der Zugang nach Gaza sichergestellt werden muss. Sie hat dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ein Projekt für die Einrichtung eines unabhängigen Mechanismus für die Organisation der humanitären Hilfe in Gaza unterbreitet. Zudem hat die Schweiz als Depositarstaat auf Ersuchen der UNO-Generalversammlung begonnen, bei den Hohen Vertragsparteien der Genfer Abkommen auf die Abhaltung einer Konferenz hinzuwirken, deren Ziel die Einhaltung der Genfer Abkommen im besetzten palästinensischen Gebiet ist. Sie hat eine ganze Reihe von Konsultationen geführt, um sich über die Haltung der Vertragsstaaten zu einer solchen Konferenz zu informieren, namentlich in Bezug auf die Modalitäten und die zu erwartenden Ergebnisse.

Die Islamische Republik Iran ist von überregionaler Bedeutung: Einerseits ist das Land einer der potenziell wichtigen Energielieferanten, andererseits spielt die iranische Regierung eine bedeutende Rolle in der politischen Konstellation der Region und nimmt Einfluss auf die Konfliktsituationen in Afghanistan/Pakistan, im Irak und in Palästina.

Seit den umstrittenen Präsidentschaftswahlen vom 12. Juni 2009 ist der Iran von mehreren massiven Protestwellen erschüttert worden. Des Weiteren
betreibt die iranische Regierung seit Ende 2002 ein Nuklearprogramm, über dessen Ausrichtung die Weltöffentlichkeit im Unklaren ist, das jedoch den UNO Sicherheitsrat bewogen hat, fünf Resolutionen mit Sanktionsmassnahmen gegen das Land zu beschliessen.18 Die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und dem Iran bewegen sich in diesem Spannungsfeld, was sich auch in den kommenden Jahren nicht ändern dürfte.

Im Grundsatz basieren diese Beziehungen auf dem Dialog. Auch wenn die jeweiligen Positionen oft weit auseinander liegen, sind sowohl die Schweiz als auch der Iran an der Weiterentwicklung der gegenseitigen Beziehungen interessiert. Seit 2003 führen die Schweiz und der Iran auch einen Menschenrechtsdialog.

Ein weiteres wichtiges Element der schweizerisch-iranischen Beziehungen ist das Schutzmandat, das die Schweiz für die USA im Iran seit über 30 Jahren erfüllt.

Dieses Mandat soll US-amerikanischen Bürgerinnen und Bürgern im Iran konsularischen Schutz bieten. Zudem stellt es für die beiden Länder eine Möglichkeit dar, 18

Resolutionen des UNO-Sicherheitsrats 1737 (2006), 1747 (2007), 1803 (2008), 1835 (2008) und 1929 (2010).

1079

sich Mitteilungen zukommen zu lassen. Gute Beziehungen mit dem Iran sind eine notwendige Voraussetzung für die Erfüllung dieses Mandats; gleichzeitig verschafft es der Schweiz einen privilegierten Zutritt zu politischen Entscheidungsträgern in den USA und im Iran.

In Bezug auf die Nuklearproblematik hat die Schweiz die oben erwähnten UNOSicherheitsratsresolutionen umgesetzt. Dennoch und in Ermangelung von Fortschritten zwischen Iran und der internationalen Gemeinschaft hat sich die Schweiz bemüht, mit allen Beteiligten im Gespräch zu bleiben, um das gegenseitige Misstrauen zu überwinden. Die Schweiz hat in enger Zusammenarbeit mit den EU3+319 und dem Iran im Juli 2008 und im Oktober 2009 die Geneva Talks 1 und 2 organisiert. In diesen Gesprächen wurden die Grundlagen und Prinzipien diskutiert, welche 2010 zur «Teheran Joint Declaration» führten. Der UNO-Sicherheitsrat verhängte am 9. Juni 2010 wegen des umstrittenen Nuklearprogramms weitere Sanktionen gegen den Iran, und der Bundesrat beschloss, diese Sanktionen anzuwenden. Die Schweiz bemüht sich dennoch, den Dialog zu fördern, um den Weg zu einer diplomatischen Lösung zu bereiten.

Im Libanon hat die Schweiz während der langen politischen Krise dieses Landes den Dialog aller wichtigen Parteien unterstützt. Die Reformen der derzeitigen Regierung unterstützt sie auch weiterhin im Inland wie auf regionaler Ebene. Darüber hinaus engagiert sie sich für die Hilfe für palästinensische Flüchtlinge im Libanon, für die Unterstützung anfälliger Migranten und für Projekte der Katastrophenvorsorge.

Der Sturz des Saddam-Regimes durch die bewaffnete Intervention der Koalition im Irak im März 2003 hatte eine tiefgreifende Umwälzung der politischen Gegebenheiten im Land zur Folge. Im Mai 2006 wurde eine Regierung der nationalen Einheit eingesetzt, die jedoch den Herausforderungen, die sie zu bewältigen hatte, nicht gewachsen war. Am 7. März 2010 wurden erfolgreich Parlamentswahlen abgehalten. Sie dürften eine entscheidende Phase für den Wiederaufbau des Landes darstellen, der im Übrigen mit zahlreichen Ungewissheiten verbunden ist. Das erneute Wiederaufflammen der Gewalt ist eine Belastung für die politische Zukunft des Landes und wird von der Schweiz mit Besorgnis beobachtet. Die Schweiz ist im Irak durch ihre Botschaft in Syrien vertreten.

Der Jemen ist das
am wenigsten stabile und das ärmste Land auf der arabischen Halbinsel. Seine Regierung ist heute mit mehreren grossen Herausforderungen konfrontiert, darunter der, die interne Stabilität wiederherzustellen: Im Nordwesten lösten Rebellen des zaiditischen Zweigs der Schia schwere Unruhen aus. Auch Elemente der terroristischen Organisation Al-Qaida sind im Jemen aktiv. Die Schweiz ist besorgt über diese Ereignisse, die eine Bedrohung für die internationale Sicherheit darstellen. Aus diesem Grund hat die Schweiz das Programm «Protection in the Region» lanciert, das Flüchtlingen möglichst schnell zu einem wirksamen Schutz in der Region verhelfen soll. Dies soll auch zu einer Verringerung der irregulären Weiterwanderung, zum Beispiel in die Schweiz, beitragen. Zusätzlich unterstützt die Schweiz die Aktivitäten des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR). Auf politischer Ebene hat die Schweiz im März 2009 zum ersten Mal einen Dialog mit den Behörden in Sanaa geführt. Dabei wurden auch mögliche Bereiche der institutionellen bilateralen Zusammenarbeit erörtert. Die Schweiz wird diesen Dialog weiterführen.

19

Grossbritannien, Frankreich, Deutschland, USA, Russland, China.

1080

Die Staaten des Golfkooperationsrates (Saudi-Arabien, Oman, Kuwait, Katar, Bahrain, Vereinigte Arabische Emirate) bilden eine der reichsten Ländergruppen der Welt. Aufgrund ihrer riesigen Erdöl- und Erdgasvorkommen expandiert ihre Wirtschaft und werden umfangreiche Investitionen vorgenommen. Die Schweiz verstärkt ihre Beziehungen zu diesen Staaten. Sie hat eine Aussenwirtschaftsstrategie für die Länder des Golfkooperationsrates verabschiedet und zur Ausarbeitung eines Freihandelsabkommens zwischen der EFTA und dem Golfkooperationsrat beigetragen, das am 22. Juni 2009 unterzeichnet wurde. Ebenfalls diskutieren die Schweiz und die Golfstaaten, wie in der Entwicklungszusammenarbeit und der humanitären Hilfe durch den Aufbau eines gemeinsamen Netzwerkes Synergien geschaffen werden könnten.

Nordafrika Die Beziehungen der Schweiz zu den Ländern des Maghreb sind in den letzten Jahren intensiver geworden. Eine Ausnahme stellt nur Libyen dar: Die Beziehungen der Schweiz zu diesem Land waren sehr angespannt, nachdem zwei Hausangestellte wegen Misshandlung Anzeige gegen das Ehepaar Gaddafi eingereicht hatten und daraufhin der Sohn des libyschen Revolutionsführers im Sommer 2008 in Genf kurzfristig verhaftet worden war. Auf die Verhaftung des Herrschersohns reagierte Libyen mit umfassenden Sanktionen gegen die Schweiz und der Einsperrung von Schweizer Bürgern, die sich gerade in Libyen aufhielten. Zwei von ihnen konnten das Land erst 2010 verlassen, nach Abschluss eines langwierigen Verhandlungsprozesses, in dem die Unterstützung der Schweiz durch verschiedene europäische Regierungen eine wichtige Rolle spielte.

Die schweizerische Politik in Nordafrika ruht auf vier Säulen: politischer Dialog, wirtschaftliche Zusammenarbeit, Energieversorgung und Migration. Der politische Dialog findet, mit Ausnahme von Libyen, mit allen Südanrainern des Mittelmeers statt. Das letzte Gespräch erfolgte im November 2009 mit Marokko. Die Schweiz hat mit allen Ländern des Maghreb Abkommen zur gegenseitigen Förderung und zum gegenseitigen Schutz von Investitionen abgeschlossen; die ältesten dieser Abkommen werden bald den neuen Bedürfnissen angepasst. Zur Förderung des Handels bestehen im Rahmen der EFTA bereits Freihandelsabkommen mit Ägypten, Marokko und Tunesien; ein Abkommen mit Algerien wird zurzeit ausgehandelt.

Der Maghreb
ist ein Durchgangsgebiet für Migrantinnen und Migranten. Der Druck, den die Auswanderer aus den Ländern südlich der Sahara und aus dem Osten Afrikas auf den Maghreb ausüben, ist enorm. Viele dieser Menschen stranden im Maghreb und können weder weiter nach Europa noch wollen sie zurück in ihre Heimat. In den Maghreb-Staaten sind sie relativ ungeschützt. Die Schweiz hilft diesen Staaten sowie den Betroffenen mit Projekten, die ihre Lebensbedingungen und ihren rechtlichen Status verbessern und ihre freiwillige Rückkehr fördern sollen.

Zusätzlich setzt sich die Schweiz in Marokko für die Sensibilisierung aller Akteure hinsichtlich der Risiken von Naturkatastrophen ein und unterstützt die Behörden auf nationaler und Provinzebene bei der Erarbeitung von Notfallplänen.

Herausforderungen und Perspektiven Der israelisch-arabische Konflikt, die Krisensituationen im Jemen und im Irak sowie die Sorgen im Hinblick auf den Iran werden in den nächsten Jahren die Aufmerksamkeit der Schweiz im Nahen und Mittleren Osten beanspruchen. Der Migrationsdruck auf den Maghreb und die mögliche Radikalisierung islamischer Gruppie1081

rungen in dieser Region sind ebenfalls Faktoren, die es nicht zu vernachlässigen gilt.

Die Beziehungen mit Libyen haben sich seit der Einigung auf ein Schiedsverfahren und der Ausreise des letzten festgehaltenen Schweizer Bürgers zwar entspannt, aber noch nicht normalisiert. Die vollständige bilaterale Normalisierung wird noch eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen.

Diesen Herausforderungen begegnet die Schweiz mit aktivem Engagement für die Förderung des Friedens und der Stabilität in der Region. Hierbei konzentriert sie sich vorwiegend auf humanitäre Fragen und auf die Einhaltung des humanitären Völkerrechts. Die Schweiz teilt zwar die Sicherheits- und Stabilitätsziele der USA und der EU weitgehend, setzt aber auf eine Nischenstrategie mit den Schwerpunkten Dialog und Vermittlung. In diesem Sinne setzt sie sich für die Förderung des Völkerrechts sowie dafür ein, dass alle Konfliktparteien in die Prozesse einbezogen werden, die zu einem dauerhaften Frieden führen sollen. Sie unterstützt Projekte der humanitären Hilfe, der Entwicklungszusammenarbeit und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit (Freihandels- und Investitionsschutzabkommen).

2.6

Politik gegenüber Subsahara-Afrika

Aktuelle Tendenzen in der Region Im Jahr 2009 nahm die strategische Bedeutung von Subsahara-Afrika weiter zu und zwar sowohl in wirtschaftlicher wie auch sicherheitspolitischer Hinsicht.

Was die Wirtschaft anbetrifft, so hatten die globale Krise der vergangenen zwei Jahre und der Zerfall der Rohstoffpreise zunächst einen starken Einnahmenrückgang der Exportnationen zur Folge. Der rasche Wiederanstieg der Kurse bestätigt jedoch die ungebrochene Nachfrage nach Rohstoffen sowie die anhaltende Abhängigkeit der Märkte von afrikanischen Ressourcen und dies trotz wirtschaftlichem Abschwung.

Die Sicherheitssituation in der Region wird durch verschiedene Faktoren beeinflusst: So führen institutionelle Instabilität sowie mangelhafte staatliche Autorität in vielen, oft sehr grossflächigen Ländern, inter-ethnische Spannungen sowie generell Armut und Mangel an wirtschaftlichen Perspektiven einerseits zu umfangreichen Wanderungsbewegungen und begünstigen andererseits das Entstehen krimineller Organisationen. Die Verschlechterung der Sicherheitslage in einigen Regionen Afrikas hat Auswirkungen nicht nur auf den Welthandel, sondern auch auf die internationale Sicherheit. Das beste Beispiel dafür ist die Zunahme der Piratenüberfälle im Golf von Aden und vor Guinea. Als weiteres Beispiel kann die Sahel-Zone angeführt werden, in welcher Entführungen ausländischer Staatsangehöriger sowie Lösegelderpressungen durch kriminelle, zum Teil Al-Qaida nahestehende Organisationen, stetig zunehmen.

Die strategische Bedeutung Afrikas im Umweltbereich wird selten thematisiert, obwohl die immer schneller fortschreitende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen auf dem Kontinent weltweite Auswirkungen hat. Die tropischen Wälder Zentralafrikas sind eine der grünen Lungen unseres Planeten, und der afrikanische Kontinent beherbergt eine aussergewöhnliche Tier- und Pflanzenvielfalt. Die politische Instabilität verschiedener Länder, die Armut, der demografische Druck und die starke internationale Nachfrage nach den Rohstoffen Afrikas bedrohen das ökologische Gleichgewicht nicht nur der Region, sondern der ganzen Welt. Die an sich 1082

schon verheerenden Auswirkungen von Naturkatastrophen wie Dürre und Überschwemmungen werden durch diese Entwicklungen noch akzentuiert.

In Afrika leben mehr als eine Milliarde Menschen, also fast ein Sechstel der Weltbevölkerung. Dennoch beträgt der Anteil des Kontinents am weltweiten Bruttosozialprodukt nur 4 %. Die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen der Schweiz mit den afrikanischen Ländern sind wenig intensiv; sie beliefen sich 2009 auf lediglich 2 % des gesamten Aussenhandels der Schweiz. Hier besteht also ein beträchtliches Entwicklungspotenzial.

In Afrika sind ­ vor allem aufgrund der negativen Wahrnehmung der Rahmenbedingungen ­ nur wenige Schweizer Investoren präsent. Eine zuverlässige und transparente Rechtssprechung, Massnahmen zur Vorbeugung der Korruption sowie eine Vereinfachung der relevanten administrativen Verfahren sind Voraussetzungen, die für eine Zunahme des Investitionsvolumens zu verbessern wären. Was Schweizer Unternehmen jedoch in erster Linie veranlassen könnte, mehr in Afrika zu investieren, wären Friede und anhaltende politische Stabilität.

In Afrika finden sich zurzeit 33 der ärmsten Länder der Welt, und 300 Millionen Menschen leben von weniger als einem Dollar pro Tag. Ein stabiles und friedliches politisches Umfeld würde die Möglichkeit bieten, das immense Potenzial des Kontinents zu entfalten und den benachteiligten Bevölkerungsgruppen Anlass zu Hoffnung auf eine bessere Zukunft geben. Mit einer positiven Zukunftsvision haben die Menschen in Ländern wie Nigeria, Eritrea, Somalia oder der Demokratischen Republik Kongo auch weniger Anreiz, sich auf den gefahrvollen Weg der illegalen Einwanderung zu begeben.

Entsprechend liegt es im Interesse der Schweiz, einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung und zur politischen und wirtschaftlichen Stabilität des Kontinents zu leisten. Sie unterstützt mehrere Länder bei ihren Bemühungen, die Millenniumsentwicklungsziele zu erreichen. Sieben der zwölf Schwerpunktländer der Entwicklungszusammenarbeit des Bundes sowie zwei Sonderprogramme befinden sich in Afrika.20 Auch die Aktivitäten der Schweizer Friedensförderung sind in den letzten Jahren intensiviert worden (siehe auch Ziff. 5.2). Bei jeder humanitären Krise steht die Schweizer Hilfe bereit, um die Leiden der betroffenen Bevölkerung zu lindern.

Dank ihres aktiven Engagements
in Subsahara-Afrika konnte die Schweiz ein gutes Beziehungsnetzwerk in der Region entwickeln. Solche Beziehungen sind in der heutigen globalisierten und multipolaren Welt wichtig. Sie ermöglichen es der Schweiz, ihre Interessen auf einem Kontinent zu wahren, dem international immer mehr Bedeutung zukommt. Dank ihnen Beziehungen erhielt sie beispielsweise auch wertvolle Unterstützung von Seiten Burkina Fasos und Malis bei der Befreiung der im Sahel festgehaltenen Geiseln. Die Präsenz der Schweiz mit ihrem engmaschigen Netz von Vertretungen (15 Botschaften und 26 Konsulate) bietet auch den in Afrika lebenden 14 000 Schweizer Bürgerinnen und Bürgern eine wertvolle Unterstützung.

Südliches Afrika Südafrika ist ein strategisches Partnerland der Schweiz. Nach der Durchführung der Fussball-Weltmeisterschaft im Sommer 2010 zeigt das Land sein neues Selbstbewusstsein. Zudem ist es der wichtigste Handelspartner in Subsahara-Afrika und der 20

Vgl. Botschaft vom 14. März 2008 über die Weiterführung der technischen Zusammenarbeit und der Finanzhilfe zugunsten von Entwicklungsländern, BBl 2008 2959.

1083

bedeutendste Absatzmarkt für Schweizer Warenexporte auf dem Kontinent. Entsprechend engagiert sich die Schweiz für eine Kooperation auf allen Gebieten, auf denen gemeinsame Interessen bestehen. Im März 2008 wurde anlässlich eines offiziellen Arbeitsbesuchs der südafrikanischen Aussenministerin ein Memorandum of Understanding (MoU) unterzeichnet über die Stärkung der Zusammenarbeit unter anderem in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Entwicklung, Friedensförderung, Bildung, Wissenschaft und Kultur. Auch der regelmässige politische Dialog zwischen hochrangigen Vertretern beider Länder sowie die im Mai 2008 erfolgte Einsetzung einer bilateralen gemischten Wirtschaftskommission gehen auf dieses MoU zurück. Der Bundesrat hat darüber hinaus im Jahre 2007 eine Aussenwirtschaftsstrategie für Südafrika verabschiedet.

Die Beziehungen zu Südafrika standen im Jahr 2009 im Zeichen der Konkretisierung und Konsolidierung der im Rahmen des MoU institutionalisierten Zusammenarbeit. Im Dezember 2009 fanden in Pretoria die zweiten High-Level-Consultations unter der Leitung des Staatssekretärs des EDA statt. Am Treffen wurden die trilaterale Entwicklungszusammenarbeit, die Friedensförderung und die Abrüstung als Bereiche identifiziert, in denen die Zusammenarbeit intensiviert werden kann.

Im Bestreben, engere wissenschaftliche Beziehungen mit aufstrebenden Wissenschafts- und Technologienationen ausserhalb Europas aufzubauen, unterzeichnete die Schweiz mit Südafrika Ende 2007 ein Abkommen über die wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit. Südafrika ist eines von acht aussereuropäischen Schwerpunktländern, mit denen die wissenschaftlichen Beziehungen gezielt erweitert und vertieft werden sollen. Anfang 2009 wurde eine zweite Serie von acht weiteren gemeinsamen Forschungsprojekten in den Bereichen öffentliche Gesundheit und Biomedizin, Bio- und Nanotechnologie sowie Geistes- und Sozialwissenschaften lanciert.

Im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit führt die Schweiz im südlichen Afrika ein Regionalprogramm durch, das sich an den grossen Herausforderungen der «Southern African Development Community» (SADC) orientiert: fehlende Nahrungssicherheit, HIV/AIDS-Bekämpfung und schwache Gouvernanz. Im Rahmen der bilateralen Zusammenarbeit existieren Programme in Südafrika, Tansania, Mosambik und Simbabwe. 2009 lag
der Schwerpunkt in Südafrika auf der Ausarbeitung eines Programms im Bereich des Klimawandels. Weitere Projekte widmen sich dem Zugang zum Justizsystem und der Berufsbildung. In den Schwerpunktländern Tansania und Mosambik ist die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit in den Bereichen Gesundheit, wirtschaftliche Entwicklung und Gouvernanz tätig. In Simbabwe leistet die Schweiz humanitäre Hilfe für die Bevölkerung, indem sie Nahrungsmittel bereitstellt und im Süden des Landes ein Programm für den Wiederaufbau der landwirtschaftlichen Produktion unterhält. Weitere Unterstützung leistet sie im Gesundheitsbereich mit der Unterstützung von Massnahmen, deren Ziel eine Dezentralisierung der antiretroviralen Behandlung sowie die Prävention von Choleraepidemien ist.

Region der Grossen Seen Die Jahre 2010­2011 sind von entscheidender Bedeutung für die politische Entwicklung und die Stabilität der Länder in der Region der Grossen Seen. In allen diesen Ländern stehen Parlamentswahlen an: in der Demokratischen Republik Kongo (DRK), in Ruanda, Burundi und Uganda. Die nationalen Kontexte sind unterschiedlich, doch bei allen Wahlen steht das Gleiche auf dem Spiel. Es besteht die Gefahr, 1084

dass politische Rivalitäten in einem bereits jetzt sehr wenig stabilen Sicherheitsumfeld zu noch grösserer Instabilität führen. Die Spannungen könnten verschärft werden durch eine möglicherweise härtere Haltung der Regierungen gegenüber den oppositionellen Parteien und durch das Fortbestehen der strukturellen Probleme der Länder dieser Region: Schwäche des Rechtsstaats, Menschenrechtsverletzungen und Straffreiheit für begangene Straftaten, Schädigung der Umwelt, Probleme bezüglich des Bodenrechts, unrechtmässiger Abbau von natürlichen Ressourcen und extreme Armut.

Die Schweiz setzt ihr regionales Programm der Entwicklungszusammenarbeit in Burundi, Ruanda und der Demokratischen Republik Kongo mit Schwerpunkt auf Gesundheit und Friedenskonsolidierung fort. Die komplementäre und koordinierte Hilfe in den Bereichen Entwicklungszusammenarbeit, Friedenspolitik und humanitäre Hilfe wird durch die EDA-Strategie 2009­2012 für die Region der Grossen Seen noch gestärkt. Die Schweiz will zur Friedensförderung, zur Stabilität und zur Sicherheit in der Region beitragen, indem sie die regionale Integration sowie die institutionelle und soziale Entwicklung der drei Länder fördert. Ein besonderer Akzent liegt auf der Stärkung der Zivilgesellschaft und der Überwachung der Wahlen.

Seit Juni 2009 leitet die Schweiz die «Burundi-Konfiguration» der UNO-Kommission für Friedenskonsolidierung und stellt damit den Institutionen der UNO ihre Expertise der politischen und sozialen Situation Burundis zur Verfügung.

Die Demokratische Republik Kongo wird 2011 von der Schweiz den Vorsitz der Ministerkonferenz der Frankophonie übernehmen und 2012 den nächsten Frankophonie-Gipfel ausrichten. Die Reise der Vorsteherin des EDA in die DRK im Februar 2010 gab Gelegenheit zu ersten Gesprächen über die Ausgestaltung der künftigen Zusammenarbeit der beiden Länder im Rahmen der Frankophonie.

Ostafrika und das Horn von Afrika Horn von Afrika: Das Horn von Afrika ist in hohem Masse destabilisiert durch die immer wieder aufflammenden zwischenstaatlichen Konflikte (vor allem zwischen Äthiopien und Eritrea), die Unabhängigkeitsbestrebungen mehrerer Gebiete und die trotz der Unterstützung durch die Afrikanische Union anhaltende Unfähigkeit der somalischen Übergangsregierung, das somalische Territorium unter ihre Kontrolle zu bringen.
Die mangelnde Stabilität am Horn von Afrika im Allgemeinen und die Schwäche der staatlichen Institutionen Somalias im Besonderen haben drei weitreichende Konsequenzen für die internationale Gemeinschaft: Erstens verursachen die zahlreichen Fluchtbewegungen der Bevölkerungsgruppen, die durch den Bürgerkrieg im Süden und im Zentrum des Landes in Mitleidenschaft gezogen wurden, einen starken Migrationsdruck in den Nachbarländern sowie im Nahen Osten und in Europa; zweitens bietet die mangelnde Rechtsstaatlichkeit einen Nährboden für die Ausbreitung der Piraterie im Golf von Aden, einer für den Welthandel strategisch wichtigen Seeverkehrsroute; und drittens steigt durch die verstärkte Kontrolle des somalischen Gebietes durch Milizen der Al-Shabaab sowie der Zunahme des Extremismus die Gefahr einer geografischen Verlagerung des somalischen Konfliktes in Form von terroristischen Anschlägen in der Region und in der westlichen Welt.

Das Engagement der Schweiz am Horn von Afrika ruht auf zwei Säulen: der humanitären Hilfe und der Friedensförderung. Angesichts der zunehmenden Bedürfnisse 1085

der Vertriebenen verstärkt das EDA sein humanitäres Engagement in Somalia, Äthiopien und Kenia. Das Departement entwickelt zudem Aktivitäten zugunsten der Friedensförderung, und zwar vor allem bei der Bekämpfung der Straflosigkeit und der Unterstützung für die Ausarbeitung der künftigen Verfassung Somalias. Das EDA arbeitet auch mit dem EJPD zusammen, um die Entwicklung und den Einsatz von Instrumenten zu fördern, die zum Schutz der vertriebenen Zivilbevölkerung beitragen können. 2009 lehnten die eidgenössischen Räte eine Teilnahme der Schweiz an der EU-Operation Atalanta ab, mit der die Piraterie im Golf von Aden bekämpft werden sollte. Daraufhin beschloss das EDA, auf die Ausarbeitung eines speziellen Programms der DEZA am Horn von Afrika zu verzichten.

Sudan: Der Sudan bereitet sich auf das Referendum im Jahr 2011 zur Frage der Unabhängigkeit des Südsudans vor. Das Referendum birgt ein erhebliches Konfliktpotenzial, da die Modalitäten einer möglichen Sezession des Südens nicht klar festgelegt sind, namentlich was die Verteilung der vorhandenen Ölreserven oder die Festlegung der Grenzen anbetrifft. Zudem benötigt der Südsudan angesichts der schwachen Staatsstrukturen massive Hilfe, um die Überlebensfähigkeit eines unabhängigen Staates zu sichern. Die Schweiz trägt im Rahmen des umfassenden Friedensabkommens von 2005 zu den Verhandlungen zwischen dem Norden und dem Süden bei. Sie bietet unter anderem Unterstützung für die Vorbereitung auf die Zeit nach dem Referendum und auf dessen Folgen.

Im Rahmen der humanitären Hilfe des Bundes wird seit 2004 Hilfe für die Bevölkerung Darfurs bereitgestellt, namentlich in den Bereichen Zivilschutz, Nothilfe und Ernährungssicherheit sowie Basisgesundheitsversorgung. Unterstützung wird auch in Menschenrechtsfragen und im Zusammenhang mit dem Friedensprozess geboten.

West- und Zentralafrika West- und Zentralafrika zählen zu den ärmsten und instabilsten Regionen der Welt.

Die zunehmende Verarmung und die grosse Ernährungsunsicherheit werden durch den Klimawandel, starkes Bevölkerungswachstum und die weltweite Wirtschaftskrise zusätzlich verschlimmert. Schlechte Regierungsführung, schwache Staaten, politische Krisen und bewaffnete Konflikte bedrohen die Stabilität in der Region zusätzlich, wie auch der umstrittene Zugangs zu Rohstoffen (Erzen), der zu
Begehrlichkeiten führt und Konflikte entfachen kann.

Nach Beendigung der blutigen Konflikte in Liberia, Sierra Leone und Guinea-Bissau befinden sich diese Länder in der fragilen Phase des Wiederaufbaus. In gewissen Staaten führte der staatlich forcierte Demokratieabbau in den letzten zwei Jahren zu Militärputschen, so z.B. in Mauretanien, Guinea und Niger. In der Côte d'Ivoire konnten demokratische und stabile Verhältnisse nach Beendigung des Bürgerkriegs noch nicht hergestellt werden.

Zur politischen Instabilität kommen die Ausbreitung von Terrorismus und organisierter Kriminalität. Die zunehmende Präsenz von Al-Qaida in gewissen Regionen der Sahelzone (Mauretanien, Nord-Mali, Nord-Niger) gefährdet die Stabilität der Sahelländer zusätzlich. Sowohl Touristen wie humanitäre Helfer sind Ziele von Entführungen, und im letzten Jahr wurden auch zwei Schweizer Opfer von Entführungen. Dadurch entgehen den Sahelländern einerseits wichtige Einnahmen aus dem Tourismussektor, andererseits werden dadurch auch die Aktivitäten von humanitären Organisationen gefährdet. Ferner blüht in Gebieten, wo das staatliche Sicherheits-

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monopol nicht durchgesetzt werden kann, die organisierte Kriminalität, namentlich der Drogen-, Waffen- und Menschenhandel.

Es gibt allerdings auch positive Entwicklungen zu vermelden. In Ghana hat Ende 2008 ein friedlicher und demokratischer Machtwechsel stattgefunden. Vielerorts ist eine Stärkung der Zivilgesellschaft zu beobachten, welche sich vermehrt gegen unrechtmässige Machtübernahmen wehrt und ihre demokratischen Rechte einfordert. Auch die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS spielt eine zunehmend wichtige Rolle, indem sie etwa die Entwicklung einer regionalen Landwirtschaftspolitik oder regionale Investitionsprogramme vorantreibt. Daneben bemüht sich die ECOWAS in zahlreichen Krisenregionen um Frieden. Die Schweiz arbeitet derzeit zusammen mit der ECOWAS an der Verstärkung der zivilen Komponente der afrikanischen Friedenskonsolidierungseinsätze.

Die Schweiz hat ihr friedenspolitisches Engagement in der Region, namentlich in Mali, Niger und im Tschad, verstärkt. Um die afrikanischen Kapazitäten zur Konfliktlösung zu stärken, unterstützt die Schweiz nationale und regionale Institutionen mit ihrer Expertise. Das friedenspolitische Engagement in dieser Region trägt der Tatsache Rechnung, dass hier vorwiegend Französisch gesprochen wird und dass infolgedessen besondere Bedürfnisse bestehen. Zudem werden im Rahmen des Expertenpools für zivile Friedensförderung Polizei- und Zollexperten in UNOMissionen entsandt, so etwa in die Côte d'Ivoire (ONUCI), nach Guinea-Bissau (UNIOBIS) sowie neu nach Liberia (UNMIL). Ferner prüft das EDA die Aufnahme eines weiteren Menschenrechtsdialoges mit einem Land in Westafrika. Darüber hinaus arbeiten das EJPD und das EDA gemeinsam an der Konkretisierung einer Migrationspartnerschaft mit Nigeria, die die unterschiedlichen migrationsbezogenen Interessen der Schweiz (zum Beispiel Migration und Entwicklung) und Nigerias berücksichtigen soll.

Herausforderungen und Perspektiven Afrika besitzt immense Reichtümer und Potenziale: eine junge Bevölkerung, eine Fülle von Rohstoffen, riesige landwirtschaftlich nutzbare Flächen, eine eindrückliche geografische Vielfalt, zahllose Möglichkeiten für die Entwicklung der Wirtschaft und des Tourismus usw.

Die afrikanischen Länder werden von den Grossmächten, die an den Ressourcen des Kontinents interessiert sind,
umworben und gewinnen dadurch an internationalem Einfluss. Ein bilateraler Besuch löst den nächsten ab, die öffentliche Hilfe steigt.

Alle Welt will zur Entwicklung des Kontinents beitragen ­ und dennoch bleibt das Wachstum relativ bescheiden (obgleich sich Afrika schneller von der Wirtschaftskrise des vergangenen Jahres erholt als der Grossteil der übrigen Welt). Dem Kontinent ist es immer noch nicht gelungen, den Schlüssel zur Entwicklung zu finden.

Einige afrikanische Länder verzeichnen zwar Fortschritte, andere stagnieren oder entwickeln sich sogar zurück, doch sie sind alle noch weit von der wirtschaftlichen Dynamik entfernt, die Asien in den vergangenen zwei Jahrzehnten aufwies. Dieser Umstand ist aufgrund der gesellschaftlichen und politischen Vielfalt des Kontinents zwar nicht leicht zu erklären, doch eine Reihe entscheidender Faktoren sind zu erkennen, darunter die Schwäche der staatlichen Institutionen und das geringe Bildungsniveau.

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Das international wachsende Interesse an Afrika stellt die Schweiz vor neue Herausforderungen. Der Auftritt neuer Mächte wie China, Brasilien oder Indien hat zur Folge, dass das relative Gewicht des Schweizer Engagements und damit ihr Einfluss geringer werden. In einem Schwerpunktland der Schweizer Entwicklungshilfe wie Tansania beläuft sich die Hilfe des Bundes auf 1,5 % der gesamten Hilfe. Bei Investitionen und Handelsbeziehungen fällt die Schweiz gegenüber ihren neuen Konkurrenten Jahr für Jahr weiter zurück.

Wenn die Schweiz sicherstellen will, dass sie für die führenden Länder des Kontinents auch weiterhin eine wichtige Partnerin bleibt, dann darf sie sich nicht auf ihre Beiträge in den Bereichen Entwicklungszusammenarbeit und Friedensförderung beschränken, sondern muss auch ihre hochrangigen politischen Kontakte zu den Entscheidungsträgern der afrikanischen Länder ausbauen. Die meisten unter ihnen kommen im Rahmen internationaler Konferenzen regelmässig nach Genf. Das EDA nutzt diese Gelegenheiten, um sie auf bilateraler Ebene einzuladen und einen konstruktiven Dialog zu entwickeln, in dem die jeweiligen Erwartungen angesprochen werden können.

Vor Ort verstärkt die Schweiz die Zusammenarbeit mit den ihr nahestehenden Interessengruppen, und sie nimmt aktiv an den internationalen Debatten zu verschiedenen afrikanischen Ländern teil. Diese Treffen bieten Gelegenheit, zu den Bemühungen der internationalen Gemeinschaft beizutragen, indem Schweizer Fachwissen in den Bereichen Politik, Entwicklungszusammenarbeit und Friedensförderung vor Ort zur Verfügung gestellt wird. So ist es etwa dem Einsatz aller dieser Instrumente zu verdanken, dass die Schweiz in New York mit dem Vorsitz der «BurundiKonfiguration» der UNO-Kommission für Friedenskonsolidierung betraut wurde.

Vor dem Hintergrund der sich abspielenden Veränderungen in den globalen Kräfteverhältnissen und des wachsenden Selbstbewusstseins von aufstrebenden Schwellenländern werden universell ausgerichtete bilaterale Beziehungen für die Schweiz auch künftig von grosser Bedeutung sein, damit sie international in Bereichen Einfluss nehmen kann, die für ihre Aussenpolitik und ihre Interessewahrung wichtig sind.

Mit Blick auf die Tatsache, dass nationale Selbstbestimmung weiterhin und mehr denn je ein wichtiges Leitmotiv in der internationalen
Politikgestaltung ist, gilt es auch in Zukunft, gut funktionierende Direktkontakte zu nationalen Entscheidzentren aufrechtzuerhalten und auszubauen. Dies zuallererst, um angesichts der wachsenden globalen Vernetzung im Wettbewerb des gegenseitigen Austausches bestehen zu können. Dies aber auch, um besser Einfluss nehmen zu können auf multilaterale Prozesse, für die die Entscheidfindung in der Regel in den nationalen Hauptstädten erfolgt. Dies schliesslich für Angelegenheiten, die Konfliktpotenzial beinhalten, wie die Steuerdebatte mit europäischen Nachbarstaaten und den USA oder die Affäre mit Libyen. In solchen Fällen ist es wichtig, auf die Unterstützung von Partnern zählen zu können, mit denen gute und enge bilaterale Beziehungen bestehen.

Es ist daher im Interesse der Schweiz, auch künftig intensive und universell ausgerichtete bilaterale Beziehungen zu pflegen. Ein wichtiges Instrument dafür ist das Vertretungsnetz, über das die schweizerische Aussenpolitik verfügt. Dieses muss den unterschiedlichen Ansprüchen der für das Land wichtigen Politikbereiche genügen und entsprechend flexibel ausgestaltet sein, um an Veränderungen des internationalen Umfeldes angepasst werden zu können.

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3

Globale und regionale Organisationen und Foren

3.1

Multilateralismus politischen, sicherheitspolitischen und rechtlichen Charakters

3.1.1

UNO

Allgemeine Konstellation, aktuelle Entwicklungen und künftige Herausforderungen Am Weltgipfel 2005 beschlossen die Staats- und Regierungschefs eine breite Palette an Reformen, um die UNO besser auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorzubereiten: die Ablösung der Menschenrechtskommission durch den Menschenrechtsrat, die Schaffung einer UNO-Architektur für Friedenskonsolidierung, die Bekräftigung der Millenniumsentwicklungsziele, die Verbesserung der Koordination und Kohärenz der operationellen Tätigkeiten der UNO im Feld («System-wide Coherence»), die Anerkennung des Prinzips der Schutzverantwortung («Responsibility to Protect»), die Stärkung der internationalen Institutionen, Instrumente und Prozesse zum Schutz der Umwelt («International Environmental Governance») sowie die Reform des UNO-Sekretariats.

Der hart errungene Konsens erwies sich aber als fragil, und sobald die Umsetzung der beschlossenen Reformen an die Hand genommen und in separate Verhandlungsprozesse überführt wurde, geriet das sorgfältig ausbalancierte Paket aus dem Gleichgewicht, und alte Interessenkonflikte brachen erneut auf. Nicht nur die eigentlichen Reformprozesse, sondern auch viele der jährlich wiederkehrenden Resolutionen der Generalversammlung wurden dazu benutzt, das 2005 Erreichte in Frage zu stellen, beziehungsweise neu zu verhandeln. Dies führte dazu, dass die UNO in den letzten Jahren gegen aussen zunehmend den Eindruck einer stagnierenden, über weite Strecken mit sich selbst beschäftigten Organisation erweckte.

Das böse Erwachen kam mit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, welche die Interdependenz und die damit einhergehende Verletzlichkeit der globalisierten Welt in aller Deutlichkeit vor Augen führte. Als Reaktion darauf erschien ein mächtiger Akteur auf der multilateralen Bühne: die Gruppe der Zwanzig (G-20), die bereits 1997 im Zusammenhang mit der asiatischen Finanzkrise als Zusammenschluss systemisch wichtiger Industrienationen und Entwicklungsländer ins Leben gerufen worden war, nahm mit einer Reihe weitreichender Massnahmen die Zügel in die Hand und stieg so in kurzer Zeit zum bestimmenden Forum für internationale Zusammenarbeit in Wirtschaftsfragen auf.

Diese Entwicklung deckte die Stärken und Schwächen der UNO deutlich auf. Im Gegensatz zur G-20 kann die UNO dank ihrer thematischen und
geografischen Universalität Beschlüsse von unbestrittener Legitimität hervorbringen und damit günstige Voraussetzungen für deren Umsetzung auf nationaler Ebene schaffen.

Gleichzeitig verhindert eben diese Universalität rasche und substanzielle Entscheide.

Symptomatisch deshalb die Situation 2009: während UNO-Mitglieder viel Zeit auf die kontroverse Diskussion verwendeten, ob die UNO oder die G-20 das entscheidende multilaterale Forum für Wirtschaftsfragen sei, schuf die G-20 durch rasches und entschlossenes Handeln Tatsachen. Die (Kompromiss)lösung dürfte darin liegen, G-20 und UNO künftig in operationell sinnvoller Weise miteinander zu verknüpfen. Eine überregionale Gruppe von Staaten ausserhalb der G-20, darunter auch die Schweiz, hat in der Zwischenzeit unter dem Namen 3G (Global Governance

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Group) Vorschläge zu einer strukturierteren Zusammenarbeit von UNO und G-20 unterbreitet.

Die Finanz- und Wirtschaftskrise wird für die UNO auch zur Folge haben, dass die Geberländer tendenziell den Gürtel enger schnallen werden müssen und damit die freiwilligen Beiträge an Fonds und Programme der UNO unter einer restriktiveren Haushaltpolitik leiden werden.

Die UNO bleibt eine Baustelle: Zum einen im wörtlichen Sinn, da zum ersten Mal seit ihrer Gründung eine umfassende Renovation des UNO-Hauptquartiers in New York in Angriff genommen wurde, die rund 1,9 Milliarden US-Dollar kosten und 2013 abgeschlossen werden soll. Aber auch im übertragenen Sinn, da die oben erwähnten Reformprozesse im Jahr 2010 weitergeführt und ausserdem eine Reihe bedeutender, im Gipfeldokument von 2005 vorgesehener Prozesse ihren Anfang nehmen werden. Zu erwähnen sind hier insbesondere die Überprüfung der Kommission für Friedenskonsolidierung und des Menschenrechtsrates. 2010 ist somit ein eigentliches Reformjahr, wobei im Unterschied zu 2005 die verschiedenen Reformprozesse ­ zumindest auf dem Papier ­ unabhängig voneinander angegangen werden sollen, was den Abschluss eines in seiner Gesamtheit ausgewogenen Pakets erschwert.

Im politischen Kräftemessen bestehen die alten Interessengegensätze zwischen industrialisierten Staaten und Entwicklungsländern zwar weiter, gleichzeitig weist diese Landschaft aber auch Verwerfungen auf und das Bild ist komplexer geworden.

Insbesondere die Klimaverhandlungen haben gezeigt, dass die Entwicklungsländer keinen einheitlichen Block mehr bilden. Durch den Klimawandel besonders gefährdete Länder wie etwa kleinere Inselstaaten vertreten in vielen Punkten ähnliche Positionen wie westliche Länder. Auch die Sonderstellung von einigen bevölkerungsreichen Entwicklungsländern aufgrund ihrer G-20 Mitgliedschaft ist dem Zusammenhalt unter den Entwicklungsländern nicht unbedingt förderlich. Gleichzeitig tut sich auch die EU trotz Lissabon-Vertrag mitunter immer noch schwer, eine einheitliche Position zu finden, am augenfälligsten in der Nahostpolitik oder bei der Reform des Sicherheitsrates. Solche Entwicklungen sind als Chance für die UNO zu werten, da sie dazu beitragen können, das Blockdenken zumindest ansatzweise aufzubrechen.

Der Amtsantritt von Präsident Barack Obama ist in UNO-Kreisen mit
grosser Erleichterung aufgenommen und ebensolchen Erwartungen verbunden worden. Der neuen US-Regierung ist es anfänglich sehr gut gelungen, den proklamierten Wechsel glaubhaft zu machen: die angekündigte Schliessung Guantanamos, die Wahl in den früher scharf kritisierten Menschenrechtsrat im Frühjahr 2009, eine wohlwollende Haltung in Bezug auf den Internationalen Strafgerichtshof (ICC), konstruktive Positionen in den Klimaverhandlungen, ein Neubeginn in den Beziehungen zu Russland und eine generelle Bereitschaft zum Dialog, auch und gerade mit dem Iran, waren die sichtbarsten Zeichen der Veränderung und haben die Atmosphäre in der UNO positiv beeinflusst. Allerdings wurde rasch deutlich, dass in einigen Kernbereichen der US-Aussenpolitik keine grundlegende Neuausrichtung zu erwarten war, am ausgeprägtesten in der Nahostpolitik.

Engagement der Schweiz Die Schweiz ist seit ihrem Beitritt zur UNO ein aktives und innovatives Mitglied.

Sie hat in etlichen Bereichen Akzente setzen können, so beispielsweise bei der 1090

Gründung des Menschenrechtsrates, der Reform des Sicherheitsrates, der Umweltpolitik oder der Förderung der Rechtsstaatlichkeit. Die UNO bietet der Schweiz die Möglichkeit, zur Lösung globaler Probleme beizutragen, ihren Teil der Verantwortung wahrzunehmen und für ihre nationalen Interessen einzustehen.

Für die Schweiz verlief das Jahr 2009 besonders erfolgreich: Es gelang insbesondere, mit einer Reihe prestigeträchtiger Aufgaben die Sichtbarkeit des Schweizer Engagements zu erhöhen. Hier ist namentlich der Schweizer Vorsitz des Budgetund Managementausschusses während der 64. Session der Generalversammlung zu erwähnen. Ausserdem übernahm die Schweiz ab Juli 2009 in der Kommission für Friedenskonsolidierung die Leitung der Länderkonfiguration für Burundi. Als grösster Erfolg ist zu werten, dass knapp sieben Jahre nach dem Schweizer UNO-Beitritt alt Bundesrat Joseph Deiss von der westlichen Regionalgruppe (WEOG) für das Amt des Präsidenten der 65. UNO-Generalversammlung vorgeschlagen und im Juni 2010 gewählt wurde. Alt Bundesrat Deiss leitet seit September 2010 für ein Jahr die UNO-Generalversammlung und verhilft damit der Schweiz zu hoher Visibilität im System der Vereinten Nationen.

Frieden und Sicherheit Reform des Sicherheitsrates: Im Februar 2009 gaben die UNO Mitgliedstaaten der Reformdiskussion durch die Aufnahme informeller Verhandlungen im Plenum der Generalversammlung einen neuen Anstoss. Trotz dieser institutionellen Aufwertung bleibt die Erweiterungsdiskussion nach wie vor blockiert. Als Kompromiss zur Überwindung der Differenzen zwischen Befürwortern und Gegnern neuer ständiger Sitze unterstützt die Schweiz eine Zwischenlösung, die die Schaffung einer neuen Kategorie nicht-ständiger Sitze mit verlängerter Mandatsdauer vorsieht. Das primäre Interesse der Schweiz gilt weiterhin der Reform der Arbeitsmethoden des Rates. In einer gemeinsamen diplomatischen Initiative mit Costa Rica, Jordanien, Liechtenstein und Singapur («Small Five», S-5) bemüht sich die Schweiz insbesondere um die Erhöhung der Transparenz und den verbesserten Einbezug der Gesamtheit der UNO-Mitgliedstaaten in die Arbeit des Sicherheitsrates.

Terrorismusbekämpfung: Der Attentatsversuch vom 25. Dezember 2009 gegen ein Flugzeug der Northwest Airline mit Ziel Detroit hat die Ängste der internationalen Öffentlichkeit gegenüber
dem internationalen Terrorismus neu geschürt. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 stand jedoch diese Problematik stets weit oben auf der Agenda der UNO. Während sich in der ersten Zeit nur die Mitglieder des Sicherheitsrates mit der Frage der Terrorismusbekämpfung auseinandersetzten, beschäftigt diese seit September 2006, d.h. seit der Verabschiedung der «Globalen Strategie zur Terrorismusbekämpfung» durch die Generalversammlung alle UNOMitgliedsländer.

Die Schweiz hat aktiv zur Umsetzung der Strategie beigetragen, indem sie im Dezember 2007 gemeinsam mit Costa Rica, Japan, der Slowakei und der Türkei einen «Internationalen Prozess zur weltweiten Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung» initiierte. Die im Juli 2008 vorgestellten Ergebnisse dieses Prozesses empfahlen namentlich die Schaffung eines Netzes von Koordinationsstellen (Focal Points) im Bereich Terrorismusbekämpfung.

Im Übrigen arbeitet die Schweiz weiterhin aktiv mit den Unterausschüssen des Sicherheitsrats zusammen, die für die Terrorismusbekämpfung zuständig sind.

Ausserdem ist sie Mitglied der Aktionsgruppe zur Bekämpfung des Terrorismus der 1091

G-8 (Counter-Terrorism Action Group, CTAG). Sie wird gewisse Regionen oder Länder, die um Begleitung bei der Umsetzung ihrer UNO-Verpflichtungen ersuchen, finanziell und fachlich unterstützen.

Sanktionen gegen Al-Qaida und die Taliban: In den vergangenen Jahren wurde der Einhaltung der Grundrechte im Rahmen gezielter Sanktionen des Sicherheitsrates vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt. Es geht dabei namentlich um die Eintragung und Streichung von Personen und Organisationen auf den Listen des Sanktionsausschusses des UNO-Sicherheitsrates, der für die Umsetzung der Sanktionen gegen die Al-Qaida und die Taliban verantwortlich ist . Zahlreiche Mitgliedsstaaten sahen sich bei der Umsetzung dieser Sanktionen mit Schwierigkeiten konfrontiert, namentlich im Rahmen von Beschwerden bei europäischen Gerichten.

Aus diesem Grund hat sich die Schweiz gemeinsam mit Unterstützung einer Gruppe gleichgesinnter Staaten (Deutschland, Belgien, Costa Rica, Dänemark, Finnland, Liechtenstein, Norwegen, Niederlande und Schweden) aktiv für eine Verbesserung dieser Verfahren eingesetzt. Sie hat dazu verschiedene Empfehlungen zur Stärkung der Legitimität und der Effizienz des Systems formuliert. Ziel ist es, ein Beschwerdeverfahren festzulegen und eine unabhängige Instanz zu schaffen, die Streichungsgesuche bearbeitet.

Das wichtigste Projekt ist in diesem Zusammenhang zweifellos die Schaffung einer Ombudsstelle. Sie wird Beschwerden von Personen entgegennehmen, die von den Sanktionen betroffen sind. In der Folge führt sie eine unabhängige, neutrale Untersuchung zum entsprechenden Fall durch, und sie unterbreitet dem Sanktionsausschuss des Sicherheitsrates die Gründe, die für oder gegen eine Streichung von der Liste sprechen.

Die Schweiz hat diese Entscheidung begrüsst. Betroffene erhalten damit zum ersten Mal die Möglichkeit, ihren Standpunkt vor einer unabhängigen, unparteilichen Instanz darzulegen. Bedauerlich ist allerdings, dass die Ombudsstelle keine Empfehlungen an den Sanktionsausschuss abgeben kann, der somit nach eigenem Ermessen entscheiden kann. Die Schweiz wird die Umsetzung dieses Projekts aufmerksam verfolgen. Sie engagiert sich weiter für die Einführung national und international anerkannter Verfahrensgarantien für Personen, die von Sanktionen betroffen sind.

Dabei trägt sie der besonderen Rolle des
Sicherheitsrates und der politischen Sensibilität dieser Fragen Rechnung.

Am 4. März 2010 hat der Nationalrat eine Motion des Ständerates (Mo Marty; 09.3719) angenommen, die den Bundesrat verpflichtet, dem UNO-Sicherheitsrat mitzuteilen, dass die Schweiz ab Beginn des Jahres 2011 die Sanktionen gegen natürliche Personen, die aufgrund von Resolutionen im Namen der Terrorismusbekämpfung ausgesprochen wurden, nicht mehr umsetzen wird, wenn gewisse rechtsstaatliche Bedingungen nicht erfüllt sind. Das Parlament wollte mit der Annahme der Motion das Engagement der Schweiz für den Respekt der Menschenrechte, des Rechtsstaats und der Demokratie auch gegenüber Beschlüssen des UNO-Sicherheitsrates unterstreichen. Mit Schreiben vom 22. März 2010 hat die Schweiz in New York den Präsidenten des 1267-Sanktionsausschuss des UNO-Sicherheitsrates, der für die Umsetzung der Sanktionen des Sicherheitsrates gegen die Al-Qaida und die Taliban verantwortlich ist, über die Annahme der Motion Marty und die sich daraus ergebenden Folgen für die Schweiz informiert. Der Bundesrat hatte die Ablehnung der Motion beantragt. Er hatte argumentiert, dass die Schweiz als UNO-Mitglied verpflichtet sei, die Beschlüsse des Sicherheitsrates auszuführen. Sie könne nicht 1092

einseitig Kriterien festlegen, die die Umsetzung von Sicherheitsratsresolutionen nach Kapitel VII der UNO-Charta relativieren würden. Wenn die Schweiz den Beschlüssen des Sicherheitsrates nicht nachkäme, würde das Sanktionssystem an Glaubwürdigkeit verlieren, was andere Staaten dazu verleiten könnte, sich ebenfalls über Sanktionen hinwegzusetzen.

Friedenskonsolidierung: Viele Länder, deren Vergangenheit von Konflikten geprägt ist, brauchen die spezielle Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft, um zu verhindern, dass sie erneut in kriegerische Auseinandersetzungen geraten. Aus diesem Grund haben die Vereinten Nationen Mitte der letzten Dekade mit dem Aufbau einer Architektur für Friedenskonsolidierung begonnen. Diese umfasst eine Kommission für Friedenskonsolidierung (Peacebuilding Commission, PBC), einen Fond zur Friedenskonsolidierung sowie eine unterstützende Einheit im UNOSekretariat (Peacebuilding Support Office). Die PBC ist aus 32 Mitgliedstaaten zusammengesetzt. Sie bringt die massgeblichen Akteure des Sicherheitsrats, die grössten Geberstaaten, die grössten Truppensteller sowie regionale Akteure zusammen. Auf der Agenda stehen zur Zeit vier Länder: Burundi, Sierra Leone, Zentralafrikanische Republik und Guinea-Bissau. Der Fond zur Friedenskonsolidierung von derzeit rund 300 Millionen US-Dollar, welcher mit freiwilligen Beiträgen geäufnet wird, dient der Finanzierung dringlicher Investitionen, welche mit höherem Risiko behaftet sind.

Die Schweiz unterstützt auf mehreren Ebenen Bemühungen, die darauf abzielen, dass die UNO im Bereich der Friedenskonsolidierung noch wirksamer reagieren kann. Sie plädiert in allen zuständigen Gremien konsequent für mehr Kohärenz bei den laufenden Reformprozessen zur Friedenssicherung, zur operativen Entwicklungstätigkeit sowie zur Konfliktprävention und zur Mediation. Sie beteiligt sich an den Arbeiten der Kommission für Friedenskonsolidierung, in der sie seit Juli 2009 die Burundi-Konfiguration präsidiert. Dadurch hat sie die Möglichkeit, die Überprüfung der UNO-Architektur für Friedenskonsolidierung mitzugestalten, die im laufenden Jahr stattfindet. Die Erfahrungen, welche in den vier oben genannten Ländern gemacht wurden, werden mit besonderem Gewicht in die Überprüfung einfliessen.

Internationale Friedensoperationen: Bei den UNO-Friedensoperationen
handelt es sich um eine einzigartige, weltumspannende Partnerschaft. Sie umfasst die politischen und rechtlichen Kompetenzen des Sicherheitsrates, das Personal und die Finanzbeiträge der Mitgliedsstaaten, die Unterstützung der Empfängerländer und die grosse Erfahrung des Sekretariats im Bereich des operationellen Managements vor Ort. Auf dieser Partnerschaft basieren die Legitimität, die Nachhaltigkeit und die globale Dimension der UNO.

Mit über 116 000 Personen im Rahmen von 15 Einsätzen ist die Friedenssicherung heute umfangreicher und komplexer als je zuvor. Für die Vielfalt an Mandaten verfügt die UNO nicht über genügend Kapazitäten zur Erfüllung der festgelegten Aufgaben. Die Bereiche Personal, Logistik, Finanzen und Verwaltung kämpfen für die Unterstützung von Einsätzen in Regionen, die zu den unwirtlichsten der Welt gehören. Die zur Verfügung stehenden militärischen Kapazitäten sind angesichts des steigenden Bedarfs minimal. Im Übrigen braucht es für die neuen Aufgaben zur Friedenssicherung eine bedeutende Zahl von Polizeikräften und zivilen Fachkräften, die häufig nur begrenzt und schwieriger zu mobilisieren sind.

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Bei den heutigen Friedensoperationen sind vielfältige Herausforderungen zu bewältigen. Verschiedene Operationen haben Fortschritte erzielt und zu Sicherheit und Stabilität beigetragen. Oft kommt es jedoch zu Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Mandats im Zusammenhang mit dem Schutz von Zivilpersonen oder mit der Erarbeitung und Durchführung integrierter Strategien. Diese sollen eine verantwortungsvolle Transition erleichtern und langfristig die Bedingungen für eine Beendigung der Friedensoperationen und einen dauerhaften Frieden schaffen.

Die Anforderungen der vergangenen zehn Jahren zeigten die Grenzen der früheren Reformen auf. Die Systeme, Strukturen und Grundwerkzeuge der UNO stehen nicht in Einklang mit der Dimension, dem Tempo und den Aufgaben heutiger Missionen.

Die Spaltungen innerhalb der internationalen Gemeinschaft können die Wirksamkeit gewisser Einsätze vor Ort beeinträchtigen. Jede neue Operation wird unter der Annahme geplant, dass geeignete Ressourcen mobilisiert werden können, und auf der Grundlage eines individuellen Budgets durchgeführt. Die Friedenssicherung in der heutigen Form erfordert berechenbarere, professionellere und flexiblere Kapazitäten. Es braucht ein System, das den globalen Herausforderungen gerecht werden kann. Dazu muss die Friedenssicherung kohärenter und in Abstimmung mit dem restlichen UNO-System arbeiten.

Die personelle Beteiligung der Schweiz an UNO-Friedensoperationen ist bescheiden. Seit ihrem Beitritt zur UNO ist die Schweiz bei den Beiträgen zu Truppen, militärischen Beobachtern und Polizei insgesamt vom 56. Rang auf den 91. Rang zurückgefallen. Sie stellt 25 Militär- und Polizeikräfte von insgesamt 91 712 Angehörigen des uniformierten Personals (Statistik Dezember 2009). Wie der Bundesrat bereits in seinem Aussenpolitischen Bericht 2009 festhielt, erschwert dieser Trend erfolgreiche Bewerbungen für hochrangige Posten im Bereich der Friedenssicherung und der Friedensoperationen der UNO. Aktiv bleibt die Schweiz jedoch bei den Verhandlungen und Debatten zur Zukunft der UNO-Friedensoperationen. Im Rahmen des Sonderausschusses für friedenssichernde Massnahmen wirkte sie oft als Fazilitator bei Verhandlungen. Zudem versucht sie, politisch schwierige, aber für das Ergebnis vor Ort entscheidende Aspekte voranzutreiben, etwa den Schutz der Zivilbevölkerung,
früh einsetzende Massnahmen zur Friedenskonsolidierung in Friedensoperationen und Herausforderungen im Zusammenhang mit dem integrierten Ansatz der UNO. Die Schweiz engagiert sich zudem dafür, dass die Reformen im Bereich der Friedenssicherung kohärent und komplementär sind zu den Reformen in den Bereichen Konfliktprävention, Mediation, Friedenskonsolidierung und operationelles System im Bereich Entwicklung. Sie unterstützt einen integrierten Ansatz, wenn ein solcher angebracht ist, und sie verteidigt die Grundsätze der Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Neutralität von humanitären Massnahmen.

Humanitäre Massnahmen, Entwicklungszusammenarbeit, Umwelt Humanitäre Massnahmen: Das humanitäre Umfeld war im Jahr 2009 und 2010 durch mehrere bewaffnete Konflikte und schwere Naturkatastrophen gekennzeichnet. Die Auswirkungen des Klimawandels gehören ebenfalls zu den grossen Herausforderungen der humanitären Hilfe. Zudem ist ein steigender Einfluss von Armut, Migration, Ressourcen- und Nahrungsmittelknappheit, Bevölkerungswachstum und Urbanisierung auf das Ausmass von humanitären Krisen festzustellen.

Die Schweizer UNO-Prioritäten im humanitären Bereich liegen in der Prävention und Reduzierung des Katastrophenrisikos, der Sicherung des ungehinderten Zugangs humanitärer Akteure zu Katastrophen- und Kriegsgebieten und der Garantie der 1094

Empfangsstaaten für deren Sicherheit. So hatte die Schweiz beispielsweise 2009 den Vorsitz der Humanitarian Liaison Working Group (HLWG) in New York inne, in der ein regelmässiger Austausch zur humanitären Situation in verschiedenen Ländern stattfindet. Dieses Engagement erlaubte es, die Beziehungen mit dem UNOKoordinationsorgan für humanitäre Hilfe (OCHA) und dem Untergeneralsekretär für Humanitäre Angelegenheiten zu stärken und der Schweiz entsprechend Visibilität zu verschaffen.

Anlässlich des sechzigjährigen Bestehens der Genfer Konventionen lud die Schweiz zusammen mit dem IKRK alle Vertragsparteien zu einer Expertenkonferenz nach Genf ein. Ziel der Konferenz war es, die Diskussion um die Zukunft des humanitären Völkerrechts zu strukturieren und entsprechenden Reformbedarf zu eruieren (zu diesem Thema, siehe auch Ziff. 4.2.4).

Die schweizerischen Beiträge an das UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR), an das Welternährungsprogramm (WFP), an das UNO-Koordinationsorgan für humanitäre Hilfe (OCHA) und den Zentralen Fonds für die Reaktion auf Notsituationen (CERF) blieben über die vergangenen Jahre nominell konstant. Wie bereits im Aussenpolitischen Bericht 2009 dargelegt, besteht nach wie vor ein gewisses Risiko, dass sich der Einfluss der Schweiz auf die humanitären Organisationen, insbesondere in Genf, künftig verringert.

Entwicklung: Im Rahmen der allgemeinen Entwicklungshilfearchitektur leisten die operationellen UNO-Agenturen kostenlos spezialisierte fachliche Unterstützung für Zentral- und Lokalbehörden in Entwicklungsländern. Alle UNO-Agenturen mit einem Mandat und mit Tätigkeiten im Bereich der Entwicklung bilden ein komplexes, relativ heterogenes operationelles System, zu dem rund dreissig Organisationen gehören. Das Herz des Systems umfasst fünf Agenturen: das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme, UNDP), den Kinderhilfsfonds der Vereinten Nationen (United Nations International Children's Emergency Fund, UNICEF), den Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (United Nations Population Fund, UNFPA), das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (World Food Programme, WFP) sowie die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (Food and Agricultural Organization of the United Nations, FAO). An diese fünf Agenturen fliessen
praktisch die gesamten öffentlichen Entwicklungshilfegelder der Schweiz, die für die Entwicklungszusammenarbeit der UNO bestimmt sind.

Die Schweiz ist als Geldgeberin daran interessiert, dass diese Agenturen für eine gute Qualität ihrer Leistungen sorgen. Sie setzt sich deshalb dafür ein, dass diese multilateralen Partner über effiziente Verwaltungssysteme verfügen und dass sie Ergebnisse vorweisen können. Besonders aktiv war die Schweiz 2009 in den Verwaltungsräten und durch zusätzliche Begleitmassnahmen, die innerhalb dieser Organisationen glaubwürdige Evaluationsstrategien und -methoden und eine resultatorientierte Verwaltung fördern.

Die Stärkung der Evaluationskapazitäten und die Förderung resultatsorientierter Verwaltungssysteme bilden die strategische Hauptachse des Schweizer Engagements zur Verbesserung der Qualität der Hilfe, die ihre UNO-Partner leisten. Hinzu kommt eine zweite Achse: die Stärkung der Systemkohärenz und die Bekämpfung der Hyperfragmentierung. Es kommt nämlich nicht selten vor, dass in einem Land 15 UNO-Organisationen zu finden sind, die alle jeweils eigene Entwicklungsprojekte und -programme umsetzen und verwalten. Dies verursacht enorme Trans1095

aktionskosten für Regierungen mit häufig beschränkten Kapazitäten. Die aktuellen Bemühungen zur Reduktion dieser Fragmentierung und für mehr Kohärenz bei den operationellen Tätigkeiten der UNO basieren auf einer Reformagenda, die vor einigen Jahren lanciert wurde. Der Agendateil zur Entwicklung ist unter der Bezeichnung «One UN» bekannt. Diese von der Generalversammlung geführte Reformagenda kam 2009 mit wesentlichen Fortschritten bei der Schaffung eines unabhängigen Evaluationsorgans auf UNO-Ebene und mit der Bildung einer Gender-Einheit voran.

Die Schweiz setzt sich seit 2004 für die Reformagenda ein. Sie sieht darin eine hervorragende Ergänzung zu ihrem Engagement für eine bessere Hilfsqualität auf der Stufe der einzelnen Organisationen. Die Schweiz will somit auf zwei Ebenen komplementär handeln und dabei die operationellen Erfahrungen der Partnerorganisationen einbeziehen, um den Dialog über globale Politiken und Normen voranzubringen. 2009 kämpfte die Schweiz in diesem Sinne besonders in der Generalversammlung und im ECOSOC dafür, Lenkungsinstrumente zu verabschieden, welche die Kohäsion des Systems stärken und die Fragmentierung beschränken.

Ebenfalls mit dem Ziel, Synergien zwischen dem globalen Politikdialog und der operationellen UNO-Tätigkeit zu schaffen, engagierte sich die Schweiz schliesslich prioritär in der Generalversammlung für die Festlegung von Zielvorgaben für den Gipfel zu den Millenniumsentwicklungszielen im September 2010. Die Schweiz hat sich dafür eingesetzt, dass die Zielerreichung nicht nur durch eine enge, sektorspezifische Brille beurteilt wird, sondern auch die globalen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen mitberücksichtigt werden.

Umwelt: Umweltthemen haben auch 2009 die Verhandlungen in den UNO-Foren wesentlich bestimmt. Im Chemikalien- und Abfallbereich wurde beschlossen, ein neues Übereinkommen zu erarbeiten, das einen erhöhten Schutz der Umwelt und der menschlichen Gesundheit vor den schädlichen Auswirkungen von Quecksilber sichern soll. In den Bereichen Klima und Biodiversität setzten sich die Verhandlungen mit hoher Intensität fort. Auch Fragen der Umweltgouvernanz und die Organisation eines neuen Weltgipfels über nachhaltige Entwicklung 2012, das heisst zwanzig Jahre nach dem Umweltgipfel von Rio, wurden prominent thematisiert: Im
Klimabereich waren die vergangenen Jahre geprägt von intensiven Verhandlungen, die darauf abzielen, ein neues internationales Klimaregime zu verabschieden, und dies für die Zeit nach 2012, dem Ablauf der zurzeit gültigen TreibhausgasReduktionsverpflichtungen der Industriestaaten. Das Thema beschäftigte 2009 die UNO-Generalversammlung und insbesondere auch die Gremien des Rahmenübereinkommens der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (UNFCCC). An der UNO-Klimakonferenz vom Dezember 2009 in Kopenhagen wurden zuletzt die hohen Erwartungen nicht erfüllt: Die Vertragsparteien des UNFCCC konnten sich nicht auf ein neues globales Klimaregime einigen. Der angesichts dieses Umstandes von anwesenden Staats- und Regierungschefs erarbeitete Kompromiss, der Copenhagen Accord, anerkennt sowohl den Klimawandel als eine der grössten Herausforderungen der Menschheit als auch die Notwendigkeit, den globalen Temperaturanstieg auf maximal 2 °C zu beschränken. Gleichzeitig setzt er ambitiöse Ziele für die finanzielle Unterstützung der Entwicklungsländer. Der Copenhagen Accord ist seither zu einer wichtigen Grundlage für die Klimaverhandlungen in den UNOForen geworden. Der Bundesrat hat im Februar 2010 entschieden, dass sich die Schweiz dem Copenhagen Accord anschliesst.

1096

Die UNO-Generalversammlung hat das Jahr 2010 zum Internationalen Jahr der Biodiversität erklärt. Der Verlust der biologischen Vielfalt konnte bisher, entgegen dem erklärten Ziel der Staatengemeinschaft, nicht gestoppt werden. Neben dem Klimawandel ist der Erhalt der biologischen Vielfalt damit die grösste Herausforderung, mit welcher sich die Staatengemeinschaft beim Schutz und bei der nachhaltigen Nutzung der natürlichen Ressourcen konfrontiert sieht. Im September 2010 wird zum ersten Mal ein hochrangiges Treffen zum Thema Biodiversität auf Ebene von Staats- und Regierungschefs durchgeführt. Dieses Treffen, vom Präsidenten der Generalversammlung geleitet, soll das politische Momentum dafür schaffen, dass an der Konferenz der Vertragsparteien des Übereinkommens über die Biologische Vielfalt im Oktober 2010 in Nagoya verbindliche Beschlüsse gefasst werden. Die Schweiz setzt sich im Rahmen der Verhandlungen für eine klare, transparente und nicht-diskriminierende Zugangsregulierung ein, welche auch eine Offenlegung der Quelle, beziehungsweise der Herkunft von genetischen Ressourcen und traditionellem Wissen beinhaltet und faire Abgeltungen vorsieht.

Das bestehende globale Gouvernanzsystem ist ­ trotz andauernder Bemühungen ­ weiterhin nicht stark genug, um den globalen Umweltproblemen effektiv zu begegnen. Nach wie vor hat sich die internationale Gemeinschaft nicht auf griffige Massnahmen zur Stärkung der internationalen Umweltgouvernanz im Rahmen der UNO einigen können. Deshalb begrüsst die Schweiz den Beschluss zur Fortsetzung des Prozesses zur Stärkung der Umweltgouvernanz, der im Rahmen des Verwaltungsrates des Globalen Umweltministerforums der UNEP im Februar 2010 gefällt wurde.

Die Schweiz misst der Stärkung der internationalen Umweltgouvernanz weiterhin eine hohe Priorität bei und wirkt darauf hin, dass im Rahmen von UNEP und an der Rio+20-Konferenz im Jahre 2012 auch in diesem Bereich Fortschritte erzielt werden können.

Nachhaltige Entwicklung: 20 Jahre nach dem UNO-Weltgipfel über Umwelt und Entwicklung von Rio de Janeiro soll im Jahr 2012 in Brasilien erneut eine Konferenz im Themenbereich Nachhaltige Entwicklung («Rio+20») auf höchstem politischen Niveau stattfinden. Als inhaltliche Schwerpunkte für die Konferenz wurden die Themen «Grüne Wirtschaft» und institutionelle Rahmenbedingungen
für eine Nachhaltige Entwicklung festgelegt. Die Schweiz misst dieser Konferenz eine grosse Bedeutung zu und bringt sich bereits im Vorbereitungsprozess aktiv ein. Die Konferenz ist eine optimale Gelegenheit, eine Bestandesaufnahme über den Stand der Umsetzung des Konzeptes der Nachhaltigen Entwicklung zu machen, gleichzeitig aber auch, um den weiteren Handlungsbedarf aufzuzeigen.

Menschenrechte UNO-Menschenrechtsrat: Im vierten Jahr seines Bestehens hat der Rat ein hohes Tagungstempo erreicht. Im Rahmen von ordentlichen Sessionen, Arbeitsgruppen und ausserordentlichen Sessionen befasst sich der Menschenrechtsrat während rund 40 Wochen pro Jahr mit Menschenrechtsverletzungen in verschiedenen Ländern.

Seit Mai 2009 hat der Rat drei Sondersessionen abgehalten: eine zur Lage in Sri Lanka (Mai 2009), die zweite zum besetzten palästinensischen Gebiet einschliesslich Ost-Jerusalem (Oktober 2009) und die dritte zur Menschenrechtslage nach dem Erdbeben in Haiti (Januar 2010).

Der Rat behandelt unter anderem ein breites Spektrum von Fragen in den Bereichen bürgerliche und politische sowie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. 2009 wurde neu ein Sonderberichterstatter über kulturelle Rechte eingesetzt.

1097

Die allgemeine regelmässige Überprüfung (Universal Periodic Review, UPR) ist ein wichtiger Faktor für mehr Transparenz zwischen Staaten, aber auch gegenüber der Zivilgesellschaft. Bis im Sommer 2010 wurden 128 Staaten überprüft. Dass gewisse Länder kurz vor der Präsentation ihrer Länderberichte erste Öffnungsmassnahmen gegenüber der Zivilgesellschaft beschlossen oder öffentliche Verpflichtungen eingingen, sind positive Elemente in der Bilanz der UPR. Im Übrigen zeigt die hochrangige Vertretung der geprüften Länder, dass der Mechanismus ernst genommen wird, auch wenn gewisse Staaten die festgelegten Regeln zu ihren Gunsten zu manipulieren versuchen. Die grösste Herausforderung der UPR besteht in der praktischen Umsetzung der von den geprüften Staaten akzeptierten Empfehlungen. Falls dies zumindest teilweise der Fall sein wird, leistet die UPR einen echten Beitrag zum Schutz der Menschenrechte.

Der Menschenrechtsrat sieht sich allerdings mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert: ­

Die Debatten in der Vollversammlung und die Verhandlungen über Resolutionen werden allzu häufig von den Gegensätzen zwischen Blöcken geprägt, vor allem zwischen Mitgliedern der Organisation der Islamischen Konferenz und der Gruppe der afrikanischen Staaten einerseits und den westlichen Ländern einschliesslich EU andererseits. Unterschiedliche Interpretationen zum Geltungsbereich der individuellen Rechte und zur Rolle des Staates (Souveränitätskonzept) zementieren die Positionen. Die Schweiz bemüht sich, die Fronten mit Kompromissvorschlägen aufzuweichen.

­

Die Unabhängigkeit der Sonderberichterstatter, die mit der Prüfung der Menschenrechte auf thematischer Ebene oder in gewissen Ländern beauftragt sind, wird von Delegationen, die eine harte Linie vertreten, regelmässig in Frage gestellt. Die Schweiz unterstützt die Unabhängigkeit der Sonderberichterstatter, da ihre Sachkenntnis und ihre Beiträge für das gute Funktionieren des Menschenrechtsrates entscheidend sind.

­

Gewisse Staaten möchten dem Rat eine Rolle als Verwaltungsrat des Hochkommissariats übertragen, der dessen Budget und grundlegende strategische Ausrichtung kontrolliert. Die Schweiz lehnt dies ab, weil sie die Unabhängigkeit des Hochkommissariats als sehr wichtig erachtet und sie der Ansicht ist, dass diese Kontrollaufgabe der UNO-Generalversammlung zukommt.

Gemäss der Resolution der Generalversammlung, die den Rat einsetzte, muss dieser fünf Jahre nach der Bildung seine eigene Tätigkeit und sein Funktionieren überprüfen. Diese Überprüfung findet erst 2011 statt. Der Vorbereitungsprozess hat jedoch bereits begonnen, und die Mitgliedstaaten befassen sich derzeit mit den Modalitäten und dem Inhalt der Überprüfung. In diesem Kontext hat die Schweiz am 20. April 2010 in Montreux eine Tagung mit informellen Diskussionen organisiert, um den Weg für die im Herbst 2010 beginnenden formellen Verhandlungen zu ebnen.

Die Schweiz wurde am 13. Mai 2010 für eine weitere dreijährige Amtszeit in den Menschenrechtsrat gewählt. Sie will einen aktiven Beitrag zur Überprüfung des Rates im Jahr 2011 leisten, die für die Zukunft der Institution entscheidend sein wird. Die Schweiz engagiert sich dafür, dass der Schwerpunkt auf einer Optimierung der bestehenden Instrumente liegt (Besondere Verfahren, UPR), so dass der Menschenrechtsrat schneller und wirksamer auf Menschenrechtsverletzungen reagieren kann, wo immer sich diese ereignen (siehe auch Ziff. 4.2.3.).

1098

UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte (High Commissioner for Human Rights, HCHR): Das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte hat seit dem UNO-Weltgipfel 2005 eine Wachstumsphase hinter sich, in der sich das reguläre Budget verdoppelt hat. Nach wie vor bestreitet es aber knapp zwei Drittel seines Budgets mit freiwilligen Beiträgen der Mitgliedsstaaten. Dies macht das Hochkommissariat anfällig für Kritik, dass es in erster Linie den Geldgebern gehorcht. Wie oben erwähnt, wollen gewisse Staaten des Südens daher das Hochkommissariat einer stärkeren Kontrolle durch den Menschenrechtsrat unterwerfen, um so im intergouvernementalen Rahmen grösseren Einfluss auf thematische Prioritäten, Ländereinsätze und die personelle Zusammensetzung des Hochkommissariates ausüben zu können.

Als Gastland des Hochkommissariats und als einer der 15 grössten Geldgeber setzt sich die Schweiz stark für die Unabhängigkeit des Hochkommissariates ein, bemüht sich aber auch darum, dieses zu einer transparenteren und strategischeren Kommunikation mit den Staaten zu bewegen.

Internationaler Gerichtshof in Den Haag (IGH) Das richterliche Hauptorgan der UNO, der Internationale Gerichtshof in Den Haag (IGH), ist eine wichtige Säule der friedlichen Beilegung internationaler Streitigkeiten. Die Schweiz befürwortet seit jeher friedliche Mittel, namentlich rechtlicher Art, für die Lösung von zwischenstaatlichen Konflikten. Deshalb ist die Schweiz am 28. Juli 1948 dem Statut des IGH beigetreten, und sie hat die obligatorische Gerichtsbarkeit dieses Gerichtes durch einseitige Erklärung vom gleichen Datum anerkannt.

Derzeit ist die Schweiz am IGH in zwei laufende Verfahren verwickelt. Das erste betrifft ein Beratungsverfahren. Nachdem die UNO-Generalversammlung den IGH gebeten hatte, ein Rechtsgutachten zur Frage zu verfassen, ob die einseitig erklärte Unabhängigkeit der provisorischen Übergangsregierung (PISG) des Kosovo gegen das Völkerrecht verstosse, hat der IGH die Mitgliedsstaaten der UNO aufgefordert, Stellungnahmen einzureichen. Am 15. April 2009 legte die Schweiz einen dreissigseitigen schriftlichen Bericht zu dieser Frage vor. Das zweite Verfahren betrifft einen Streitfall. Am 22. Dezember 2009 reichte das Königreich Belgien vor dem IGH Klage gegen die Schweizerische Eidgenossenschaft ein. Belgien macht dabei im Rahmen des
Konkursverfahrens von Sabena und Swissair verschiedene Völkerrechtsverletzungen geltend, insbesondere einen Verstoss gegen das Übereinkommen vom 16. September 198821 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. Die Schweiz trifft alle Massnahmen, die für eine wirksame Organisation ihrer Verteidigung vor dem IGH erforderlich sind.

Management und Finanzierung der UNO Trotz Modernisierungs- und Effizienzsteigerungsbemühungen ist es in den vergangenen Jahren nur bedingt gelungen, die Managementkultur und ­methoden innerhalb des UNO-Sekretariats nachhaltig zu verbessern. Resultatorientiertes Management oder organisationsübergreifendes Risikomanagement werden erst in Ansätzen praktiziert, und interne Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten sind unzureichend geregelt.

21

Lugano-Übereinkommen, SR 0.275.11

1099

Die Mehrheit der Mitgliedstaaten ist nicht bereit, dem Generalsekretär moderne Managementinstrumente in die Hand zu geben, die ihm erlauben würden, rasch auf veränderte Rahmenbedingungen zu reagieren und verfügbare Ressourcen flexibel einzusetzen. Sie befürchten, dass grössere Handlungsspielräume den Generalsekretär dazu verleiten könnten, die Interessen wichtiger Geberstaaten gegenüber den Anliegen der ärmeren Entwicklungsländer zu bevorzugen.

Die Schweiz ist seit Jahren bemüht, die Diskussion über moderne Managementmethoden zu versachlichen und die Vorteile solcher Methoden darzulegen. Der Mangel an Vertrauen unter den Mitgliedstaaten hat jedoch tiefer liegende Gründe und weist einen Zusammenhang zur Gouvernanzstruktur der UNO auf. Mitgliedstaaten, die nur über begrenzte Einflussmöglichkeiten verfügen oder sich in wichtigen Entscheidungsorganen (wie dem Sicherheitsrat) untervertreten fühlen, werden auch in Zukunft dazu tendieren, die Handlungsspielräume des Generalsekretärs zu begrenzen.

Trotz einer leichten Senkung des Beitragssatzes per 1. Januar 2010 gehört die Schweiz nach wie vor zu den grössten Beitragszahlern an die Vereinten Nationen (Rang 16, Beitragssatz 1,13 %). In absoluten Zahlen sieht sich die Schweiz mit steigenden Pflichtbeiträgen an die UNO konfrontiert. Im Durchschnitt der letzten vier Jahre beliefen sich diese auf rund 120 Millionen Franken pro Jahr. Dies lässt sich vor allem mit stark gewachsenen Ausgaben für die Friedenssicherungseinsätze und besonderen politischen Missionen der UNO erklären.

Im Rahmen der Gruppe der sechzehn wichtigsten Beitragszahler (Genfer Gruppe) setzt sich die Schweiz für eine Verbesserung des Budgetprozesses der UNO ein.

Dieser ist heute zu kompliziert und zu schwerfällig und erschwert dadurch die strategische Steuerung der Organisation durch die Mitgliedstaaten.

Die Schweiz als Gaststaat internationaler Organisationen Die Schweiz verfügt über eine langjährige Tradition als Gaststaat internationaler Organisationen. Von insgesamt 26 Organisationen, mit denen die Schweiz ein Sitzabkommen abgeschlossen hat, sind 23 in Genf beheimatet, zwei in Bern (der Weltpostverein und die Zwischenstaatliche Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr) und eine in Basel (die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich).

Genf bildet mit dem wichtigsten
UNO-Sitz in Europa neben New York eines der beiden grossen Zentren der multilateralen Zusammenarbeit. Die zunehmende Zahl von Staaten, die mindestens eine ständige Mission in Genf unterhalten (163 Staaten im Jahr 2009) wie auch die rund 180 000 Delegierten sowie Expertinnen und Experten, die 2009 an den mehreren Tausend Tagungen und Konferenzen teilgenommen haben, die von internationalen Organisationen und NGO in Genf organisiert wurden, zeugen von der Attraktivität des internationalen Genf. Politisch gesehen verleiht das internationale Genf der Schweiz ein im Verhältnis zur Landesgrösse überproportionales Gewicht in den internationalen Beziehungen. Es trägt damit zur Verwirklichung der aussenpolitischen Ziele der Schweiz bei. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht haben die grosse Präsenz internationaler Organisationen und NGO in Genf sowie die ausgeprägte Konferenztätigkeit positive Auswirkungen für die Wirtschaft unseres Landes.

1100

Instrumente der Schweizer Gaststaatpolitik: Die Gaststaatpolitik der Schweiz konzentriert sich thematisch auf folgende fünf Kerngebiete: 1. Frieden, Sicherheit und Abrüstung; 2. humanitäre Angelegenheiten und Menschenrechte; 3. Gesundheit 4. Arbeit, Wirtschaft und Wissenschaft und 5. nachhaltige Entwicklung und Erhaltung der natürlichen Ressourcen.

Dazu arbeiten der Bund und die Kantone, die internationale Organisationen beherbergen, eng zusammen. Die schweizerische Gaststaatpolitik stützt sich in erster Linie auf folgende Instrumente: ­

Rechtsgrundlagen Das Gaststaatgesetz22 mit der entsprechenden Gaststaatverordnung23 ist am 1. Januar 2008 in Kraft getreten. Mit den beiden Erlassen wurden die bestehenden Rechtsgrundlagen konsolidiert, zudem wurde die über die Jahre entstandene Praxis im Bereich der Gaststaatpolitik kodifiziert. Diese neuen Rechtsgrundlagen tragen zu einer wirksamen Gaststaatpolitik bei.

­

Immobilienstiftung für die internationalen Organisationen (FIPOI) Internationale Organisationen, die in Genf Räumlichkeiten suchen, können sich an die Immobilienstiftung für die internationalen Organisationen (FIPOI) wenden. Die privatrechtliche Stiftung wurde 1964 vom Bund und vom Kanton Genf gegründet. Damit die FIPOI ihren Auftrag erfüllen kann, gewährt ihr der Bund zinslose Darlehen mit einer Laufzeit von 50 Jahren.

Die FIPOI setzt diese ein, um es internationalen Organisationen zu ermöglichen, Gebäude zu kaufen, zu bauen oder umzubauen.

­

Sicherheitsmassnahmen Die Finanzierung von Sicherheitseinrichtungen in und an den Gebäuden sowie innerhalb ihrer Umfriedung ist Sache der Organisationen. Gemäss internationaler Praxis ist hingegen der Gaststaat für den Aussenschutz der Gebäude wie auch für deren Umfriedung verantwortlich. Die eidgenössischen Räte haben dafür im Juni 2006 einen Verpflichtungskredit von zehn Millionen Franken bewilligt. Der Bundesrat hat am 19. Mai 2010 einen weiteren Kredit in der gleichen Höhe gesprochen.

Die Schweiz bietet den auf ihrem Territorium angesiedelten Organisationen vorteilhafte Arbeits- und Lebensbedingungen, Sicherheitsvorkehrungen sowie ein attraktives Angebot an Büro- und Konferenzräumlichkeiten. Trotzdem ist die Schweiz im Zusammenhang mit der Aufnahme von internationalen Organisationen und Konferenzen mit einer ganzen Reihe von Herausforderungen konfrontiert. Die wichtigsten sind nachfolgend aufgeführt: ­

22 23

Verschärfte internationale Konkurrenz Seit dem Ende des Kalten Krieges hat sich die internationale Konkurrenz um die Ansiedlung internationaler Organisationen und Konferenzen verstärkt, sodass es für die Schweiz zunehmend schwieriger wird, bestehende internationale Organisationen in Genf zu halten bzw. neue anzuziehen. Verschiedene europäische Staaten und Städte (insbesondere Wien, Den Haag, Bundesgesetz vom 22. Juni 2007 über die von der Schweiz als Gaststaat gewährten Vorrechte, Immunitäten und Erleichterungen sowie finanziellen Beiträge, SR 192.12.

Verordnung vom 7. Dezember 2007 zum Bundesgesetz über die von der Schweiz als Gaststaat gewährten Vorrechte, Immunitäten und Erleichterungen sowie finanziellen Beiträge, SR 192.121.

1101

Kopenhagen, Bonn, aber auch Budapest sowie Spanien) haben seit den 1990er-Jahren ihr Angebot im Gaststaatbereich ausgebaut und konnten einige Erfolge bei der Ansiedlung internationaler Organisationen verbuchen. In den letzten Jahren sind zudem neue Akteure im Gaststaatbereich wie Singapur, Abu Dhabi, Dubai, Katar und Südkorea in Erscheinung getreten. Sie verfügen über gute Voraussetzungen (Finanzmittel, kurze politische Entscheidungswege, globale Ambitionen), um künftig eine wichtigere Rolle als Gaststaaten für internationale Organisationen zu übernehmen.

­

Universalität Im Gegensatz zu New York kann Genf noch keine universelle Vertretung der Staatengemeinschaft beanspruchen . Von den 192 UNO-Mitgliedsstaaten sind in New York 191 mit einer ständigen Mission vertreten. Das sind deutlich mehr als in Genf, wo derzeit 28 UNO-Mitgliedsstaaten noch keine ständige Mission unterhalten.

­

Steigende Kosten für Sicherheitsmassnahmen Das Thema Sicherheit hat in den letzten Jahren für alle internationalen Organisationen zentrale Bedeutung erlangt und beträchtliche Investitionen in diesem Bereich ausgelöst. Die Verschärfung der internationalen Konkurrenz hat ­ zusammen mit den zunehmenden Sicherheitsmassnahmen, welche die Gaststaaten umsetzen müssen ­ für die Schweiz die Kosten der Gaststaatpolitik erhöht.

­

Finanzierung der Renovation und des Unterhalts von Gebäuden Ein weiteres wichtiges Thema, mit dem die Schweiz konfrontiert ist, betrifft die Renovation und den Unterhalt der Sitzgebäude der in Genf ansässigen Organisationen, zumal einige dieser Organisationen den Unterhalt ihrer Gebäude vernachlässigt und nur ungenügende Rückstellungen für eine Gesamtrenovation gebildet haben. Kritisch ist die Situation insbesondere bei einigen älteren Gebäuden wie dem Palais des Nations oder dem Sitz der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO). Die Kosten für die nötigen Renovationsarbeiten, die in die Zuständigkeit der internationalen Organisationen fallen, belaufen sich auf mehrere hundert Millionen Franken, die den Organisationen derzeit nicht zur Verfügung stehen.

­

Angespannter Immobilienmarkt Die angespannte Lage auf dem Genfer Immobilienmarkt schränkt die Möglichkeit, das Angebot des internationalen Genf auszubauen, stark ein und bedeutet eine zusätzliche Herausforderung für die Schweizer Gaststaatpolitik. Der knappe und teure Wohnraum erhöht zudem die Personalkosten für die in Genf ansässigen Organisationen, da diese ihre entsprechenden Beiträge an die Wohnkosten ihrer Angestellten erhöhen müssen.

­

Arbeitsrechtliche Streitigkeiten mit Beteiligung von ausländischen Staaten und Arbeitgebern, die Mitglied von ausländischen Vertretungen oder internationalen Organisationen sind Das vom Kanton Genf geschaffene «Bureau de l'Amiable Compositeur» konnte wesentlich dazu beitragen, arbeitsrechtliche Konflikte zwischen privatem Hauspersonal und dessen Arbeitgebern sowie zwischen lokalem Personal und dem Staat, bei dem sie angestellt sind, zu lösen. Die Abläufe des Büros wurden überprüft und im Hinblick auf eine bessere Wirksamkeit optimiert.

1102

Perspektiven der Gaststaatpolitik: Die Schweiz hat als Gaststaat ein Interesse daran, dass die internationalen Organisationen über funktionale und moderne Räumlichkeiten verfügen. Der kritische Zustand bei einigen Gebäuden internationaler Organisationen in Genf und die fehlenden Finanzmittel bei den betroffenen Organisationen haben den Druck auf die Schweiz steigen lassen, sich entgegen ihrer bisherigen Politik als Gaststaat an den Renovationskosten zu beteiligen. Die Schweiz wird dabei an der Politik jener Gaststaaten gemessen, die vollumfänglich (z.B. Österreich für die UNO in Wien und Italien für die FAO in Rom) oder zumindest teilweise (z.B. Frankreich für die UNESCO in Paris) für die Kosten der Gebäudesanierungen aufkommen.

Zwar betrachtet es der Bundesrat, in Übereinstimmung mit seiner diesbezüglich konstanten Politik, als Sache jeder einzelnen Organisation, die Kosten für Unterhalt und Renovation ihrer Gebäude bereitzustellen. Trotzdem prüft er selbstverständlich auch künftig, in Übereinstimmung mit seiner in der Vergangenheit befolgten Praxis, ob die Schweiz, zusammen mit anderen Mitgliedstaaten, einen Beitrag an Renovationskosten leisten soll. Dies war zum Beispiel bei den Renovationsarbeiten am Sitz der UNO in New York der Fall. Zusammen beobachten die zuständigen Stellen des EDA und des EFD die Situation genau, und sie stellen laufend sicher, dass die Gaststaatpolitik der Schweiz den Bedürfnissen des internationalen Genf angemessen Rechnung trägt.

Präsenz der Schweiz im System der Vereinten Nationen Seit ihrem Beitritt im Jahr 2002 ist die Schweiz bestrebt, durch die Einsitznahme in den Repräsentativorganen sowie die Anstellung von Schweizerinnen und Schweizern im UNO-Sekretariat institutionell auf allen Ebenen des UNO-Systems präsent zu sein.

Schweizer Vertretung in den Repräsentativorganen des UNO-Systems Damit die ständigen Vertretungen der Schweiz in New York, Genf, Wien und Rom ihren Beitrag zur laufenden Tätigkeit der UNO überhaupt leisten können, muss sichergestellt werden, dass die Schweiz nicht nur im Plenarorgan (Generalversammlung) Einsitz nimmt, sondern auch in den verschiedenen Repräsentativorganen der Kernorganisation und der Sonderorganisationen des UNO-Systems vertreten ist.

Nachfolgend eine Übersicht über die gegenwärtige Präsenz und die Kandidaturen der Schweiz.
Schweizer Präsidium der UNO-Generalversammlung: Wie eingangs dieses Kapitels erwähnt, präsidiert gegenwärtig Alt Bundesrat Joseph Deiss die UNO-Generalversammlung. Damit besetzt ein Schweizer eines der prestigeträchtigsten und anspruchvollsten Ämter im UNO-System.

Mögliche Kandidatur für den UNO Sicherheitsrat: Gestützt auf einen Bericht des EDA haben die Aussenpolitischen Kommissionen (APK) 2009 eine erste Aussprache über eine eventuelle mittelfristige Kandidatur der Schweiz für den UNOSicherheitsrat geführt. Um die Diskussion in diesem Jahr fortzusetzen, hat das EDA einen zweiten Bericht, der vom Bundesrat am 14. April 2010 zur Kenntnis genommen wurde, an die APK überwiesen. Der Bericht stellt die Option einer Kandidatur 2022 (für eine Einsitznahme im Sicherheitsrat 2023­24) zur Diskussion. Für diesen Zeitpunkt liegen noch keine anderen Kandidaturen von anderen Ländern der westlichen Regionalgruppe vor. Er enthält ferner eine Darstellung der aktuellen Erfahrungen Österreichs als nicht ständiges Mitglied des Sicherheitsrats und verdeutlicht an 1103

diesem Beispiel, dass auch neutrale Länder in der Lage sind, den sich ihnen im Sicherheitsrat bietenden Handlungsspielraum zu nutzen. Mit einer Mitgliedschaft würde die Schweiz ihre Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung auf globaler Ebene zeigen und somit ihre Stellung in der Welt stärken. Eine Einsitznahme im Sicherheitsrat böte der Schweiz zudem eine Plattform, ihre Interessen im Bereich der Friedensförderung wahrzunehmen und dabei ihre Rolle als ehrlicher Makler und Brückenbauer zu unterstreichen. Der Zugang zu internationalen Kontakten und der Ausbau und die Pflege von Netzwerken würden erleichtert.

Weitere Vertretungen und Kandidaturen: Während der 64. Generalversammlung präsidierte die Schweiz den Fünften Ausschuss der Generalversammlung, der sich mit Verwaltungs- und Budgetfragen befasst. Im November 2009 hat die UNOGeneralversammlung die Schweiz für ein vierjähriges Mandat in den Verwaltungsrat des Umweltprogramms der Vereinten Nationen gewählt, und im Mai 2010 ist die Schweiz zum zweiten Mal für die Dauer eines dreijährigen Mandates in den Menschenrechtsrat gewählt worden, nachdem sie diesem Gremium bereits zwischen 2006 und 2009 angehört hatte. 2011 und 2012 wird die Schweiz überdies erstmals im Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) Einsitz nehmen und damit innerhalb eines der Hauptorgane der Vereinten Nationen verstärkt Einfluss nehmen können. Im Oktober 2009 ist die Schweiz für eine vierjährige Mandatsdauer in das Komitee für das Erbe der Welt der UNESCO gewählt worden. Weitere Kandidaturen sind angemeldet für die Einsitznahme im Verwaltungsrat der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) von 2011­2014, für ein Fachkommissionspräsidium bei der Weltorganisation für Meteorologie und für die Erneuerung der Ratsmitgliedschaft bei der Internationalen Fernmeldeunion.

Präsenz von Schweizerinnen und Schweizer im UNO-Sekretariat Mit der Bereitstellung und Förderung von qualifiziertem Schweizer Personal verleiht die Schweiz nicht nur ihrem Engagement erhöhte Sichtbarkeit, sondern sie kommt damit auch der Nachfrage des UNO-Sekretariats nach leistungsfähigen und fachlich geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten nach. Jährlich gehen beim EDA 200 bis 300 Gesuche von Schweizerinnen und Schweizern ein, die um Unterstützung für ihre Kandidatur bei einer internationalen Organisation nachsuchen.
Im Jahre 2009 waren im ganzen UNO-System über 90 000 Personen beschäftigt.

Der Anteil von Schweizerinnen und Schweizer machte dabei rund 1 % aus. Im Sekretariat der UNO waren am 30. Juni 2009 knapp 40 000 Personen angestellt, wovon 10 000 mit akademischer Ausbildung, von denen 27 % einem bindenden geografischen Verteilschlüssel unterliegen.24 Der Schweizer Soll-Bestand für diese Stellen liegt zwischen 24 und 34 Personen. Im Jahr 2009 wurde dieser mit 32 besetzten Stellen gut ausgeschöpft. Die Vertretung der Frauen unter den schweizerischen Angestellten liegt bei Stellen mit geografischem Verteilerschlüssel bei 75 % und bei akademischen Stellen insgesamt bei 66 % und damit weit über dem Durchschnitt des Generalsekretariates (45 % bei geografischen, resp. 40 % bei sämtlichen akademischen Stellen). Eine Übersicht über den Personalbestand gibt nachfolgende Tabelle.

24

Der Verteilschlüssel für die geografische Verteilerquote setzt sich aus drei Faktoren zusammen. Zu 40 % wird die Mitgliedschaft eines Staates bei der UNO gewertet, zu 55 % die Höhe der Beitragszahlungen und zu 5 % die Bevölkerungszahl eines Mitgliedstaates.

1104

Präsenz der Schweiz im Sekretariat der Vereinten Nationen (30. Juni 2009)25 Sekretariat der UNO

Personal insgesamt akademisches Personal Personal dem geografischen Verteilschlüssel unterliegend

Personalbestand

davon Frauen

Anteil CH

Anteil (CH Frauen von CH)

Abs.

%

Abs.

%

Abs.

%

39 978 10 148

13 440 4 101

33 40

312 125

0.78 1.23

166 82

53.2 65.6

2 809

1 260

45

32

1.14

24

75

Partnerschaft mit der Schweizer Zivilgesellschaft und der UNO Die Schweiz ist überzeugt, dass eine dynamische, aktive und partizipative Zivilgesellschaft für ein gutes Funktionieren der UNO sehr wichtig ist. Eine intensivere Partnerschaft mit der Zivilgesellschaft im Allgemeinen und ihren dynamischsten Kreisen im Besonderen ist sowohl der Qualität als auch der Legitimität der Arbeit der UNO förderlich. In den vergangenen Jahren hat das EDA Beziehungen mit Schlüsselakteuren aus der Zivilgesellschaft geknüpft. Auf diese kann die Schweiz heute für Anregungen zur Politik der Schweiz in der UNO zählen.

Ein Schwerpunkt lag dabei auf dem Aufbau von Beziehungen mit der Jugend, den Hochschulen und der «Gesellschaft Schweiz-UNO», einem langjährigen Partner, der insbesondere als Bindeglied zu den Akteuren der Zivilgesellschaft im Allgemeinen eine wichtige Rolle spielt. Ziel im kommenden Jahr ist es, die Beziehungen zu diesen drei Schlüsselakteuren zu vertiefen und sie zu bewegen, die grossen Herausforderungen verstärkt zu thematisieren, die im 65. Jahr des Bestehens der UNO und in der Zukunft auf die Schweiz warten. Ein weiteres Ziel besteht darin, den Austausch zwischen den verschiedenen Akteuren der Zivilgesellschaft zu intensivieren.

Die ersten Kontakte mit den Hochschulen wurden Ende 2007 geknüpft. Diese Partnerschaft wird durch die Unterstützung eines neuen Projekts, des «Swiss Academic Network on the UN», vertieft werden. Das Netzwerk soll den Austausch zwischen den Schweizer Hochschulen und Kontakte untereinander und zum EDA fördern.

Die Jugend bleibt ein besonders dynamischer und sichtbarer Partner der schweizerischen Zivilgesellschaft. 2008 und 2009 lancierte die Jugend zahlreiche Initiativen zu Themen im Zusammenhang mit der UNO. Noch nie zuvor haben sich derart viele Gruppen, Vereine und Einzelpersonen für die Organisation von Konferenzen, Seminaren und Tagungen über die UNO eingesetzt. Das Schweizer Jugendnetzwerk für die UNO (JUNES), ein eigentlicher Dachverband studentischer Vereinigungen, verstand es, die Energien zu bündeln und den Austausch zwischen seinen Mitgliedern zu beleben. Besonders geschätzt werden von den Studierenden die regelmässig an Schweizer Hochschulen organisierten Simulationen der Vereinten Nationen, mit denen es besonders gut gelingt, die Jugend für multilaterale
Verhandlungen und die globalen Herausforderungen zu sensibilisieren. 2009 organisierte die UNO ihre erste «offizielle» Simulation, das Global Model United Nations (Global MUN). Genf wurde als Gastgeber für diese erste Ausgabe gewählt. Im Palais des Nations trafen sich dabei rund 370 junge Studierende aus der ganzen Welt.

25

Vgl. Resolution der UN-Generalversammlung A/64/352, 15. Sep. 2009.

1105

Schlussfolgerungen Die Schweiz gilt in der UNO als unabhängiges und engagiertes Land, das eine eigenständige, berechenbare und glaubwürdige Politik verfolgt. Wenn die Schweiz ein aktiver und innovativer Partner in einer Organisation sein will, die mit grossen globalen Herausforderungen konfrontiert ist, muss sie regelmässig ihre Rolle definieren, thematische Schwerpunkte festlegen und die zur Verfügung stehenden Mittel überprüfen, damit sie ihre Handlungsfähigkeit stärken und ihre Interessen wahren kann. Für ein Land wie die Schweiz wäre es wünschbar, dass thematische Fragen von globaler Tragweite in der UNO zur Sprache gebracht werden, wo sie dieselben Rechte hat wie alle anderen Mitgliedsländer. Wie andere Länder, die sich nicht einer Gruppendisziplin unterwerfen, ist das politische Gewicht der Schweiz bei wichtigen Entscheidungen in der UNO beschränkt. Diese Unabhängigkeit erlaubt es ihr dafür, ihren Handlungsspielraum zu nutzen, ihre Position unverfälschter einzubringen und gegebenenfalls als Vermittlerin aufzutreten.

3.1.2

Euro-Atlantischer Partnerschaftsrat und Partnerschaft für den Frieden

Trends und Herausforderungen Im Hinblick auf die internationale Sicherheit ist die Schweiz nicht nur in der UNO und der OSZE vertreten, sondern seit 1996 auch in der Partnerschaft für den Frieden (PfP) und seit 1997 im Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat (EAPC). Diese Institutionen wurden von der NATO 1994 bzw. 1997 gegründet. Ziel war es, alle Staaten in der euro-atlantischen Region in eine praktische, individuelle Zusammenarbeit und einen intensiven Dialog zu Sicherheitsthemen einzubeziehen. Die euro-atlantische Sicherheitslandschaft hat in den letzten Jahren grundlegende Änderungen erfahren.

Zuerst stieg die Zahl der Mitgliedsländer im Zuge der Erweiterung auf Staaten in der baltischen Region und dem Balkan von 16 Mitgliedern im Jahr 1991 auf 28 Mitglieder im Jahr 2009. Ausserdem ist die NATO zwar nach wie vor ein Militärbündnis, sie ist aber auch zu einer euro-atlantischen Sicherheitsorganisation geworden. Sie beschäftigt sich mit Themen, die von der Verteidigung vor Computerangriffen (Cyber Defence) über einen globalen Ansatz für internationale Friedenseinsätze bis zur Energiesicherheit reichen. Abgesehen von EAPC und PfP ist die NATO auch weitere Partnerschaften mit Staaten aus der Mittelmeerregion (Mittelmeerdialog) und aus der Golfregion (Istanbuler Kooperationsinitiative) eingegangen. Andere, weiter entfernte Länder wie Australien, Japan oder Neuseeland sind vor allem aufgrund ihrer Beiträge zu NATO-Einsätzen Partner geworden. Ausserdem misst die NATO internationalen Einsätzen zur Friedenssicherung einen hohen Stellenwert ein.

Stark engagiert ist sie dabei zum Beispiel in Afghanistan (über die Internationale Sicherheitstruppe in Afghanistan, IFAS). Mit gezielten Beiträgen und Aktivitäten im Rahmen des EAPC und der PfP unterhält die Schweiz eine Beziehung mit dem Nordatlantischen Bündnis, von der beide Seiten profitieren.

Aktivitäten der Schweiz Für die Schweiz bilden EAPC und PfP einen Hauptpfeiler der europäischen Sicherheitsarchitektur und ein wichtiges sicherheitspolitisches Instrument. In diesem Kontext stützt sich die Schweiz auf den Grundsatz, dass Stabilität und Sicherheit im euro-atlantischen Raum nur durch Zusammenarbeit sichergestellt werden können.

1106

Für die Schweiz sind der EAPC und die PfP einerseits eine wichtige Plattform, um sich an den Bemühungen um kollektive Sicherheit zu beteiligen, andererseits ein Instrument für den militärischen Wissens- und Erfahrungsaustausch. Die Partnerschaft beruht auf den Grundprinzipien der Freiwilligkeit, beinhaltet keinerlei rechtliche Verpflichtungen zur Teilnahme an bestimmten Aktivitäten und ist daher mit der schweizerischen Neutralität vollständig vereinbar.

Im Rahmen von EAPC und PfP engagiert sich die Schweiz in Bereichen wie Verbesserung der Fähigkeit zur militärischen Zusammenarbeit, zivile Notfallplanung und Katastrophenhilfe oder Weiterverbreitung des humanitären Völkerrechts und der demokratischen Kontrolle der Streitkräfte. Die Beteiligung an EAPC und PfP verschafft der Schweiz auch einen direkten und institutionellen Zugang zu den Institutionen der NATO und auch zu den Vertreterinnen und Vertretern der NATOMitgliedsländer, die für die europäische Sicherheit eine zentrale Rolle spielen (USA, Frankreich, Grossbritannien, Deutschland).

In der PfP bietet die Schweiz Ausbildungen für andere Mitgliedsstaaten an, zudem beteiligt sie sich an Kursen und Übungen der NATO, die den PfP-Mitgliedsländern offenstehen. Die Teilnahme an solchen Aktivitäten ermöglicht es der Schweiz, ihre Fähigkeiten im internationalen Krisenmanagement im Hinblick auf die Teilnahme an Einsätzen zur Friedensförderung zu verbessern. Ein besonderes Augenmerk soll auf neue sicherheitspolitische Bedrohungen im europäischen und internationalen Kontext gerichtet werden, da sich diese durch die Folgen der Wirtschaftskrise noch verschärfen. Beispiele dafür sind die Sicherheit der Energieversorgung, Terrorismus, fragile oder zerfallende Staaten oder «Cyber Defence». Die Schweiz beteiligt sich an den Diskussionen über diese Fragen im Rahmen des EAPC und der Neudefinition des NATO-Strategiekonzepts, das am NATO-Gipfel in Lissabon im November 2010 verabschiedet wird.

Kurz- und mittelfristige Perspektiven Die NATO zählt im Bereich der friedensunterstützenden Operationen (die für die Schweiz ein UNO- oder OSZE-Mandat voraussetzen) mehr und mehr auf das Engagement der Partner in Form militärischer oder ziviler Einsätze vor Ort. Deshalb werden die Beziehungen der Schweiz zur NATO zunehmend von der Art und dem Ausmass des schweizerischen
Beitrags an die Allianz abhängen. Die Schweiz wird auf der Grundlage ihrer aussen- und sicherheitspolitischen Interessen auch künftig jede Beteiligung an NATO-Operationen prüfen. Zurzeit sind 22 von 50 Mitglieder des Euro-Atlantischen Partnerschaftsrats Nicht-NATO-Verbündete, darunter die Schweiz. Die Zukunft dieser sicherheitspolitischen Institution wird massgeblich davon abhängen, welche Bedeutung ihr Partner und Verbündete künftig beimessen wollen. Angesichts der laufenden Reformen im Zusammenhang mit den Strukturen der verschiedenen NATO-Partnerschaften wird sich die Schweiz auch in Zukunft dafür einsetzen, dass der EAPC und die PfP Beispiele für eine praktische Zusammenarbeit und einen Dialog über Sicherheitsfragen für alle Partnerschaften bleiben.

1107

3.1.3

Frankophonie

2010 feiert die Internationale Organisation der Frankophonie (Organisation internationale de la Francophonie, OIF) ihr 40-jähriges Bestehen. In diesem Jubiläumsjahr ist die Schweiz Gastgeberin der 13. Konferenz der Staats- und Regierungschefs von Ländern, in denen französisch gesprochen wird. Die Konferenz ist als «Frankophoniegipfel» bekannt und findet alle zwei Jahre statt. Ziel ist es, die grundsätzliche Ausrichtung der OIF festzulegen.

Die OIF engagiert sich mit ihren 56 Mitgliedstaaten und -regierungen sowie den 14 Ländern, die ihr als Beobachter angehören, vor allem auf internationaler Ebene für die Förderung von Frieden, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie für die kulturelle und sprachliche Vielfalt. Ebenfalls aktiv ist sie in den Bereichen Grundbildung, höhere Bildung und nachhaltige Entwicklung.

Neben ihrer zwischenstaatlichen Zusammenarbeit stützt sich die OIF bei ihrer Tätigkeit hauptsächlich auf vier spezialisierte Institutionen. Es sind dies die «Agence universitaire de la Francophonie (AUF)», der internationale Fernsehsender TV5 Monde, die «Association internationale des maires francophones» und die «Université Senghor». Konsultativorgan der OIF ist die Parlamentarische Versammlung (Assemblée parlementaire de la Francophonie), die zusammen mit den erwähnten Institutionen den Kern eines weit verzweigten Netzes von Vereinigungen bildet.

Die Schweiz wirkt in allen Gremien der OIF und bei den Arbeiten aller Institutionen mit. 1984 beteiligte sich die Schweiz namentlich an der Gründung des internationalen französischsprachigen Fernsehsenders TV5 Monde, in dessen Verwaltungsrat das Schweizer Fernsehen vertreten ist. Alle Westschweizer Universitäten, die Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne (ETHL), die Fachhochschule Westschweiz sowie verschiedene weitere Institute sind Mitglied der «Agence universitaire de la Francophonie». Lausanne und Genf sind in der «Association internationale des maires francophones» vertreten. Die eidgenössischen Räte sind zudem durch eine Delegation in der Parlamentarischen Versammlung der OIF vertreten.

Die OIF vertritt mehr als ein Drittel der UNO-Mitgliedsländer und versucht, sich als wichtige Akteurin der internationalen Beziehungen zu positionieren. Dies gilt insbesondere für die Bewältigung und Beilegung von Konflikten im französischsprachigen Afrika und für die Mobilisierung der Mitgliedsstaaten im Hinblick auf 1108

die wichtigsten globalen Herausforderungen. Die OIF bietet der Schweiz, der viertgrössten Geldgeberin nach Frankreich, Kanada und der Französischen Gemeinschaft Belgiens, Möglichkeiten zur Einflussnahme. Diese nutzt sie, um ihre aussenpolitischen Ziele zu verwirklichen, etwa die Förderung der Menschenrechte, der Demokratie, der menschlichen Sicherheit und der Konfliktprävention, oder um ihre Initiativen und Kandidaturen auf internationaler Ebene erfolgreich durchzusetzen.

Mit der Präsidentschaft der OIF bis 2012 und insbesondere als Gastgeberin des 13. Frankophoniegipfels konnte sich die Schweiz ihren französischsprachigen Partnern als Land präsentieren, das sich für die Frankophonie einsetzt und deren Anliegen unterstützt. Dieser Gipfel, der sich den künftigen Herausforderungen und Visionen der OIF widmet, ermöglichte es der Schweiz zudem, substanziell zum künftigen Kurs beizutragen, den die Staats- und Regierungschefs mit der OIF einschlagen.

Hauptthemen in diesem Zusammenhang sind die Stellung der OIF in der globalen Gouvernanz, die Haltung der OIF gegenüber Herausforderungen wie Nahrungssicherheit, Klimawandel und Biodiversität und der Stellenwert des Französischen und der Bildung angesichts von Herausforderungen wie Vielfalt und Innovation.

3.1.4

Aussereuropäische regionale Zusammenschlüsse

Die regionalen Zusammenschlüsse in Afrika, Amerika und Asien haben in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen. Die Schweiz hat bei den wichtigsten dieser Organisationen einen Beobachterstatus inne. In der Folge sei diese Zusammenarbeit kurz dargestellt.

Afrikanische Union (AU) Als Nachfolgerin der Organisation für Afrikanische Einheit hat sich die Afrikanische Union (AU) seit ihrer Gründung 2002 stark weiterentwickelt und ihre Visibilität deutlich erhöht. Die AU verfügt bei den afrikanischen Ländern über ein beträchtliches Prestige und moralisches Gewicht und stellt einen wichtigen Bezugspunkt für die Aussenpolitik der Mitgliedstaaten dar, etwa bei der Koordination von afrikanischen Positionen auf multilateraler Ebene. Sie agiert auf dem Kontinent als wesentlicher friedenspolitischer Akteur und ist in praktisch allen entwicklungspolitischen Themen, wie zum Beispiel Armutsbekämpfung, aber auch Migration, Handel oder Energie, involviert.

Die AU umfasst mit Ausnahme Marokkos alle 53 afrikanischen Staaten. Sie versteht sich als Organisation der panafrikanischen Integration und will als solche die Probleme des Kontinents im Innern lösen und dessen Stellung gegen aussen stärken. Die Organisation zielt auf eine nachhaltige wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung ab mit dem Endziel einer politischen und wirtschaftlichen Einheit des afrikanischen Kontinents. Dabei sollen Frieden, Sicherheit und Stabilität, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und gute Regierungsführung sowie die Menschenrechte gefördert und eine gemeinsame Verteidigungs-, Aussen- und Kommunikationspolitik angestrebt werden.

Die Schweiz hat 2006 als Beobachterin formelle Beziehungen zur AU aufgenommen. Von besonderem Interesse für die Schweiz sind dabei die Aktivitäten der AU in den Bereichen Demokratie- und Friedensförderung, Entwicklungspolitik und humanitäre Hilfe, gute Regierungsführung sowie Menschenrechte. Die Zusammenarbeit fand bisher eher punktuell statt, etwa durch die Unterstützung von Kapazitäten 1109

im Bereich Frühwarnung und Prävention von Konflikten. Mit der zunehmenden Relevanz der AU als regionaler Akteur liegt es im Interesse der Schweiz, ihre Beziehungen zur AU zu vertiefen und nach weiteren Zusammenarbeitsformen zu suchen.

Organisation amerikanischer Staaten (OAS) Als ältestes institutionalisiertes Forum für multilateralen Dialog und Kooperation auf dem amerikanischen Doppelkontinent nimmt die OAS eine wichtige Brückenfunktion wahr zwischen Nord und Süd, da sie praktisch alle Staaten des Kontinents umfasst. Vorrangige Ziele der Organisation sind die Stärkung von Demokratie und Menschenrechten sowie die Förderung von Frieden und Sicherheit. Insbesondere die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte sowie der gleichnamige Gerichtshof bilden wichtige Instrumente zur Einhaltung und Durchsetzung der Menschenrechte auf dem Kontinent.

Nachdem die kubanische Regierung 1962 aus der Organisation ausgeschlossen wurde, hat die Generalversammlung 2009 Kuba wieder zur Teilnahme eingeladen.

Indessen wurde die Mitgliedschaft von Honduras nach dem Militärputsch gegen den demokratisch legitimierten Präsidenten vom Juni 2009 suspendiert.

Für die Schweiz, die seit 1978 bei der OAS den Beobachterstatus hat, ist die Organisation eine ideale Plattform zur Beobachtung des makropolitischen Geschehens auf dem amerikanischen Kontinent. Mit geringem Aufwand kann das politische Kontaktnetz der Schweiz mit den Mitgliedsstaaten der Organisation entwickelt und gepflegt werden.

Auf operationeller Ebene unterstützt die Schweiz regelmässig Wahlbeobachtungsmissionen der OAS und nimmt in einzelnen Fällen mit eigenen Wahlbeobachtern daran teil. 2009 und 2010 beteiligte sie sich zudem an Projekten zur Förderung der Meinungsäusserungsfreiheit in Lateinamerika. Die unterstützten Projekte erweisen sich als ausgezeichnete Instrumente, um die Visibilität der Schweiz in ihren Gaststaaten zu fördern und die Schweiz als attraktiven Partner zu positionieren.

Zusätzlich zur OAS hat sich namentlich in Lateinamerika eine Integrationsdynamik mit unterschiedlichen Zielsetzungen und Konstellationen entwickelt. Im Wirtschaftsbereich ist beispielsweise der seit 1991 existierende MERCOSUR (Mercado Común del Sur) zu nennen, bei welchem es sich um einen Binnenmarkt mit 240 Millionen Menschen handelt und dessen Ziel es ist, das
wirtschaftliche Entwicklungspotenzial seiner Mitgliedstaaten zu fördern. Im Rahmen der EFTA führt die Schweiz einen regelmässigen Dialog mit den Ländern des MERCOSUR zur Förderung des gegenseitigen wirtschaftlichen Austausches. Grundsätzlich hat die Schweiz ein Interesse daran, die regionalen Integrationsbestrebungen in Lateinamerika eng zu verfolgen und Zusammenarbeitsmöglichkeiten zu identifizieren, die positive Auswirkung auf die bilateralen Beziehungen zu den Mitgliedstaaten dieser Organisationen haben.

ASEAN und Organisationen im Raum Asien/Ozeanien Zur ASEAN, deren Charta am 15. Dezember 2008 in Kraft getreten ist, wurden die Beziehungen im September 2009 mit der Akkreditierung eines Botschafters der Schweiz beim Sekretariat der Organisation formalisiert. Die ASEAN+3 (Japan, China, Südkorea) und der Dialog mit der Europäischen Union (Asia Europe Meeting, ASEM) sind interessante Foren, und die Schweiz wird prüfen, ob ein Engage1110

ment im ASEM in Frage kommt. Die Wirtschaftskrise 2008­2009 hat gezeigt, dass auch die aus der südostasiatischen Wirtschaftskrise Ende der 1990er-Jahre entstandene Chiang-Mai-Initiative einen sinnvollen Mechanismus darstellt. Andere Plattformen wie die APEC (Asia Pacific Economic Cooperation), der EAS (East Asian Summit), die SAARC (South Asia Association for Regional Cooperation) oder auch die SCO (Shanghai Cooperation Organisation) zeugen von einem politischen und wirtschaftlichen Multilateralismus, der ein grösseres Engagement der Schweiz fordert. In diesem Zusammenhang sind folgende Aktivitäten zu nennen: das multilaterale Engagement der Schweiz (Asiatische Entwicklungsbank, Consultative Group on International Agricultural Research, CGIAR), die Instrumente der Süd-SüdZusammenarbeit oder die Präsenz der Schweiz auf der koreanischen Halbinsel im Rahmen der Überwachungskommission der neutralen Nationen (NNSC) gemäss dem Waffenstillstandsabkommen von 1953.

Der asiatisch-pazifische Raum hat gezeigt, dass er bei der Bewältigung wirtschaftlicher Probleme eine regulierende Rolle spielen kann. Bei der Suche nach nachhaltigen Lösungen führt an dieser Region mit ihren sechs G-20-Mitgliedern (Japan, China, Indien, Südkorea, Australien, Indonesien) sowie seinen immensen Staatsfonds und Devisenreserven kein Weg vorbei Die privilegierten Beziehungen der Schweiz zu diesen Akteuren macht es möglich, die schweizerischen wirtschaftlichen Interessen im asiatisch-pazifischen Raum einzubringen, ebenso wie die schweizerischen Prioritäten im Bereich der Armutsbekämpfung und beim verantwortungsvollen Umgang mit natürlichen Ressourcen.

Für die Schweiz ist ihr Beobachterstatus in verschiedenen regionalen Organisationen ein wichtiges Instrument, um am Puls von Entwicklungen in den jeweiligen Weltregionen zu bleiben. Er verschafft zudem eine erhöhte Visibilität bei den Mitgliedstaaten dieser Foren, was dem bilateralen Kontaktnetz und den Beziehungen mit diesen Ländern zugut kommt.

3.1.5

Organisation der Islamischen Konferenz (OIC)

Der 1969 gegründeten Organisation de la Conférence islamique (OIC), deren Hauptmandat in der Stärkung der islamischen Solidarität besteht, gehören heute 57 Mitgliedstaaten an. Die OIC ist keine religiös-theologische Instanz, sondern das politische Organ der islamischen Staaten. Seit 2005 hat die OIC ihre Beziehungen zu internationalen Instanzen (UNO, Menschenrechtsrat, EU) verstärkt. Als politische Interessenvertreterin der islamischen Welt widmet sie sich neben regionalen Konflikten und Problemen, wie beispielsweise dem israelisch-palästinensischen Konflikt zunehmend der Frage der Islamophobie. Sie publiziert regelmässig einen «Islamophobie-Monitor» und spricht dieses Thema als Beobachterin in diversen multilateralen Organen, zum Beispiel im UNO-Menschenrechtsrat an. Zentrale Themen sind für die OIC zudem die Situation der Palästinenser sowie der Status von Jerusalem. Die OIC führt mit Hilfe ihrer Sub-Organe eigene Hilfslieferungen in das Palästinensische Gebiet durch.

Im Sommer 2007 hat die Schweiz einen regelmässigen Dialog mit der OIC aufgenommen. Dieser ermöglicht Konsultationen über Themen von gemeinsamem Interesse und trägt dazu bei, das schweizerische Beziehungsnetz in der islamischen Welt zu stärken. Im Zusammenhang mit der Minarett-Initiative konnte durch diesen Kanal

1111

Informationsarbeit geleistet und das System der direkten Demokratie in der Schweiz erklärt werden.

Nach der Annahme der Minarett-Initiative hat die OIC erwartungsgemäss eine kritischere Haltung gegenüber der Schweiz eingenommen. Die Organisation ist vor diesem Hintergrund in erster Linie an den Rechten der Muslime in der Schweiz interessiert und setzt dieses Thema entsprechend auf die Tagesordnung des regelmässigen Dialoges. Es liegt im Interesse der Schweiz, weiterhin einen aktiven und offenen Dialog mit der OIC zu führen und dabei auch der Kritik hinsichtlich des Minarett-Verbots im Gespräch entgegenzutreten. Andere Themen von gegenseitigem Interesse sind der UNO-Menschenrechtsrat und der «Durban Überprüfungsprozess gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit». Divergenzen bestehen bei Fragen zur Meinungsäusserungsfreiheit und zur religiösen Diffamierung.

3.1.6

Internationale Strafjustizorgane

Globale Trends Seit den 1990er-Jahren wird der Kampf gegen die Straflosigkeit schwerster Verbrechen entschiedener geführt. Das Völkerrecht verlangt, dass Personen, die Verbrechen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen begehen, zur Rechenschaft gezogen werden. Da es für die einzelnen Staaten jedoch schwierig und manchmal unmöglich war, nach Konflikten unabhängige und effiziente Untersuchungen durchzuführen, wurde deutlich, dass die internationale Strafjustiz bei der Bekämpfung der Straflosigkeit eine führende Rolle übernehmen muss.

Vor diesem Hintergrund wurden die internationalen Ad-hoc-Strafgerichtshöfe geschaffen: der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, ICTY) und der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (International Criminal Tribunal for Rwanda, ICTR). Diese Entwicklung führte schliesslich zehn Jahre später zur Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC). Es handelt sich dabei um die erste ständige internationale Rechtsinstanz, deren Aufgabe es ist, schwerste Verbrechen zu verfolgen.

Herausforderungen Die internationale Strafjustiz steht vor zahlreichen Herausforderungen. Sie muss ihre Rechtstätigkeit unabhängig und unparteilich in einem manchmal hoch politischen Kontext umsetzen. Sie sieht sich periodisch mit der Frage konfrontiert, welchen Beitrag sie über rein strafrechtliche Anliegen hinaus leisten kann, etwa zur Friedenserhaltung oder zur Vergangenheitsbewältigung. Die Erfahrungen mit den ad hoc Tribunalen haben gezeigt, dass die individuelle Strafverfolgung dabei nur einen ­ wenn auch wichtigen ­ Aspekt darstellt. In Teilen der Staatengemeinschaft ist zudem ein gewisser Widerwillen feststellbar, die Mechanismen der internationalen Strafjustiz anzuwenden, wenn sie friedenspolitische Bemühungen zu gefährden scheinen. Hier muss es darum gehen, nicht nur zu beweisen, dass Justiz und Frieden keine Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig bedingen.

Eine der grössten Herausforderungen für den Internationalen Strafgerichtshof (International Criminal Court, ICC) besteht in der Zusammenarbeit zwischen den Staaten, ohne die er seine Aufgaben nicht lösen und seinen Auftrag nicht voll erfüllen kann.

Die Effektivität und damit die Glaubwürdigkeit des internationalen Strafgerichtshofs 1112

steht auf dem Spiel. Bei den internationalen Ad-hoc-Strafgerichtshöfen besteht die Herausforderung angesichts der baldigen Auflösung darin, die Arbeiten zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen. Die internationale Gemeinschaft und namentlich der UNO-Sicherheitsrat sieht sich mit Fragen konfrontiert, die sich nach der Schliessung der Gerichte stellen werden.

Aktivitäten der Schweiz Die Schweiz ist überzeugt, dass der Kampf gegen die Straflosigkeit bei schwersten Verbrechen ein wesentlicher Faktor für die Herstellung und die Erhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit ist. Die Schweiz setzt sich deshalb seit Jahren für den Kampf gegen Straflosigkeit und für die internationale Strafgerichtsbarkeit und insbesondere den ICC ein, der zum Hauptpfeiler der internationalen Strafverfolgung geworden ist. Dieses Engagement steht im Einklang mit verwandten Anliegen der Schweiz, namentlich dem humanitären Völkerrecht und den Menschenrechten. Die internationale Strafjustiz kann hier zu einer besseren Einhaltung dieser Rechte beitragen.

Im ICC hat sich die Schweiz bei den Jahreskonferenzen der Vertragsstaaten des Römer Statuts immer aktiv an den Gesprächen und Verhandlungen beteiligt. Sie hat dieses Engagement weitergeführt und auch an der Konferenz zur Überprüfung des ICC teilgenommen, die im Juni 2010 in Kampala (Uganda) stattfand. Hauptziel der Konferenz war es, das Verbrechen der Aggression in das Statut des ICC aufzunehmen. Die Schweiz hat sich an der Seite von Brasilien, Argentinien und Kanada wesentlich an der Suche nach einer Konsenslösung beteiligt. Die Kompromissbereitschaft und die Kreativität innerhalb dieser kleinen Gruppe von Staaten hat den Weg dafür geebnet, dass eine Definition für das Verbrechen der Aggression gefunden und im ICC eine eigene Gerichtsbarkeit für dieses Verbrechen geschaffen werden konnte. 65 Jahre nach den Verurteilungen für «Verbrechen gegen den Frieden» durch die Gerichte in Nürnberg und Tokyo wurde das Verbrechen der Aggression international definiert und permanent in die Gerichtsbarkeit des ICC aufgenommen, womit der Schutz des ius contra bellum durch das internationale Strafrecht gestärkt wurde. Die Aufnahme des Verbrechens der Aggression ins Statut des ICC ist ein symbolträchtiges, historisches Ereignis auf dem Weg zur Schaffung einer «Kultur des Friedens».
An der Konferenz wurde zudem eine Resolution verabschiedet, mit der Artikel 8 des Römer Statuts geändert und die Kompetenz des Gerichtshofs auf Kriegsverbrechen ausgeweitet wurde, die darin bestehen, dass gewisse vergiftete Waffen, Geschosse, die sich im Körper des Menschen leicht flachdrücken, erstickende oder giftige Gase und ähnliche Flüssigkeiten, Stoffe oder Vorrichtungen verwendet werden. Das Statut verbietet den Einsatz dieser Waffen im Rahmen bewaffneter internationaler Konflikte bereits heute. Mit der in Kampala beschlossenen Änderung erstreckt sich das Verbot auch auf bewaffnete Konflikte, die nicht international sind.

Der Schweiz kam im Rahmen der Revisionskonferenz schliesslich eine Fazilitatorenrolle bei der Gestaltung einer Paneldiskussion zu, welche sich mit dem komplementären Verhältnisses zwischen Frieden und Justiz beschäftigte. Im Rahmen dieses Panels wurde betont, dass der Gerichtshof einen Meilenstein erreicht habe, indem es ihm gelungen ist, zwischen den beiden Zielen, Frieden und Justiz, eine positive Beziehung zu schaffen. Diese Feststellung ist bedeutsam, da nunmehr der Vorwurf, der ICC behindere durch seine Arbeit fragile Friedensprozesse, seltener formuliert werden dürfte.

1113

Perspektiven Die Konferenz in Kampala hat aufgezeigt, dass die Staatengemeinschaft auch heute noch gewillt ist, der internationalen Strafjustiz jene Aufmerksamkeit und Unterstützung zu schenken, die notwendig sind für eine effektive Beendigung der Straffreiheit.

Trotz dieser positiven Aussicht ist der Erfolg der internationalen Strafjustiz bei Weitem noch nicht gesichert. Die Schweiz wird sich auch in Zukunft für eine Stärkung derselben und insbesondere des Internationalen Strafgerichtshofs einsetzen müssen. Es ist unwahrscheinlich, dass künftig neue Ad-hoc-Tribunale nach dem Vorbild von ICTY und ICTR errichtet werden. Umso wichtiger ist es, dass sich der ICC als permanente internationale Instanz durchsetzt und dass er möglichst universell anerkannt wird. Die Schweiz unterstützt in diesem Rahmen in verschiedenen Ländern Projekte, die darauf abzielen, die universelle Ratifikation des Römer Statuts voranzutreiben und dessen nationale Umsetzung sicherzustellen. Letzteres kann in fragilen Staaten gegebenenfalls auch über die Schaffung nationaler Spezialgerichte mit internationaler Beteiligung geschehen. Was die Kapazitäten der Schweiz zur Verfolgung internationaler Verbrechen betrifft, hat das Parlament die erforderlichen Änderungen von Bundesgesetzen im Hinblick auf die Umsetzung des Römer Statuts des ICC gutgeheissen.

Nach den Ergebnissen von Kampala sollte die Schweiz als Depositarstaat der Genfer Konventionen möglichst bald die notwendigen Schritte zur Ratifizierung der Änderungen zu den Kriegsverbrechen einleiten. Ausserdem sollte sie ernsthaft prüfen, ob sie, im Hinblick auf eine Aktivierung der Zuständigkeit des ICC für das Verbrechen der Aggression ab 2017, nicht auch die Änderung in diesem Zusammenhang ratifizieren will.

3.2

Multilateralismus wirtschaftlichen Charakters

3.2.1

G-20

Nach den drei Gipfeltreffen in Washington, London und in Pittsburgh hat sich die G-20 als das führende Forum für die globale Wirtschafts- und Finanzpolitik etabliert. Zwar ist die G-20 nicht eine internationale Institution mit eigener Rechtsper1114

sönlichkeit und Sekretariat. Sie bestimmt aber immer mehr ­ und wohl noch stärker als bisher die G-8 ­ die Agenda der Fachorganisationen im Wirtschafts- und Finanzbereich. Die Diskussion um die neue globale Finanzarchitektur, die Rolle der Schwellenländer und der internationalen Organisationen wie OECD, Internationaler Währungsfonds, Weltbank und Financial Stability Board wird künftig in der G-20 geführt, die sich fortan auf der Ebene der Staatschefs mindestens jährlich treffen will. Die G-8 trifft sich ebenfalls weiterhin, so wie im Juni 2010 im Vorfeld des G-20-Gipfels von Toronto. Im Rahmen dieser kleineren Gruppe der entwickelten Länder werden voraussichtlich in Zukunft vermehrt Dossiers wie die Sicherheits-, die Aussen- und die Entwicklungspolitik thematisiert.

Am Pittsburgh-Gipfel der G-20 vom September 2009 haben die anwesenden Staatsund Regierungschefs eine erste Evaluation der koordinierten Bekämpfung der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise vorgenommen. Ein Jahr nach dem Untergang der Bank Lehman Brothers wurden die bereits beim Londoner G-20-Treffen vom April 2009 diskutierten Massnahmen zur Prävention zukünftiger Finanzkrisen weiter debattiert (darunter Eigenmittelvorschriften für Banken, Bonusregelungen, Informationsaustausch zu Steuerzwecken). Die teils düsteren Konjunkturprognosen verlangten im Herbst 2009 noch eine Weiterführung der staatlichen Stützungsprogramme.

Die G-20 initiierte zusätzlich das «Framework for Strong, Sustainable and Balanced Growth» für eine bessere Koordination der Weltwirtschaftspolitiken und für eine Reduktion der globalen Ungleichgewichte. Der IWF wurde beauftragt, den Zweck und die Qualität der finanz- und wirtschaftspolitischen Massnahmen der Mitglieder und deren Auswirkungen auf die Stabilität des internationalen Systems zu überprüfen. Das neue Selbstverständnis der G-20 als «Hauptforum für die internationale Wirtschaftskooperation» wurde auch durch die Verlautbarungen über weitere mögliche Themen wie Energiesubventionen, Klimawandel und Handelsprotektionismus verdeutlicht.

G-20-Gipfeltreffen in Toronto und Seoul Das Gipfeltreffen in Toronto vom 26. und 27. Juni 2010 war erwartungsgemäss ein Übergangstreffen ohne wesentliche Resultate. Immerhin werden sämtliche Arbeiten zur Finanzmarktregulierung weitergeführt. Aus Schweizer Sicht eher enttäuschend
war das abgeschwächte Bekenntnis zu freien Märkten.

Die G-20-Staats- und Regierungschefs haben sich am 11. Und 12. November 2010 in Seoul getroffen. Im Zentrum der Diskussionen standen abermals Fragen der Stabilisierung des internationalen Finanz- und Währungssystems, der Reformen der Finanzmarktregulierung und der Schaffung von Mechanismen zur globalen Liquiditätssicherung (sog. Financial Safety Nets). In der Seoul-Erklärung verpflichten sich die G-20 zur Verfolgung von nachhaltigen Wirtschaftspolitiken, zur Reduzierung der globalen Ungleichgewichte sowie zu Finanzsektor- und Strukturreformen, die eine Rückkehr zu starkem und nachhaltigem globalen Wachstum sicherstellen sollen. Die G-20 hat auch die Eindämmung des Protektionismus, die Unterstützung des grünen Wachstums und die Entwicklungspolitik genannt und es gibt Übereinstimmung darüber, dass die Verhandlungen über eine Liberalisierung des Welthandels (Doha-Runde) zu einem Abschluss gebracht werden sollen.

Die G-20 gaben ein klares Bekenntnis ab zur vollständigen Umsetzung der neuen, verschärften Eigenmittelrichtlinien des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht (Basel III) im vereinbarten Zeitrahmen. Die G-20 befassten sich zudem mit verschiedenen Empfehlungen und Regulierungsinitiativen des Financial Stability Board 1115

(FSB). Insbesondere unterstützen die G-20 die vom FSB vorgeschlagenen Massnahmen, um die von systemisch wichtigen Finanzinstitutionen ausgehenden Risiken einzudämmen.

G-20-Präsidentschaft von Frankreich in 2011 Frankreich wird 2011 den Doppelvorsitz der G-20 und der G-8 übernehmen und hat bereits erste Prioritäten der französischen Agenda genannt: Weiterführen der Reformen des Finanzsystems, des Framevork for Strong, Sustainable and Balanced Growth und der gegenseitigen wirtschaftspolitischen Überwachung. Frankreich will auch eine Reform des internationalen Währungssystems vorantreiben und mit der Regulierung de3r internationalen Rohwarenmärkte beginnen.

Einflussnahme der Schweiz Die Schweiz hat weder für die diversen Arbeitsgruppen oder Ministertagungen, noch für die Gipfeltreffen eine Einladung erhalten. Sie konnte sich allerdings teilweise indirekt via ihre bestehenden Kanäle zu einzelnen Ländern bzw. innerhalb internationaler Organisationen einbinden. Die Abklärungen im Vorfeld des Londoner Gipfels hatten gezeigt, dass für den Anspruch der Schweiz, kraft der Bedeutung ihres Finanzplatzes zu diesen Treffen eingeladen zu werden, zwar mancherorts ein gewisses Verständnis bestand, dass aber kaum ein politisch gewichtiges Land bereit war, sich aktiv beim Gastgeber des G-20-Treffens in London zugunsten der Schweiz einzusetzen. Vielmehr herrschte die Auffassung vor, Europa sei in der G-20 bereits übervertreten.

Der Bundesrat hat vor diesem Hintergrund im Oktober 2009 seine bisherige Haltung gegenüber dieser Staatengruppe einer Neubeurteilung unterzogen und eine interdepartementale Arbeitsgruppe (EDA, EFD, EVD) eingesetzt, die verschiedene Optionen der Zusammenarbeit mit der G-20 prüfte. Die Arbeitsgruppe steht 2010 unter der Leitung des Staatssekretariats für internationale Finanzfragen und 2011 unter der Leitung des Staatssekretariats für Wirtschaft. Sie hat dem Bundesrat Ende Februar 2010 einen Vorschlag zum weiteren Vorgehen unterbreitet. Seither koordiniert sie die G-20-Politik der Schweiz durch eine Verstärkung der schweizerischen Präsenz in internationalen Organisationen und anderen Foren, durch die Forderung nach einem unmittelberen Einschluss in die Arbeiten der G-20 und durch die Bekanntgabe der schweizerischen Standpunkte zu den jeweils aktuellen Traktanden der Gipfeltreffen an den
G-20-Vorsitz.

Obschon die Schweiz bisher nicht an den Treffen der G-20 teilgenommen hat, ist sie von den Entscheidungen dieser Gruppe direkt betroffen. Als siebtwichtigster Finanzplatz der Welt gehört sie auch zu den Staaten, die beim derzeitigen Schwerpunktthema der G-20, der internationalen Finanzmarkpolitik, am meisten Erfahrung aufweisen. Dank diesem Know-how kann die Schweiz auch ihr Mitspracherecht in den die G-20-Gipfel vorbereitenden Gremien wie Bretton-Woods-Institutionen, OECD, Financial Stability Board (FSB), Basler Bankenausschuss oder Financial Action Task Force on Money Laundering und im Global Forum on Transparency and Exchange of Information optimal nutzen. Als Mitglied dieser Gremien hat die Schweiz aktiv an der Erarbeitung von Massnahmen mitgewirkt, welche die G-20 im vergangenen Jahr verabschiedet hat.

Die Finanzkrise hat die Notwendigkeit einer wirksameren und zielgerichteteren Regulierung des Finanzsektors deutlich gemacht. Diese Regulierung ist in einer globalisierten Welt durch die internationalen Organisationen zu koordinieren. Dabei 1116

kann die G-20 eine nützliche Rolle spielen. Fragen zu deren Legitimität dürfen dabei jedoch nicht ausgeblendet werden. Die G-20 kann einerseits dank ihrer schlanken Struktur schnell auf neue Herausforderungen reagieren und dabei das Fachwissen der zuständigen internationalen Institutionen gezielt für ihre Ziele und Interessen einsetzen. Der damit einhergehende Effizienzgewinn darf anderseits aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Positionen kleinerer Staaten ­ insbesondere von solchen mit systemisch wichtigen Finanzzentren sowie von Entwicklungsländern ­ in der G-20 untervertreten sind und aus diesem Grund ein befriedigender Mechanismus für eine Zusammenarbeit mit den bestehenden, repräsentativen internationalen Institutionen gefunden werden muss.

3.2.2

Financial Stability Board

Das Financial Stability Board (FSB) hat sich in der Finanzmarktkrise zu einem Hauptakteur in der internationalen Finanzmarktregulierung entwickelt. Es versteht sich als Koordinator von spezialisierten Standardsetzungsorganisationen in diversen Teilgebieten (Banken-, Versicherungs- und Wertpapieraufsichtsbehörden, Buchhaltungs-, Revisionsstandards, und so weiter) und ist zudem durch eigene Arbeiten selber in der Standardsetzung tätig. Beispiele dafür sind die schon im November 2008 erlassenen Richtlinien über die Vergütungssysteme sowie Arbeiten zum Informationsaustausch zwischen Aufsichtsbehörden, zur Eigenmittel- und Liquiditätsausstattung von Finanzinstituten und zur Limitierung des «Too-big-to-fail»Problems, also der Risiken, die von systemrelevanten Finanzinstituten ausgehen.

Die Stellung des FSB ist im vergangenen Jahr durch einen Anstoss der G-20 deutlich aufgewertet worden, und zwar auch auf institutioneller Ebene. Das vormalige, 1999 von der G-7 lancierte Financial Stability Forum hat zusätzliche Mitglieder (besonders wichtige Schwellenländer), ein erweitertes Mandat und ein verstärktes Sekretariat erhalten und ist in dieser neuen Form im April 2009 in das Financial Stability Board übergeführt worden. Mitglieder sind 24 Länder, die wichtigsten internationalen Finanzinstitutionen und Standardsetzungsorganisationen. Die Vertretung ist auf die Grösse der Volkswirtschaften und Finanzplätze sowie die Finanzstabilität abgestimmt. Die wichtigsten Länder verfügen über eine Dreifachvertretung (Zentralbank, Finanzministerium und Finanzaufsicht), die übrigen Länder eine Doppel- oder Einfachvertretung. Die Schweiz ist im FSB durch die Nationalbank und das Finanzdepartement vertreten.

Neben dem eher technischen Bereich der Standardsetzung umfasst das Mandat des FSB neu auch die Überwachung der Einhaltung der internationalen Empfehlungen durch die Staatengemeinschaft. In Belangen, die die Mitgliedstaaten betreffen, wurde ein Prozess zur gegenseitigen Überprüfung mittels eines «Peer-Reviews» eingeleitet. Die Schweiz wird 2011 überprüft. Sie leitete 2010 den «Peer-Reviews» Spaniens. In einem parallelen Prozess werden sogenannte «nicht-kooperative Länder» identifiziert.

Dank seiner übersichtlichen Grösse, die ein effizientes Arbeiten erlaubt, ist das Financial Stability Board für die Schweiz eine geeignete
Organisation, um in einem zentralen Bereich des internationalen Finanzsystems Einfluss zu nehmen. Die Schweiz kann im FSB dazu beitragen, dass die Krisenresistenz gestärkt wird, und dass in der Finanzmarktregulierung gleich lange Spiesse entstehen.

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3.2.3

OECD

Entwicklung der OECD Drei Jahre nach dem Erweiterungsentscheid des OECD-Ministerrats im Mai 2007 zählt die Organisation seit dem Beitritt Chiles, Israels, Sloweniens und Estlands im Mai 2010 34 Mitgliedstaaten (der Beitritt Russlands ist hängig). Diese Erweiterungsrunde gibt der OECD ein besseres geografisches Gleichgewicht und trägt zur Wahrung ihrer globalen Relevanz bei.

Der Wahrung der globalen Relevanz dient auch der zweite Pfeiler der Öffnungspolitik der OECD, nämlich die verstärkte Zusammenarbeit (Enhanced Engagement) mit fünf bedeutenden Schwellenländern (Brasilien, China, Indien, Indonesien und Südafrika). Dadurch können diese vom Fachwissen der OECD in Bereichen wie Investitionspolitik, Korruptionsbekämpfung und Umwelt profitieren und die OECD kann ihrerseits institutionelle Beziehungen zu wichtigen G-20-Staaten knüpfen.

Das Verhältnis zwischen der Schweiz und der OECD hat sich seit dem Frühling 2009, als die OECD zuhanden der G-20 eine «graue Liste» im Steuerbereich erstellte, wieder verbessert. Dies vor allem auch deshalb, weil sich der Generalsekretär der OECD bereit erklärt hat, die Zusammenarbeit mit der G-20 und anderen Gremien für alle Mitglieder transparent zu gestalten und lobende Worte für die schnell an die Hand genommenen Revisionen bzw. Neuverhandlungen von Doppelbesteuerungsabkommen gefunden hat. In enger Kooperation mit anderen Mitgliedern konnte die Schweiz zudem durchsetzen, dass die Stimmen der kleinen und mittelgrossen Staaten in der konsensorientierten OECD nicht an Gewicht verlieren.

Einflussnahme der Schweiz im Steuerdossier Die Schweiz setzt mit der zügigen Revision der Doppelbesteuerungsabkommen den OECD-Standard bei der Amtshilfe in Steuersachen rasch um. Im September 2009 wurde sie im Fortschrittsbericht der OECD für den G-20-Gipfel in Pittsburgh in der Kategorie derjenigen Länder aufgeführt, die den OECD-Standard erfüllen. Die Schweiz beteiligt sich auch aktiv am Global Forum on Transparency and Exchange of Information, das im September 2009 in Mexiko City getagt hat und durch ein G-20-Mandat gestärkt wird. Die Schweiz hat darin bis Ende 2012 im Leitungs- und Überprüfungsausschuss Einsitz. Das Forum ist ein der OECD angegliedertes, unabhängiges Gremium mit eigenständigem Budget. Mitglieder sind die OECD-Staaten, die G-20-Staaten sowie andere wichtige
Finanzplätze. Aufgabe des Forums ist es, die Umsetzung des OECD-Standards beim steuerlichen Informationsaustausch zwischen seinen Mitgliedern zu überprüfen.

Vorgesehen ist eine Prüfung in zwei Phasen. In der ersten Phase werden vorab die gesetzlichen Bestimmungen über die Verfügbarkeit von steuerrelevanten Informationen bei den Finanzinstituten, der behördliche Zugang zu diesen Daten und das Regelwerk für den Informationsaustausch geprüft. In der zweiten Phase steht die Praxis des internationalen steuerlichen Informationsaustausches im Vordergrund.

Die Berichte über die ersten acht Länderexamen wurden Ende September 2010 in Singapur verabschiedet. Die erste Prüfungsphase für die Schweiz findet im zweiten Halbjahr 2010 statt.

Zudem nimmt die Schweiz an einer gemeinsamen Taskforce von Fiskal- und Entwicklungskomitee zu Steuern und Entwicklung teil.

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Perspektiven und Herausforderungen Die OECD ist für die Schweiz und ihre Wirtschaft von grosser Bedeutung, da sie für ihre Mitgliedstaaten Standards ausarbeitet, die oft auch globale Gültigkeit haben (z.B. Leitsätze für multinationale Unternehmen ­ ein umfassender Rahmen für verantwortungsvolle Unternehmensführung ­, Korruptionsbekämpfung, Investitionen, Entwicklungszusammenarbeit). Angesichts der Globalisierung der Märkte und der weltweiten Konkurrenz liegt es im Interesse der Schweiz, von ihrem Mitspracherecht in dieser Organisation regen Gebrauch zu machen und die zukünftige globale Wirtschaftspolitik mitzugestalten. Damit alle Wirtschaftsmächte mit gleich langen Spiessen agieren, ist die Einbindung der grossen Schwellenländer durch das Enhanced Engagement und die Kooperation mit der G-20 von grosser Bedeutung: Globale Herausforderungen wie die Bewältigung von Wirtschafts- und Finanzkrisen, die Korruptionsbekämpfung oder ein nachhaltiges und umweltschonendes Wirtschaftswachstum verlangen nach globalen Antworten und Instrumenten, die von allen Akteuren gemeinsam getragen werden.

3.2.4

Welthandelsorganisation (WTO)

Die 1995 als Nachfolgeorganisation des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) gegründete Welthandelsorganisation (WTO) regelt als einzige internationale Organisation die grenzüberschreitenden Handelsbeziehungen der Staaten auf globaler Ebene. Die WTO verwaltet und überwacht rund dreissig multilaterale und zwei plurilaterale, d.h. auf freiwilliger/nicht obligatorischer Mitgliedschaft beruhende Abkommen (zum öffentlichen Beschaffungswesen und dem Handel mit Zivilluftfahrzeugen). Diese Abkommen zielen auf eine schrittweise Liberalisierung des internationalen Handels ab, die im Rahmen von Verhandlungsrunden gefördert wird. Für die kleinen und mittleren Länder ist die WTO eine effiziente Plattform, um andere Länder zu Konzessionen betreffend Marktzugang bewegen zu können. Als stark in die Weltwirtschaft integrierte Volkswirtschaft profitiert die Schweiz von der Rechtssicherheit im Welthandelssystem, die die WTO bietet, weil diese zum Schutz ihrer Exporte von Gütern und Dienstleistungen in die übrigen WTO-Mitgliedstaaten beiträgt. Parallel dazu behelfen sich viele Länder ­ auch die Schweiz ­ damit, sich via Freihandelsabkommen diskriminierungsfreien Zugang zu anderen Märkten zu verschaffen. Allerdings können Freihandelsabkommen das multilaterale Verhandlungs- und Regelsystem der WTO höchstens ergänzen und stärken, nicht aber ersetzen, da sie ihrerseits auf den WTO-Abkommen basieren.

Die Doha-Verhandlungen laufen auf technischer Ebene. Die WTO-Mitglieder fühlen sich weiterhin der Doha-Runde verpflichtet. Das politische Momentum für einen Verhandlungsdurchbruch fehlt jedoch gegenwärtig, auch wenn die Grosszahl der WTO-Mitglieder, darunter die Schweiz, auf der Grundlage des aktuellen Verhandlungsstandes in die Schlussverhandlungen treten könnte. Die Runde wird im Jahr 2010 nicht abgeschlossen werden.

1119

3.3

Multilateralismus kulturellen und wissenschaftlichen Charakters

3.3.1

Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO)

Die Schweiz wurde im Oktober 2009 für eine Amtszeit von vier Jahren ins UNESCO-Welterbekomitee gewählt. Diesem Organ, das für die Umsetzung des Übereinkommens zum Schutz des Kultur- und Naturgutes der Welt verantwortlich ist, gehören 21 der 186 Vertragsstaaten an. Die Schweiz erhielt die höchste jemals erreichte Stimmenzahl bei dieser Wahl um 12 geografisch nicht aufgeschlüsselte Sitze, für die 29 Vertragsstaaten kandidiert hatten. Die Schweiz geniesst einen guten Ruf, der auf einem soliden fachtechnischen Engagement basiert und ihr eine gewisse Autorität zur Mitsprache bei politischen Entscheidungen verleiht.

Die auf der Liste der Welterbe-Stätten aufgeführten Kultur- und Naturdenkmäler reflektieren etliche globale, regionale und lokale Herausforderungen. Die Stätten sind Prüffelder für einen multisektoralen Umgang mit Anliegen wie der Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen, der nachhaltigen sozioökonomischen Entwicklung, der Achtung der kulturellen Identitäten, der verantwortungsvollen Verwaltung öffentlicher Güter und dem demokratischen Einbezug der Bevölkerung. Die Schweiz, die selbst mit einigen dieser Probleme konfrontiert ist, wird ihre Erfahrungen in die UNESCO einbringen. Zudem ist es wichtig, dass sich die Schweiz mit ihren zehn Welterbe-Stätten, von denen mehr als die Hälfte in jüngerer Zeit in die Liste aufgenommen wurden (als bisher letzte: «La Chaux-de-Fonds/Le Locle, Stadtlandschaft Uhrenindustrie») aktiv an der Ausgestaltung der Politik der UNESCO in diesem Bereich beteiligen kann.

Gewisse Welterbe-Stätten sind von Konflikten bedroht, andere werden mitunter bei Konflikten instrumentalisiert. Dadurch werden sie zu eigentlichen Instrumenten eines möglichen Dialogs. Die Schweiz kann hier eine Rolle spielen und das Welterbe in das Instrumentarium integrieren, das bei ihren Anstrengungen zur Friedensförderung Anwendung findet.

Die Schweiz hat sich in den letzten zwei Jahren in Afrika engagiert, um den Aufbau der Kapazitäten der für das Welterbe verantwortlichen Fachkräfte zu unterstützen.

Ziel dieser Bestrebungen ist die Verbesserung einerseits der Qualität der Kandidaturdossiers von Objekten aus Ländern des Südens, die in der Liste des Weltkulturerbes stark untervertreten sind, und des Managements der Welterbe-Stätten andererseits, von denen mehrere gefährdet sind. Die Schweiz wird dieses Engagement im Jahr 2010 fortsetzen.

3.3.2

Europäische Organisation für Teilchenphysik (CERN)

In den Bereichen Forschung und technologische Entwicklung ist die Europäische Union (EU) der bedeutendste Partner der Schweiz. Die Schweiz beteiligt sich in vollem Umfang und mit grossem Erfolg an den Forschungsrahmenprogrammen der EU. Ausserdem ist die Schweiz in zahlreichen europäischen Organisationen im Forschungs- und Technologiebereich, denen sie gewöhnlich als Gründungsmitglied angehört, als wesentliche Akteurin anerkannt, die im Verhältnis zu ihrem finanziel1120

len Beitrag häufig einen überproportionalen Einfluss ausübt. Ein wichtiges Beispiel dafür ist die Europäische Organisation für Teilchenphysik (CERN).

Das CERN hat sich seit seiner Gründung 1953 in Meyrin bei Genf zum global führenden Labor für Teilchenphysik entwickelt. Ausdruck dafür ist der Bau des Large Hadron Collider, der als das grösste und stärkste Mikroskop aller Zeiten bezeichnet werden kann. Experimente mit diesem Instrument werden völlig neue physikalische Erkenntnisse ermöglichen und das Verständnis für den Aufbau der Materie und das Wesen der Kräfte vertiefen.

Die weltweite Aufmerksamkeit für dieses Projekt, das nur mit vereinten Kräften rund um den Globus möglich ist, zieht immer mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für kürzere oder längere Zeit nach Genf. Die CERN-Mitgliedschaft verleiht teilnehmenden Wissenschaftlern und Staaten hohes Prestige. Während die 20 Mitgliedstaaten alle europäisch sind, kommen die beteiligten Wissenschaftler aus der ganzen Welt. Nach der Inbetriebnahme des Large Hadron Colliders strebt das CERN eine langfristige Konsolidierung seiner weltweiten Spitzenposition an. Neben den wissenschaftlichen Fragestellungen stellen sich der Organisation und ihren Mitgliedern auch politische Fragen: Welche Staaten mit bedeutenden Teilchenphysikkapazitäten können, wollen und sollen assoziiert werden oder langfristig als Vollmitglieder die Entwicklung des CERN mitbestimmen? Wie können Projekte globalen Ausmasses, die die Organisation plant, künftig organisiert, finanziert und wirtschaftlich wirksam durchgeführt werden? Wird das CERN in Zukunft eine europäisch dominierte Institution mit einem weltweiten Netzwerk von Partnern bleiben, oder wird es zu einer globalen Organisation werden, die allen Ländern nicht nur als Partner und Nutzer zur Verfügung, sondern auch für die Mitgliedschaft offen steht?

Vor diesem Hintergrund hat der CERN-Rat im Juni 2010 eine Strategie verabschiedet, die mit Beteiligung der Schweiz erarbeitet wurde und aufgrund welcher erstmals in der Geschichte der Organisation die Vollmitgliedschaft nicht mehr auf europäische Staaten beschränkt ist. Fortan ist es grundsätzlich jedem Staat möglich, wenn dieser gewisse wissenschaftliche, industrielle und politische Bedingungen erfüllt, CERN-Mitglied zu werden. Mit der assoziierten Mitgliedschaft wurde
zudem eine neue, zur Vollmitgliedschaft alternative Form der Beteiligung geschaffen, die einerseits der obligatorische erste Beteiligungsschritt jedes zukünftigen Vollmitgliedes sein soll, andererseits eine attraktive Variante der Zugehörigkeit zur Organisation für jene Länder bietet, die aus finanziellen, technischen oder politischen Gründen nicht Vollmitglied werden. Der Rat stellt indessen sicher, dass europäische Staaten auch in Zukunft die Kontrolle über diese weltweit grösste Organisation zur Grundlagenforschung behalten.

Obschon 18 von 20 CERN-Mitgliedern der Europäischen Union angehören, war deren Interesse und Einfluss bis vor Kurzem gering. Seit drei Jahren vergrössert sich jedoch der Einfluss der EU-Kommission, die im CERN-Rat Beobachterstatus hat, stetig. Am 17. Juli 2009 wurde ein Memorandum of Understanding zwischen CERN und der Europäischen Kommission unterzeichnet, das der Zusammenarbeit einen strukturierten Rahmen gibt, beispielsweise bei der Umsetzung der Europäischen Strategie für Teilchenphysik und der Entwicklung des Europäischen Forschungsraums.

1121

Die Schweiz hat an der erfolgreichen globalen Positionierung und Konsolidierung des CERN ein bedeutendes Interesse, sei es als Sitzstaat, als Wissenschaftsstandort oder aus wirtschaftlicher Sicht: Neben dem ordentlichen Mitgliederbeitrag von rund 30 Millionen Franken pro Jahr (entspricht rund 3 % des Budgets) hat die Schweiz in den letzten 20 Jahren als Sitzstaat das CERN mit Sonderbeiträgen im Gesamtwert von über 130 Millionen Franken unterstützt. Damit soll das CERN als Weltlabor für Teilchenphysik in der Schweiz gefördert und seine Ausstrahlung auch für die Förderung des wissenschaftlichen und technischen Nachwuchses in der Schweiz genutzt werden.

Als einer der Sitzstaaten profitiert die Schweiz wirtschaftlich durch die Anwesenheit des CERN. Mit 7,5 % stellt die Schweiz einen überproportionalen Personalanteil.

Die 2400 am CERN arbeitenden Personen stellen einen wichtigen Wirtschaftsfaktor für die Region Genf dar. Dazu kommen die jährlich mehr als 9000 Gastforschenden aus aller Welt, die jeweils für bestimmte Zeitabschnitte am CERN weilen. Bedeutend ist auch der Rückfluss aus den Industrie- und Dienstleistungsverträgen des CERN, von denen die Schweizer Unternehmen überproportional profitieren. In den letzten 4 Jahren betrug dieser Rückfluss mehr als 250 Millionen Franken.

3.3.3

Europäische Weltraumorganisation (ESA)

Die Schweiz ist Gründungsmitglied der Europäischen Weltraumorganisation (ESA), die 1975 von zehn europäischen Staaten ins Leben gerufen wurde und heute 18 Mitgliedstaaten zählt. Die ESA entwickelt die Trägerraketen Ariane und Vega und führt Programme in den Bereichen bemannte Raumfahrt, Weltraumerforschung, Erdbeobachtung, Telekommunikation, Navigation sowie wissenschaftliche Programme durch.

Die Schweiz könnte solche Programme nicht allein durchführen. Ihre Beteiligung an der ESA eröffnet ihr den Zugang zum Weltraum und ermöglicht ihr die Teilnahme an der Entwicklung von Weltraumtechnologien auf der Grundlage von Verträgen mit Schweizer Industrie- und Forschungsakteuren. Zudem kommt die Schweiz in den Genuss von Anwendungen, die von wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Bedeutung sind, wie z.B. Kommunikation, Verkehr, Navigation, Wettervorhersage, Umweltüberwachung und Untersuchung des Klimawandels.

Die ESA ist in vollem Wandel begriffen. Neben der Erweiterung auf die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) findet auch eine institutionelle Annäherung an die EU statt, die 2004 mit einem Rahmenabkommen formalisiert wurde. Aufgrund dieses Abkommens finden gemeinsame Treffen auf Ministerebene statt (im sog.

«Weltraumrat», in dem die für Weltraumfragen zuständigen Minister aus den ESAund den EU-Mitgliedstaaten vertreten sind), die sich mit der strategischen Ausrichtung von gemeinsamen Grossprojekten wie Galileo (Navigation und Positionierung) und GMES (Umweltüberwachung und Sicherheit) befassen. Im Jahr 2007 wurde eine gemeinsame Europäische Raumfahrtpolitik verabschiedet. Im Prinzip entwickelt die ESA die Infrastruktur für die Raumfahrt und die EU übernimmt anschliessend deren Betrieb und Nutzung.

Die Schweiz übt innerhalb der ESA einen bedeutenden Einfluss aus. Um ihre bisherige Stellung zu wahren, bedarf es besonderer Anstrengungen, namentlich während der operationellen Phasen der ESA-Programme. Die Auswirkungen des Vertrags 1122

von Lissabon und die daraus abgeleiteten neuen Kompetenzen der EU werden derzeit geprüft. Für die Schweiz geht es darum, zu bewahren, was sie im Rahmen der ESA als zwischenstaatlicher Organisation erreicht hat, nämlich die Beteiligung an der Definition der Programme und der vollumfängliche Zugang zu den verschiedenen Phasen (einschliesslich der operationellen Phasen), zu den Märkten, zu den Daten und zu den übrigen Ergebnissen dieser Programme.

3.3.4

Ausschuss der Vereinten Nationen für die friedliche Nutzung des Weltraums (UN COPUOS)

Die Schweiz engagiert sich seit 1999 im Rahmen der Vereinten Nationen für die Förderung der internationalen Zusammenarbeit zur Nutzung der Weltraumtechnologien und der friedlichen Nutzung des Alls. So arbeitet sie beispielsweise seit 2004 mit der UNO und der ESA zusammen (siehe Ziff. 3.3.3), um die nachhaltige Entwicklung in den Bergregionen durch die Nutzung von Weltraumtechnologien zu fördern.

Seit 2008 ist die Schweiz Mitglied des Ausschusses der Vereinten Nationen für die friedliche Nutzung des Weltraums (UN COPUOS). Sie beteiligt sich aktiv an den Arbeiten dieses Ausschusses, vor allem im Bereich der Nachhaltigkeit der Weltraumtätigkeiten. Weltraumgegenstände und Weltraumschrott, der durch Kollisionen und Zerstörung von Satelliten in der Erdumlaufbahn verbleibt, stellen eine Gefahr für die Raumfahrt von heute und morgen dar. Die Menge des Weltraumschrotts ist derart stark gestiegen, dass der Verkehr im All dringend einer internationalen Regelung bedarf. Für die Schweiz, deren wirtschaftliche Entwicklung sich stark auf die neuen Technologien ­ einschliesslich die Weltraumtechnologien ­ abstützt, wäre jegliche Beschränkung des Zugangs zu diesen Technologien ein schwerer Rückschlag. Sie beteiligt sich deshalb aktiv an den Bestrebungen zur Gewährleistung einer nachhaltigen und verantwortungsbewussten Nutzung des Alls.

Im Zuge der Globalisierung haben sich multilaterale Organisationen zunehmend zu Foren entwickelt, in denen Lösungsansätze für globale Herausforderungen formuliert und diskutiert werden. Dabei hat das UNO-System bei politischen Fragen in der Regel die Themenhoheit, während für wirtschaftliche Angelegenheiten die globalen Impulse im Wesentlichen von der G-20 ausgehen.

Vor diesem Hintergrund sind multilaterale Organisationen zunehmend wichtige Instrumente der schweizerischen Aussenpolitik. Sie erlauben es, in einem strukturierten Umfeld Themen von globalem und regionalem Interesse zu diskutieren und nach Lösungen zu suchen, die von einer grösstmöglichen Anzahl von Ländern mitgetragen werden.

Unter dem Eindruck der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt sich die Wichtigkeit internationaler Gremien, die sich mit globalen Regulierungsfragen im weltwirtschaftlichen Umfeld befassen. In diesem Bereich hat die Schweiz ein besonderes Interesse, sich einzubringen und auf Entwicklungen
und Entscheide Einfluss zu nehmen. Ebenso wichtig ist die Einflussnahme in den Organisationen des UNO-Systems, wo Entscheide getroffen werden, die die Schweiz und ihre aussenpolitischen Interessen massgeblich betreffen. Daneben gilt es, durch das Mitwirken bei Organisationen regionaler und thematischer Ausrichtung spezifischen

1123

Anliegen der Schweiz Geltung zu verschaffen und das aussenpolitische Kontaktnetz zu erweitern.

In diesem Sinn ist es wichtig, dass sich die Schweiz noch vermehrt in den multilateralen Dialog einbringt, besonders in Foren, die der internationalen Meinungsbildung dienen. Dadurch schafft sie sich zusätzliche Optionen der Einflussnahme in Bereichen, die für ihre Aussenpolitik von Bedeutung sind.

4

Wichtige Themen der Schweizer Aussenpolitik

Die zunehmende Internationalisierung und Verknüpfung thematischer Politikfelder hat zur Folge, dass die Departemente in erheblichem Ausmass Aufgaben der auswärtigen Beziehungen wahrnehmen. Verschiedene sektorielle Politiken, insbesondere die Finanz-, Wirtschafts-, Steuer-, Energie-, Verkehrs-, Kultur-, Bildungs-, Forschungs-, Innovations-, Gesundheits-, Sicherheits- und Umweltpolitik, haben eine grössere internationale und multilaterale Dimension erhalten, und die gegenseitigen Interdependenzen nehmen zu. Entsprechend komplex und anspruchsvoll wird dadurch die Aufgabe, die sektoriellen Politiken aussenpolitisch aufeinander abzustimmen.

4.1

Internationale Finanz- und Wirtschaftspolitik

4.1.1

Überwindung der Finanz- und Wirtschaftskrise

Finanzkrise Durch entschiedenes wirtschaftspolitisches Handeln während der vergangenen beiden Jahre konnte die globale Finanz- und Wirtschaftskrise im Verlauf des Jahres 2009 erfolgreich eingedämmt werden. Der Interbankenmarkt spielte wieder, und die Börsenkurse haben sich seit dem Tief im März 2009 zusehends erholt. Risiken bestehen aber nach wie vor und weitere Belastungen des Systems können nicht ausgeschlossen werden. Regierungen und Zentralbanken bleiben deshalb wachsam.

Eine wichtige Rolle spielt dabei der Internationale Währungsfonds (IWF), der seit Herbst 2008 umfangreiche Finanzhilfen an seine Mitgliedsländer vergeben und sein Kreditinstrumentarium angepasst hat.

Auch EU-Staaten und Länder der Eurozone mussten externe Hilfe in Anspruch nehmen: Mehrere bis vor Kurzem prosperierende osteuropäische Volkswirtschaften, wie die baltischen Staaten oder Ungarn, wurden von der Krise stark getroffen. Die Grenzen der stabilisierenden Wirkung des Euro zeigten sich am Beispiel Griechenlands, dem zu Beginn des Jahres 2010 der Staatsbankrott drohte und das dadurch die europäische Währung stark belastete. Ende April 2010 wurde ein 110-MilliardenEuro-Rettungspaket der übrigen Euro-Mitgliedstaaten und des IWF nötig. Das südeuropäische Land ist jedoch bei Weitem nicht das einzige EU-Mitglied, das mit hoher Staatsverschuldung und geringer Kreditwürdigkeit dem Euro einen beträchtlichen Vertrauens- und Wertverlust zugefügt hat. Um ein Übergreifen des Vertrauensverlusts auf andere Mitglieder der Eurozone zu verhindern, stellten die EUInstitutionen (Rat, Kommission, Europäische Zentralbank) und der IWF einen gewaltigen «Schutzschirm» in der Form von Krediten und Garantien im Gesamtbetrag von 750 Milliarden Euro auf.

1124

Die Tiefe der Griechenlandkrise hat zu einer Diskussion über neue Lösungsansätze geführt. So wurde die Frage des Austritts aus der Währungsunion zum ersten Mal gestellt, wenn auch bisher nur auf Expertenebene. Weitere Ideen sind die Schaffung eines europäischen Währungsfonds, der Euro-Ländern in Finanzkrisen beistehen soll, sowie die Stärkung und bessere Durchsetzung des Stabilitätspakts. Bereits jetzt ist vorhersehbar, dass die hohe Staatsverschuldung in manchen Ländern die Möglichkeit, auf neue Herausforderungen und zukünftige Krisen adäquat zu reagieren, über einen längeren Zeitraum einschränken wird. Wann und wie die krisenbedingten staatlichen Stimulierungsmassnahmen herunter gefahren werden sollen, und ob die Staatsverschuldung am besten mit einer Senkung der Staatsausgaben, mit Steuererhöhungen oder gar mit einer höheren Inflation bekämpft werden soll, ist derzeit heftig umstritten. Unumstritten ist hingegen, dass Verschuldungsraten von über 100 % des BIP eines Landes schon aus Gründen der intergenerationellen Gerechtigkeit langfristig nicht tragbar sind.

Wirtschaftskrise Auch wenn sich die Weltwirtschaft in jüngerer Zeit wieder zu erholen begonnen hat, dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass die Krise auf längere Sicht bedeutende Auswirkungen auf die globalen Kräfteverhältnisse haben wird. Das zeigt sich insbesondere an den regionalen Unterschieden in Mass und Geschwindigkeit der Erholung. So konnte über die vergangenen zwei Jahre eine selektive Abkoppelung der Schwellenländer ­ in erster Linie der asiatischen ­ von den OECD-Staaten festgestellt werden. Während sich viele Länder auf dem europäischen und amerikanischen Kontinent nur langsam von der Wirtschaftskrise erholen und ihre Wirtschaftsproduktion zurzeit noch unter den Vorkrisenwerten bleibt, zeichnen sich für andere Regionen günstigere Perspektiven ab. Die asiatischen Staaten konnten während der Krise ihren Anteil an der weltweiten Wirtschaftsproduktion erhöhen und entwickelten sich zu Motoren des Weltwirtschaftwachstums. Gleichzeitig gelang es ihnen, dank der stärkeren Binnennachfrage die Exportabhängigkeit ihrer Industrie zu reduzieren. Aber auch Brasilien fand früher als die OECD-Staaten auf den Wachstumspfad zurück.

Bestes Beispiel für die neuen Kraftverhältnisse in der Weltwirtschaft ist China, das Deutschland während der
Krise den Titel des «Exportweltmeisters» abnehmen konnte und voraussichtlich 2010 das wirtschaftlich stagnierende Japan als zweitgrösste Volkswirtschaft überholen wird. Diesen Aufstieg schaffte China in weniger als zehn Jahren. Im Kielwasser Chinas festigte Südostasien seinen Ruf als eine der wirtschaftlich dynamischsten Regionen der Welt.

Die Wirtschaftsmacht Asiens spiegelt sich auch in der Zusammensetzung der G-20 wider, die während der Wirtschaftskrise stark an Bedeutung gewann: im Unterschied zur G-8, in der Asien untervertreten ist, stammen mit China, Indien, Indonesien, Südkorea und Japan fünf Mitglieder dieser Gruppe aus Asien. Im laufenden Jahr hat Südkorea den Vorsitz in der G-20 inne (siehe Ziff. 3.2.1.).

Die Weltwirtschaftskrise hat mehrere Millionen Arbeitsplätze zerstört. Die internationale Arbeitsorganisation (ILO) geht von einem Abbau von über 20 Millionen Arbeitsplätzen weltweit aus. Allein in der Europäischen Union werden sechs Millionen mehr Stellensuchende gezählt. Die Arbeitslosigkeit reagiert zudem mit Verzögerung auf die wirtschaftliche Entwicklung, so dass auch im Jahr 2010 in vielen Staaten noch keine Erholung auf dem Arbeitsmarkt festgestellt werden kann. In der Schweiz war der Einbruch auf dem Arbeitsmarkt weniger markant als zuerst erwar1125

tet. Die neusten Prognosen gehen davon aus, dass der Höchststand von 4,5 % Arbeitslosen bereits Anfang 2010 erreicht wurde. Die Entwicklung in anderen westlichen Industriestaaten zeigt jedoch, dass der Zeitpunkt für eine generelle Entwarnung noch nicht gekommen ist: So erlebten die USA Ende 2009 eine Konjunkturbelebung, gleichzeitig wurden jedoch weitere Stellen abgebaut. Die Staatenwelt steht nun vor der heiklen Aufgabe, die hohen Staatsschulden abzubauen, ohne den erst zögerlichen wirtschaftlichen Aufschwung gleich wieder abzuwürgen und damit die Schaffung neuer Stellen zu vereiteln.

Angesichts der angespannten Lage auf dem Arbeitsmarkt und der härteren Konkurrenz zwischen den Exportstaaten besteht ausserdem die Gefahr, dass erneut protektionistische Tendenzen aufkommen werden. Als Exportnation wäre auch die Schweiz davon betroffen. Sie engagiert sich deshalb in den relevanten internationalen Gremien gegen solche Entwicklungen. Insbesondere setzt sich der Bundesrat für einen baldigen Abschluss der Doha-Runde der Welthandelsorganisation (WTO) ein (siehe Ziff. 3.2.4). Zudem ist die Schweiz bestrebt, durch den Abschluss von neuen Freihandelsabkommen den weltweiten Handel zu fördern und Diskriminierungen der Schweizer Wirtschaft dort zu vermeiden, wo Vertragspartner anderen Handelsnationen in Form von Freihandelsabkommen bereits präferenziellen Marktzugang gewährt haben.

Um die Chancen der schweizerischen Exportwirtschaft in diesem schwierigen Umfeld zu wahren, hat der Bundesrat während der Krise die Exportförderung und Exportrisikoversicherung auch im Rahmen seiner Konjunkturstimulierungsprogramme unterstützt. Angesichts der Schwere der Krise hat die Schweiz, wie die Mehrheit der Industriestaaten, Massnahmenpakete zur Stützung der Nachfrage ausarbeiten lassen. Der Konjunkturimpuls dieser Stabilisierungsmassnahmen beträgt insgesamt über drei Milliarden Franken. Berücksichtigt man zusätzlich die von den Kantonen und Gemeinden getroffenen Massnahmen sowie den stabilisierenden Zusatzbeitrag der Arbeitslosenversicherung, so beträgt der Konjunkturimpuls über 14 Milliarden Franken, insgesamt knapp 3 % des schweizerischen BIP.

Die Finanz- und Wirtschaftskrise der letzten drei Jahre hat die Frage nach der Rolle des Staates für die Stimulierung der Nachfrage und des Wachstums wieder aufleben lassen. Es
geht dabei um die Grundsatzfrage, ob die Stimulierung der Nachfrage und des Wachstums durch den Staat gerechtfertigt sei. Befürworter des Keynesianismus argumentieren, dass eine Ankurbelung über den Staatshaushalt eine Rezession zwar nicht immer verhindern, aber immerhin abfedern kann, was sie allein schon rechtfertige. Die Gegner von Stimulierungsmassnahmen kritisieren, dass deren Wirkung jeweils nur solange dauere, wie das staatliche Geld fliesse, nach dessen Versiegen aber sehr schnell wieder nachlasse. Gemäss ihnen sollten so rasch wie möglich Korrekturen an den makroökonomischen Ungleichgewichten eingeleitet werden, die oft schon Auslöser von Krisen sind. Nicht-keynesianische Wirkungen von restriktiver Politik, namentlich auf das Vertrauen der Finanzmärkte, werden ebenfalls angeführt.

Während sich insbesondere die von der Krise ursprünglich am meisten betroffenen USA und Europa lange Zeit über die Nützlichkeit von staatlichen Stimulierungsprogrammen einig waren, traten beim G-20-Gipfel in Toronto Ende Juni 2010 Meinungsdifferenzen zutage. Während die USA an der Notwendigkeit von konjunkturellen Stützungsmassnahmen festhielten, setzte Europa den Schwerpunkt auf die Haushaltssanierung. Dabei ging es allerdings nicht um einen wirtschaftstheoretischen Schulstreit; entscheidend war vielmehr die Erkenntnis, die sich in Europa vor 1126

dem Hintergrund der massiven Überschuldung vieler Staaten verbreitete, dass Stimulierungsprogramme in grösserem Umfang nicht mehr finanzierbar sind.

Die Haltung, dass finanz- und wirtschaftspolitische Ziele zwar besser formuliert und koordiniert, letztlich aber im einzelstaatlichen Kontext umgesetzt werden sollen, wurde am G-20-Gipfel in Toronto bestätigt. Bereits am Gipfeltreffen in Seoul warfen sich grosse Staaten gegenseitig vor, dass die Wechselkurse nicht vollständig ihre Rolle zum Ausgleich von globalen Ungleichgewichten spielen würden. Es werden mit Wechselkursen noch zu oft nationale Ziele verfolgt. Für die Schweiz bedeutet dies einerseits, dass sie nach wie vor einen gewissen Gestaltungsspielraum in ihrer Finanz- und Wirtschaftspolitik, einschliesslich ihrer Aussenpolitik in diesen Bereichen, geniesst. Anderseits bedeutet es aber auch, dass Handlungsgrundsätze und -ziele immer mehr auf multilateraler Ebene formuliert werden, weshalb es umso unerlässlicher ist, sich an diesen Prozessen vorausschauend und aktiv zu beteiligen.

4.1.2

Der Schweizer Finanzplatz

Im Nachgang zur Finanzkrise ist zu erkennen, wie sich die Finanzbranche in verschiedenen Ländern strukturell gewandelt hat. Die Anpassungen wurden beeinflusst durch die veränderten Rahmenbedingungen, die Rettungspakete und nicht zuletzt durch die neu ausgerichteten Geschäftsmodelle zahlreicher Einzelinstitute. Chinesische Banken gehören heute zu den grössten, während die Bilanzen westlicher Banken zum Teil massiv geschrumpft sind. Der Wandel geht indessen zügig weiter, da das regulatorische und steuerliche Umfeld noch nicht gefestigt ist. Wie im vorangehenden Kapitel beschrieben, bergen die öffentlichen Finanzen in zahlreichen Staaten Risiken. Eine mittelfristig höhere Inflation und selbst eine Depression, die zu Deflation führt, können nicht völlig ausgeschlossen werden. Solche Perspektiven sind negativ für die ganze Wirtschaft.

Die Schweiz verfügt über einen starken Finanzplatz, der sich im internationalen Wettbewerb zu behaupten hat. Der Schweizer Finanzplatz erwirtschaftete 2009 rund einen Zehntel des gesamten Schweizer BIP und trug rund 6 % zur gesamten Beschäftigung bei. Der Finanzsektor gehört damit zu den bedeutendsten Wirtschaftszweigen der Schweiz.

Die Schweiz bietet gute Rahmenbedingungen, wie eine starke Währung, eine ausgezeichnete Infrastruktur, steuerlich attraktive Bedingungen, eine effektive Aufsicht und Regulierung, aber auch Standortfaktoren wie Zuverlässigkeit und qualifizierte Arbeitskräfte. Der international ausgerichtete Schweizer Finanzplatz hat mehrere ausgesprochene Stärken (Vermögensverwaltung, Versicherung und Rückversicherung, Dienstleistungen für internationale Konzerne und Ansiedlung von Finanzierungsvehikeln wie Hedge-Fonds (inkl. Funds-of-Hedge-Funds).

Dabei sind Dienstleistungen für internationale Konzerne eng verbunden mit der Standortattraktivität unseres Landes für Holdings, Industrie- und (Rohstoff-) Handelsfirmen. Diese Attraktivität hat sich aufgrund der Finanzkrise bisher nicht verringert und ihre notwendigen Grundlagen (Kapitalverkehrsfreiheit, Unterlassen von protektionistischen Massnahmen gegen Firmenverlagerungen und Auslandsinvestitionen) sind weiterhin gegeben.

1127

Anders sieht es für das grenzüberschreitende Vermögensverwaltungsgeschäft aus.

Verschiedene Länder, wie die USA, Deutschland, Frankreich und Italien, haben den Druck auf das Bankgeheimnis verschärft und Druck auf die eigenen Bürger/innen ausgeübt, ihre im Ausland angelegten Gelder zu repatriieren und zu versteuern. Die Schweiz ist davon besonders betroffen und sieht sich mit zahlreichen Druckversuchen auf das Bankgeheimnis konfrontiert. Die dabei angewendeten Methoden führten wiederholt zu diplomatischem Klärungsbedarf. Die bisherige schweizerische Amtshilfepolitik, die den Austausch von Informationen zur Durchsetzung des internen Rechts lediglich in Fällen von Steuerbetrug bzw. von Steuerbetrug und ähnlichen Delikten vorsah, liess sich im internationalen Verhältnis nicht mehr halten, und entsprechend entschied sich der Bundesrat am 13. März 2009 mit der Übernahme des Standards von Artikel 26 des OECD-Musterabkommens zu einer Neuausrichtung der Amtshilfe in Steuersachen. Die Umsetzung erfolgt zügig durch die Revision resp. Aushandlung von Doppelbesteuerungsabkommen. Mitte November 2010 waren 31 angepasste Abkommen paraphiert und davon 22 unterzeichnet. Die ersten zehn Abkommen sind von den eidgenössischen Räten bereits genehmigt worden. Sie können aus schweizerischer Sicht noch 2010 in Kraft gesetzt werden. Damit verpflichtet sich die Schweiz, im Einzelfall auf konkrete und begründete Anfrage hin ihren Partnerstaaten Informationen für steuerliche Zwecke zu liefern, unabhängig vom Vorliegen eines Steuerdeliktes. Diese Auskunftserteilung erstreckt sich auch auf Bankinformationen.

Es ist davon auszugehen, dass der Druck auf das Bankgeheimnis anhält. Es bestehen zudem Tendenzen zur Behinderung des grenzüberschreitenden Marktzutritts von Schweizer Finanzinstitutionen und Finanzprodukten. Soll der Schweizer Finanzplatz seine internationale Bedeutung halten können, sind deshalb gezielte Verbesserungen beim Marktzutritt und der Bewahrung und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit notwendig. Den steuerlichen und regulatorischen Rahmenbedingungen kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Auf der Grundlage einer solchen Analyse identifizierte der Bundesrat am 16. Dezember 2009 vier neue Strategische Stossrichtungen für die Finanzmarktpolitik der Schweiz. Der Bundesrat betreibt jedoch mit der Finanzmarktpolitik
keine Industriepolitik. Er hat die Interessen der schweizerischen Gesamtwirtschaft zu wahren und generell günstige Rahmenbedingungen für die privaten Wirtschaftsakteure zu schaffen.

Der Bundesrat hat zahlreiche Massnahmen zur Umsetzung der Stossrichtungen identifiziert. Er erstellte einen Zeitplan für deren Umsetzung. Eine vom Bundesrat eingesetzte interdepartementale Arbeitsgruppe bestehend aus EFD (Leitung), EDA, EVD und EJPD überwacht und koordiniert die Umsetzung der Stossrichtungen. Seit dem 1. März 2010 wird die bilaterale und multilaterale Finanzmarktpolitik durch das neu geschaffene Staatssekretariat für internationale Finanzfragen institutionell massgeblich gestärkt.

1. Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Finanzsektors Der Schweizer Finanzplatz muss wettbewerbsfähig sein. Die Finanzmarktakteure müssen eine breite Palette an hochwertigen Dienstleistungen anbieten, welche die verschiedenen Bedürfnisse der Kunden bestmöglich befriedigen. Durch Innovation und Flexibilität müssen die Finanzdienstleister sich laufend den Entwicklungen auf den nationalen und internationalen Märkten anpassen und diese mitprägen. Der Staat schafft dafür günstige Rahmenbedingungen. Er engagiert sich in den internationalen Gremien und Institutionen, verfolgt die Entwicklungen auf den anderen Finanzplät1128

zen laufend und verbessert die Rahmenbedingungen in der Schweiz wo nötig. Für die Entfaltung des Finanzsektors wichtig sind namentlich folgende Rahmenbedingungen: Eine sich an den international anerkannten Standards orientierende Regulierung, eine solide und stabilitätsorientierte Geld- und Haushaltspolitik, ein steuerlich attraktives Umfeld, eine gut funktionierende Finanzmarktinfrastruktur, eine hohe Qualität des Bildungswesens sowie offene und flexible Arbeitsmärkte. Um die Eigenheiten des schweizerischen Finanzplatzes angemessen berücksichtigen zu können, behält sich die Schweiz das Recht vor, regulatorische Differenzierungen vorzunehmen. Eine über die internationalen Vorgaben hinausgehende verschärfte Regulierung ist dort anzustreben, wo dies aus strukturellen Gründen oder auf Grund von Wettbewerbsvorteilen sinnvoll bzw. notwendig ist.

2. Sicherung und Verbesserung des Marktzutritts Der Schweizer Finanzplatz soll sich weiterhin durch seine Internationalität und Offenheit auszeichnen. Ausländische Finanzmarktakteure haben weiterhin ungehinderten Zugang zum schweizerischen Finanzplatz, im Gegenzug erwartet die Schweiz einen diskriminierungsfreien Zugang zu ausländischen Märkten. Die Bemühungen zur Sicherung und Verbesserung des Marktzutritts für schweizerische Finanzintermediäre müssen in Anbetracht zunehmender protektionistischer Tendenzen verstärkt werden.

3. Verbesserung der Krisenresistenz des Finanzsektors und des Umgangs mit systemrelevanten Finanzunternehmen Nur ein stabiler Finanzsektor kann nachhaltig Wohlstand schaffen und sicherstellen, dass die fundamentale Rolle des Finanzsystems als Allokationsmechanismus jederzeit gewährleistet ist. Angesichts der Grösse und der nationalen und internationalen Vernetzung einiger Schweizer Finanzkonzerne sind Fragen der Stabilität und der Konzernaufsicht besonders wichtig. Die entsprechenden internationalen Koordinationsarbeiten erfolgen vorab im Internationalen Währungsfonds und im Financial Stability Board. Im nationalen Kontext müssen Massnahmen getroffen werden, um die Krisenanfälligkeit systemrelevanter Unternehmen zu verringern, die Robustheit zentraler Infrastrukturen zu verstärken und um die normale Bereinigung am Markt gescheiterter Strukturen und Institute zu gewährleisten. Die vom Bundesrat eingesetzte Expertenkommission hat Ende
September 2010 in ihrem Schlussbericht gesetzgeberische Vorschläge zur Eindämmung der Problematik vorgelegt. Die Vorlage zu gesetzgeberischen Massnahmen wird voraussichtlich per Ende Januar 2011 in die Vernehmlassung gehen.

4. Sicherstellung der Integrität des Finanzplatzes Integrität schafft bei den Markteilnehmer/innen Vertrauen und ist eine unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg und die Akzeptanz des Schweizer Finanzplatzes sowohl im In- wie auch im Ausland. Integrität ist durch die Marktteilnehmer/innen selber und durch Regulierung sicherzustellen. Markant zugenommen hat der Wille ausländischer Staaten zur lückenlosen Durchsetzung ihrer Steuergesetzgebung.

Zusätzlich zum Informationsaustausch auf Anfrage in der Amtshilfe (OECDStandard) ist der Bundesrat bereit, im Rahmen bilateraler Verhandlungen unter bestimmten Voraussetzungen (Regularisierung undeklarierter Konti im Verhältnis zum Fiskus des betroffenen Staates, verbesserter Marktzugang für die Erbringung von Finanzdienstleistungen aus der Schweiz, Schutz der Privatsphäre der Bankkunden), die bestehende grenzüberschreitende Zusammenarbeit weiter auszubauen. Zu 1129

diesem Zweck werden verschiedene Massnahmen geprüft, so insbesondere die Einführung einer Abgeltungssteuer im Verkehr mit wichtigen (Nachbar-)ländern sowie die Einführung weiterer Massnahmen, um die Steuerehrlichkeit von Bankkunden zu fördern und damit verbundene Rechtsrisiken zu verringern. Darüber hinaus nimmt die Schweiz weiterhin aktiv an den internationalen Bestrebungen zur Bekämpfung der Finanzmarktkriminalität teil.

4.1.3

Korruptionsbekämpfung

Die Korruption, die oft für eine unausrottbare Krankheit gehalten wird, kennt keine Grenzen und kann alle Regierungsformen in unterschiedlichem Mass befallen. Ob «kleine Korruption» wie der Austausch kleiner Gefälligkeiten zwischen Einzelpersonen oder «grosse Korruption», etwa das Gewähren von Vergünstigungen beim Abschluss umfangreicher Verträge, Korruption schränkt in jedem Fall den wirtschaftlichen Austausch beträchtlich ein, verzerrt den Wettbewerb und untergräbt das Vertrauen in die Behörden. Sie behindert zudem nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung, sondern diskreditiert die Grundprinzipien des Rechtsstaates und der Demokratie, indem sie die gemeinsam ausgehandelten Verfahren und Spielregeln unterläuft. Die Korruption verstärkt auch das Gefühl von Unsicherheit. Sie destabilisiert jedes wirtschaftliche, politische und soziale System. Auf lange Sicht kann sich keine Gesellschaft die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Folgekosten der Korruption leisten. Die Globalisierung mit ihrem raschen Informationsaustausch, der Verwischung von Verantwortlichkeiten, der wachsenden Zahl von Akteurinnen und Vermittlern scheint das Phänomen noch zusätzlich zu verschärfen.

Seit Ende der 1990er-Jahre versucht die internationale Staatengemeinschaft, die Korruption einzudämmen. Zunächst wurde das Thema unter dem Aspekt der internationalen Handelsbeziehungen angegangen. Lange galt die Korruption als unvermeidlicher Bestandteil des internationalen Handels: Die Bestechlichkeit ausländischer Amtsträger wurden von fast allen Staaten, auch der Schweiz, toleriert. Im Ausland tätige Unternehmen konnten sogar die Bestechungsgelder, die sie für den Zugang zu neuen Märkten bezahlten, von den Steuern abziehen. Diese Praxis, die seit 1997 von den OECD-Mitgliedern geächtet wird, bewog die internationale Gemeinschaft, sich umfassender mit der transnationalen Korruption zu befassen.

Seither wurden internationale Übereinkommen unterschiedlicher Tragweite abgeschlossen: namentlich das OECD-Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr (1997), die Strafrechtskonvention des Europarates gegen Korruption (1999) und das UNOÜbereinkommen gegen die Korruption (UNCAC 2003). Als Mitglied der drei Gremien (OECD, Europarat, UNO) hat sich die Schweiz aktiv an den
Verhandlungen, der Ausarbeitung, Ratifikation und Umsetzung jedes dieser Übereinkommen beteiligt. Sie hat die Kodifizierungsarbeiten zu den Bestimmungen über die Rückgabe unrechtmässig erworbener Vermögenswerte des UNCAC geleitet und spielt auch weiterhin eine führende Rolle bei den internationalen Bemühungen, ehrgeizige Standards festzulegen und zu überprüfen, ob diese Standards durch die Regierungen ­ über reine Absichtserklärungen hinaus ­ tatsächlich umgesetzt werden.

Die Schweiz wird nicht nur die Verhandlungen auf internationaler Ebene weiterverfolgen, ihr Engagement in der internationalen Korruptionsbekämpfung umfasst auch technische Hilfe und Justiz-Zusammenarbeit. Im Rahmen der Entwicklungszusam1130

menarbeit leistet die Schweiz zahlreichen Staaten technische Unterstützung, was direkt oder indirekt auch einen Rückgang der Korruption zur Folge hat. Die Schweizer Entwicklungshilfe richtet sich sowohl an Regierungsstellen (institutionelle Reformen) als auch an die Zivilgesellschaft im weitesten Sinne (Sensibilisierungskampagnen, partizipative Ansätze).

OECD-Konvention gegen die Bestechung ausländischer Amtsträger Die OECD befasst sich seit Längerem mit der Korruptionsbekämpfung. Eine erste Empfehlung des Rats wurde bereits 1994 verabschiedet und damit zugleich die Arbeitsgruppe für Korruptionsbekämpfung eingesetzt. Die Arbeitsgruppe hat seither unter Schweizer Vorsitz mehrere Korruptionsbekämpfungsinstrumente erarbeitet oder mitgestaltet (Korruption und Exportkredite, Verbot des Steuerabzugs für Bestechungszahlungen). 1997 verfasste sie zudem die erste Konvention zur Korruptionsbekämpfung, die Konvention gegen die Bestechung ausländischer Amtsträger, die 1999 in Kraft getreten ist. Die Schweiz ratifizierte die Konvention am 31. Mai 2000.

Diese beschränkt sich auf einen wichtigen Teilaspekt der Korruption, namentlich auf die aktive Bestechung ausländischer Amtsträger, deren Bekämpfung umfassend auf präventiver wie auch auf repressiver Ebene geregelt wird. Die Arbeitsgruppe für Korruption prüft mit einem Monitoring-Prozess die in den 38 Mitgliedstaaten getroffenen Massnahmen und übt, falls notwendig, Druck auf Staaten aus, die ihren internationalen Verpflichtungen nicht oder nur ungenügend nachkommen.

Die Arbeitsgruppe hat im Oktober 2009 eine neue Empfehlung des OECD-Rats zur Anwendung der OECD-Konvention verabschiedet, welche die bisher geltende Empfehlung aus dem Jahr 1997 ersetzt, die Konvention stärkt und sie den gegenwärtigen Bedingungen und neuen Korruptionsbekämpfungsinstrumenten anpasst.

Die Konvention ist ein effizientes Mittel, mit ihrem gut etablierten und funktionierenden Überprüfungsmechanismus für die im internationalen Geschäftsverkehr agierenden Unternehmen gleiche Voraussetzungen zu schaffen. Schweizer Unternehmen können dank der OECD, welche Mitglieder bei mangelhafter Korruptionsbekämpfung bzw. Umsetzung der Konvention auch öffentlich rügt, international in einem fairen Wettbewerb und mit gleich langen Spiessen wie die Konkurrenz tätig sein. Ziel der Konvention ist es,
mittelfristig alle grossen Wirtschaftsnationen zu klaren Regeln zu verpflichten. Die Arbeitsgruppe zählt bereits heute mehrere NichtOECD-Mitglieder und hat ein grosses Interesse, dass weitere Staaten der Konvention beitreten. Die Schweiz unterstützt die Zusammenarbeit mit Nichtmitgliedern und die Erweiterung der Arbeitsgruppe. Das Bekenntnis im Pittsburgh-Schlusscommuniqué der G-20 zur Bedeutung der OECD-Konvention ist ein ermutigendes Signal in diese Richtung.

Strafrechtsübereinkommen über Korruption des Europarates Die Schweiz ist im Jahre 2006 der Strafrechtskonvention des Europarates über Korruption beigetreten Die Sonderkommission des Europarates GRECO (Staatengruppe gegen Korruption) unterstützt und stärkt die Korruptionsbekämpfung durch wechselseitige Länderexamen. Im Juni 2008 wurde der Bericht der GRECO über die erste Evaluation der Schweiz veröffentlicht. Untersucht wurden unter anderem die spezialisierten Behörden, Immunitätsfragen, prozessuale Massnahmen, Einziehung, Korruptionsgeldwäscherei etc. Die GRECO hob insbesondere das schweizerische Einziehungssystem und die strafrechtliche Unternehmenshaftung positiv hervor, regte jedoch zugleich an, das Abwehrdispositiv gegen Korruption weiter auszu1131

bauen. Es wurden 13 Empfehlungen an die Schweiz gerichtet. In der Folge wurden verschiedene Massnahmen ergriffen, um diese Empfehlungen umzusetzen. So wurde die Konsultativgruppe Korruption zu einer interdepartementalen Arbeitsgruppe mit einem formellen Mandat aufgewertet (siehe unten), Bestimmungen zur stärkeren Korruptionsverhütung und -bekämpfung ins Bundespersonalrecht integriert (insbesondere Einführung einer Meldepflicht und Schutz von Whistleblowern sowie strengere Vorschriften über die Geschenkannahme, Nebenbeschäftigunen und die pantouflage) und Präventionsbroschüren über die Fragen der Nebenbeschäftigungen und der Meldepflicht an alle Bundesangestellten verteilt. Die Schweiz hatte im Herbst 209 Bericht an die GRECO über die Umsetzung der Empfehlungen zu erstatten. Die GRECO würdigt in ihrem Konformitätsbericht vom 26. März 2010 über die Schweiz die «beispielhaften Bemühungen der Schweiz», rasch alle Konsequenzen aus dem Evaluationsbericht von 2008 zu ziehen und kommt zum Ergebnis, dass 12 der 13 Empfehlungen bereits vollständig umgesetzt sind. Eine nächste, 2011 stattfindende Länderprüfung wird das Korruptionsstrafrecht sowie die Transparenz der Parteienfinanzierung zum Gegenstand haben.

UNO-Konvention gegen Korruption (UNCAC) Die UNO-Konvention gegen Korruption trat am 14. Dezember 2005 in Kraft und wurde von der Schweiz am 24. September 2009 ratifiziert. Sie ist das wohl umfassendste Abkommen und wurde bis dato von 140 Staaten unterschrieben. Es enthält unter anderem Bestimmungen zur Verhütung der Korruption, zur internationalen Zusammenarbeit und zur technischen Unterstützung von Entwicklungs- und Schwellenländern. Es verpflichtet die Staaten, sowohl die aktive und die passive Bestechung nationaler Amtsträger, als auch die aktive Bestechung fremder Amtsträger unter Strafe stellen. Die Konvention legt zudem zum ersten Mal fest, dass unrechtmässig erworbene Vermögenswerte unter bestimmten Voraussetzungen zurückerstattet werden müssen. An der dritten Vertragsstaatenkonferenz vom 9.­13. November 2009 in Doha wurde die Konvention gestärkt, unter anderem durch die Verabschiedung eines Umsetzungsmechanismus. Der Peer Review soll in zwei Zyklen von jeweils 5 Jahren jeden Vertragsstaat auf die Umsetzung der UNCAC überprüfen. Der Überprüfungsmechanismus kann in vielen Bereichen (Transparenz
der Berichte, Einbezug der Zivilgesellschaft, Diskussion im Plenum, etc.) noch nicht als ausreichend erachtet werden. Trotzdem stellt er einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung dar. 2010 wird in dem Sinne wegweisend für diesen neu geschaffenen Überprüfungsmechanismus sein, fand doch vom 28. Juni bis am 2. Juli 2010 bereits die Eröffnungssession der Implementation Review Group (IRG) statt. Die IRG, welche als Hauptgremium des Peer Reviews bezeichnet werden kann, löste bei diesem Treffen die letzten offenen Modalitätsfragen und startete gleichzeitig offiziell den ersten Zyklus, indem die Liste der Überprüfungen festgelegt wurde. Demgemäss wird sich die Schweiz im zweiten Jahr des Zyklus (Juni 2011 bis Mai 2012) einer ersten Überprüfung im Rahmen der Kapitel III und IV der UNCAC zu stellen haben. Die Schweiz hat grosses Interesse, sich auch in Zukunft aktiv in diesen Prozess einzubringen. Sie wird dies in den wichtigsten Bereichen der UNCAC, also in der Prävention, der technischen Unterstützung sowie der Rückführung von illegal erworbenen Vermögenswerten, auch weiterhin tun.

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Financial Action Task Force (FATF) Am G-20-Gipfel vom September 2009 in Pittsburgh haben die Regierungschefs die FATF aufgerufen, sich im Kampf gegen die Korruption in erster Linie für das Aufspüren von Korruptionserlösen und die Verbesserung der Abschreckungswirkung von Massnahmen gegen Geldwäscherei zu engagieren. Die FATF nimmt den Appell ernst und untersucht diese Aspekte im Hinblick auf Prävention, Stärkung der Institutionen und internationale Zusammenarbeit. Die Schweiz, die in diesem Bereich eine gute Bilanz vorweisen kann, hat ein Interesse daran, für die faktische Umsetzung der geltenden Standards in Sachen Korruptionsbekämpfung wie auch für die Festlegung von wirksamen und risikoadäquaten internationalen Normen einzustehen und engagiert sich in diese Richtung. Im Jahr 2009 hat sie sich an den Arbeiten einer Expertengruppe der FAFT beteiligt, die eine verbesserte internationale Zusammenarbeit im Bereich der Beschlagnahmung von Potentatengeldern anstrebt.

Interdepartementale Arbeitsgruppe Korruptionsbekämpfung In der Schweiz gab es seit dem Jahr 2000 eine Konsultativgruppe Korruption, ein informeller Zusammenschluss der institutionellen Akteure im Bereich der Korruptionsbekämpfung auf Bundesebene. In ihrem «Evaluationsbericht über die Schweiz» hatte die GRECO der Schweiz 13 Empfehlungen vorgelegt. Eine davon lautete, die Konsultativgruppe Korruption oder ein anderes geeignetes Gremium mit den nötigen Ressourcen und Kompetenzen auszustatten, um auf nationaler Ebene konzertierte Strategien gegen die Korruption in die Wege leiten zu können (unter Beizug von Bund und Kantonen, Verwaltungen und Gerichten, fachübergreifendem und spezialisiertem Expertenwissen).

Dieser Empfehlung folgend hat der Bundesrat am 19. Dezember 2008 beschlossen, eine interdepartementale Arbeitsgruppe Korruptionsbekämpfung mit einem offiziellen Mandat einzusetzen. Gemäss Mandat stellt das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten das Präsidium und das ständige Sekretariat der Gruppe.

Sie wird vorerst für einen Zeitraum von zehn Jahren eingesetzt, mit Verlängerungsmöglichkeit. Darin vertreten sind alle Bundesämter, die auf irgendeine Art in die Korruptionsbekämpfung involviert sind. Das Mandat umfasst auch die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft (namentlich für Sensibilisierungsmassnahmen).
Vorgesehen sind regelmässige Treffen und thematische Ateliers, an denen gemeinsame Strategien entwickelt werden. Die Gruppe muss dem Bundesrat periodisch über ihre Tätigkeit berichten und kann bei Bedarf Empfehlungen zum Vorgehen in der Korruptionsbekämpfung abgeben. Der erste Bericht wird 2011 erwartet. Die interdepartementale Arbeitsgruppe wird von einer Kerngruppe unterstützt, die die Stellungnahmen koordiniert und für die Umsetzung der Beschlüsse sowie die strategische Ausrichtung der Gruppe zuständig ist. Die Kerngruppe setzt sich zusammen aus Vertreterinnen und Vertretern von Bundesstellen, denen eine Schlüsselrolle in der Korruptionsbekämpfung zukommt. Nach Bedarf und je nach behandelten Themen zieht sie Vertreterinnen und Vertreter weiterer Bundesämter, der Kantone und der Zivilgesellschaft bei. Das erste thematische Atelier über den Schutz der «Whistleblower» innerhalb der Bundesverwaltung hat im Mai 2010 stattgefunden.

Ein zweites Atelier Anfang November 2010 wird sich mit den Korruptionsrisiken im Zusammenhang mit dem Schweizer Erweiterungsbeitrag befassen. Alle Ergebnisse dieser Ateliers werden in den Bericht an den Bundesrat einfliessen.

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4.1.4

Problematik der unrechtmässig erworbenen Potentatengelder

Die unrechtmässig erworbenen Vermögenswerte von Potentaten, auch «politisch exponierte Personen» (PEPs) genannt, sind international ein Problem für die Entwicklung. Die Weltbank schätzt, dass jährlich 20­40 Milliarden Dollar von korrupten Amtsträgern abgezweigt werden. Dies entspricht 20­40 % der Summe, die pro Jahr weltweit für Entwicklungshilfe ausgegeben wird. Das Problem betrifft auch unser Land, da unrechtmässig abgezogene Vermögenswerte auf internationalen Finanzmärkten wie dem der Schweiz wieder auftauchen. Seit Ende der 80er Jahre, nachdem mehrere Aufsehen erregende Fälle bekannt geworden waren (Marcos, Abacha, Montesinos), wurden deshalb Gegenmassnah men ergriffen. Die Schweiz hat heute aufgrund ihrer proaktiven Politik bei der Rückerstattung solcher Vermögenswerte weltweit eine Führungsrolle inne.

Das von der Schweiz entwickelte System beruht auf zwei Pfeilern: Prävention und Rechtshilfe. Die Prävention wurde in Zusammenarbeit mit dem Bankensektor verstärkt. Hauptinstrument dieses ersten Pfeilers ist das Geldwäschereigesetz vom 10. Oktober 199726. Es verpflichtet die Finanzintermediäre, bei Verdacht auf illegale Gelder die Meldestelle für Geldwäscherei MROS (Money Laundering Reporting Office of Switzerland) zu benachrichtigen. Der zweite Pfeiler stützt sich auf das Rechtshilfegesetz vom 20. März 198127, das die Zusammenarbeit mit andern Staaten bei der Beschlagnahmung und Rückerstattung von unrechtmässig erworbenen Vermögenswerten regelt. Das System hat sich alles in allem bewährt. In den letzten 15 Jahren konnte die Schweiz rund 1,7 Milliarden Franken zurückerstatten, viel mehr als jeder andere Finanzplatz.

Trotzdem: Die Möglichkeiten dieses Systems werden immer noch weitgehend verkannt, vor allem im Ausland. Bemüht sich die Schweiz, darzulegen, dass die Kombination von Geldwäschereibekämpfung und erleichterte Rechtshilfe für die Wiedererlangung von Vermögenswerten gut funktioniert, erhält sie wenig internationalen Beifall. Die Kommunikation erweist sich als grosse Herausforderung: Tatsächlich werden zahlreiche Potentatengelder auf dem Schweizer Finanzplatz eingefroren. Dieser Umstand ist jedoch nicht auf die Attraktivität des Bankgeheimnisses zurückzuführen, sondern ist vielmehr Beleg dafür, dass die Schweiz sowohl den politischen Willen als auch das rechtliche Instrumentarium besitzt,
unrechtmässig erworbene Guthaben aufzuspüren, zu blockieren sowie zu konfiszieren und zurückzuerstatten. Allerdings stösst dieses System angesichts der zunehmenden Zahl von so genannt «scheiternden» Staaten auch an seine Grenzen, wie die Beispiele Mobutu und Duvalier zeigen.

Der Fall der Vermögenswerte von Mobutu und Duvalier Die Vermögenswerte Mobutus waren in der Schweiz von 1997­2009 blockiert. In diesen zwölf Jahren hat der Bundesrat alles versucht, um eine Rückerstattung an die Demokratische Republik Kongo (DRK) zu ermöglichen. Dennoch und obwohl die Schweiz der DRK einen auf solche Rechtshilfeverfahren spezialisierten Schweizer Anwalt zur Verfügung stellte, mussten die Vermögenswerte am 15. Juli 2009 freigegeben werden. Grund hierfür war der fehlenden politische Willen der Regierung der 26 27

SR 955.0 SR 351.1

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DRK, sich mit dem Dossier aktiv auseinanderzusetzen und damit die Weiterführung des Rechtshilfeverfahrens zu ermöglichen.

Die Vermögenswerte von Ex-Diktator Jean-Claude Duvalier sind bereits seit 1986 blockiert, abwechselnd im Rahmen von Rechtshilfeverfahren oder auf der Grundlage von Bundesratsentscheiden. Zuletzt verfügte der Bundesrat die Sperrung am 3. Februar 2010 und verhinderte damit, dass die Gelder endgültig an den DuvalierClan zurückflossen. Der Bundesrat reagierte damit auf das Urteil des Bundesgerichts vom 12. Januar 2010, das wegen Verjährung der Straftaten des Duvalier-Clans das Rechtshilfeverfahren in Strafsachen zwischen Haiti und der Schweiz beendete. Die Vermögenswerte bleiben bis zum Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die Rückerstattung unrechtmässig erworbener Vermögenswerte politisch exponierter Personen28 gesperrt.

Bundesgesetz über die Rückerstattung unrechtmässig erworbener Vermögenswerte Im erwähnten Entscheid hat das Bundesgericht im Fall Duvalier ausserdem festgestellt, dass sich die Bedingungen für die Rechtshilfe in Strafsachen «in solchen Fällen als zu streng erweisen» und hat den Gesetzgeber aufgefordert, die nötigen Anpassungen vorzunehmen. Bereits im Juni 2007 war in Folge des Postulats von Nationalrat Felix Gutzwiller zur Rechtshilfe im Falle von «failing states» (07.3459) der Gesetzgebungsprozess in Gang gesetzt worden. Am 24. Februar 2010 konnte der Bundesrat deshalb einen Gesetzesentwurf in die Vernehmlassung schicken. Am 28. April 2010 hat er dem Parlament den Gesetzesentwurf vorgelegt29, das Parlament hat ihn in der Sommer- und der Herbstsession 2010 beraten und am 1. Oktober 2010 verabschiedet30. Die Referendumsfrist bis zum Inkrafttreten läuft am 20. Januar 2011 ab. Das Gesetz sieht ein der Rechtshilfe nachgeordnetes Verfahren vor, das nur zur Anwendung kommt, wenn die Vermögen im Rahmen eines vom Herkunftsstaat verlangten internationalen Rechtshilfeverfahrens in Strafsachen vorläufig sichergestellt wurden, dieses jedoch aufgrund des Versagens staatlicher Strukturen des Herkunftsstaats ergebnislos verlief. Das Gesetz soll verhindern, dass in solchen Situationen Vermögenswerte, die politisch exponierte Personen unrechtmässig erworben haben, an die Inhaber der Konten zurückgegeben werden müssen, wie es im Fall Mobutu geschah. Nach Inkrafttreten des Gesetzes
sollte es deshalb möglich sein, die Duvalier-Vermögen zu beschlagnahmen und der Bevölkerung Haitis zurückzuerstatten. Das Gesetz umfasst folgende drei Hauptelemente:

28 29 30

­

die Möglichkeit der Blockierung von Vermögenswerten politisch exponierter Personen im Rahmen von Rechtshilfeverfahren mit Staaten, deren staatliche Strukturen versagen (Art. 2);

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die Möglichkeit der definitiven Einziehung gesperrter Vermögenswerte durch den Bund (Art. 5);

­

den Grundsatz der Rückerstattung der eingezogenen Vermögen an ihre rechtmässigen Besitzer über Programme der Entwicklungszusammenarbeit (Art. 8).

BBl 2010 3309 BBl 2010 3309 BBl 2010 6563

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Das Gesetz gibt der von der Schweiz seit über 20 Jahren auf nationaler und internationaler Ebene verfolgten Politik Ausdruck, kein Zufluchtsort für Potentatengelder zu sein.

Internationales Engagement Die Schweiz hat mehrere Initiativen lanciert oder Vorstösse unterstützt, die zum Ziel haben, die internationale Koordination im Kampf gegen die Finanzkriminalität zu stärken. Es ist wichtig, dass die internationalen Finanzzentren den internationalen Fluss unrechtmässig erworbener Vermögenswerte gemeinsam verhindern, solche Vermögenswerte rasch blockieren und den rechtmässigen Eigentümern zurückerstatten: ­

Die Schweiz arbeitet regelmässig mit der Stolen Assets Recovery Initiative (StAR) zusammen, die im September 2007 von der Weltbank und vom Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) gemeinsam lanciert wurde. Die Ziele dieser Initiative sind namentlich: die Verbesserung der Möglichkeiten, internationale Rechtshilfegesuche zu stellen und ihnen zu entsprechen; die Verabschiedung und Umsetzung wirksamer Massnahmen zur Einziehung von Vermögenswerten sowie die Verbesserung von Transparenz und Rechenschaftspflicht bei der Verwaltung öffentlicher Finanzen. Im Juni 2010 hat die Schweiz zum ersten Mal zusammen mit StAR in Paris eine internationale Konferenz zur Frage der Wiedererlangung gestohlener Vermögenswerte organisiert. Mit dieser Konferenz, an der Vertreterinnen und Vertreter sowohl von Regierungen wie auch der Finanzindustrie teilnahmen, konnte der Zusammenhang zwischen Wiedererlangung solcher Vermögenswerte und Entwicklung aufgezeigt und ein Dialog über die gemeinsame Verantwortung der verschiedenen Akteure aufgenommen werden.

­

Im Jahr 2001 hat die Schweiz den Lausanne-Prozess ins Leben gerufen, der regelmässig Fachleute aus der ganzen Welt zusammenbringt mit dem Ziel, die geltende Praxis bei der Rückerstattung unrechtmässig erworbener Vermögenswerte zu verbessern und die Kontakte zwischen den betroffenen Ländern zu verstärken. Das «Lausanne-V-Seminar» fand am 29. und 30. April 2010 mit rund 40 Regierungsvertreterinnen und -vertretern und internationalen Expertinnen und Experten statt. Es wurde gemeinsam mit der Weltbank und dem UNODC organisiert und befasste sich mit einer von der StAR veröffentlichten Studie über Hindernisse zur Wiedererlangung von gestohlenen Vermögenswerten.

­

Seit seiner Gründung ist die Schweiz einer der Hauptgeldgeber des International Center for Asset Recovery in Basel. Das Zentrum unterstützt Entwicklungsländer und Schwellenländer in ihren Bemühungen um Rückführung von Vermögenswerten. Es bietet ihnen technische Hilfe in Form von Ausbildungen an, damit sie die für die Einreichung von Rechtshilfegesuchen nötigen Verfahren und Organe aufbauen können. Das Zentrum bietet auch ein breites Spektrum an Kursen zu Gouvernanz und Korruptionsbekämpfung an, die jeweils an das lokale Umfeld und dessen Gegebenheiten angepasst werden. Im Jahr 2010 hat die Schweiz die Durchführung von Ausbildungen in der Demokratischen Republik Kongo und in Kamerun unterstützt.

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­

Auf multilateraler Ebene hat die Schweiz Ende 2009 das UNO-Übereinkommen gegen Korruption ratifiziert. Die Schweiz setzt sich dafür ein, dass dieses Übereinkommen auf der ganzen Welt wirksam umgesetzt wird, insbesondere Artikel 57, der die Staaten verpflichtet, unrechtmässig erworbene Vermögenswerte, namentlich Potentatengelder, den Staaten, denen sie entzogen wurden, zurückzuerstatten. Die Schweiz beteiligt sich regelmässig und aktiv an den Arbeitsgruppen und Vertragsstaatkonferenzen dieses Übereinkommens.

­

Die Schweiz ist einer der Hauptgeldgeber des AML/CFT Trust Fund, eines Treuhandfonds des Internationalen Währungsfonds zur Bekämpfung der Geldwäscherei und der Terrorismusfinanzierung. Mit ihrem finanziellen Engagement und ihrem Know-how trägt die Schweiz namentlich zur Verstärkung des Kampfs gegen Geldwäscherei und Terrorismusfinanzierung in den Entwicklungsländern bei.

4.2

Menschliche Sicherheit

4.2.1

Herausforderungen

In einer Welt, die immer komplexer wird, kann die Schweiz ihre Interessen nur einbringen und fördern, wenn sie alle Instrumente ihrer Aussenpolitik nutzt, darunter auch die Förderung der menschlichen Sicherheit.

Seit den 1990er-Jahren hat sich ein erweitertes Konzept von «Sicherheit» durchgesetzt, nämlich das Konzept der «menschlichen Sicherheit», das den Akzent auf das Individuum und dessen Bedürfnis, ohne Angst leben zu können, setzt. Es ersetzt keineswegs das traditionelle Konzept der Staatssicherheit, sondern ergänzt dieses mit der unverzichtbaren Dimension der individuelle Sicherheit. Tatsache ist, dass in den letzten zwanzig Jahren Bürgerkriege, Bevölkerungsverschiebungen, Willkür, politische wie kriminelle Gewalt und Armut die Menschen mehr gefährdeten als Kriege zwischen zwei Staaten.

Die Förderung der menschlichen Sicherheit wird unter anderem gewährleistet durch die guten Dienste der Schweiz, die Vermittlung in Konflikten, die Konfliktprävention und -transformation, durch den Kampf gegen Antipersonenminen, leichte Waffen, Kleinwaffen und jegliche bewaffnete Gewalt, Menschenhandel sowie durch die Stärkung der Menschenrechte und des Schutzes der Zivilbevölkerung. In diesen Bereichen haben sich die Herausforderungen vervielfacht und eine globale Dimension angenommen.

Für die Schweiz als neutraler Staat sind zusätzlich die Wahrung von Frieden und Sicherheit sowie die Einhaltung des Völkerrechts von vitalem Interesse. Von einem wohlhabenden, von der Globalisierung profitierenden Land wird erwartet, dass es gemeinsame Lösungsansätze für globale Herausforderungen mitträgt und unterstützt. Seit Ende der 1990er-Jahre engagiert sich die Schweiz intensiv für die Unterstützung der menschlichen Sicherheit in der Welt, unter anderem im Rahmen ihrer

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Friedens- und Menschenrechtspolitik sowie ihrer humanitären Politik und ihrer Migrationspolitik31.

Engagement für den Frieden Seit dem Ende des Kalten Krieges konnten mehr als hundert Kriege ­ meist Stellvertreterkriege in Afrika, Asien oder Lateinamerika ­ beendet werden Heute aber sind bewaffnete Konflikte und ihre Auswirkungen komplexer geworden. Die Krisen entstehen hauptsächlich im Innern eines Staatsgebietes oder in Zonen, in denen der Staat fragil ist. Die Auseinandersetzungen finden zwischen nichtstaatlichen Gruppierungen und Kräften der nationalen Sicherheit, paramilitärischen Gruppierungen oder privaten Militär- und Sicherheitsfirmen statt; die Kämpfe dehnen sich oft auf Nachbarländer aus und destabilisieren ganze Regionen. Die gegenseitigen Abhängigkeiten haben weltweit derart stark zugenommen, dass auch Länder weitab von Konfliktregionen unter den Folgen der Konflikte leiden: Gefährdung von Investitionen und Exporten, Zunahme des organisierten Verbrechens, Anschwellen der Migrationsströme. Die bewaffnete Gewalt ist ganz allgemein eine der grössten Herausforderungen. Jedes Jahr werden weltweit rund 740 000 Menschen getötet, wovon 490 000 nicht aus Konfliktgebieten stammen. Die daraus resultierenden Kosten sind nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die Entwicklung enorm.

In den letzten zwanzig Jahren wurde das Engagement für Frieden und Sicherheit in zahlreichen Ländern und auch auf internationaler Ebene verstärkt. Studien zeigen, dass seit dem Kalten Krieg die bewaffneten Konflikte in der Welt um beinahe 50 % zurückgegangen sind. Diese Tatsache ist zum grossen Teil auf die Bemühungen verschiedener Akteure im Bereich der menschlichen Sicherheit zurückzuführen32.

Die Schweiz hat die Förderung von Frieden und Stabilität ganz im Sinne ihrer humanitären Tradition zu einem wichtigen Pfeiler ihrer Aussenpolitik gemacht. Die Erfahrungen aus der Geschichte sind ein Vorteil und ein Mehrwert in wichtigen Bereichen wie Föderalismus, Demokratie, Wahlprozessen, Achtung von Minderheiten und Vergangenheitsarbeit. Die Schweiz wird als vertrauenswürdige Vermittlerin wahrgenommen.

Wachsende Bedeutung von multilateralen Friedensoperationen Wichtige und wirksame Beiträge zur Verbesserung des internationalen Krisenmanagements stellen multilaterale Friedensoperationen dar, die neben zivilen
Instrumenten der Konfliktlösung und -bewältigung häufig eine robuste militärische Komponente zur Stabilisierung enthalten. Die Anzahl und Komplexität multilateraler Friedensoperationen hat in den letzten beiden Jahrzehnten stark zugenommen. Die UNO führt gegenwärtig 15 Peacekeeping-Operationen mit insgesamt über 31

32

Das Engagement der Schweiz für ein friedliches Zusammenleben der Völker und für die Achtung der Menschenrechte wurde in die Verfassung vom 18. April 1999 (Art. 54) aufgenommen und im Bundesgesetz vom 19. Dezember 2003 über Massnahmen zur zivilen Friedensförderung und Stärkung der Menschenrechte festgelegt (SR 193.9). Die Notwendigkeit eines Engagements in diesen Bereichen wurde in den Aussenpoltischen Berichten 2000 und 2009 und im Legislaturprogramm von 2007­2011 bekräftigt. Die politische Abteilung IV der Politischen Direktion ist der zuständige Dienst für Fragen der menschlichen Sicherheit innerhalb des EDA. Im EDA tragen auch die Direktion für Völkerrecht und die Direktion für Entwicklungszusammenarbeit zum Ausbau der menschlichen Sicherheit bei. Auch andere Einheiten der Bundesverwaltung gehören dazu, wie das VBS, das für die militärische Friedensförderung zuständig ist.

«Human Security Report 2005» und «Human Security Brief 2007», Human Security Centre, Oxford University Press, www.hsrgroup.org.

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100 000 Armeeangehörigen, Militärbeobachtern und Polizisten durch33. Die Erfahrungen aus mehreren erfolglosen Missionen führten zu einer Anpassung des Instrumentariums. Insbesondere werden, im Nachgang zum sogenannten Brahimi-Bericht (2000)34 und den Folgearbeiten wie das Konzeptpapier New Horizon35 (2009), die Zusammenarbeit zwischen zivilen und militärischen Akteuren gestärkt und vermehrt Konfliktursachen bearbeitet. Zudem spielen neben der UNO Regionalorganisationen eine verstärkte Rolle. Trotzdem bleiben Friedensoperationen anspruchsvolle Unternehmungen, deren Erfolg von vielen, oft schwer kontrollierbaren Faktoren abhängt.

Dazu gehören nicht zuletzt der politische Wille der Mitgliedstaaten und die von ihnen zur Verfügung gestellten militärischen, zivilen und finanziellen Mittel. Letztlich gibt es jedoch keine überzeugende Alternative zu internationalem Krisenmanagement, wenn es darum geht, Frieden und Sicherheit zu wahren und nachhaltig Stabilität zu gewährleisten (siehe auch Ziff. 4.1.1).

Seit ihrem Beitritt zur UNO 2002 ­ der wichtigsten internationalen Organisation für Friedensförderung ­ kann die Schweiz in diesem Bereich ihre Arbeit besser mit der internationalen Gemeinschaft abstimmen. Was jedoch die militärische Friedensförderung betrifft, besteht Entwicklungspotential. Ein Vergleich mit anderen neutralen oder nicht allianzgebundenen Staaten wie Irland, Österreich, Schweden und Finnland zeigt, dass diese die militärische Friedensförderung zu einer strukturbestimmenden Kernaufgabe ihrer Armeen gemacht haben. Rechtlich ist das Erbringen solcher Leistungen zugunsten der internationalen Sicherheit unter UNO- oder OSZE-Mandat mit der Neutralität vereinbar. Mit ihrem Engagement in multilateralem Krisenmanagement geben neutrale Staaten zudem weder ihre Eigenverantwortung noch ihre Unabhängigkeit auf.

Damit die Schweiz ihre sicherheitspolitischen Interessen international möglichst wirksam wahrnehmen kann, wäre deshalb eine Aufwertung der militärischen Friedensförderung anzustreben. Die zur Zeit von der Schweizer Armee geleisteten Beiträge ­ vom Swisscoy-Kontingent über Militärbeobachter, technische Experten (z.B. Entminung, Sicherheit von Waffen- und Munitionsdepots sowie Reform des Sicherheitssektors) bis zu Helikopter-Detachementen ­ werden aufgrund ihrer Qualität von der internationalen
Gemeinschaft geschätzt. Darauf könnte ein quantitativ und qualitativ gewichtigerer Beitrag der Schweizer Armee aufbauen. Der Sicherheitspolitische Bericht 2010 trägt diesem Anliegen insofern Rechnung, als dass er die Kooperation bestätigt und einen quantitativen wie qualitativen Ausbau der militärischen Friedensförderung postuliert.

Gestiegene Bedürfnisse beim Personenschutz Der Schutz von Personen, die Kriegen, Gewalt und Naturkatastrophen ausgesetzt sind, bleibt ein hochaktuelles Problem. Besonders bei modernen Konflikten ist die Unterscheidung von Zivilisten und Kämpfern schwierig, deshalb ist die Zivilbevölkerung besonders verwundbar. Konfliktparteien greifen oft auf Taktiken zurück, die klar dem Völkerrecht widersprechen. Dazu gehören absichtliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung oder die Nichteinhaltung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit. Die Schweiz sucht dabei Antworten auf zwei grosse Herausforderungen: Wie

33 34 35

Stand April 2010, http://www.un.org/en/peacekeeping/bnote.htm.

http://www.un.org/peace/reports/peace_operations/ http://www.un.org/en/peacekeeping/documents/newhorizon.pdf

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können die Konfliktparteien überzeugt werden, die gesetzlichen Normen einzuhalten? Wie können die Bedürfnisse der Zivilbevölkerung abgedeckt werden?

Trotz der Bemühungen der internationalen Gemeinschaft steigt die Zahl der Menschen, die ihre Heimat aufgrund von Krieg, Gewalt oder Naturkatastrophen verlassen, weiter an. Für 2010 erwartet die UNO 214 Millionen Migrantinnen und Migranten ­ rund 3 % der Weltbevölkerung. Das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge hat die Zahl gewaltsam vertriebener Personen per Ende 2008 auf 42 Millionen beziffert (siehe auch Ziff. 4.3).

Somit sind zahlreiche Menschen fern ihrer Heimat auf einen Schutz angewiesen, den viele Staaten nicht gewährleisten können. Es bleibt eine der grossen Aufgaben der internationalen Gemeinschaft, solche Staaten bei der Wahrnehmung ihrer internationalen Verpflichtungen zum Schutz verletzlicher Personen zu unterstützen. Dabei gilt es insbesondere auch weiterhin den grassierenden Menschenhandel zu bekämpfen und deren Opfer ­ vornehmlich Frauen und Kinder ­ die nötige Hilfe zuteil werden zu lassen. Darüber hinaus sind die internationalen Migrationsströme komplexer geworden. Oft sogar im wörtlichen Sinn teilen sich heute Menschen, die Armut und Hunger zu entkommen versuchen, das Boot mit Menschen, die vor bewaffneter Gewalt flüchten. Zu erkennen, wer Anspruch auf welchen Schutz hat, wird zunehmend schwieriger.

Umsetzung menschenrechtlicher Normen als Herausforderung Die Einhaltung der Menschenrechte bleibt eine grosse Herausforderung. Mehr als sechzig Jahre nach der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte werden diese Rechte noch lange nicht überall auf der Welt eingehalten. Der internationale Schutz der Menschenrechte hat zwar ermutigende Fortschritte gemacht. Tatsächlich übernehmen immer mehr Regierungen zwingende rechtliche Verpflichtungen, doch wurde der Respekt der Menschenrechte auch geschwächt: so nutzen gewisse Länder den Kampf gegen den Terrorismus beispielsweise dazu, ihr repressives System auszubauen. In rund sechzig Staaten gibt es immer noch die Todesstrafe. In Dutzenden von Ländern werden Folter oder andere grausame und erniedrigende Praktiken angewendet. Millionen von Menschen haben nach wie vor kein Recht auf Nahrung, Wasser, Gesundheitsversorgung, Bildung, politische Beteiligung und Chancengleichheit. In
diesem Zusammenhang haben im Bereich der Menschenrechte die bisherigen Prioritäten der schweizerischen Aussenpolitik nichts an Aktualität eingebüsst, wie das in der gezielten Förderung der Grundrechte, dem Schutz von verletzlichen Gruppen und der Konsolidierung von bereits existierenden Instrumenten, wie dem Menschenrechtsrat, zum Ausdruck kommt. Die Schweiz muss jedoch weiterhin bereit sein, sich der Herausforderung einer sich ständig verändernden Welt zu stellen. Seit Ende 2008 setzt sie sich für die globalen Ziele ein, die in der Agenda für die Menschenrechte in den nächsten zehn Jahren vorgesehen sind (u.a. Einsetzung eines internationalen Gerichtshofes für Menschenrechte, Errichtung eines internationalen Fonds für Gerechtigkeit oder Massnahmen zur Wahrung der Menschenwürde), oder im Rahmen der Anstrengungen zur Effizienzsteigerung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs. Der im Anhang zu diesem Bericht enthaltene «Bericht über die Menschenrechtsaussenpolitik der

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Schweiz (2007­2011)» illustriert ausführlich die Herausforderungen in diesem Bereich36.

Die Bedeutung der Prävention von Konflikten und schweren Menschenrechtsverletzungen Angesichts der internationalen Entwicklungen und der weltweiten Einflüsse von Krisen aller Art ist es für die Schweiz unabdingbar, ihre Strategien und Instrumente für die menschliche Sicherheit regelmässig zu überdenken. Sie wird sich auch in Zukunft dieser Herausforderung stellen müssen.

Das Augenmerk muss noch stärker auf die Prävention von Konflikten und schweren Menschenrechtsverletzungen gerichtet werden. Es geht darum, Leben zu schonen und die begrenzten Ressourcen, die gegenwärtig durch das Konfliktmanagement und den Wiederaufbau nach einem Konflikt gebunden sind, noch bewusster einzusetzen.

Die Prävention von bewaffneter Gewalt ist aus menschlicher, sozialer, wirtschaftlicher und politischer Sicht tatsächlich viel effektiver und weniger kostspielig als die rückwirkende, Behandlung von Konflikten und die Friedenskonsolidierung. Die Lehren aus den Tragödien in Ruanda und auf dem Balkan sowie die Kostenanalyse der Friedensoperationen37 haben die internationale Gemeinschaft dazu bewogen, die Konfliktprävention zu einem Hauptthema des Millenniumgipfels zu erklären. Die Konfliktprävention war auch ein Hauptanliegen des ehemaligen Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Kofi Annan38, und fand Eingang in Resolutionen der UNOGeneralversammlung und des Sicherheitsrats. Seit 2001 hat die Verhinderung von Angriffen auf Frieden und Sicherheit eine neue Dimension erreicht und an Bedeutung gewonnen. Die internationale Gemeinschaft richtet seither ihre Aufmerksamkeit vermehrt auf Risiken, die von Staaten in einer fragilen Situation ausgehen können (Nährboden für Terrorismus, organisierte Kriminalität, Piraterie und das Übergreifen von Krisen auf Nachbarstaaten), und auf entsprechende Gegenmassnahmen39. Das Auftreten von neuen Risikofaktoren wie die Klimaveränderung machen die Anstrengungen in diesem Bereich noch dringlicher. Obschon die Prävention bewaffneter Konflikte einem Handeln nach dem Konflikt vorzuziehen ist, ist eine Präventionskultur für die internationale Gemeinschaft noch keineswegs Realität.

Zur Förderung der menschlichen Sicherheit verfügt die Schweiz über verschiedene Instrumente, die sie je nach Bedarf in unterschiedlicher
Kombination zur Prävention neuer Konflikte anwenden kann. Das geht von der Bekämpfung der Verbreitung von Waffen und bewaffneter Gewalt bis zur präventiven Schlichtung, von der Festigung des Rechtstaates bis zur Mitwirkung in internationalen Friedensmissionen, von der 36

37

38 39

Dies ist nach 2006 der zweite derartige Bericht, den der Bundesrat dem Parlament vorlegt. Er beantwortet das Postulat 00.3414 der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates vom 14. August 2000. Der vorliegende Text wird zum ersten Mal im Anhang des «Aussenpolitischen Berichtes» publiziert.

Laut Angaben einer Studie der Carnegie-Kommission von 1997 hat die internationale Gemeinschaft rund 200 Milliarden Dollar für die sieben grossen Friedensoperationen der 1990er-Jahre aufgewendet. Die Kommission berechnete die Kosten der Aktivitäten des Konfliktmanagements und jene für eine präventive Aktion. Dabei kam sie zum Schluss, dass die internationale Gemeinschaft durch Prävention nahezu 130 Milliarden Dollar hätte einsparen können.

Siehe: Bericht des Generalsekretärs «Konfliktprävention» vom 7. Juni 2001 und die nachfolgenden Berichte.

Siehe auch: Leitlinien des Entwicklungshilfeausschusses (DAC) der OECD zum Thema «Prävention von gewaltsamen Konflikten», die 2001 gutgeheissen wurden.

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Wiedereingliederung ehemaliger Kämpfer bis zum Wiederaufbau, von der Unterstützung von Wahlprozessen bis zum Dialog mit schwierigen Akteuren, von der Genozid-Prävention bis zum Kampf gegen die Straflosigkeit. Die Schweiz engagiert sich auch für die Stärkung von Kapazitäten und für die Klärung der Verantwortlichkeiten der verschiedenen staatlichen und nichtstaatlichen Akteure im Bereich der Prävention von globalen, regionalen, nationalen und lokalen bewaffneten Konflikten. Für die Zukunft stellt sich die Grundsatzfrage, ob und in welchen Bereichen eine Verstärkung der Konfliktprävention durch die Schweiz gewünscht ist. Die Chance, besonders für operationelle Prävention, liegt in der Glaubwürdigkeit der Schweiz als neutraler Staat ohne Kolonialvergangenheit oder Militärallianzen und in ihrer Expertise bei der Friedensförderung, Menschenrechtsarbeit und Gouvernanz. Konfliktprävention ist politischer Natur und kann mit Interessen von Konfliktparteien und mit Befürchtungen um Souveränität oder «Hidden Agendas» kollidieren. Opportunitäten und Grenzen für eine echte Strategie der Konfliktprävention durch die Schweiz müssen daher genau untersucht werden. Zurzeit sind im EDA Überlegungen im Gange, ob in verschiedenen Aktionsfeldern Massnahmen ergriffen werden sollen. Eine erste Möglichkeit ist die systematischere Nutzung der präventiven Diplomatie. Eine zweite wäre die Ausstattung der Schweiz mit einem operationellen «Werkzeugkasten», bestückt mit Instrumenten aus den Bereichen Entwicklung und Gouvernanz sowie nicht zwingenden Massnahmen der Diplomatie (Demarchen, Dialoge, Fazilitation und Vermittlung). Diese Instrumente könnten nach Bedarf kombiniert, zeitgerecht und kohärent eingesetzt werden. Drittens sollte eine Präventionskultur Eingang finden, welche die Kräfte im Bereich der Aussenpolitik mobilisiert und der Konfliktprävention in der Analyse wie auch in der Ausarbeitung, in der Umsetzung und in der Evaluation von Programmen eine grössere Bedeutung zumisst.

Bilanz 2009 und Engagement 2010 Formulierung der Politik mit Hilfe der im Lauf der Jahre entwickelten Instrumente: Der zweite Rahmenkredit zur Finanzierung der Massnahmen zur zivilen Friedensförderung und Stärkung der Menschenrechte (total 240 Mio. CHF) wurde im März 2008 vom Parlament genehmigt und deckt eine Zeitspanne von mindestens vier Jahren
ab mit Beginn am 1. Mai 2008. 2009 hat das EDA über die Politische Abteilung IV rund 59,8 Millionen Franken für die Förderung der menschlichen Sicherheit eingesetzt. Die Expertinnen und Experten des EDA in Bern, im Feld und in den multilateralen Institutionen haben zur Prävention und zur Beilegung von Krisen sowie zur Ausarbeitung von internationalen Politiken beigetragen; dabei nutzten sie die im Lauf der Jahre geschaffenen Instrumente: die zivilen Friedensförderungsprogramme (40 %, 23,8 Mio. Franken), die Entsendung von Schweizer Expertinnen und Experten für die zivile Friedensförderung (26 %, 15,5 Mio. CHF), bilaterale Dialoge zu den Menschenrechten (1 %, 697 000 Franken), diplomatische Initiativen (18 %, 10,9 Mio. CHF) und die strategischen Partnerschaften (15 %, 8,9 Mio. CHF).

Die Finanzierung der Massnahmen zur Förderung der menschlichen Sicherheit wird nach den OECD-Kriterien bis zu 97 % der öffentlichen Entwicklungshilfe angerechnet. Diese Massnahmen tragen dazu bei, das Ziel der Schweiz in Bezug auf den Anteil der öffentlichen Entwicklungshilfe am Bruttonationaleinkommen zu erreichen. Dabei tritt das EDA öfter als Akteur oder Mit-Akteur seiner Politiken auf (71 % der Ausgaben) und weniger als Geldgeber von Projekten von Dritten (29 % der Ausgaben).

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2009 führte die Schweiz den Dialog mit allen betroffenen Akteuren fort. Gerade in einem Kontext internationaler Spannungen ist es wichtig, zwischen den verschiedenen Positionen Brücken zu schlagen. Die Schweiz hat den Dialog auf internationaler Ebene, wie auch auf bilateraler Ebene mit den betroffenen Staaten und im Rahmen ihrer Arbeit im Feld gefördert und auch im Kontext von bewaffneten Konflikten den Dialog aufrecht erhalten. Durch ihre Erfahrung weiss sie, dass nur mit einer Einbindung aller Konfliktparteien eine echte und friedliche Lösung möglich ist.

Die Förderung der menschlichen Sicherheit wird je länger je mehr als eine kollektive Aufgabe betrachtet. Auch 2009 führte die Schweiz ihre enge Zusammenarbeit mit Partnern weiter, die sie über die Jahre aufgebaut hat. Sie arbeitet mit internationalen und regionalen Organisationen zusammen, wie der UNO, der OSZE, dem Europarat und der Europäischen Union, mit gleichgesinnten Ländern, wie Norwegen und Schweden und mit akademischen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen. Diese externen Partner haben dank ihrer Expertise, ihres Einflusses oder ihrer Präsenz im Feld einen Multiplikatoreffekt, welcher die Anstrengungen der Schweiz zugunsten der menschlichen Sicherheit stärkt und die eigenen Kapazitäten in diesem Bereich ergänzt.

Eine friedliche Beilegung von Konflikten und die Sicherung der Stabilität, das Engagement zugunsten der Einhaltung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts sowie die Förderung eines effizienten Migrationsmanagements, das die menschliche Würde respektiert, stellen künftig einen wichtigen Teil der Sicherheitspolitik der Schweiz dar und gewährleisten die Wahrung ihrer Interessen in der Welt.

Für 2010 wurde ein Budget von 62,8 Millionen Franken für Aktivitäten in diesen Bereichen bewilligt.

Berücksichtigung der unterschiedlichen Bedürfnisse und Rollen von Frauen und Männern: Das EDA hat sich dazu verpflichtet, beim Einsatz der Instrumente zur Förderung der menschlichen Sicherheit in allen Programmphasen (Analyse, Konzeption, Realisierung konkreter Aktivitäten und Evaluation) die unterschiedlichen Bedürfnisse und Rollen von Frauen und Männern zu berücksichtigen und sich gegen geschlechtsspezifische Gewalt einzusetzen. Dabei setzen internationale Regelwerke wie die UNO-Sicherheitsratsresolution 1325 zum Thema
Frauen, Frieden und Sicherheit40, und der entsprechende Nationale Aktionsplan der Schweiz wichtige Aktionsparameter. Im Jahr 2009 wiesen 67 % der Ausgaben des EDA für Aktivitäten im Bereich menschliche Sicherheit eine erhebliche bis ausgeprägte (2008: 56 %), und 20 % eine geringe (2008: 32 %) Gender-Sensitivität auf. Bei 13 % der Ausgaben war das Kriterium der Gender-Sensitivität nicht anwendbar (2008: 12 %).

Im Rahmen der Aktivitäten der zivilen Friedensförderung werden insbesondere Massnahmen zum verstärkten Einbezug der Frauen als Akteurinnen gefördert, um damit ein besseres Gender-Gleichgewicht in friedensrelevanten Prozessen zu erreichen. So unterstützt das EDA das politische Engagement von Frauen in Südosteuropa, Sudan, Kolumbien, Nepal und anderen Schwerpunktländern. Zudem arbeitet das EDA mit Partnern wie «PeaceWomen Across the Globe» zusammen, einem globalen Netzwerk von Frauen, die auf allen Ebenen der Friedenspolitik aktiv sind.

Im Bereich der humanitären Politik besteht eine mehrjährige Zusammenarbeit mit dem OCHA Gender Standby Capacity Project («Gencap»), welches den UNOPartnerorganisationen im Feld Experten und Expertinnen zur Entwicklung von 40

Resolution des UN-Sicherheitsrats 1325, 31. Oktober 2000.

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genderspezifischen Programmen zur Verfügung stellt. Aus Anlass des 10-jährigen Jubiläums der Resolution 1325, das 2010 stattfindet, unterstützt die Schweiz zudem eine Kampagne der zivilgesellschaftlichen Aktionsplattform NGO Working Group in New York, die während eines Jahres die Aktivitäten des Sicherheitsrats hinsichtlich der Umsetzung der Resolution analysiert. Ebenfalls im Rahmen des Jubiläumsjahrs wurde im Februar 2010 gemeinsam mit spanischen Partnern ein erfolgreicher Anlass in Madrid organisiert unter dem Titel «1325: Die Rolle der Frauen in Friedensprozessen».

Im Jahr 2010 überarbeitet eine interdepartementale Arbeitsgruppe unter der Federführung des EDA den Nationalen Aktionsplan 1325 für eine zweite Implementierungsphase (2010­2012). Dabei wird auf die Erfahrung mit dem ersten Nationalen Aktionsplan aufgebaut, um die Effektivität der schweizerischen Massnahmen im Bereich Gender und Sicherheitspolitik weiter zu steigern.

4.2.2

Friedensförderung

Zivile Friedensförderungsprogramme Für ein seriöses Engagement im Bereich der Friedensförderung sind beträchtliche zeitliche und finanzielle Ressourcen erforderlich. Aus diesem Grund und um die Wirkung zu erhöhen, ist es wichtig, die Anstrengungen auf bestimmte Länder und Regionen zu konzentrieren. Aufgrund einer 2005 durchgeführten Analyse wurden geografische Prioritäten definiert. Die Schwerpunktländer und -regionen sind von dreizehn (2004) auf sieben (2007) reduziert worden. Diese Anzahl wird seither aufrechterhalten. Im Jahr 2009 waren Südosteuropa (3,5 Mio. CHF), der Nahe Osten (3,9 Mio. CHF), Sudan (2,3 Mio. CHF), die Region der Grossen Seen (2,3 Mio.

CHF), West- und Zentralafrika (1,1 Mio. CHF), Kolumbien (1,5 Mio. CHF) und Nepal (0,6 Mio. CHF) Schwerpunkte der zivilen Friedensförderung der Schweiz.

Dieses Engagement war in die Gesamtstrategie des EDA eingebettet und erfolgte in enger Zusammenarbeit mit weiteren Akteuren des Bundes vor Ort, wie die Entwicklungszusammenarbeit oder die militärische Friedensförderung.

Wie in der Botschaft vom 15. Juni 2007 über die Weiterführung von Massnahmen zur zivilen Friedensförderung und Stärkung der Menschenrechte41 vorgesehen, sind 80 % der Mittel für die Friedensförderung in ausgewählten Schwerpunktländern und -regionen konzentriert. Die übrigen Ressourcen werden für punktuelles Engagement eingesetzt, wie dies in der Berichtsperiode in Indonesien, in Sri Lanka oder im Nordkaukasus geschehen ist.

In den meisten Fällen, selbst nach Abschluss eines Friedensprozesses, bleiben die erreichten Resultate oft fragil. Ein Beitrag zu einem nachhaltigen und glaubwürdigen Frieden, verlangt nach einem mehrjährigen Engagement. Deshalb gibt die Schweiz auch in Zukunft den mittelfristigen Engagements den Vorzug.

Im Kosovo, in Bosnien und Herzegowina, in Mazedonien und in Serbien verfolgt der Bund ein Friedensförderungsprogramm zur Stabilisierung einer Region, die eine enge Verbindung mit der Schweiz hat. Wichtigste Elemente sind der Politikdialog, der Schutz der Minderheiten und die Vergangenheitsarbeit.

41

BBl 2007 4733

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Im Nahen Osten setzt die Schweiz auf eine Politik des Dialogs, die alle betroffenen Parteien in Israel, im besetzten palästinensischen Gebiet und im Libanon umfasst.

Nach dem Konflikt von 2009 engagierte sich die Schweiz für die Öffnung des Gazastreifens und unterstützte die Untersuchungsmission des UNO-Menschenrechtsrats, die vom ehemaligen Richter Richard Goldstone geleitet wurde. Aufgrund des Mandats, das der Schweiz von der UNO-Generalversammlung im November 2009 übertragen wurde, führte die Schweiz ihre Konsultationen im Hinblick auf eine mögliche Konferenz mit den Hohen Vertragsparteien über die Umsetzung der vierten Genfer Konvention im besetzten palästinensischen Gebiet fort. Zudem bietet sie ihre guten Dienste an, um annehmbare Lösungen für alle Parteien zu finden. Zum Beispiel unterstützt sie auch weiterhin die Genfer Initiative, die als Modellabkommen für eine Zweistaatenlösung gilt und auf eine Initiative der Zivilgesellschaft zurückgeht. Darin sind spezifische und ausführliche Empfehlungen enthalten. Die 2009 veröffentlichten Anhänge weckten grosses Interesse.

Im Sudan geht die Unterstützung der Schweiz für die Umsetzung des globalen Friedensvertrags von 2005 weiter. Die Schweiz engagierte sich bei den Vorbereitungen zu den allgemeinen Wahlen, die im Frühling 2010 stattgefunden haben, und beim Referendum über die Unabhängigkeit des Südens, das Anfang 2011 stattfinden sollte. Im Süd-Sudan beteiligt sie sich namentlich am Aufbau von staatlichen Institutionen, an der Verbesserung der Lebensbedingungen für die Zivilbevölkerung und an der Förderung zum Schutz der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts. In Darfur, wo die Situation immer noch sehr angespannt ist, wurde die Expertise der Schweiz im Rahmen von Vermittlungsbemühungen der Afrikanischen Union und der UNO verschiedene Male eingeholt.

Im Zentrum der schweizerischen Anstrengungen in Burundi stehen Themen wie die Förderung des Dialogs, die Vergangenheitsarbeit, der Kampf gegen Kleinwaffen und leichte Waffen sowie eine bessere Achtung der Menschenrechte. Hinsichtlich der Wahlen 2010 lieferte der schweizerische Berater für Friedensförderung einen entscheidenden Beitrag bei der Umbildung der letzten Rebellenorganisation (Palipehutu-FNL) in eine politische Partei. Dank ihrer mehrjährigen Erfahrung hat die Schweiz seit Juni
2009 den Vorsitz der «Configuration Burundi de la Commission de consolidation de la paix» der UNO inne.

Im Rahmen der zivilen Friedensförderungsprogrammen in West- und Zentralafrika ist die Schweiz in Mali, im Niger und im Tschad aktiv. Parallel dazu engagiert sie sich für eine Stärkung der Kapazitäten der französischsprachigen, afrikanischen Akteure bei der Friedensförderung und beim Aufbau einer Zusammenarbeit mit der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS).

In Kolumbien legte die Schweiz nach dem Unterbruch der Friedensverhandlungen 2008 den Akzent ihres Programms auf die Förderung des Friedens, des Rechtsstaates und der partizipativen Demokratie. Während der ersten Jahreshälfte 2010 hat die Schweiz den Vorsitz des tripartiten Fünrungsgremiums der Gruppe inne, in der die 24 Geberländer, die kolumbianische Regierung und die Zivilbevölkerung (G-24) vertreten sind. Seit 2003 begleitet diese Gruppe Kolumbien auf dem Weg zu einem dauerhaften Frieden.

In Nepal, wo die Schweiz 2009 mit der Eröffnung einer Botschaft in Katmandu fünfzig Jahre Entwicklungszusammenarbeit feiern konnte, werden die Anstrengungen im Rahmen des Friedensprozesses weitergeführt. In den letzten Jahren leistete die Schweiz einen wesentlichen Beitrag bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung.

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Sie wird auch weiterhin die Staatsreform, insbesondere in den Bereichen Föderalismus und Reform des Sicherheitssystems, unterstützen.

Friedenssichernde Aufgaben Ganz allgemein richten sich die zivilen Friedensförderungsprogramme auf Aktivitäten, welche die Nachhaltigkeit des Friedensprozesses sichern, und auf Bereiche, in denen die Schweiz über eine besondere und anerkannte Expertise verfügt: Mediation, Vergangenheitsarbeit und Genozid-Prävention, Förderung der Menschenrechte, Fragen in Zusammenhang mit Frieden und Gerechtigkeit, Stärkung des Rechtsstaates, Föderalismus, Gewaltentrennung, Einbezug von religiösen Faktoren und Unterstützung bei Wahlprozessen.

Mediation, Unterstützung von Mediation und Fazilitation Die Mediation in Friedensverhandlungen ist eines der wichtigsten und erfolgreichsten Instrumente der zivilen Friedensförderung des Bundes, denn die meisten bewaffneten Konflikte werden heute durch Friedensverhandlungen gelöst. Dazu werden Mediatoren beigezogen, denen von den Konfliktparteien ein formelles Mandat anvertraut wird, oder die hinter den Kulissen die Friedensprozesse unterstützen. Die wichtigsten Mediatoren sind die UNO sowie regionale Organisationen wie die Afrikanische Union, aber auch Staaten wie Norwegen und die Schweiz sowie NGO können in Friedensverhandlungen zwischen den Parteien vermitteln. Die Konfliktparteien, insbesondere die nichtstaatlichen bewaffneten Gruppierungen, sind auf eine Unterstützung der Friedensverhandlungen angewiesen, weil sich diese zu komplexen Prozessen gewandelt haben, in denen verschiedene Themen behandelt werden. Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration der Kämpfer der bewaffneten Gruppierungen ins zivile Leben oder in die offizielle Armee, Aufbau der staatlichen Institutionen, Gewaltenteilung und föderalistische Strukturen, Revision der Verfassung, transitionelle Justiz, Vergangenheitsarbeit und Aufteilung der Einkommen aus natürlichen Ressourcen sind nur einige der Themen, für die eine Lösung gefunden werden muss.

Die Schweiz ist gut positioniert, um zur Mediation von Friedensverhandlungen beizutragen, denn sie hat keine koloniale Vergangenheit, ist neutral, gehört keinem Machtblock an und verfügt über ein für viele Konfliktregionen attraktives föderales und demokratisches System. Die Schweiz hat zudem die notwendige Expertise, eine
langjährige Tradition der guten Dienste und Erfahrung in der Mediation von Friedensprozessen.

Die Schweiz konnte in den beiden letzten Jahren zwischen Armenien und der Türkei vermitteln und zur Normalisierung ihrer Beziehungen beitragen. Nach verschiedenen Verhandlungsrunden, unter anderem auch in der Schweiz, haben die Parteien im Oktober 2009 in Zürich entsprechende Protokolle unterschrieben, die von den Parlamenten der beiden Länder ratifiziert werden müssen. In diesen Protokollen ist das Vorgehen festgehalten, um diplomatischen Beziehungen aufzunehmen, die Grenzen zu öffnen und ein Gremium für die Aufnahme von bilateralen Beziehungen einzusetzen, das eine «Kommission für die historischen Zusammenhänge» mit einschliesst. Diese Mediation veranschaulicht, was die Schweiz im Rahmen ihrer guten Dienste leisten kann. Sie zeigt aber auch, wie wichtig solche Aktivitäten im Rahmen der bilateralen Beziehungen sein

1146

können, namentlich in den Beziehungen mit Armenien und der Türkei, aber auch jenen mit den Vereinigten Staaten, Russland, Frankreich und der Europäischen Union, deren hohe Vertreter bei der Unterzeichnung in Zürich anwesend waren.

Ein Schweizer Berater für Friedensförderung hat auch in Nepal während des Bürgerkrieges vermittelt, die Kontakte zwischen den politischen Parteien und den Maoisten ermöglicht, und diese bei der Erarbeitung des Friedensabkommens vom 21. November 2006 unterstützt. Seitdem versucht ein Schweizer Experte, den stockenden Friedensprozess voranzubringen und den Parteien bei der schwierigen Umsetzung des Friedensabkommens zu helfen, insbesondere auch beim Aufbau einer föderalistischen Staatsstruktur. Der Schweizer Berater wurde mehrmals auf informeller Ebene aktiv und vermittelte in Zusammenarbeit mit dem Friedensministerium und hoch angesehenen nationalen Persönlichkeiten in mehreren internen Konflikten. Zudem hat 2009 ein Schweizer Experte den von der Afrikanischen Union und der UNO geleiteten Friedensprozess in Darfur unterstützt, indem er die relevanten Rebellenbewegungen des Darfur in die Techniken und Themen von Friedensverhandlungen einführte und mögliche Verhandlungslösungen aufzeigte.

Die Schweiz ist auch in der Unterstützung der Mediation aktiv. Sie arbeitet mit der UNO und ihren regionalen Organisationen zusammen, indem sie Expertinnen und Experten für Friedensmissionen zur Verfügung stellt. So wurden 2009 Schweizer Experten jeweils zum Prozess zwischen dem Nord- und Südsudan, zu den DarfurVerhandlungen in Doha, zu den Verhandlungen zu Somalia oder zur Westsahara beigezogen oder um Rat angegangen. Die Schweiz leistet zudem finanzielle Beiträge an die Mediation Support Unit der UNO. Sie unterstützt ausgewählte, auf Mediation spezialisierte Nichtregierungsorganisationen wie das Centre for Humanitarian Dialogue und die Kofi Annan Foundation in Genf und arbeitet mit diesen in verschiedenen Prozessen zusammen. Diese Organisationen haben komparative Vorteile, wenn es um Konflikte in Staaten geht, die keine Einmischung anderer Staaten oder internationaler Organisationen dulden. Sie sind oft auch die einzigen internationalen Akteure, die über Jahre hinweg Kontakte mit bewaffneten Gruppierungen pflegen können, um sie zur Aufnahme von Friedensverhandlungen zu bewegen.
Die Schweiz engagiert sich zudem stark in der Mediationsausbildung: Sie bietet Ausbildungsmodule für schweizerische und ausländische Expertinnen und Experten an. Sie führt, oft im Auftrag der UNO, auch Kurse zur Vorbreitung von Teilnehmern von nationalen Dialogprozessen durch.

Die Vergangenheitsarbeit und die Genozid-Prävention Die Erfahrung zeigt, dass eine unzureichende Aufarbeitung der Vergangenheit dazu führen kann, dass Konflikte immer wieder aufflammen. Die Jahreskonferenz der Politischen Abteilung IV des EDA im 2009 war der Vergangenheitsarbeit gewidmet.

Die Konferenz bot Gelegenheit, mit wichtigen Persönlichkeiten dieses für die Schweiz prioritäre Thema zu erörtern. Auf bilateraler Ebene unterstützt die Schweiz lokale Initiativen (beispielsweise die Suche nach verschwundenen Personen oder den Kampf gegen Straflosigkeit). Sie stellt ihre Expertise in der Region der Grossen Seen, in Indonesien, im Nahen Osten, in Nepal, in Somalia, in Südosteuropa, in West- und Zentralafrika sowie in Kolumbien zur Verfügung. Die Schweiz fördert in diesen Ländern die Einsetzung angemessener Mittel bei der Faktensicherung, der 1147

Schaffung von adäquaten juristischen Strukturen bei Programmen zur Wiedergutmachung und bei Reformen der Sicherheitsinstitutionen.

In Kolumbien beispielsweise führt die Schweiz den Vorsitz des «Conseil Consultatif International du Groupe de Travail sur la Mémoire Historique», der 2009 mehrere Berichte veröffentlichte, die zahlreiche Vorschläge enthielten, wie die öffentliche Politik erneute Menschenrechtsverletzungen vermeiden kann. In Nepal trug eine Analyse zu einem besseren Verständnis des Zusammenhangs zwischen Vergangenheitsarbeit und Friedensförderung bei. Auch der Prozess, der zur Unterzeichnung der Protokolle zwischen Armenien und der Türkei führte, wurde von der Schweiz unterstützt. Auf multilateraler Ebene erhielt die Schweiz zahlreiche Anfragen zum Umgang mit der Straflosigkeit in Friedensverträgen. Die Schweiz verfasste deshalb eine «Orientierungshilfe» für Mediatoren, die die Vergangenheitsarbeit in den Friedensprozessen thematisiert und auf der Website der «Mediation Support Unit» der UNO zu finden ist.

Die Schweiz organisierte mit Argentinien 2008 in Buenos Aires das erste regionale Forum zur Genozid-Prävention. Es folgte ein zweites Forum, das im März 2010 in Tansania stattfand. Diese Initiativen sind Teil der Bemühungen auf regionaler Ebene einer besseren Prävention von Genozid und Massenverbrechen.

Der religiöse Faktor bei der Konfliktlösung Heute wird breit anerkannt, dass Religion und Weltbilder in vielen Konflikten eine wichtige Rolle spielen. Die in die Politik eingebundenen, religiösen Akteure müssen Teil der Lösung sein. Sehr häufig werden sie im Rahmen einer Konflikttransformation jedoch übergangen. Die zu verteidigenden Interessen sind in den religiös motivierten Werten verankert, mit der Folge, dass sich religiöse und politische Faktoren vermischen. Das EDA hat ausgehend vom Ansatz der Prävention und Transformation gewalttätiger Konflikte eine Kompetenz aufgebaut, die international anerkannt wird. Die Schweiz initiierte einen Dialog mit politischen Akteuren, die religiös motiviert sind und deshalb als wichtige «Türöffner» für Lösungen fungieren können.

In Partnerschaft mit akademischen Zentren integriert das EDA auch Akteure in Friedensprozesse, die durch ihre Sicht der Welt als schwierig gelten (wie in Sri Lanka oder im Libanon) und führt praxisbezogene Dialoge in
Zentralasien und im Nahen Osten.

2009 und vor allem 2010 gewannen diese Projekte an Relevanz, wie beispielsweise ein auf den Dialog ausgerichtetes Projekt in Tadschikistan oder eines mit karitativen islamischen Organisationen. Letzteres soll ein sicheres und gerechtes Zusammenleben von Bevölkerungen mit unterschiedlichen Wertvorstellungen fördern. Diese Projekte haben den guten Ruf der Schweiz im Ausland, insbesondere in den islamischen Ländern, verstärkt und dazu beigetragen, dass sich die Schweiz als kompetente Akteurin, die Dialogbereitschaft signalisiert, profilieren konnte. Die Schweiz wird für ihre konkreten Massnahmen und ihre Pionierarbeit, namentlich im Rahmen der Allianz der Zivilisationen, geschätzt. Die Allianz der Zivilisationen ist eine Initiative der UNO, die nach dem Terroranschlag in Madrid 2004 von Spanien und der Türkei vorgeschlagen wurde. Ziel ist es, Lösungen zu suchen, welche die Spannungen zwischen vorwiegend islamischen Gemeinschaften und Ländern sowie nicht-islamischen Gemeinschaften und Ländern abbauen. Das Engagement und die Aktionen der Schweiz haben dazu beigetragen, nach der Abstimmung über den Bau von neuen Minaretten vom 29. November 2009 die Schweizer Position zu erklären und vorschnelle Schlussfolgerungen und Reaktionen zu verhindern.

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Unter dem Titel «Wenn Weltbilder und Religionen aufeinander treffen» organisierte die Politische Abteilung IV des EDA im Oktober 2010 ihre Jahreskonferenz über Erfahrungen, Möglichkeiten und Methoden, um Konflikte zwischen politischen Akteuren, deren Handeln durch religiöse Überzeugungen beeinflusst wird, konstruktiv anzugehen.

Die Abstimmung zur Minarettinitiative bleibt für die schweizerische Aussenpolitik eine Herausforderung. Der Ruf der Schweiz wie auch ihre Legitimation als Akteurin für Friedens- und Menschenrechtsförderung haben gelitten. Zusammengenommen setzen diese beiden Elemente die Schweiz vermehrt Sicherheitsrisiken aus. Obwohl die internationale Aufmerksamkeit zu diesem Thema gesunken ist, darf man das Potenzial einer Eskalation nicht unterschätzen, umso mehr als andere Debatten und Initiativen, die als «islamfeindlich» wahrgenommen werden, beispielsweise das Burkaverbot, in der Schweiz und in Europa lanciert wurden. Die mit Europa gemeinsame Herausforderung, den richtigen Umgang mit dem Islam in Europa zu finden, stellt indessen für die Schweiz eine Chance dar, den gesamteuropäischen Dialog auch in diesem Bereich zu pflegen. Die Stärkung des guten Rufs der Schweiz und der Legitimität ihrer Auslandsaktivitäten muss den im In- und Ausland lancierten Initiativen des Dialoges Rechnung tragen. Nur so können das Zusammenleben und die Zusammenarbeit verbessert und verstärkt werden. Das vom EDA erworbene Know-how im Bereich von Konflikten mit einer religiösen Dimension erweist sich als sehr wertvoll für den Dialog, den der Bundesrat unmittelbar nach der Abstimmung vom 29. November 2009 empfohlen hat.

Unterstützung von Wahlen Wahlen sind meistens ein zentrales Element von Friedensprozessen. Dies, weil sich Konfliktparteien unter anderem an der Frage aufreiben, wer zur Führung eines Landes legitimiert ist. In Friedensverträgen wird daher oft festgelegt, dass demokratische Wahlen darauf eine Antwort geben sollen. Entsprechend hoch ist der Druck, wenn in Nachkriegsgesellschaften und generell in fragilen Staaten gewählt wird.

Dieser Druck kann zu Konflikten führen. Damit sind demokratische Wahlen nicht nur ein wichtiges Instrument zur politischen Stabilisierung, sie bergen auch die Gefahr der Destabilisierung in sich. Dies insbesondere, wenn Wahlprozesse nicht transparent und glaubwürdig
geführt werden oder wenn Wahlresultate umstritten sind. Zusammen mit internationalen und lokalen Partnern arbeitet die Schweiz daran, das Verständnis des Konfliktpotentials von Wahlen zu verbessern.

Das EDA hat im Verlauf des Jahres 2009 Schweizer Expertinnen und Experten identifiziert, die gegenwärtig ausgebildet werden, um in Krisengebieten beratend tätig werden zu können. Sie helfen relevanten Institutionen vor Ort, heikle Faktoren in der Wahlorganisation zu identifizieren und entsprechend Massnahmen zu ergreifen. Bestehende Erfahrungen, beispielsweise mit Wahlunterstützungsprogramm in Mosambik, werden genutzt, um lokale Kapazitäten für Konfliktprävention zu fördern und auszubauen.

Erhöhung der Sicherheit Die Schweiz setzt sich auf bilateraler und multilateraler Ebene für eine Verbesserung der globalen Sicherheit ein. Sie engagiert sich insbesondere für eine Verringerung der bewaffneten Gewalt in der Welt und legt dabei den Fokus auf Antipersonenminen und Kleinwaffen.

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Antipersonenminen Zehn Jahre nach Inkrafttreten des Ottawa-Übereinkommens über das Verbot von Antipersonenminen ist die Vision einer minenfreien Welt näher gerückt. Trotzdem bleiben grosse Herausforderungen bestehen: So sind rund vierzig Staaten dem Abkommen nach wie vor nicht beigetreten. Eine Reihe von Vertragsstaaten ist mit der Umsetzung der ihnen obliegenden Verpflichtungen betreffend Entminung betroffener Gebiete und Vorräte von Lagerbeständen in Verzug. Auch der Schutz der Zivilbevölkerung vor dem Einsatz von Antipersonenminen durch nichtstaatliche bewaffnete Akteure bedarf der weiteren Stärkung.

Die Schweiz hat 2008/09 die Präsidentschaft der Ottawa-Vertragsstaatenkonferenz ausgeübt. Während der Dauer ihres Mandats setzte sie sich für die Universalisierung des Abkommens, d.h. den Beitritt neuer Staaten, ein und hat zu diesem Zweck eine Reihe von Demarchen bei möglichen Beitrittskandidaten durchgeführt. Sie vermittelte zudem als Vorsitzende einer entsprechenden Arbeitsgruppe bei den Verhandlungen über die Behandlung von Fristerstreckungsgesuchen zur Erfüllung der im Abkommen enthaltenen Pflichten.

Im Dezember 2009 trafen sich 104 Vertragsstaaten und Vertreter aus 18 Beobachterdelegationen, darunter erstmals die USA, zur zweiten Überprüfungskonferenz in Cartagena, Kolumbien. Im Zentrum der Konferenz stand das Thema der Opferhilfe.

Die Schweiz setzte sich dabei für einen integrierten Ansatz ein, der sowohl humanitäre als auch entwicklungsspezifische Aspekte umfasst und Diskriminierungen einzelner Opfergruppen vermeidet. Bei den Verhandlungen zum Aktionsplan von Cartagena setzte sich die Schweiz für die erneute Aufnahme von Bestimmungen ein, die den Schutz der Zivilbevölkerung und den Einbezug nichtstaatlicher bewaffneter Akteure bei der Ächtung von Antipersonenminen bezwecken. Die Schweiz unterstützt zudem weiterhin die Arbeit der Nichtregierungsorganisation «Appell von Genf» (Geneva Call), welche sich bemüht, nichtstaatliche Akteure zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu bewegen.

Bewaffnete Gewalt und Entwicklung: Die Bedeutung von Kleinwaffen Im Rahmen ihrer Bemühungen zur Bekämpfung von Kleinwaffen und leichten Waffen setzt sich die Schweiz seit 2006 unter anderem dafür ein, das Bewusstsein um die Wechselwirkungen zwischen bewaffneter Gewalt und Entwicklung zu erhöhen. Im Rahmen
der Genfer Erklärung über bewaffnete Gewalt und Entwicklung, einer gemeinsam mit dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) lancierten diplomatischen Initiative, soll bis 2015 ein messbarer Rückgang der bewaffneten Gewalt und deren schädlicher Auswirkungen auf die sozioökonomische Entwicklung erreicht werden.

Der von der Initiative abgedeckte Themenkreis hat im Verlauf des Jahres 2009 stark an Beachtung und politischer Bedeutung gewonnen. Im Nachgang zu einer Resolution der UNO-Generalversammlung, die Ende 2008 auf Anregung der Schweiz und einer Gruppe gleichgesinnter Staaten eingebracht worden war, lud der UNOGeneralsekretär die Mitgliedstaaten ein, ihm ihre Sichtweise der Problematik sowie mögliche Lösungsansätze darzulegen.42 Der daraus resultierende Bericht über die Förderung der Entwicklung mittels Prävention und Reduktion von bewaffneter 42

Resolution der UN-Generalversammlung A/64/228, «Entwicklungsförderung durch Reduktion und Prävention von bewaffneter Gewalt», 5. August 2009.

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Gewalt enthält eine substanzielle Analyse zur Fragestellung und eine Reihe konkreter Massnahmen zur Verbesserung der Situation. Die unter Vorsitz der Schweiz stehende und 14 Staaten umfassende Lenkungsgruppe des Prozesses der Genfer Erklärung beabsichtigt diesen Bericht zum Anlass nehmen, um die Diskussionen in der UNO zu vertiefen und mögliche Schritte im Hinblick auf eine Verbesserung der Situation zu bestimmen.

Von grosser Bedeutung für den Prozess der Genfer Erklärung dürfte im Jahr 2010 zudem die Überprüfung der bisherigen Schritte zur Erreichung der UNO-Millenniumsentwicklungsziele sein. Bewaffnete Gewalt stellt eines der grossen Hindernisse für deren Erreichung dar. Norwegen, das sich diesbezüglich ebenfalls engagiert und den Themenkomplex bewaffnete Gewalt und Entwicklung im Herbst 2009 zu einer Priorität seiner Aussenpolitik erklärt hat, organisierte zusammen mit UNDP im Mai 2010 eine internationale Konferenz zu diesem Thema, die es auch der Schweiz erlaubt hat, ihre diesbezüglichen Anliegen einzubringen.

Angliederung der drei Genfer sicherheitspolitischen Zentren an das EDA Die Schweiz schuf vor mehr als zehn Jahren in Genf drei Kompetenzzentren für die Sicherheit, nämlich das Zentrum für Sicherheitspolitik, das internationale Zentrum für Humanitäre Minenräumung und das Zentrum für die demokratische Kontrolle der Streitkräfte. Als privatrechtliche Stiftungen sind die drei Zentren wichtige Partner der schweizerischen Aussenpolitik im Bereich Frieden und Sicherheit, denn sie machen in den internationalen Diskussionen ihren Einfluss geltend. Der Bund übernimmt rund 60 % ihres globalen Budgets. Seit 2004 wurde die Finanzierung zwischen dem VBS (rund zwei Drittel) und dem EDA (rund ein Drittel) aufgeteilt. Im Rahmen des Konsolidierungsprogramms 2011­2013 und der Überprüfung der Aufgaben sind das VBS und das EDA übereingekommen, die Finanzierung der Zentren und die Steuerung der Beiträge des Bundes ab 2010 ganz dem EDA zu übertragen, eine Massnahme, die vom Bundesrat gutgeheissen wurde.

Auf Bundesebene bedeutet die Angliederung der Genfer Zentren ans EDA eine Entflechtung der Aufgaben zwischen dem VBS und dem EDA und eine Verstärkung der aussenpolitischen Dimension des Engagements der Schweiz in den Zentren. Die neue Aufteilung der Aufgaben ist umso adäquater als die Aktivitäten der Zentren
zwei der fünf Prioritäten der schweizerischen Aussenpolitik entsprechen, die im Artikel 54 der Bundesverfassung verankert sind (Achtung der Menschenrechte, Förderung der Demokratie und des friedlichen Zusammenlebens der Völker).

Die gesamte Übertragung der Steuerungs- und Finanzierungskompetenzen an das EDA garantiert den Zentren mittel- und langfristig eine stabile politische und finanzielle Unterstützung von Seiten der Schweiz. Ihre Unabhängigkeit, ihre zivile wie militärische Ausrichtung und ihre Identität sind nicht in Frage gestellt. Die Schweiz wird weiterhin einen globalen Friedens- und Sicherheitsansatz verfolgen, der die Diplomatie, die Entwicklungszusammenarbeit und die Verteidigung mit einschliesst.

Das Know-how und die Erfahrung der Zentren wie auch ihre weitreichenden Beziehungsnetze tragen dazu bei, dass die Überlegungen und Initiativen der Schweiz auf einem sehr hohen Expertenniveau im Sinne eines Austausches weitergeführt, unterstützt und ergänzt werden können.

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Das Engagement von Schweizer Expertinnen und Experten in internationalen Organisationen Der kontinuierliche Einsatz und die Sekundierung von Schweizer Experten und Expertinnen in internationalen Organisationen haben sich seit den neunziger Jahren als ein wirksames und sichtbares Instrument der schweizerischen Friedens- und Menschenrechtsförderung bewährt. Die Auswahl der multilateralen Organisationen, der Länder sowie der Stellen für die Sekundierung von Schweizer Expertenpersonal orientiert sich dabei an den geografischen und thematischen Schwerpunkten der schweizerischen Friedens- und Menschenrechtsförderung. Dabei fokussiert die Schweiz ihr Engagement auf die Bereiche Staatsaufbau, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und humanitäres Recht, Wahlbeobachtung und Vergangenheitsarbeit.

Im Jahr 2009 waren 202 Experten und Expertinnen der zivilen Friedens- und Menschenrechtsförderung im Rahmen multilateraler und bilateraler Missionen in 37 Ländern im kurz- oder längerfristigen Einsatz. Durchschnittlich waren jeweils 86 Personen ­ darunter 42 % Frauen ­ gleichzeitig im Einsatz, davon elf bilaterale Friedensförderungs- und vier Menschenrechtsberatende. Bei der Rekrutierung, Entsendung und Betreuung von Grenzwacht-, Zoll und Polizei-Personal arbeitet das EDA mit der Oberzolldirektion, Fedpol und den Kantonen zusammen. Allerdings sind zunehmend grössere Bemühungen notwendig, um den seit Jahren vorhandenen Mangel an qualifiziertem Personal für internationale Einsätze im Sicherheits- und Justizbereich zu beheben. Neben der konzeptuellen Planung und Auswahl der sekundierten Stellen, der Rekrutierung von qualifiziertem Personal, der Entsendung und Betreuung der Expertinnen und Experten sowie der Evaluation werden auch Aus- und Weiterbildungsprogramme durchgeführt.

Expertinnen und Experten bei Friedensoperationen der UNO, der EU und anderen Organisationen Im Bereich Peacekeeping, Stabilisation und Peacebuilding setzt sich der Trend hin zu einer noch ausgeprägteren Fokussierung auf zivile Aspekte der Friedensförderung fort. Auf der multilateralen Ebene intensivieren die UNO sowie regionale Organisationen wie die EU, die Afrikanische Union oder die ASEAN ihre Bemühungen, Strategien, Kapazitäten und Personal im Bereich der zivilen Friedensförderung und für den Staatsaufbau zu stärken und weiter aufzubauen. Gleichzeitig
sind auch einzelne Staaten, darunter die USA und Grossbritannien, daran, ihre zivilen Korps weiter auszubauen, die je nach Bedarf weltweit für sogenannte «Rekonstruktionsund Stabilisations-Aktivitäten» eingesetzt werden können. Die Schweiz ist mit ihrer langjährigen Erfahrung im Bereich der zivilen Experten-Einsätze gut positioniert, sich auch hier zu beteiligen und in ihr wichtigen aussenpolitischen Themen Einfluss zu nehmen.

Das weitaus grösste Kontingent von Schweizer Experten und Expertinnen übt seine Arbeit im Kosovo bei der European Rule of Law Mission (EULEX) und im International Civilian Office (ICO) aus sowie in Bosnien und Herzegowina in der European Union Monitoring Mission (EUMM). In der EULEX engagiert sich die Schweiz mit bis zu 13 Personen in den Bereichen Justiz, Polizei und Grenzwacht, während im ICO vier Schweizer Spezialistinnen und Spezialisten in den Themen Dezentralisierung, Minderheitenschutz und Schutz der kulturellen und religiösen Güter tätig sind.

In der Schwerpunktregion Westafrika unterstützt die Schweiz mit Polizei-, Grenzwacht- und Zoll-Fachpersonen die UNO-Missionen in der Elfenbeinküste und in Liberia. In Palästina beobachten Schweizer Experten und Expertinnen innerhalb der 1152

Temporary International Presence in the City of Hebron (TIPH-Mission) zusammen mit Norwegen, Schweden, Italien und der Türkei weiterhin die Situation der zivilen Bevölkerung. Einen wichtigen Beitrag leistet Schweizer Expertenpersonal zudem in der Untersuchungskommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG), welche sich der Vergangenheitsarbeit und dem Aufbau von Strukturen im Justizbereich annimmt.

Expertinnen und Experten am Sitz multilateraler Organisationen Der Expertenpool für zivile Friedensförderung entsendet Experten und Expertinnen in spezifisch ausgewählte Stellen an die Zentralen und Sitze der UNO, der EU, der OSZE und des Europarates. Über die Sekundierung von qualifizierten Schweizer Experten und Expertinnen leistet die Schweiz einerseits einen wichtigen Beitrag zur Aufgabenerfüllung von multilateralen Institutionen, andererseits fliessen Erfahrungen und die Expertise zurück in die Schweiz. In der UNO besetzen Schweizer Experten und Expertinnen unter anderem Stellen in den Bereichen Friedensoperationen, Friedensförderung, humanitäre Politik, Menschenrechte, Bekämpfung des Menschenhandels sowie Wirtschaft und Menschenrechte. Im Europarat besetzt die Schweiz sechs Stellen in den Bereichen Europarats-Reform und Medienfreiheit sowie in Missionen in Weissrussland und Georgien. Insgesamt waren 2009 zwei Dutzend Schweizer Experten und Expertinnen an Hauptsitzen von multilateralen Organisationen tätig. Für 2010 ist ein vergleichbares Engagement geplant.

Teilnahme von Expertinnen und Experten bei Wahlbeobachtungen Die Beteiligung an Wahlbeobachtungen der OSZE, der EU und der Organisation amerikanischer Staaten (OAS) ist ein traditioneller Schwerpunkt des Schweizer Engagements. 2009 wurden, mit einem Budget von 1,4 Millionen Franken, 90 Personen bei Wahlbeobachtungen in 14 Missionen und 11 Staaten eingesetzt, darunter in Albanien, Kosovo, Mazedonien, Moldawien, Ukraine, Kirgisistan, Mosambik, El Salvador und Bolivien. Dazu zählten 32 Langzeitbeobachter, welche sich für zwei bis drei Monate im Beobachtungsland aufhielten, sowie 58 Kurzzeitbeobachter. Eine Schweizerin wurde zudem als Chefin der OSZE-Wahlbeobachtung in der Ukraine nominiert. Im Kosovo beteiligte sich die Schweiz überdies an einer Wahlbeobachtung, welche durch eine regionale Nichtregierungsorganisation organisiert wurde.

4.2.3

Menschenrechtspolitik

Die Einhaltung der Menschenrechte ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine stabile und friedliche Welt. Das Engagement dafür entspricht schweizerischer Tradition und dient gleichzeitig der Wahrung eigener Interessen.43 2009 hat die Schweiz ihr Engagement zugunsten der Menschenrechte verstärkt. Sie förderte neuartige Instrumente, beispielsweise im Bereich «Verantwortung der Unternehmen und Schutz der Menschenrechte»; sie unterstützte die Durchführung des 4. Internationalen Kongresses gegen die Todesstrafe, der 2010 in Genf stattfand; sie unterstützt weiterhin den Kampf gegen Folter; sie ist aktiv bei der Rassismusbekämpfung, namentlich anlässlich der Durban-Review-Konferenz (Antirassismuskon43

Siehe auch den Anhang «Aussenpolitischer Bericht zu den Menschenrechten (2007­2011)» und den Anhang «Zusatzinformationen zum Europarat (2009­Mai 2010)».

1153

ferenz); und sie hat ihre Anstrengungen im Rahmen der Agenda für die Menschenrechte vervielfacht, in der die wichtigsten Ziele auf internationaler Ebene für die nächsten zehn Jahre vorgeschlagen werden. Die Schweiz pflegt auch weiterhin ihre bilateralen Beziehungen, insbesondere im Bereich Menschenrechtsdialog und -konsultation. Auf multilateraler Ebene hat sie bei der Konsolidierung von bereits existierenden Instrumenten mitgearbeitet, insbesondere des UNO-Menschenrechtsrats und seines Mechanismus' der allgemeinen regelmässigen Überprüfung. Auf interner Ebene entschied der Bundesrat im Juli 2009, ein Pilotprojekt «Beschaffung von Dienstleistungen bei einem universitären Kompetenzzentren im Bereich Menschenrechte» zu lancieren.

Damit Menschenrechte nicht nur universell gelten, sondern auch universell angewendet werden, muss im laufenden Jahrzehnt das Schwergewicht auf die Stärkung des Umsetzung gesetzt werden. Die Schweiz tritt daher für die normative Stärkung der Menschenrechte ein und bemüht sich, die Umsetzung der internationalen Menschenrechtsstandards zu fördern. So hatte sich die Schweiz etwa während Jahren aktiv für die Ausarbeitung und Annahme des Zusatzprotokolls zur UNO-Folterkonvention (OP CAT) eingesetzt, welches am 20. März 2009 von den eidgenössischen Räten angenommen und vom Bundesrat mit der Einsetzung der nationalen unabhängigen Kommission zur Verhütung von Folter am 21. Oktober 2009 umgesetzt wurde44. Ferner laufen die Vorbereitungen zum Beitritt zu zwei weiteren KernMenschenrechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, dem Übereinkommen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (ICRPD) sowie dem Internationalen Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (ICED).

Beide Konventionen orientieren sich inhaltlich an bereits bestehenden internationalen Menschenrechtsübereinkommen. Neben den zahlreichen inhaltlichen Bestimmungen sind sie mit wichtigen Umsetzungsinstrumenten versehen. So wird etwa jeweils ein Vertragsorgan geschaffen, dessen Aufgabe in der Überwachung der Umsetzung der Konvention durch die Vertragsstaaten besteht.

Die Einrichtung von wirksamen Kontrollinstrumenten stellt ein unablässiges Mittel zur Förderung der Durchsetzung der Menschenrechte dar, denn Kontrolle ist ein wichtiges Element jeder Politik für einen besseren Menschenrechtsschutz. So
hängt etwa die Glaubwürdigkeit und Effizienz der Arbeit der Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrates davon ab, wie weit die Umsetzung ihrer Empfehlungen kontrolliert wird.

Neue Herausforderungen und Lösungsansätze Die Globalisierung und die wachsende Bedeutung privater Akteure führen dazu, dass neue Lösungsansätze für die Wahrung und den Schutz der Menschenrechte gefordert sind. Menschenrechte werden nicht mehr nur durch autoritäre, starke Staaten gefährdet, sondern auch durch das Handeln Privater. Dies gilt umso mehr in der Gruppe jener zerfallenden oder noch aufzubauenden Länder, deren Staatsapparat geschwächt oder gar funktionsunfähig ist. Da solche «fragilen Staaten» häufig nicht mehr in der Lage sind, Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten, übernehmen private Firmen zunehmend Aufgaben, die auf Grund des Gewaltmonopols allein dem Staat vorbehalten wären. Die Privatisierung solcher Tätigkeiten birgt zahlreiche

44

Gestützt auf das Bundesgestz vom 20. März 2009 über die Kommission zur Verhütung von Folter (SR 150.1).

1154

Probleme im Hinblick auf die Einhaltung der Menschenrechte durch die betreffenden Unternehmen und deren Personal.

Verantwortung für die Einhaltung der Menschenrechte trägt auch die Wirtschaft: Die Globalisierung führt zu einer allmählichen Abschwächung der Rolle des Staats zugunsten der Wirtschaftsakteure. Diese übernehmen oft neue, bisher weitgehend den Regierungen vorbehaltene Aufgaben. Immer wieder kommt es vor, dass einzelne Unternehmen die Situation ausnützen, indem sie von tiefen Sozialstandards in Entwicklungs- und Transformationsländern profitieren. Andere, die dem Druck der Öffentlichkeit stärker ausgesetzt sind, erkennen die negativen Auswirkungen solch kurzfristiger Profite und nehmen ihre Verantwortung verstärkt wahr.

Mit der fortschreitenden Globalisierung kommt es zunehmend zur Entwicklung einer «globalen Zivilgesellschaft». NGO bilden heute ein wichtiges Element bei der Kontrolle und Umsetzung von internationalen Menschenrechtsübereinkommen, etwa im Rahmen der Prozeduren des UNO-Menschenrechtsrats. Wie nie zuvor hat heute die Zivilgesellschaft einen unmittelbaren Anteil an der Rechtsgestaltung auf nationaler und internationaler Ebene. Dabei treten Nichtregierungsorganisationen als kritische Promotoren der Anliegen der Allgemeinheit auf.

In diesen und weiteren Bereichen entfaltete die Schweiz im Berichtszeitraum unter anderem die nachstehend aufgeführten Aktivitäten.

Diplomatische Initiativen Unternehmensverantwortung und Achtung der Menschenrechte Nach der erfolgreichen Annahme des Montreux Dokuments über Rechtspflichten von Staaten beim Gebrauch von Privaten Militär- und Sicherheitsfirmen45 haben Unternehmen, Zivilgesellschaft und internationale Organisationen begonnen, ihre eigene Rolle zur Achtung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts zu definieren. Im Juni 2009 wurde auf Initiative des EDA in Nyon eine internationale Konferenz durchgeführt, auf der private Militär- und Sicherheitsdienstleister, private und öffentliche Auftragnehmer, Nichtregierungsorganisationen und Vertreter Internationaler Organisationen den Rahmen für eine verbindliche Selbstverpflichtung abgesteckt haben. Auf dieser Grundlage hat die Industrie in der «Erklärung von Nyon» ihre Bereitschaft zur Erarbeitung eines Globalen Verhaltenskodex zur Achtung der Menschenrechte und des humanitären
Völkerrechts, sowie dessen Kontrolle, Umsetzung und Einforderung bekundet.46 Gleichzeitig wurde die Schweiz gebeten, eine führende Rolle bei der Unterstützung dieses Vorhabens in Zusammenarbeit mit Partnerstaaten wie USA und Grossbritannien, Industrieverbänden und der Zivilgesellschaft einzunehmen. Unter Federführung des EDA und unter Einbezug der Expertise der Genfer Akademie für Humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte sowie des Geneva Centre for Democratic Control of Armed Forces (DCAF) wurde ein Entwurf eines Verhaltenskodexes erarbeitet, der 2010 in weiten Konsultationen diskutiert und von der Industrie angenommen werden soll.

Ein weiterer Schwerpunkt der menschenrechtspolitischen Aktivitäten der Schweiz liegt im Bereich der Unternehmensverantwortung in Konfliktgebieten. Im April 45 46

«Informal Summary of the Montreux Document by Switzerland», UNO-Dokumente A/63/467 und S/2008/636, 2. Oktober 2008.

Erklärung von Nyon: «Industry Statement», Juni 2009, http://www.dcaf.ch/privatisationsecurity/Industry-statement-PMSC-Wilton-Park-6-Jun-2009.pdf.

1155

2009 wurde in Zürich der internationale Fachworkshop «Business and Conflict: respecting human rights in high risk zones» durchgeführt. Der Workshop ist Ausgangspunkt für verschiedene internationale Aktivitäten und Projekte im Bereich Menschliche Sicherheit und Wirtschaft geworden. Zusammen mit dem Sonderbeauftragten für Wirtschaft und Menschenrechte des UNO-Generalsekretärs und der Genfer Akademie für Humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte wurde 2009 eine Gruppe von Staaten gebildet, die Empfehlungen für die verantwortungsvolle Wahrnehmung der Schutzpflicht von Staaten für menschenrechtsrelevante Unternehmensaktivitäten in Konfliktgebieten erarbeitet.

Mit dem Aufnahmeantrag der Schweiz in die Voluntary Principles on Security and Human Rights, einer internationalen Initiative von Staaten, Unternehmen und Zivilgesellschaft, sollen 2010 weitere Synergien hergestellt werden. Ein Schwerpunkt wird dabei in der konfliktvermeidenden Rohstoffausbeutung und im konfliktvermeidenden Rohstoffhandel liegen.

Weltkongress gegen die Todesstrafe Vom 24.­26. Februar 2010 fand in Genf der 4. Weltkongress gegen die Todesstrafe statt. Ziel des Kongresses war es, dass Politiker, Diplomaten und Vertreter der Zivilgesellschaft gemeinsam Handlungsstrategien für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe entwickeln. Der Einsatz gegen die Todesstrafe ist eine Priorität der schweizerischen Menschenrechtsaussenpolitik. Mit der Durchführung dieses Kongresses hat die Schweiz einen wichtigen Beitrag zur weltweiten Abschaffung der Todesstrafe geleistet, und sie bekräftigt damit die Achtung der Menschenwürde, die in der Schweiz als oberstes Grundrecht respektiert wird.

Eine Agenda für die Menschenrechte Ausgehend vom 60-Jahr-Jubiläum der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat die Schweiz 2008 eine Agenda für Menschenrechte initiiert. Diese soll für die kommenden zehn Jahre einen Bezugsrahmen für eine wirksamere Förderung und einen besseren Schutz für die in der Allgemeinen Erklärung für Menschenrechte verankerten Rechte bieten. Sie bietet Denkanstösse zu Themen wie Menschenwürde, gemeinsame Verantwortung, Rechtspflege und Zugang zur Justiz, Klimawandel und Schaffung eines internationalen Menschenrechtsgerichtshofs. Im Jahr 2009 wurde die Agenda für Menschenrechte vertieft, indem durch akademische Institutionen auf der
ganzen Welt Forschungsprojekte zu den ausgewählten Themenfeldern verfasst wurden. 2010 geht es darum, durch Treffen die Agenda für Menschenrechte und die Ideen der Forschungsprojekte weltweit weiterzuentwickeln und mit Hilfe einer Gruppe von ausgewählten Staaten voranzutreiben. Die Hauptachsen für die weitere Entwicklung im Rahmen dieser Initiative dürften im Bereich der Menschlichen Würde generell und in der Schaffung des Menschenrechtsgerichtshofes liegen. Auch die Errichtung eines Globalen Fonds für Justiz, der eine Reihe der oben erwähnten Themen beinhaltet, steht gegenwärtig im Vordergrund.

Bilaterale Aktivitäten Menschenrechtsdialoge und -konsultationen Die Menschenrechtsdialoge und -konsultationen sind ein Instrument, das im Lauf der 1990er-Jahre entwickelt und getestet wurde. Es geht dabei um die Förderung und den Schutz der Menschenrechte mittels eines bilateral festgeschriebenen, strukturierten, ständigen und speziell auf die Situation des Partnerstaates ausgerichteten Dia1156

logs. Der Inhalt der Diskussionen ist im Prinzip vertraulich ­ nur die Themen werden via Tagesordnung veröffentlicht. Dieses Vorgehen erlaubt es, heikle Fragen offen und konstruktiv zu diskutieren. Die Dialoge und Konsultationen werden oft von Kooperationsprojekten in ausgewählten Bereichen begleitet.

Gegenwärtig führt die Schweiz regelmässig Menschenrechtsdialoge mit ausgewählten Ländern durch. Beim Dialog mit Kuba ist eine Vertiefung mit Begleitprojekten vorgesehen. Im Rahmen der Menschenrechtskonsultationen mit Russland wurde ein Jugendstrafvollzugsprojektes lanciert. Mit China fand 2009 keine Dialog-Runde statt. Immerhin konnten eine Reihe von konkreten Menschenrechtsaktivitäten mit diesem Land durchgeführt werden. Die nächste Runde ist für Herbst 2010 vorgesehen. Im 2009 hat mit dem Iran keine Dialogrunde stattgefunden, dafür aber im 2010 ein Expertentreffen zum Thema Jugendjustiz. Darüber hinaus hat das EDA regelmässig Demarchen gegen Menschenrechtsverletzungen gemacht. Im Oktober 2009 wurde erstmals ein Menschenrechtsdialog mit Tadschikistan lanciert. Die erste Runde fand im Juni 2010 statt. Schliesslich wird gegenwärtig die Möglichkeit eines Menschenrechtsdialogs mit einem westafrikanischen Land evaluiert.

Die Menschenrechtsdialoge und -konsultationen werden regelmässig evaluiert. Der Dialog mit Vietnam wurde 2009 von einer externen Stelle evaluiert.

2009 fand die 7. Runde des Menschenrechtsdialogs mit Vietnam statt. Im gleichen Jahr war dieser Dialog, der 2005 auf Anfrage von Vietnam neu lanciert wurde, Gegenstand einer externen Evaluation, die den Erfolg und die Wirksamkeit dieses Instrumentes bestätigte. Die Evaluation ergab überdies, dass die Begegnungen wichtige Themen zur Sprache brachten, wie das Strafrecht, die Rechte von Minderheiten und die Religionsfreiheit, die Rechte der Frauen und die Gleichstellung der Geschlechter. Sie boten zudem Gelegenheit, ausführlich über Probleme im Bereich Strafverfahren und Strafvollzug zu diskutieren, namentlich Fragen im Zusammenhang mit der Todesstrafe, mit Folter und Administrativhaft. Schliesslich konnten Menschenrechtsfragen diskutiert werden, die vom UNO-Menschenrechtsrat oder vom Internationalen Strafgerichtshof behandelt werden. Parallel zu den offiziellen Diskussionen werden Projekte der technischen Zusammenarbeit und ein Expertenaustausch
zu den prioritären Themen des Dialogs durchgeführt. Dabei werden Wissen und Expertise zur Verfügung gestellt, mit dem Ziel, die Dialogpartner zu sensibilisieren, ihren Reformwillen zu verstärken, und die Umsetzung zu unterstützen. Dieser Dialog und die Begleitprojekte erlauben es, die Synergien mit den Aktivitäten der DEZA in Vietnam zu verstärken.

Multilaterale Aktivitäten UNO-Menschenrechtsrat Auf multilateraler Ebene steht für die Schweiz im Bereich der Menschenrechte der UNO-Menschenrechtsrat im Vordergrund. Eine ausführliche Beschreibung der schweizerischen Aktivitäten in diesem Gremium findet sich im Kapitel zur UNO in diesem Bericht (siehe Ziff. 3.1.1).

Auf die gemeinsame Initiative der Schweiz und Marokkos hin nahm der UNOMenschenrechtsrat 2009 die Verhandlungen zur Ausarbeitung der «UNO-Deklara1157

tion über Menschenrechtsbildung und Schulung» auf. Gemäss Arbeitsprogramm wird die Deklaration im Frühjahr 2011 verabschiedet. Im September 2009 wurde die dritte Resolution zur transitionellen Justiz verabschiedet. Sie wurde von der Schweiz vorgestellt und verlangt vom Hochkommissariat, den Zusammenhang zwischen der Entwaffnung, Demobilisierung und Wiedereingliederung einerseits und der transitionellen Justiz andererseits zu analysieren.

2009 fand die zweite allgemeine regelmässige Überprüfung des UNO-Menschenrechtsrats statt. In diesem Kontext bemühte sich das EDA, die Diskussion mit den wichtigsten Schweizer Akteuren zu fördern, um die Fortsetzung der Empfehlungen, die gegenüber der Schweiz 2008 im Rahmen dieses Verfahrens formuliert wurden, zu garantieren.

Interne Umsetzung der Menschenrechtsverpflichtungen der Schweiz Staatenberichtsverfahren vor der UNO-Ausschüssen Die internationale Glaubwürdigkeit der Schweiz hängt nicht zuletzt davon ab, wie sie Menschenrechtsnormen ratifiziert und intern umsetzt. Illustrativ zeigt sich dies etwa im Rahmen des dritten Berichts der Schweiz über die Umsetzung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II) der am 12. Oktober 2007 dem UNO-Menschenrechtsausschuss übermittelt wurde. In diesem Bericht wurden die Umsetzungsmassnahmen der Vorgaben des Pakts seit 2001 dargestellt. Ebenfalls zu erwähnen sind die Übermittlung des zweiten und dritten Berichts der Schweiz zur Umsetzung des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UNO-Pakt I) am 7. Mai 2008 und die Präsentation desselben vor dem Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte im November 2010.

Universitäres Kompetenzzentrum für Menschenrechte Die Möglichkeit, eine nationale Menschenrechtsinstitution zu schaffen, war in den letzten Jahren Gegenstand zahlreicher Debatten. Anlässlich der allgemeinen regelmässigen Überprüfung des UNO-Menschenrechtsrats im Mai und Juni 2008 entschloss sich die Schweiz, die Empfehlung zur Schaffung einer nationalen Menschenrechtsinstitution nach den internationalen Grundsätzen von Paris in ein freiwilliges Engagement umzuwandeln. Diese Grundsätze wurden von der Generalversammlung der Vereinten Nationen 1993 verabschiedet. Sie definieren die Ziele und den Auftrag der nationalen Menschenrechtsinstitutionen
und geben die Leitlinien über die Form vor. Am 1. Juli 2009 entschied der Bundesrat, ein Projekt zur «Beschaffung von Dienstleistungen bei einem universitären Kompetenzzentrum für Menschenrechte» für eine fünfjährige Pilotphase zu lancieren. Auf Initiative des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten und des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements wurde 2010 ein Expertenkomitee beauftragt, aus den Schweizer Hochschulen eine Leistungserbringerin auszuwählen, die ein solches Kompetenzzentrum führen würde. Einmal in Betrieb trägt es dazu bei, die Kapazitäten des Bundes in der Umsetzung der Menschenrechte zu verstärken. Diese Dienstleistungen stehen auch den Kantonen, den Gemeinden, dem Privatsektor sowie allen übrigen interessierten Akteuren zur Verfügung. Nach Abschluss der fünfjährigen Pilotphase wird der Bundesrat über eine Verlängerung des Kompetenzzentrums entscheiden oder darüber, ob das Zentrum in eine nationale Menschenrechtsinstitution in Übereinstimmung mit den Pariser Grundsätzen umgewandelt werden soll.

1158

4.2.4

Humanitäre Politik

Im Bereich der humanitären Politik ist die «Strategie des EDA zum Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten (2009­2012)» die Grundlage der Tätigkeiten. Diese Strategie soll es der Schweiz erlauben, die interne Kohärenz in diesem Bereich zu erhöhen, ihr bilaterales und multilaterales Handeln wirksamer zu gestalten und ihre internationale Positionierung zu konsolidieren. Basierend auf der Strategie wird sich die Schweiz in den kommenden Jahren auf drei Schwerpunkte konzentrieren: Klärung, Stärkung und Einhaltung des normativen Rahmens zum Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten; Verbesserung der operationellen Massnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten und Stärkung der eigenen Kompetenzen hinsichtlich Schutz der Zivilbevölkerung.

Was die Gruppe der intern Vertriebenen anbelangt, unterstützt die Schweiz auch in Zukunft den Sondervertreter des UNO-Generalsekretärs für die Menschenrechte von intern Vertriebenen. Letzterer setzt seinen Dialog mit Regierungen sowie internationalen und regionalen Organisationen fort, damit die Grundsätze hinsichtlich Vertreibung von Personen innerhalb ihres eigenen Landes angewendet werden. Die Schweiz leistete auch einen wichtigen Beitrag, was die Suche nach nachhaltigen Lösungen für intern Vertriebene oder die Ausarbeitung von Projekten in einem besonderen Kontext wie in Kolumbien oder im Gebiet der Grossen Seen anbelangt.

Sie wird weiterhin den intern Vertriebenen auf bilateralem und multilateralem Weg humanitäre Hilfe anbieten, sie unterstützt die grossen internationalen Akteure auf diesem Gebiet (IKRK, UNHCR, UNICEF) und setzt sich für die Stärkung der Kapazitäten von nationalen Akteuren ein.

Der Zugang zur Zivilbevölkerung ist ein zentrales Problem für die humanitäre Hilfe.

Die Schweiz ist besonders bestrebt, die Hindernisse zu identifizieren, die im Falle eines bewaffneten Konfliktes den humanitären Zugang erschweren, und stellt Instrumente bereit, damit diese überwunden werden können. In Zusammenarbeit mit dem IKRK und der OCHA wurde eine neue Initiative lanciert, die dazu beitragen soll, den rechtlichen Rahmen zu klären und ein Handbuch für die operationellen Akteure auszuarbeiten, das sich mit dem Thema des Zugangs zur Zivilbevölkerung befasst. Diese Initiative sollte 2010 umgesetzt werden.

Die Zunahme der
Angriffe auf das humanitäre Personal in den Konfliktzonen stellt ein immer grösseres Hindernis für die humanitäre Hilfe dar. Die Schweiz unterstützt deshalb weiterhin ein Kompetenzzentrum in Genf, dessen Ziel es ist, mit operationellen Massnahmen die Sicherheit von humanitären Organisationen sicherzustellen.

Insbesondere hat sich die Schweiz dafür eingesetzt, dass das Zentrum ins Geneva Centre for Security Policy (GCSP) integriert wird.

Im Laufe des Jahres 2009 wurde zudem das Projekt eines Handbuchs über Luftkrieg und Raketeneinsatz (Air and Missile Warfare Manual) abgeschlossen, das die Kenntnis und Einhaltung der in diesem Zusammenhang anwendbaren Regeln des Völkerrechts fördern soll. Es richtet sich an nationale Streitkräfte, an politische Entscheidungsträger, an Leute aus der Praxis und an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Nach der Vorstellung des Schlussdokuments wurden auch bereits Massnahmen zur Verbreitung und Ausbildung getroffen.

1159

4.2.5

Stärkung des humanitären Völkerrechts

Globale Trends Bewaffnete Konflikte unterscheiden sich heute grundsätzlich von den beiden Weltkriegen, unter deren Eindruck die Staatengemeinschaft 1949 die vier Genfer Konventionen geschaffen haben. Die meisten bewaffneten Konflikte werden heute innerhalb von Staaten geführt, in denen sich reguläre Armeen Aufständischen und anderen nichtstaatlichen Akteuren gegenüber stehen. Oft wird die Zivilbevölkerung zum direkten Ziel der Konfliktparteien, was zu viel Leid und hohen Opferzahlen führt. Internationale Schutzembleme werden regelmässig missachtet und Angehörige humanitärer Organisationen und Hilfswerke zum Ziel von Übergriffen gemacht.

Der Trend zu bewaffneten Konflikten, die in personeller, geografischer und zeitlicher Hinsicht den klassischen Vorstellungen kriegerischer Auseinandersetzungen widersprechen, wird sich in den kommenden Jahren fortsetzen. Vor dem Hintergrund der Konflikte in Irak, Afghanistan, Pakistan, Israel und Sri Lanka ist keine Trendwende absehbar. Einhergehende Kontroversen (Abu Ghraib, Guantánamo, gezielte Tötungen etc.) werden auch in Zukunft die intensiv geführten Diskussionen über die Relevanz des humanitären Völkerrechts in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung am Leben erhalten.

Herausforderungen Staaten, Organisationen wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und die Wissenschaft sind sich grundsätzlich einig, dass die Herausforderungen sich weniger auf der Ebene des bestehenden Rechts stellen, als auf derjenigen der Einhaltung und Anwendung beziehungsweise der Auslegung bestimmter Regeln auf und in spezifischen Situationen. Das humanitäre Völkerrecht ist eindeutig in seiner Aufforderung an alle an einem bewaffneten Konflikt teilnehmenden Parteien, die Zivilbevölkerung konsequent zu schützen. Auch andere Grundprinzipien (Unterscheidungs-, Vorsorge- und Verhältnismässigkeitsprinzip) finden unvermindert im Kontext heutiger bewaffneter Konflikte Anwendung. Dies schliesst aber nicht aus, dass das humanitäre Völkerrecht in gewissen Bereichen wie dem Einsatz bestimmter Waffen, einzelner Aspekte nichtinternationaler bewaffneter Konflikte oder Mechanismen für seine Durchsetzung punktuell weiterentwickelt werden soll, um seine Relevanz auch in Zukunft zu sichern.

Aktivitäten der Schweiz Die Schweiz setzt sich traditionell für die Förderung und Entwicklung des
humanitären Völkerrechts ein. Diese Tradition wird auch von der Staatengemeinschaft wahrgenommen. Als Depositar der Genfer Konventionen, als Gaststaat des IKRK und des humanitären Genf wird ihr eine besondere Glaubwürdigkeit und eine gewisse Vorreiterrolle bei der Pflege und Einforderung des humanitären Völkerrechts zuerkannt.

Durch verschiedene aussenpolitische Initiativen und Beiträge ist es der Schweiz gelungen, diesem Ruf gerecht zu werden und die Diskussion über die Relevanz und Zukunft des humanitären Völkerrechts massgebend mitzubestimmen. Sie setzte dabei vorwiegend auf offene Prozesse, in denen Fachexperten aus Regierungen und anderen interessierten Kreisen sich möglichst apolitisch zu aktuellen Themen äussern können und schliesslich praxisnah zur Klärung offener Rechtsfragen beitragen.

1160

So setzt sich die Schweiz beispielsweise weiterhin dafür ein, dass das humanitäre Völkerrecht auf private Militär- und Sicherheitsfirmen, denen eine wachsende Bedeutung in heutigen bewaffneten Konflikten zukommt, konsequent angewandt wird und alle relevanten Akteure in die Pflicht genommen werden. Mit dem Montreux Dokument 2008 gelang es, in Partnerschaft mit dem IKRK einen Referenztext zu lancieren, der das geltende Recht aufführt und konkrete Massnahmen nahe legt, die Staaten zur sinnvollen Regulierung von privaten Militär- und Sicherheitsfirmen ergreifen können. Mittlerweile unterstützen 34 Staaten das Montreux Dokument.

Auf Basis dieses Dokuments engagiert sich die Schweiz überdies für eine verstärkte Einbindung der betroffenen Industrie. Die Bemühungen um einen industrieweiten Verhaltenskodex, einhergehend mit griffigen Implementierungsmechanismen, sind im Gang (siehe auch Ziff. 4.2.2).

Ein weiteres Beispiel betrifft die Sicherstellung des humanitären Zugangs in Konfliktsituationen. Zu diesem Thema sind zwei Publikationen in Vorbereitung: Bei der ersten Publikation handelt es sich um ein juristisches Handbuch, das sich mit dem rechtlichen Rahmen, den Verpflichtungen der Parteien in einem bewaffneten Konflikt und den Regeln für einen humanitären Zugang befasst. Es richtet sich an ein breites Publikum, insbsondere an staatliche Akteure und nationale Behörden, an internationale und humanitäre Organisationen. Bei der zweiten Publikation handelt es sich um ein praktisches Handbuch für den humanitären Zugang, das operationelle Ratschläge und Regeln enthält, die es im Zusammenhang mit dem humanitären Zugang zu befolgen gilt. Es richtet sich an die humanitären Akteure.

Die Schweiz bietet zudem, um ein drittes Beispiel zu nennen, im Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik verschiedene Foren wie die Annual Senior Officers' Security and Law Conference an. Darin analysieren und diskutieren humanitäre, zivile und militärische Entscheidungsträger die Wechselwirkung zwischen dem humanitären Völkerrecht, anderen Rechtsgebieten und operationellen Aspekten in internationalen Friedensmissionen. Im Ergebnis leisten diese Foren einen Beitrag zur Verbesserung des Schutzes der Zivilbevölkerung im entsprechenden Umfeld.

Perspektiven Die Diskussionen im Rahmen dieser Aktivitäten und vor allem der Kontroversen um
laufende Konflikte zeigen jedoch, dass sich die Schweiz vermehrt mit der Erwartung konfrontiert sieht, über systempflegerische Vorstösse hinaus aktiv zu werden. So sind insbesondere Forderungen lauter geworden, wonach das humanitäre Völkerrecht in Bezug auf seine Durchsetzungsmechanismen einer Revision bedürfe.

Anlässlich des sechzigjährigen Bestehens der Genfer Konventionen lud die Schweiz, zusammen mit dem IKRK, alle Vertragsparteien zu einer Expertenkonferenz ein, die zwischen dem 9. und 11. November 2009 in Genf stattfand. Die Konferenz ermöglichte es, Struktur in die Diskussion um die Zukunft des humanitären Völkerrechts zu bringen, den Puls für Reformbedarf zu fühlen und auf dieser Grundlage das weitere Vorgehen abzustecken. Dabei stellte die Schweiz unter anderem die Wiederaufnahme der periodischen Vertragsstaatenkonferenzen in Aussicht, um die Diskussion weiter zu führen und insbesondere die Frage der Durchsetzungsmechanismen zu behandeln.

Die Herausforderung besteht nun darin, diesen Prozess mit weiteren Gefässen zu koordinieren, namentlich mit der 31. Rotkreuz- und Rothalbmondkonferenz vom November 2011 und der Aufforderung der UNO-Generalversammlung an die 1161

Schweiz, als Follow-up zum Goldstone-Bericht über den Gaza-Krieg vom Jahreswechsel 2008/09 eine Konferenz der Vertragsparteien der 4. Genfer Konvention einzuberufen. Derselbe Koordinationsbedarf drängt sich in Bezug auf eine Studie des IKRK zu nicht-internationalen bewaffneten Konflikten auf, die noch dieses Jahr den Vertragsparteien zur Konsultation unterbreitet werden soll. Die Ergebnisse der Studie sollen im Bericht des EDA zum humanitären Völkerrecht und den heutigen bewaffneten Konflikten berücksichtigt werden (Beantwortung des Postulats 08.3445 der Aussenpolitischen Kommission des Ständerates vom 20. Juni 2008).

4.3

Migrationsaussenpolitik

Dieses Kapital konzentriert sich auf jene Aspekte der schweizerischen Migrationspolitik, welche über die Schengen/Dublin-Abkommen mit der EU sowie die damit einhergehende Personenfreizügigkeit hinaus gehen. Ausführliche Erläuterungen zu letzterem finden sich unter Ziffer 4.3 des vorliegenden Berichtes.

4.3.1

Migrationsaussenpolitische Interessen

Migration zählt heute weltweit zu den politischen und gesellschaftlichen Schlüsselfragen. Durch die gestiegene Mobilität und einfachere Verfügbarkeit von Informationen und Kommunikationsmitteln ist sie vielschichtiger und komplexer geworden.

Nie zuvor lebten so viele Menschen ausserhalb ihrer Herkunftsländer. Für 2010 erwartet die UNO 214 Millionen Migrantinnen und Migranten ­ über 3 % der Weltbevölkerung. Aus den verschiedensten Gründen verlassen sie ihre Heimat auf der Suche nach einer besseren Zukunft. Der überwiegende Teil der Migranten lässt sich in Nachbarländern nieder. Bloss wenige haben die Möglichkeit und den Willen, in andere Kontinente weiterzureisen.

Migration kann für Herkunfts-, Transit- und Empfangsstaaten sowie für die Migranten selber ein positives Phänomen sein. Für Empfangsstaaten stellen Migranten eine unverzichtbare wirtschaftliche und gesellschaftliche Ressource dar, die im Zuge demografischer Entwicklungen noch wichtiger werden dürfte. Herkunftsstaaten können von den Leistungen und Erfahrungen ihrer Staatsbürger in der Ferne profitieren. Die Migranten selber verbessern ihre persönlichen Lebensumstände und die ihrer Angehörigen.

Migration birgt aber auch erhebliche Risiken und Herausforderungen. Flüchtlinge und intern Vertriebene gehören weiterhin zu den verletzlichsten Personengruppen überhaupt und sind auf umfassenden staatlichen Schutz angewiesen. Irreguläre Migranten riskieren auf gefährlichen Reiserouten ihr Leben, und viele begeben sich in Abhängigkeit von kriminellen Menschenschmugglern oder -händlern. Zugleich entziehen sich irreguläre Migranten den legitimen Steuerungsansprüchen der Transit- und Empfangsstaaten.

Die Komplexität der Migration spiegelt sich in der Vielfalt der Interessen der Schweizer Migrationspolitik wider. Nebst wichtigen innenpolitischen Interessen (z.B. Integration, Einbürgerung), die hier nicht behandelt werden, stehen folgende migrationsaussenpolitische Interessen im Vordergrund:

1162

­

Zuwanderung im gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Interesse der Schweiz,

­

Schutzgewährung für Flüchtlinge und vulnerable Migranten,

­

Bekämpfung der irregulären Migration,

­

Förderung und Unterstützung der Rückkehr,

­

Nutzen der Migration für eine nachhaltige Entwicklung von Herkunfts- und Transitland.

Um diese Interessen verfolgen zu können, sind die Staaten auf bi- und multilateraler Ebene auf eine intensive Zusammenarbeit im Migrationsbereich angewiesen. Die Schweiz verfügt über die nötigen gesetzlichen Grundlagen, um dieser Anforderung gerecht zu werden. Auf der Basis der neuen Ausländer- und Asylgesetze wurden in den letzten Jahren Instrumente erarbeitet, die den Entwicklungen im Migrationsbereich Rechnung tragen. Diese Instrumente gilt es nun in Zusammenarbeit aller involvierten Departemente ­ insbesondere EJPD, EDA und EVD ­ konsequent anzuwenden. Zentraler Akteur ist hierbei das Bundesamt für Migration (BFM), das die Federführung in der Schweizer Migrationspolitik innehat.

4.3.2

Aktuelle Herausforderungen

Die hauptsächliche Herausforderung besteht darin, die Migration in geordnete Bahnen zu lenken, damit sie sicher, legal und in Wahrnehmung der Rechte und Interessen aller Beteiligter erfolgt. Der moderne Staat ist gefordert, das Potenzial der Migration zu fördern und gleichzeitig ihre negativen Auswirkungen zu bekämpfen.

Mit Blick auf die oben erwähnten migrationspolitischen Interessen lassen sich folgende aktuellen Herausforderungen festhalten: ­

Migration wird in der Öffentlichkeit überwiegend als Problem wahrgenommen. Dabei geht vergessen, dass Migration für alle Beteiligten ­ Herkunfts-, Transit- und Empfangsstaat sowie Migrant ­ einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung leisten kann. Die Zuwanderung von Fachkräften in Arbeitsmarktsegmente mit personellem Mangel ist für das Funktionieren der Wirtschaft von alternden Dienstleistungsgesellschaften unverzichtbar. Herkunftsstaaten könnten derweil erheblichen Nutzen von Geld- und Wissenstransfers der Migranten ziehen. In gewissen Fällen profitieren sie zudem von einer Entlastung des Arbeitsmarktes. Die Migranten wiederum kommen oft in den Genuss von höheren Einkommen und grösserer Kaufkraft. Dieses zu grossen Teilen noch brachliegende Entwicklungspotenzial der Migration muss besser genutzt werden.

Dazu muss Migration auch Bestandteil nationaler, regionaler und globaler Entwicklungsstrategien werden. Vielen Transit- und Entwicklungsländern fehlen die Kapazitäten, die Verknüpfung zwischen Migration und Entwicklung umzusetzen. Diese Staaten gilt es in ihren Bemühungen um eine kohärente Migrationspolitik zu unterstützen.

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Im Idealfall erfolgt die Migration aus freiem Entscheid und nicht aus äusserem Zwang. In der Realität ist dem allerdings oft nicht so. Die Zahl der Menschen, die ihre Heimat aufgrund von bewaffneten Konflikten oder schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen verlassen müssen, steigt 1163

weiter an. Das UNO-Hochkommissariat beziffert die Zahl gewaltsam vertriebener Personen per Ende 2008 auf 42 Millionen, darunter 15 Millionen Flüchtlinge. Der überwiegende Teil der Flüchtlinge sucht Zuflucht in Ländern innerhalb ihrer Herkunftsregion. Oft verfügen diese Länder nicht über genügend Kapazitäten, um wirksamen Schutz zu gewähren. Zahlreiche Menschen fern ihrer Heimat befinden sich daher in prekärsten Lebensumständen und sind auf Schutz angewiesen. Frauen und Minderjährige gehören dabei zu den verletzlichsten Gruppen. Es bleibt eine der grössten Herausforderungen der internationalen Gemeinschaft, den Schutz dieser Personen sicherzustellen.

­

Die irreguläre Migration untergräbt das souveräne Recht der Staaten zu entscheiden, welche Personen ihr Staatsgebiet betreten dürfen und welche nicht.

Dies wirkt sich direkt oder indirekt auf eine Vielzahl von Politikbereichen wie Sicherheit, Gesundheit oder Arbeitsmarkt. Darüber hinaus befinden sich irreguläre Migranten häufig in einer besonders verletzlichen Position. Sie riskieren, wegen ihres irregulären Aufenthaltes ausgebeutet oder kriminell zu werden. Weil ihnen die staatlichen Schutzmechanismen aufgrund ihres irregulären Status in der Regel nicht zugänglich sind, können sie Menschenschmugglern oder Menschenhändlern zum Opfer fallen. Es gilt daher, mit effizienten Strategien gegen die irreguläre Migration und deren Begleiterscheinungen vorzugehen.

­

Menschen, die vor Krieg, Verfolgung, Naturkatastrophen oder wirtschaftlicher Not geflohen sind, erwartet bei ihrer Rückkehr neben einem zerrütteten sozialen Gefüge oft auch eine zerstörte Infrastruktur, bei deren Wiederaufbau sie dringend Unterstützung benötigen. Die Rückkehr in ihr Herkunftsland geschieht oft freiwillig, manchmal aber auch auf der Basis eines Rückübernahmeabkommens zwischen den Ländern. Es bleibt eine wichtige Aufgabe, diese Rückkehr gleichzeitig menschenwürdig und effizient zu gestalten. Darüber hinaus bleibt die Herausforderung bestehen, dass die Schweiz bei Verhandlungen über klassische Rückübernahmeabkommen zunehmend mit Ansprüchen seitens der potentiellen Partnerstaaten konfrontiert wird. Es gilt die existierenden Instrumente zu nutzen, um dieser Herausforderung zu begegnen.

­

Die EU arbeitet seit einigen Jahren an der Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Migrationspolitik. Dies fand zuletzt Ausdruck im Stockholm Programm, welches Richtlinien für die gemeinsame Innen- und Sicherheitspolitik der EU für die Jahre 2010­2015 festlegt. Darin nimmt die Migrationspolitik eine Schlüsselrolle ein. Die Schweiz ist mit Schengen/Dublin und der Personenfreizügigkeit (siehe dazu auch Ziff. 3.2) bereits an zwei Grundpfeilern der EU-Migrationspolitik beteiligt. In diesen Bereichen findet eine enge Kooperation mit der Europäischen Union, beziehungsweise eine Teilnahme an der EU-Politik statt. Es stellt sich allerdings die Herausforderung, über Schengen/Dublin und die Personenfreizügigkeit hinaus Bereiche für eine intensivierte Zusammenarbeit mit der EU zu identifizieren und die Möglichkeiten von deren Ausgestaltung zu prüfen. Potential besteht zum Beispiel bei Mobilitätspartnerschaften und bei den EU-Politiken in den Bereichen Rekrutierung, Kontingentierung und Asyl. Grundsätzlich ist es im Interesse der Schweiz, Widersprüche zwischen Schweizer Recht und EUStandards im Migrationsbereich zu vermeiden.

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4.3.3

Der schweizerische Lösungsansatz

Die Schweiz verfügt über eine Reihe von Instrumenten, um Herausforderungen im Migrationsbereich zu begegnen. Diese Instrumente fussen auf vier Prinzipien: ­

Eine erfolgreiche Migrationspolitik respektiert stets die Würde und die Rechte aller Menschen.

­

Eine erfolgreiche Migrationspolitik berücksichtigt sowohl die gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Chancen als auch die Gefahren der Migration.

­

Eine erfolgreiche Migrationspolitik erfordert eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Staaten und anderen Akteuren (internationale Organisationen, Nichtregierungsorganisationen, Diaspora, Privatwirtschaft).

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Eine erfolgreiche Migrationspolitik wendet die zur Verfügung stehenden innen- und aussenpolitischen Instrumente koordiniert und kohärent an.

Mit dem Konzept der Migrationspartnerschaft, welches in Artikel 100 des Ausländergesetzes vom 16. Dezember 2005 (SR 142.20) verankert ist, hat die Schweiz ein Instrument geschaffen, welches diese Prinzipien trefflich widerspiegelt. Eine Migrationspartnerschaft ist ein Instrument zur Durchsetzung schweizerischer migrationspolitischer Interessen unter Einbezug der Interessen des Partnerlandes. Es ist Ausdruck der Überzeugung, dass konstruktive Lösungen hinsichtlich der Chancen und Gefahren der Migration nur in Zusammenarbeit mit den Partnerstaaten gefunden werden können. Je nach Bedürfnis der Partner kann eine Migrationspartnerschaft verschiedene Aktionsbereiche beinhalten, zum Beispiel Rückkehrhilfe, reguläre Migration (zum Beispiel Visapolitik sowie Aus- und Weiterbildung), Kampf gegen Menschenhandel oder polizeiliche Kooperation. Migrationspartnerschaften bieten auch den Rahmen für Projekte, um Migration für die Entwicklung im Partnerland nutzbar zu machen, dies etwa in Zusammenarbeit mit der jeweiligen Diaspora.

Dem breiten und flexiblen Rahmen des Konzeptes entsprechend sind bei der Umsetzung einer Migrationspartnerschaft jeweils verschiedene Bundesstellen beteiligt.

Mit Partnerländern werden in diesem Zusammenhang jeweils Memoranda of Understanding unterzeichnet, die den formellen Rahmen einer Migrationspartnerschaft bilden. Solche Vereinbarungen konnten bisher mit Bosnien-Herzegowina (14.4.2009), Serbien (30.6.2009) und dem Kosovo (3.2.2010) unterzeichnet werden, mit Nigeria sind die Gespräche im Gang.

Ein Kernanliegen des humanitären Engagements der Schweiz ist die Suche nach nachhaltigen Lösungen für Flüchtlinge und andere schutzbedürftige Personen vor Ort. Basierend auf dem Konzept zur Stärkung des Schutzes von Flüchtlingen in den Herkunftsregionen (Protection in the Region) verstärkt die Schweiz ihr Engagement zugunsten schutzbedürftiger Flüchtlinge in den Erstaufnahmeländern. Dies soll auch einen wichtigen Beitrag zu Verringerung der irregulären und oft gefahrvollen Weiterwanderung leisten. Um diese Ziele zu erreichen, werden Massnahmen zur Stärkung der nationalen Schutzkapazitäten und zur Schaffung dauerhafter Lösungen für die Flüchtlinge unterstützt. So hilft die Schweiz nationalen Behörden etwa beim Aufbau eines Asylverfahrens. Ferner werden internationale sowie zivilgesellschaftliche
Organisationen bei ihren Bemühungen unterstützt, vor Ort die Lebensbedingungen der Flüchtlinge zu verbessern. Im Jemen, einem wichtigen Aufnahmeland von Flüchtlingen aus dem Horn von Afrika, haben verschiedene Bundesstellen mit 1165

der Umsetzung konkreter Projekte begonnen. In Syrien, dem wichtigsten Aufnahmeland für Flüchtlinge aus dem Irak, beginnt die Umsetzung eines Protection in the Region Programms im Laufe von 2010.

Die Rückkehrhilfe, die sich auf Artikel 93 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 (SR 142.31) stützt, zielt darauf ab, die Rückkehr und die Wiedereingliederung der betroffenen Personen in ihren Herkunftsstaat zu erleichtern. Die freiwillige Rückkehr stellt die vorteilhafte Alternative zur zwangsweisen Rückkehr dar. Gegenwärtig kehren monatlich rund 100 Personen auf der Basis individueller Rückkehrhilfen oder im Rahmen eines der fünf Länderprogramme in diesem Bereich (Georgien, Guinea, Irak, Nigeria, Westbalkan) in ihr Herkunftsland zurück. Zudem werden im Rahmen der Rückkehrhilfe in den Herkunftsländern Strukturhilfeprojekte umgesetzt, die den Rückkehrenden und der einheimischen Bevölkerung gleichermassen zu Gute kommen sollen. Dazu gehören auch Projekte im Bereich der Prävention irregulärer Migration (PiM). Projekte im Rahmen des Mandats PiM (z. B. Informationskampagnen) verfolgen als Hauptziel, einen kurzfristigen Beitrag zur Minderung von irregulärer Migration zu leisten.

Bei der Bekämpfung des Menschenhandels liegt der Fokus des schweizerischen Engagements auf der Prävention sowie dem Schutz betroffener und potentieller Opfer. Bei ihren multilateralen Aktivitäten, namentlich im Rahmen der UNO und der OSZE, engagiert sich die Schweiz in der Ausformulierung der politischen Ansätze und bei der Schaffung von allgemein gültigen Standards. Bei der technischen Unterstützung im Ausland liegt Priorität bei primären Herkunfts- oder Transitländern von Menschenhandelsopfern wie beispielsweise Nigeria, Serbien oder Brasilien. Projekte zur Bekämpfung von Menschenhandel können auch wichtige Elemente einer Migrationspartnerschaft sein.

Der internationale Migrationsdialog bleibt für die Schweiz ein wichtiges Instrument zum Erfahrungsaustausch mit anderen Staaten und relevanten Akteuren. Er spielt eine zentrale Rolle, um einerseits weitere Erkenntnisse zu gewinnen und andererseits konkrete Projekte und Partnerschaften zu lancieren. Zudem dient er auch der Interessensabgleichung zwischen Herkunfts-, Transit- und Zielländern. Ein wichtiges Gefäss in diesem Zusammenhang ist das Globale Forum für Migration und Entwicklung,
in dem die Schweiz als Mitglied des Lenkungsauschusses sowie als CoVorsitzende einer Arbeitsgruppe Einfluss auf die thematische Schwerpunktsetzung und auf die institutionelle Ausgestaltung nimmt. Darüber hinaus beginnen die Vorbereitungsarbeiten für die informelle Debatte zum Thema Migration und Entwicklung, die 2011 im Rahmen der 65. UN-Generalversammlung stattfinden wird.

Der vielschichtigen Realität der Migration entsprechend berühren die oben beschriebenen Instrumente zahlreiche weitere Politikbereiche, die über die Migration hinaus gehen, zum Beispiel den Arbeitsmarkt, die Entwicklungszusammenarbeit, Menschenrechte oder Sicherheitsfragen. Ein enger Austausch zwischen den zuständigen Bundesstellen ist daher unverzichtbar, um die verschiedenen Aktivitäten im Rahmen dieser Instrumente aufeinander abzustimmen. Die Schlüsselstellen sind das Bundesamt für Migration (EJPD), die Politische Direktion (EDA), die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Humanitäre Hilfe, Regionale Kooperation, Globale Kooperation mit der 2008 neu geschaffenen Sektion Globalprogramm Migration) sowie das Staatssekretariat für Wirtschaft (EVD). Die involvierten Stellen haben in den letzten Jahren verschiedene Koordinationsmechanismen geschaffen, die zu einer Verstetigung der interdepartementalen Zusammenarbeit in Migrationsfragen geführt, die Entwicklung innovativer Migrationsinstrumente begünstigt und die Koordination 1166

einer erfolgreichen Schweizer Rückkehrpolitik ermöglicht haben. Infolge der Schaffung neuer Instrumente (Migrationspartnerschaften, «Protection in the Region») und deren Umsetzung sind zwischen den verschiedenen Koordinationsgremien indes vermehrt Doppelspurigkeiten aufgetreten. Mit der 2009 erfolgten Ernennung eines Sonderbotschafters für internationale Migrationszusammenarbeit soll auch der in den letzten Jahren aufgebaute ganzheitliche Ansatz gestärkt werden.

Mit Blick auf eine Umsetzung des schweizerischen Lösungsansatzes stellen sich folgende Herausforderungen: ­

Die oben erwähnten neuen Instrumente, die sich in der Anfangsphase bewährt haben, müssen umgehend umgesetzt werden. Dazu bedarf es der aktiven Beteiligung aller Schlüsselstellen in der Bundesverwaltung.

­

Die Umsetzung aller Instrumente muss komplementär erfolgen.

­

Die Struktur der interdepartementalen Migrationszusammenarbeit bedarf einer umsichtigen Reform, um Synergien zwischen den bestehenden Instrumenten besser zu nutzen und Doppelspurigkeiten abzubauen.

4.3.4

Perspektiven

Eine der aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen für die Schweiz ist die Alterung ihrer Bevölkerung: Der gegenwärtig feststellbare demografische Wandel hat eine Reduktion der Bevölkerungsschichten im arbeitsfähigen Alter zur Folge, dies namentlich in Sektoren wie dem Baugewerbe, dem Gesundheitswesen, der Bildung und dem Gastgewerbe. Gleichzeitig dürfte die Zahl der AHV-Bezüger pro Arbeitnehmenden steigen.

Die Schweiz kennt heute bei der Zulassung ausländischer Arbeitskräfte ein duales System: Erwerbstätige aus den EU-/EFTA-Staaten können vom Personen-Freizügigkeitsabkommen profitieren, während aus allen anderen Staaten lediglich Führungskräfte, Spezialisten sowie qualifizierte Arbeitskräfte in beschränktem Ausmass zugelassen werden. Mitunter dank dem Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU konnte die Schweiz in den letzten Jahren die Lücken im Arbeitsmarkt weitgehend schliessen. Die demografische Alterung setzt derweil in zunehmendem Ausmass auch in den allermeisten EU-Staaten ein. Es ist davon auszugehen, dass die neuen EU-Staaten, heute noch Arbeitskraftexporteure, aufgrund wachsender Volkswirtschaften ihre Arbeitskräfte künftig selber absorbieren werden. In Zukunft ist daher unter den westlichen Staaten mit einem verstärkten Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte zu rechnen.

Internationale Migrationsströme werden zunehmend komplexer. Menschen, die vor Konflikt und Menschenrechtsverletzungen flüchten, bewegen sich Seite an Seite mit Menschen, die ihre Heimat aus anderen, beispielsweise wirtschaftlichen Gründen verlassen. Man spricht in diesem Zusammenhang von gemischten Wanderungsströmen. Dabei fallen manche Personen unter die Schutzbestimmungen der Flüchtlingskonvention von 1951, andere tun dies nicht. Zu erkennen, wer Anspruch auf welche Form von Schutz hat, wird für die Behörden zunehmend schwieriger. Daher ist es eine der grossen Herausforderungen für die internationale Gemeinschaft, effiziente und gleichzeitig menschenwürdige Strategien zu entwickeln, die den Schutz aller Migranten gemäss ihren rechtlichen Ansprüchen gewährleisten. Zudem ist, namentlich als Folge des Klimawandels, mit einem Anstieg von Migranten zu rechnen, die 1167

zwar nicht unter die Flüchtlingsdefinition fallen, sehr wohl aber spezifische Schutzbedürfnisse mit sich bringen. Hier bestehen sowohl normative als auch operative Defizite, die es zu beheben gilt. Auch die Schweiz ist international in diesbezüglichen Diskussionen engagiert.

Aufgrund unverändert grosser wirtschaftlicher Disparitäten, anhaltender Konflikte und schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen, aber auch angesichts irreversibler Veränderungen der Umwelt ist davon auszugehen, dass der Migrationsdruck auf die Schweiz anhalten oder gar zunehmen wird. Die Tatsache, dass für Staatsangehörige ausserhalb der EU derzeit kaum Möglichkeiten zur regulären Einwanderung bestehen, wird der unkontrollierten Migration weiterhin Vorschub leisten. Davon wird nicht zuletzt auch das Schweizer Asylwesen betroffen sein. Angesichts des binären Zulassungssystems der Schweiz stellt das Asylsystem für die Mehrheit der Migranten die einzige Möglichkeit dar, zumindest während eines begrenzten Zeitraumes einen regulären Aufenthaltsstatus zu erhalten. Der Druck auf das Asylwesen aufgrund unbegründeter Gesuche dürfte daher parallel zum Migrationsdruck ansteigen. Die Schweiz wird prüfen müssen, inwiefern sie ihre Migrationspolitik nutzen kann, um diesen Druck zu senken.

Die Nutzbarmachung der internationalen Migrationsströme zugunsten aller beteiligten Akteure bleibt eine bedeutende Herausforderung. Die Schweiz berücksichtigt in diesem Zusammenhang entwicklungspolitische Aspekte und bezieht das Konzept einer transnational geteilten Verantwortung mit transnational geteiltem Nutzen in ihre Politiküberlegungen mit ein. Die bis anhin entwickelte Migrationspolitik, die internationalen Dialoge, die formellen Kooperationsstrukturen, das multilaterale System (namentlich UNHCR, International Organisation for Migration und International Labour Organisation) und der völkerrechtliche Rahmen reichen allerdings nach wie vor nicht aus, um ein globales, gemeinsames Verständnis von Migration sowie ein kohärentes internationales Migrationsmanagement zu schaffen. In diesem Sinn hat die Schweiz ein Interesse daran, sich an der Diskussion zugunsten effizienter transnationaler Kooperationsmechanismen zu beteiligen und entsprechende Impulse einzubringen.

4.4

Reduktion der Armut und humanitäre Hilfe

Die weltwirtschaftliche Entwicklung ist unter den Bedingungen der Globalisierung durch vielfältige Ungleichheiten sowohl zwischen als auch innerhalb der Gesellschaften geprägt. Politische Interessengegensätze schlagen sich in der nationalen und internationalen Politik nieder. Die Industrieländer versuchen ihren weltwirtschaftlichen Besitzstand zu wahren. Für andere Länder, insbesondere die schnell wachsenden Schwellenländer, steht das Interesse an einer raschen aufholenden Entwicklung im Vordergrund. Aus der Sicht der Industrieländer gefährden die aufholende Entwicklung, die stark wachsende Nachfrage nach Rohstoffen und natürlichen Ressourcen und die rasch steigenden Emissionen klimaschädlicher Gase der Schwellenländer in zunehmendem Masse die ökologischen Rahmenbedingungen für die Wahrung des Besitzstandes. In der Optik der Entwicklungsländer stellen die klimapolitischen Anforderungen, die im Rahmen des Post-Kyoto-ProtokollVerhandlungsprozesses vorgebracht werden, das Recht auf Entwicklung in Frage.

Das Verhältnis zwischen Industrie- und Entwicklungsländern hat sich in den letzten Jahren rasch verändert. Heute sind einige ehemalige Entwicklungsländer selber 1168

Geber geworden und gleichzeitig Konkurrenten auf dem Weltmarkt. Im internationalen System zeichnen sich Weichenstellungen mit weitreichenden Konsequenzen für die Entwicklungspolitik ab.

4.4.1

Wirtschaftskrise und Entwicklungspolitik

Die internationale Finanzkrise und deren unmittelbare Folgen für die öffentlichen Haushalte vieler Industrieländer werden auch langfristige Auswirkungen auf die Entwicklungsländer haben. Weltmarktorientierte fortgeschrittene Entwicklungsländer müssen sich gegenüber den Gefahren schwankender Kapitalflüsse auf den internationalen Finanzmärkten absichern. Die Binnen- und Aussenschulden müssen in Schach gehalten und die lokalen Finanzmärkte weiter entwickelt werden, um von den internationalen Kapitalmärkten unabhängiger zu werden. Diesbezüglich sind ostasiatische Länder mit ihrer regionalen Währungskooperation und zunehmender Mittelbeschaffung in Lokalwährung schon weit vorangekommen. Für andere Entwicklungsregionen geht es um ein vorsichtiges Management der Kapitalflüsse.

Mit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise werden die Umrisse der neuen multipolaren internationalen Ordnung (siehe Ziff. 1) deutlich. Zunehmend ersetzt die G-20 bei der Regulierung des internationalen Finanzsystems, aber auch bei Umwelt-, Klima- und Handelsfragen die G-8 und übernimmt zentrale Konsultationsund Steuerungsfunktionen. Die Krise hat den Aufstieg der Schwellenländer zwar abgeschwächt, ihre Bedeutung als weltwirtschaftlicher Motor aber dennoch gestärkt.

Viele Entwicklungsländer haben im Jahre 2009 Einschnitte beim Wachstum gehabt (BIP-Wachstum in Lateinamerika: ­1,8 %, im Nahen und Mittleren Osten: +2,4 %, in Subsahara-Afrika: +2,1 %, in Asien: +6,6 %), allerdings geringfügiger als die Industrieländer. Entwicklungsländer, die stark mit dem OECD-Raum verflochten, vom Aussenhandel (vor allem Rohstoffe) und von ausländischen Kapitalzuflüssen abhängig sind, haben massive Exporteinbrüche erlebt.

Vor diesem Hintergrund lassen sich folgende Trends ausmachen: ­

Rohstoffpreise und Staatseinnahmen: Die Preise auf den Rohstoffmärkten sind vom Rekordhoch, das sie Mitte 2008 erreicht hatten, abgestürzt. Nach Schätzungen der Vereinigung Europäischer Konjunkturinstitute werden die Preise im Jahr 2009 um durchschnittlich 43 % unter denen des Vorjahres liegen. In rund 90 Entwicklungsländern macht der Verkauf von Rohstoffen über 50 % der Exporteinnahmen aus. Als Konsequenz sinken die Staatseinnahmen, die in einigen afrikanischen Ländern infolge des Rohstoffbooms der letzten Jahre gestiegen waren.

­

Ernährungskrise: Der Fall der Preise betrifft auch die Agrarmärkte. Nach Angaben der FAO waren die Weltmarktpreise für Nahrungsmittel im 2009 rund 33 % niedriger als bei ihrem Rekordhoch im Juni 2008. Die Weltmarktpreise liegen aber noch immer weit über dem Niveau der Jahre vor 2007. Ohne wirksame Massnahmen gegen Spekulation werden unberechenbare Preisausschläge an den Rohstoffbörsen mit entsprechenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen unausweichlich sein.

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Exportnachfrage: Als Folge der wirtschaftlichen Rezession sinkt neben der Nachfrage nach Rohstoffen auch die Nachfrage nach verarbeiteten Export-

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gütern. Besonders betroffen sind Länder, die einseitig auf einzelne Exportprodukte als Motor ihrer wirtschaftlichen Entwicklung gesetzt haben.

­

Privatkapital: Die finanzielle Lage wird durch einen drastischen Rückgang der privaten Kapitalflüsse verschärft. Im Jahr 2007 flossen 617,5 Milliarden US-Dollar an Investitionskapital und Krediten von privaten Anlegern in die Entwicklungs- und Schwellenländer. Der IWF schätzt, dass private Nettokapitalströme im Jahr 2009 die Richtung rapide ändern. Zwar sind ausländische Direktinvestitionen weniger volatil als Portfolioinvestitionen. Gegenüber dem Höchststand von 2008 werden sie aber erheblich zurückgehen.

Nach Berechnungen des «Institute for International Finance» haben private Banken die Kredite, die in Schwellenländer fliessen, von 410 Milliarden USDollar 2007 auf 167 Milliarden US-Dollar 2008 reduziert. Die Risikoaufschläge für Staatsanleihen sind stark angestiegen. Infolge der weltweiten Kreditklemme konnten afrikanische Länder 2008 keine internationalen Anleihen ausgeben.

­

Rücküberweisungen: Im Jahr 2008 flossen rund 306,8 Milliarden US-Dollar in Entwicklungs- und Schwellenländer. Nach Schätzung der Weltbank werden 2009 die Überweisungen um rund 5 % zurückgehen. Der Rückgang scheint noch vergleichsweise moderat auszufallen. Fachleute schätzen, dass beispielsweise von den 13 Millionen ausländischen Arbeitskräften in den sechs Mitgliedländern des «Gulf Cooperation Council» (Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate, Kuwait, Bahrain, Katar, Oman) etwa die Hälfte den Job verlieren.

­

Verschuldung: Die Auslandschulden der Entwicklungs- und Schwellenländer werden 2009 bei 4,440 Milliarden US-Dollar (2008: 4,472 Milliarden) liegen. Im Jahr 2010 müssen die Länder 833 Milliarden US-Dollar an Zinszahlungen leisten. Nach Schätzung der Weltbank werden 2009 in den Schwellenländern 2,5­3 Milliarden US-Dollar an Krediten fällig. Nebst den internationalen Finanzierungsinstitutionen und privaten Gläubigern u.a.

internationale Banken, gehören auch vermehrt neue Gläubiger aus aufstrebenden Märkten dazu. Währenddessen sich die Schuldensituation vieler Entwicklungsländer im Zuge der weltweiten Wirtschaftskrise, aufgrund schrumpfender Deviseneinnahmen und abgeschwächtem Wirtschaftswachstum verschlechtert hat, so gingen viele Länder besser vorbereitet in die Krise und es ist keine längerfristige Überschuldung zu erwarten. In Schwellenländern im Besonderen gewinnt zudem die interne Verschuldung weiter an Gewicht. Um Zahlungsschwierigkeiten abzuwenden, hat sich die G-20 im 2009 für eine Verdreifachung der IWF-Mittel auf 750 Milliarden US-Dollar ausgesprochen. Neu eingeführte Kreditlinien können kurzfristige Zahlungsbilanzschwierigkeiten regeln.

­

Globale Entwicklungsziele: Zwischen 2000 und 2007 hatte die Welt insgesamt gute Fortschritte auf dem Weg zur Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele (Millennium Development Goals, MDG) gemacht, wobei die Fortschritte nicht nur zwischen den MDG deutlich variieren, sondern auch von Region zu Region und Land zu Land. Ein starkes globales Wirtschaftswachstum, erhöhte und bessere Entwicklungshilfe sowie gute Politiken der Regierungen in Entwicklungsländern trugen gemeinsam dazu bei. Die Auswirkungen der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise gefährden die gemachten Fortschritte oder machen Teile davon rückgängig. Die UNO schätzt, dass

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im Jahr 2009 wegen steigender Preise durch die «Triple F Crisis» (Food, Fuel, Finance) zusätzlich mindestens 50 Millionen Menschen in extremer Armut leben mussten. Frauen sind von dieser Entwicklung stärker betroffen.

­

Die afrikanischen Länder beispielsweise können 2010 mit einer raschen wirtschaftlichen Erholung rechnen. Im Bericht der OECD über die Wirtschaftsaussichten Afrikas sagen die Experten Afrika eine durchschnittliche Wachstumsquote von 4,5 % in diesem und von 5,2 % im nächsten Jahr voraus. Trotz guten Aussichten könne jedoch die Lücke, die durch den Abschwung im letzten Jahr entstanden ist, kaum ganz gefüllt werden. Laut IWF geben die im Vergleich mit früheren Krisen relativ geringe Verschuldung sowie die positiven Auswirkungen von Strukturreformen der letzten Jahre den Regierungen mehr Handlungsspielraum. Sozialausgaben für Bildung und Gesundheit bleiben so weitgehend unangetastet.

­

Externe Unterstützung: Die Aufwendungen für öffentliche Entwicklungshilfe der Mitgliedstaaten im Entwicklungsausschuss DAC der OECD betrugen im Jahr 2009 total 119,6 Milliarden US-Dollar (2,7 Milliarden US-Dollar weniger als in 2008). Der Anteil von Entwicklungshilfe-Aufwendungen am gesamten Bruttonationaleinkommen ist mit 0,31 % angesichts des negativen Wirtschaftswachstums in den Industrieländern allerdings leicht gestiegen (2008: 0,30 %). Die DAC-Länder aus der EU setzten insgesamt 67,1 Milliarden US-Dollar (0,44 % des EU-Bruttonationaleinkommens) und die DAC-Länder, die nicht EU-Mitglied sind, 52,5 Milliarden Dollar (0,22 % ihres Bruttonationaleinkommens) ein. Die Aufwendungen der Schweiz betrugen 2305 Millionen US-Dollar, was 0,47 % des schweizerischen Bruttonationaleinkommens ausmacht, womit sich die Schweiz im Mittelfeld der OECD-Länder platziert.

4.4.2

Globaler Wandel und Entwicklungspolitik

Die Weltwirtschaftskrise hat das Scheitern einer weitgehend auf privater Selbstregulierung und den Marktkräften basierenden Form der Steuerung verdeutlicht, Die Rolle des Staates rückt auf der entwicklungspolitischen Agenda wieder stärker nach oben. Durch «Institution Building» soll er dazu befähigt werden, den wirtschaftlichen Akteuren Rechtssicherheit zu geben und verlässliche Spielregeln zu verschaffen. Ein funktionsfähiger Staat ist nicht zuletzt auch als Baustein in der «Global Governance» wichtig. Globale Risiken beeinflussen immer stärker die Entwicklungschancen und -perspektiven. Die Bewältigung der globalen Risiken (instabile internationale Finanzmärkte, Klimawandel, scheiternde Staaten, grenzüberschreitende Pandemien) erfordert trag- und handlungsfähige Global-Governance-Strukturen.

Ohne engere Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern lässt sich der globale Wandel schwerlich bewältigen. In den nächsten Jahren werden entwicklungspolitische Leitbilder überprüft. Die grossen Themen in diesem Zusammenhang sind: ­

Armutsbekämpfung: Die Millenniumsentwicklungsziele (MDG) sind ein Meilenstein auf dem Weg zu einer international koordinierten Armutsbekämpfung und einer Politik der ökologischen Nachhaltigkeit. Sie sind Ausdruck eines gemeinsamen Verständnisses über die Herausforderungen und die notwendigen Schritte zur Überwindung der Umwelt- und Entwicklungskrisen. Schwachstellen der MDG-Agenda sind die fehlenden Forderungen 1171

nach klaren Verantwortlichkeiten und politischen Strukturreformen (Demokratisierung, Menschenrechte), die starke Betonung sozialpolitischer Defizite und die geringe Balance zwischen wirtschafts- und sozialpolitischen Massnahmen sowie die fehlende unabhängige Überprüfung der Massnahmen und Unterlassungen.

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Natürliche Ressourcen: Die Berichte des UNO-Umweltprogramms (United Nations Environment Programme, UNEP) und des «Worldwatch Institute» zeichnen besonders in den Entwicklungsländern ein dramatisches Szenario der Umweltprobleme. Rund 90 % des Artensterbens, der Bodenerosion und der Waldvernichtung finden in Entwicklungsländern statt. Die Erfolge in der nachhaltigen Armutsbekämpfung hängen wesentlich von der Fähigkeit armer Länder ab, die Folgen der lokalen und globalen Umweltveränderungen zu bewältigen. Nachhaltige Entwicklung erfordert den vorsorglichen Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und sensibler Ökosysteme. Andernfalls gefährden sie durch negative Rückkoppelungen die Existenzgrundlagen.

Aufgrund der durch den Klimawandel verschärften Verknappung natürlicher Ressourcen ist mit einer zunehmenden Konkurrenz bei der Nutzung und einer Ausweitung von Konflikten bei der Verteilung zu rechnen. In welchem Masse es zu Konflikten über die Nutzung von Ressourcen kommt, hängt von der Interessenkonstellation und den institutionellen Rahmenbedingungen ab, wie die Nutzung auf lokaler, regionaler und globaler Ebene geregelt wird.

­

Ernährungssicherung: Die internationale Debatte über Strategien zur Ernährungssicherheit basiert auf der Anerkennung des Menschenrechts auf Nahrung. Angesichts der Hungerkrise 2008 in einzelnen Ländern hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass sich der Klimawandel negativ auf die künftige Ernährungssicherheit auswirken wird. Bevölkerungswachstum, wachsende Kaufkraft und verändertes Konsumverhalten besonders in den asiatischen Schwellenländern wird die Nachfrage nach Agrarprodukten erheblich steigern. Parallel wächst die Bedeutung von Agroenergie und nachwachsenden Rohstoffen als vorgeblich klimafreundlicher Ersatz für fossile Energieträger.

Vor dem Hintergrund der steigenden Weltbevölkerung, des Klimawandels, der Angleichung von Ernährungsmustern in Schwellenländern an landintensive Ernährungsgewohnheiten der Industrieländern und der Nachfrage nach Agroenergie erhalten Ernährungspolitiken und landwirtschaftliche Strategien besonderes Gewicht.

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Wasser: Die Gesamtnutzung von Süsswasser hat sich im letzten Jahrhundert fast verachtfacht. Der Mensch reguliert bereits über 40 % der zugänglichen erneuerbaren Wasserressourcen. Zunehmend wird nicht nur die mengenmässige Übernutzung, sondern auch die Wasserverschmutzung zum Problem.

Der Klimawandel wird in vielen Entwicklungsregionen den Wasserhaushalt beeinflussen. Wasserverfügbarkeit und jahreszeitliche Verteilung können sich verändern. Zwischen wachsender Weltbevölkerung und der zunehmenden Nachfrage nach Wasser öffnet sich eine Schere, die bereits heute in einigen Regionen zu erheblichen gesellschaftlichen und zwischenstaatlichen Konflikten führt. Um die Ziele Ernährungssicherheit, Armutsbekämpfung, wirtschaftliche Entwicklung sowie Schutz der Ökosysteme bei fortschreitendem Klimawandel zu erreichen, ist eine breite Anwendung des integrierten Wassermanagements und die Überwindung sektoraler Ansätze erforderlich.

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Klimawandel: Der Bericht des UNO-Klimarats (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) von 2007 hat aufgezeigt, dass die vom Menschen durch den Ausstoss von Treibhausgasen verursachte globale Erwärmung zu einer Entwicklungs-, Sicherheits- und Umweltkrise beiträgt, die eine umfassende Reaktion erfordert. Viele der prognostizierten Auswirkungen verstärken die Armutsprobleme. Bis 2050 wird zwar ­ global betrachtet ­ ein höheres Angebot an Trinkwasser prognostiziert. Dieser Zuwachs entfällt jedoch vor allem auf bereits wasserreiche Regionen und einige tropische Feuchtgebiete. Die Niederschlagsmenge in Trockengebieten wird wahrscheinlich deutlich abnehmen. Zudem ist eine weitere Verstärkung der Extreme im Wasserkreislauf zu erwarten. Damit steigt die Gefahr von Dürren und sintflutartigen Niederschlägen mit Überflutungen. Wassermangel und erhöhte Durchschnittstemperaturen haben erhebliche Folgen für die Ernährungssicherheit. Die Voraussetzungen für die Landwirtschaft könnten sich in kälteren und gemässigten Regionen verbessern. Für einige tropische und subtropische und heute schon trockene Regionen werden teilweise deutliche Ertragsverluste vorhergesagt.

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Der Klimawandel gehört heute zu den wichtigsten Treibern globaler Umweltveränderungen. Die Fähigkeiten zur Anpassung und damit auch zur Bewältigung der Konfliktrisiken sind weltweit ungleich verteilt. Die Auswirkungen betreffen insbesondere Regionen, die schon heute zu den Zentren von Armut und Hunger zählen: Afrika südlich der Sahara, Süd- und Südostasien sowie Teile der Karibik und der Andenregion. Adäquate Infrastruktur oder finanzielle Absicherungsmechanismen sind kaum vorhanden.

­

Emissionsarmer Entwicklungspfad: Die Industrie- und eine Mehrzahl der Entwicklungsländer sind gefordert, Leitbilder im Sinne eines Low-CarbonEntwicklungspfades zu formulieren. Ein vermehrter Einsatz erneuerbarer Energien kann die Grundlage für eine nachhaltige Entwicklung legen. In der Entwicklungspolitik erhalten aus diesem Grund Bildung, Innovation, Technologie- und Wissenspartnerschaften ein stärkeres Gewicht. Der neue UNOBericht World Economic and Social Survey: Promoting Development, Saving the Planet skizziert einen integrierten Ansatz, der den Herausforderungen des Klimawandels und der Entwicklung gleichermassen gerecht werden kann. Dem Bericht zufolge ist eine aktive Teilnahme aller Länder im Kampf gegen den Klimawandel nur möglich, wenn die damit verbundenen Massnahmen nicht zur Folge haben, dass arme Länder von der Entwicklungsleiter fallen. Entwicklungsländer müssen genügend Spielraum haben, um ein schnelles wirtschaftliches Wachstum aufrecht zu erhalten. Dies wiederum erfordert die Befriedigung ihres wachsenden Energiebedarfs.

­

Länder mit fragiler Staatlichkeit: Die internationale Entwicklungspolitik hat sich mit den Millenniumsentwicklungszielen Vorgaben für die Verbesserung der Lebensbedingungen breiter Teile der Weltbevölkerung gesetzt. 5 Jahre vor 2015 fällt die Bilanz unterschiedlich aus. Ein wichtiger Faktor hierfür ist die Zahl von armen Ländern, die durch fragile Staatlichkeit (defizitäre politische Machtkontrolle, kaum existentes Rechtswesen, rudimentäre soziale Grundversorgung) blockiert und teilweise von Staatsverfall geprägt ist.

Gemäss dem Failed States Index der Forschungsinstitution «The Fund for Peace» leben rund zwei Milliarden Menschen in «prekären und unsicheren

1173

Staaten». Von den zehn besonders gefährdeten Staaten liegen sieben auf dem afrikanischen Kontinent.

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Fragile Staatlichkeit umfasst interne und externe Dimensionen. Gesellschaften sind nicht in der Lage, die Unterstützung für Forderungen an den Staat zu artikulieren. Traditionelle Autoritäten übernehmen zwar oft die Kontrolle.

Diese sind aber häufig nicht in der Lage, politische Führungsfunktionen auf gesamtstaatlicher Ebene auszuüben. Die Nachbarstaaten sind durch Flüchtlingsströme, eine räumliche Ausweitung militärischer Operationen und eine wechselseitige Destabilisierung gefährdet. In der Gebergemeinschaft besteht heute Konsens in Bezug auf den Ansatz «Stay engaged, but differently».

Besonders wirkungsvoll sind Programme, die mit Reformpolitiken zusammengehen und Genderfragen gebührend berücksichtigen.

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Globales Krisenmanagement: Es besteht ein breiter Konsens, dass multilaterale Institutionen, insbesondere die Bretton-Woods-Institutionen, im globalen Krisenmanagement eine wichtige Rolle spielen und mit einem erweiterten Mandat ausgestattet werden sollen. Umstritten ist die von den Schwellen- und Entwicklungsländern geforderte Umverteilung der Stimmengewichte in Richtung einer Nord-Süd-Parität. Im Rahmen der Bewältigung der Finanzkrise bewiesen die multilateralen Institutionen ihre Bedeutung und Nützlichkeit bei der Finanzierung und Ausarbeitung von Massnahmen gegen die Krise. In der Folge haben die Institutionen ihre finanzielle Basis, institutionellen Strukturen und strategische Ausrichtung überprüft und gestärkt. Die Gleichzeitigkeit von globaler Finanz- und Wirtschaftskrise und einem sich beschleunigenden Klimawandel sowie den sich abzeichnenden Problemen bei der Ernährungs- und Energiesicherheit verlangen nach schnellen Fortschritten beim internationalen Management der globalen Risiken. Bislang haben die Nationalstaaten mehr auf zwischenstaatliche und weniger auf supranationale Institutionen gesetzt. Auch künftig werden auf der globalen, regionalen und lokalen Ebene verschiedene Steuerungsformen (private Selbstregulierung, Club-Modelle, MultistakeholderAnsätze) nebeneinander funktionieren und teils miteinander konkurrieren.

4.4.3

Beitrag der Schweiz zur Armutsreduktion

Mit dem Bundesbeschluss über die Weiterführung der technischen Zusammenarbeit und der Finanzhilfe zu Gunsten von Entwicklungsländern, den das Parlament am 8. Dezember 2008 verabschiedet hat47, wurde die Entwicklungspolitik des Bundes neu ausgerichtet. Dabei wurde zum ersten Mal eine einheitliche entwicklungspolitische Strategie des Bundes erarbeitet, die für alle Akteure der Entwicklungszusammenarbeit ­ neben der DEZA auch für das SECO und andere Bundesstellen ­ gilt.

Sie basiert auf drei strategischen Pfeilern: Pfeiler 1: Millenniumsentwicklungsziele erreichen ­ Armut mindern.

Die Schweiz trägt in ausgewählten Entwicklungs- und Transformationsländern zu wirtschaftlichem Wachstum bei, das sozial und ökologisch verträglich ist und Armut reduziert.

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BBl 2009 435

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Trotz anderer weltweiter Herausforderungen bleibt Armut ­ die Tatsache also, dass ein Drittel der Weltbevölkerung mit hundertmal weniger Einkommen pro Kopf leben muss als Menschen in OECD-Ländern ­ eine zentrale Daueraufgabe der internationalen Staatengemeinschaft, die gemeinsam angegangen werden muss.

Grundlage jeder Armutsreduktion ist ein Wirtschaftswachstum, von dem auch arme Bevölkerungsgruppen profitieren. Die Schweiz legt darauf im Dialog mit Regierungen, multilateralen Organisationen und anderen Gebern besonderes Gewicht. Vor diesem Hintergrund arbeitet die DEZA weiterhin in zwölf Schwerpunktländern (Least Developed Countries) mit bilateralen Programmen und in fragilen Ländern und Regionen mit sechs Sonderprogrammen. Das SECO realisiert Programme in sieben Schwerpunktländern (Middle-Income Countries), welche von regionaler Bedeutung sind. Als Shareholder in multilateralen Gremien macht die Schweiz ihren Einfluss zugunsten der Armutsreduktion zudem bei der Weltbank, den regionalen Entwicklungsbanken und in UNO-Organisationen geltend.

Bei der Transformationshilfe in Osteuropa, dem Balkan und in Zentralasien ging es bislang weniger um Armutsreduktion und mehr um die Anpassung der Regierungsführung an internationale Standards, um die Schaffung marktwirtschaftlich orientierter Institutionen und um die Sicherstellung von Arbeit und Auskommen für Jugendliche, damit diese nicht zum Auswandern gezwungen sind. Mittlerweile droht die Finanzkrise viele Menschen in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion an die Grenze zur Armut zu drängen oder in die Armut zurückzuwerfen. In Tadschikistan beispielsweise ist das Armutsniveau auf gegen 60 % gestiegen. Verschiedene Staaten haben ihre Zahlungsunfähigkeit nur mit internationalen Krediten abwenden können. Dadurch wurde die Umsetzung der Transformationsagenda verlangsamt.

Die Strategien der Ostzusammenarbeit liegen vor diesem Hintergrund beim Marktzugang auch für arme Bevölkerungsgruppen, bei der sozialen und politischen Integration von Marginalisierten, welche ein deutlich höheres Armutsrisiko tragen, beispielsweise betreffend Zugang zu Bildung und Justiz, sowie beim Aufbau von tragfähigen Sozialsystemen. Diese Ansätze sind angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise besonders wichtig. Grosse Bedeutung kommt auch dem Genderfokus bei der Arbeitsmarktintegration,
der politische Partizipation und der sozialen Sicherheit zu.

Pfeiler 2: Menschliche Sicherheit fördern und Sicherheitsrisiken reduzieren.

Die Schweiz hilft weltweit Konflikte zu verhindern, steht Opfern von Konflikten und Naturkatastrophen bei und hilft fragile Länder oder Regionen zu stabilisieren.

Damit schafft sie Voraussetzungen für mehr Sicherheit und eine nachhaltige Entwicklung.

Wer Nothilfe leistet, kommt konsequenterweise in Kontakt mit den gesellschaftlichen Aspekten von Konflikten oder Katastrophen und weiss deshalb, wie wichtig Konfliktprävention und Katastrophenbereitschaft sind. Entsprechend engagiert sich die Schweiz in der Prävention von Naturkatastrophen und der Minderung von deren Auswirkungen, dies in Zusammenarbeit mit Behörden potentiell gefährdeter Länder wie Bolivien und Bangladesh, im Nahen Osten oder in Konfliktpräventionskontexten wie in Nepal oder in der afrikanischen Region der Grossen Seen.

Pfeiler 3: Globalisierung entwicklungsfördernd gestalten.

Die Globalisierung beeinflusst die Entwicklungsperspektiven armer Länder. Die Schweiz ist bemüht, zu einer nachhaltigen und entwicklungsfreundlichen Globalisie1175

rung beizutragen. Die Schweiz unterstützt die Entwicklungschancen armer Länder sowie deren Möglichkeit, sich globalen Veränderungen anzupassen, mit ­

einem spezifischen Fokus auf der Bewältigung globaler Risiken wie Klimawandel, Ernährungssicherheit, Wasserknappheit und Migration und mit

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Beiträgen zur nachhaltigen Entwicklung sowie dem Einbezug der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft.

Die Globalisierungsdynamik führt dazu, dass sich die internationale Entwicklungspolitik vermehrt mit transnationalen Herausforderungen und Risiken beschäftigt, die die Entwicklungschancen armer Länder betreffen. Für deren Bewältigung ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Ländern des Nordens und Südens vordringlich. Es handelt sich hierbei um überregionale Probleme, die viele arme Länder betreffen und durch nationale oder regionale Massnahmen nicht zu lösen sind. Angesichts des globalen Umweltwandels agieren internationale Institutionen nach wie vor zwischen der Notwendigkeit globaler Gouvernanz einerseits und den nationalstaatlich geprägten Interessen andererseits.

Entwicklungspolitischer Beitrag zur Bewältigung globaler Probleme Die Entwicklungspolitik des Bundes muss künftig ihre Anstrengungen zugunsten der Armutsreduktion noch stärker mit der Lösung globaler Aufgaben verbinden.

Bereits heute setzt die DEZA, in enger Zusammenarbeit mit den entsprechenden Fachämtern, vier globale Programme in den Bereichen Klimawandel, Ernährungssicherheit, Migration und Wasser um. In diesem Rahmen nimmt sie Einfluss auf die Bewältigung weltweiter Probleme. In der Folge sei dieser Ansatz an einigen Beispielen illustriert.

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Entwicklung innovativer Ansätze in Zusammenarbeit mit Schweizer Firmen oder spezialisierten Institutionen: Im Rahmen des Globalprogrammes Klima findet eine enge Zusammenarbeit mit führenden Schweizer Architekten und Ingenieuren für energie- und ressourcensparendes Bauen in Ländern des Südens statt. Dies ist eines der Beispiele, wie innovative Technologien in der Nord-Süd-Partnerschaft eingesetzt und Impulse für die Politikformulierung in den Empfängerländern geschaffen werden können.

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Zusammenarbeit mit Organisationen, die globale Normen setzen: Im Rahmen des Globalprogramms Ernährungssicherheit besteht eine Zusammenarbeit mit der Universität Bern zur Etablierung von globalen Standards und Methoden für die Erhaltung von Bodenfruchtbarkeit und die Entwicklung von wasserschonenden Anbaumethoden. Im Globalprogramm Wasser beteiligt sich die Schweiz an der Ausarbeitung der ISO-Norm für die Berechnung des Wasserfussdrucks.

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Politikbeeinflussung in Ländern, die als grosse Schadstoffverursacher gelten: In China arbeitet die Schweiz innerhalb des Globalprogrammes Klima mit den Behörden von zehn chinesischen Städten zusammen bei der Erarbeitung von Gesetzen und Verfahren, die der Erhöhung der Energieeffizienz in der Stadtentwicklung dienen (Mobilität, Gebäude usw.). Das Globalprogramm Wasser befasst sich im Rahmen der Erarbeitung des «Montreux Policy Dialogue» mit Fragen der Wassersicherheit im Nahen Osten und in Nordafrika sowie in Peru, Bolivien und Ecuador. In diesen Regionen sind Wasserprobleme heute schon eine Hauptursache für Konflikte.

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Unterstützung von schadensmindernden Massnahmen in Ländern, in denen negative Auswirkungen globaler Risiken besonders ausgeprägt sind: Im Rahmen der «Global Environment Facility» der Weltbank arbeitet die Schweiz an den Massnahmen zur Klimaanpassung in Bangladesh, in den Sahelstaaten und in anderen Ländern des Südens mit. Beim Globalprogramm Ernährungssicherheit werden die Lagebeurteilungen der Ernährungsund Landwirtschaftsorganisation (FAO) und des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) in Regionen mit hohen Nahrungsmittelpreisen und massivem Mangel an Nahrungsmitteln genutzt, um Stellungnahmen der Schweiz für geeignete Massnahmen in die Entscheidorgane internationaler Organisationen einzubringen. Und mit dem Globalprogramm Migration arbeitet die Schweiz im Rahmen ihrer Migrationspartnerschaften, beispielsweise mit Nigeria, an Mitteln und Wegen, um die Migration für die Entwicklung der Ursprungsländer besser nutzbar zu machen.

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Unterstützung von Forschungsnetzen, die Wissen generieren und internationale Regelwerke mitgestalten: Im Rahmen des Globalprogrammes Ernährungssicherheit wird mit internationalen Agrarforschungszentren und schweizerischen Agrarforschungsinstitutionen sowie mit der Privatwirtschaft zusammengearbeitet, um landwirtschaftliches Wissen (Saatgut, Schädlingsbekämpfung, Anbaumethoden für Entwicklungsländer) weiterzuentwickeln und für kleinbäuerliche Betriebe verfügbar zu machen. Beim Globalprogramm Migration kopräsidiert die Schweiz gemeinsam mit Marokko die Arbeitsgruppe «Policy Coherence, Data and Research», die Forschungsdaten für UNO-Organisationen und die EU betreffend Migration zusammenstellt.

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Engagement der Schweiz im Bereich Wissens- und Technologietransfer: Im Rahmen des Globalprogrammes Klima geht es dabei um Technologien zur Erhöhung der Ressourceneffizienz sowie um andere Low-Carbon-Anwendungen. Via Globalprogramm Ernährungssicherheit erfolgt die Unterstützung der Beratungsgruppe für Internationale Agrarforschung (Consultative Group on International Agricultural Research, CGIAR), die eine strategische Partnerschaft von 64 Mitgliedern darstellt und mit einer Vielzahl von Regierungsorganisationen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und privatwirtschaftlichen Unternehmen weltweit zusammenarbeitet. CGIAR umfasst heute mehr als 8000 Wissenschaftler in über 100 Staaten. Im Vordergrund der Aktivitäten steht die Bekämpfung der Nahrungsmittelknappheit in tropischen und subtropischen Ländern durch Investitionen in neue, hochproduktive Pflanzensorten und verbesserte Nutztierhaltung. Die Unterstützung von CGIAR ist einer der Schweizer Beiträge zum globalen Wissenstransfer.

Engagement der Schweiz im Zusammenhang mit Wasserknappheiten Rund eine Milliarde Menschen haben kein sauberes Trinkwasser. Siedlungs-, Anbau- und Konsumweisen verursachen übernutzte Grundwasserquellen. Umweltverschmutzung, wachsende Bevölkerung und Klimawandel schaffen zusätzliche Knappheiten. Die globale Wasserkrise stellt eine vielschichtige politische Herausforderung dar, zu deren Meisterung die Schweiz ihren Beitrag leistet.

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Zunehmende Wasserknappheit Von Wasserknappheit ist heute ein Drittel der Menschheit betroffen. Rund 1,1 Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. 2,6 Milliarden Menschen fehlt der Zugang zur sanitären Grundversorgung. Rund 80 % aller in Entwicklungsländern auftretenden Krankheiten stehen im Zusammenhang mit einem Mangel an sauberem Wasser. In Entwicklungsländern macht die starke Bedeutung der Landwirtschaft, insbesondere die Bewässerungslandwirtschaft, Wasser zu einer wichtigen Grundlage für die Ernährungssicherung und somit auch für die Armutsbekämpfung.

Hydrologische Knappheit vermindert das Wasserangebot in Nordafrika, im Nahen Osten und in Zentralasien. Laut Bericht des UNO-Klimarates (IPCC, 2007) sind Niederschlagsänderungen und steigende Temperaturen die wichtigsten Auswirkungen des Klimawandels auf die Wasserverfügbarkeit. Die Änderungen in den Niederschlagsmustern werden in den trockenen Subtropen tendenziell weiter ab- und in den hohen Breitengraden zunehmen. Wasserknappheit wird in Zukunft wahrscheinlich noch weitere Regionen (z.B. Lateinamerika, südliches Afrika, Zentralasien, China) betreffen. Aufgrund fehlender institutioneller Kapazitäten oder finanzieller Ausstattung bleibt die Nutzbarmachung mangelhaft.

Die Nachfrage nach Wasser nimmt stetig zu. Diese Zunahme wird durch folgende Faktoren verursacht: rasches Bevölkerungswachstum, Wirtschaftswachstum und damit einhergehender steigender Pro-Kopf-Konsum, steigende Nachfrage nach Nahrungsmitteln und anderen Primärgütern, Bewässerungslandwirtschaft sowie industrielle Produktionsprozesse und Dienstleistungen. Weitere Schlüsselfaktoren sind die Defizite im institutionellen Wassermanagement: fehlende Koordination der verschiedenen Akteure, Mangel an geeigneten Managementinstrumenten, Finanzierungsdefizite, fehlendes ausgebildetes Personal, unzureichend durchgesetzte Zugangs- und Nutzungsrechte für knapper werdende Wasserressourcen.

Wasserkrisen treten vermehrt in Entwicklungsländern auf, die bereits mit den Aufgaben der Armutsbekämpfung belastet und häufig durch ungünstige naturräumliche Bedingungen benachteiligt sind sowie oft unzureichend ausgestattete Wassermanagementsysteme aufweisen. Ohne Gegensteuer wird Wasserknappheit zunehmend zum Auslöser von lokalen und regionalen Konflikten werden. Die Entwicklungszusammenarbeit
geht davon aus, dass die Wasserkrise nicht primär hydrologisch anzugehen, sondern als Management- und Gouvernanzproblem zu behandeln ist.

Wasserarmut ist durch schwache Institutionen, fragmentierte und wenig wirksame Politikansätze sowie auf einzelne Sektoren begrenzte Programme mitverursacht. Für die Lösung sind deshalb politische, institutionelle und wirtschaftliche Reformen entscheidend. Inkompatible Ansprüche verschiedener Sektoren (städtische und ländliche Regionen), Zielkonflikte (Ressourcenverbrauch und -schutz), finanziell und personell unzureichend ausgestattete Wasserbehörden und andere Verwaltungen machen Reformen im Wassermanagement entsprechend schwierig.

Beitrag der Schweiz Man könnte meinen, die Schweiz, das Wasserschloss Europas, habe auf mittlere Sicht keine Probleme mit der Wasserversorgung. Aber ihr Wasserkapital schwindet mit der Gletscherschmelze rasch dahin. Der ökologische Fussabdruck der Schweiz für Wasser fällt zu 80 % im Ausland an, häufig in Ländern, wo schon eine Wasserkrise herrscht. Wenn die Schweiz einen Beitrag zur Lösung des weltweiten Wasser1178

problems leistet, sichert sie damit auch das Weiterbestehen ihres Wohlergehens und ihres Reichtums.

Die Schweiz verfügt über anerkanntes Know-how im Wassermanagement, sowohl bei den öffentlichen Wasserwerken als auch in der Privatwirtschaft, an Hochschulen, in der Zivilgesellschaft und in der Entwicklungshilfe. Dank 30 Jahren Präsenz und Erfahrung in diesem Bereich sind die zuständigen Stellen des Bundes wichtige und anerkannte Akteure bei der Realisierung konkreter Projekte vor Ort wie auch bei Management und Entwicklung in einem globalen Zusammenhang.

Der Bericht, den die DEZA und das SECO 2008 über die Wirksamkeit von Wasserprogrammen vorgelegt haben, veranschaulicht, was sowohl in Entwicklungs- als auch in Transitionsländern erreicht worden ist: ­

In den letzten fünf Jahren erhielten 370 000 Personen neu Zugang zu Trinkwasser und Siedlungshygiene; 30 000 Personen erhielten Zugang zu Wasser für ihre landwirtschaftliche Produktion.

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Jeder investierte Schweizerfranken hat einen sozialen Nutzen (Verringerung der Gesundheitskosten und des Zeitaufwands für das Wasserholen) und einen wirtschaftlichen Nutzen (Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion) von 3 bis 5 Franken erbracht, was auch im internationalen Vergleich ein sehr gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis ist.

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Die Schweiz hat einen grossen Beitrag zur Förderung der Schlüsselinstitutionen und -organisationen des Sektors geleistet. Dies ist eine wichtige Voraussetzung, um die Nachhaltigkeit der Investitionen zu gewährleisten.

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Der Einfluss der Schweiz auf die weltweite Agenda im Wassersektor ist bedeutender, als man aufgrund des Umfangs ihres finanziellen Engagements annehmen könnte.

Für die koordinierte internationale Positionierung der Schweiz bildet Wasser einen starken gemeinsamen Nenner. In diesem Zusammenhang ist die Genfer Plattform, an der zahlreiche internationale und private Wasserorganisationen beteiligt sind, ein wertvolles Instrument. Die schweizerischen Universitäten wiederum, wie auch der Privatsektor, sind führend bei der Entwicklung innovativer Lösungen im technologischen, ökologischen und wirtschaftlichen Bereich. Handpumpen, einfache und kostengünstige Schweizer Systeme zur Wasserentkeimung, auch für Arme erschwingliche Toiletten-Systeme, Mikrobewässerungssysteme usw. sind weltweit bekannt. Aber auch im Bereich der Spitzentechnologie hat die Schweiz dazu beigetragen, ihre Produkte in den Dienst der Armen zu stellen.

Bilaterales und regionales Engagement In Lateinamerika verfügt die Schweiz über langjährige Erfahrung im Wassersektor, sowohl in der Andenregion (Bolivien, Peru) als auch in Mittelamerika (Nicaragua, El Salvador, Guatemala). Die Rahmenbedingungen sind sehr günstig, die Absorptionskapazität ist bedeutend. Innovative Ansätze (z.B. «Sanitation is a business») fallen auf fruchtbaren Boden, mit Upscaling lässt sich ein optimaler Wasserzugang zu vernünftigen Kosten gewährleisten. Der Wassersektor ist bestens geeignet, um Dezentralisierungsprojekte zu verwirklichen. So ist die Arbeit durch die Stärkung der Institutionen und die Beteiligung des privaten Sektors geprägt, was gute Ergebnisse ermöglicht: 300 000 Personen erhalten Zugang zu Wasser und Siedlungshygiene, und 180 000 Arme werden Wasser effizienter nutzen, um ihre landwirt1179

schaftliche Produktion zu steigern und ihre Ernährung zu verbessern oder um Geld zu verdienen.

In Asien dominieren in den Ländern, in denen die Schweiz aktiv ist, folgende Probleme: fehlender Zugang zu Trinkwasser, fehlende Siedlungshygiene und unwirtschaftlicher Umgang mit Wasser in den Wassereinzugsgebieten (oft Trockenzonen).

Die zunehmende Abholzung von Wald verstärkt das Problem noch. In Bangladesch bilden überdies Arsen im Grundwasser sowie Überschwemmungen gravierende Probleme. Trinkwasser, Siedlungshygiene, Mikrobewässerung sowie Management der Wassereinzugsgebiete sind zentrale Anliegen. Das Total-Sanitation-Konzept wurde dort entwickelt und soll gefördert werden. In Bangladesch steht die Verhütung von Überschwemmungen im Vordergrund. 100 000 Personen sollen Zugang zu Trinkwasser und Siedlungshygiene erhalten, und 170 000 Personen sollen bei der landwirtschaftlichen Produktion das Wasser effizienter nutzen. Die Gefahr von Überschwemmungen soll kleiner werden.

Die afrikanischen Länder südlich der Sahara sind mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert: einerseits den Rückstand in den ländlichen Regionen aufzuholen, wo nur zwei von fünf Personen Zugang zu Trinkwasser haben und nicht einmal eine von fünf Zugang zu elementarer Siedlungshygiene, andererseits das starke Bevölkerungswachstum in den Städten in den Griff zu bekommen. Die Leistung der städtischen Trinkwasserversorgung und die Abwasserentsorgung ist noch schwach, während in den ländlichen Regionen ein chronisches Infrastrukturdefizit besteht. Zwar sind zahlreiche afrikanische Länder bezüglich ihrer Millenniumsentwicklungsziele im Wasserbereich im Rückstand, doch ist bemerkenswert, wie sich viele dieser Länder in den letzten Jahren energisch daran gemacht haben, diesen Rückstand aufzuholen. Zur Behebung der Probleme müssen die Investitionen erhöht und die Fähigkeit zur Erbringung der erforderlichen Dienstleistungen verstärkt werden, insbesondere was die lokalen Behörden betrifft. Die Schweiz ist seit vielen Jahren in rund einem Dutzend afrikanischer Länder tätig, wobei die lokalen Behörden und die Bevölkerung ihre wichtigsten Partner sind. Schwerpunkte sind Trinkwasser, Kleinbewässerung und, in geringerem Masse, Projekte im Bereich des Wassermanagements.

Multilaterales Engagement Dank langjähriger Erfahrung mit globalen
Einsätzen im Wassersektor ist die Schweiz auf internationaler Ebene eine respektierte und einflussreiche Partnerin.

Beispielsweise wird sie als weltweit führend bei der Umsetzung des Rechts auf Wasser anerkannt. International arbeitet sie mit folgenden Gremien zusammen: ­

«Water & Sanitation Program» der Weltbank; dieses beeinflusst die Reformen und Strategien für Trinkwasser- und Abwasserwerke und legt damit eine Grundlage für Investitionen;

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«Water Supply and Sanitation Collaborative Council» in Genf, eine Vorkämpferin für die Förderung der Siedlungshygiene und Trägerin des «Global Sanitation Fund»;

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«Global Water Partnership», eine führende Organisation im Bereich des integrierten Wasserressourcenmanagements;

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«Challenge Programme Water For Food»;

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«International Secretariat For Water», eine zivilgesellschaftliche Stimme für das Recht auf Wasser;

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«WHO/UNICEF Joint Global Monitoring Programme for Water Supply and Sanitation» und «Water Integrity Network»: diese treiben die Übernahme eines Ethikkodex (insbesondere betreffend Korruption) durch sämtliche Partner des Sektors voran.

Herausforderungen und Perspektiven In der Entwicklungszusammenarbeit geht es um Armutsbekämpfung, aber auch um die Schaffung von Sicherheit, die Stärkung von Demokratie und Menschenrechten sowie um die Bewältigung globaler Probleme wie Klimawandel oder Migration.

Die im Rahmen der Botschaft vom 14. März 2008 zur Weiterführung der technischen Zusammenarbeit und der Finanzhilfe zugunsten von Entwicklungsländern (BBl 2008 2959) dargestellte entwicklungspolitische Strategie des Bundes verbindet den Gedanken von internationaler Zusammenarbeit und Solidarität mit den Interessen der Schweiz in einer globalisierten Welt.

Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise hat auch die Entwicklungszusammenarbeit unter Druck gesetzt. Kurz- und mittelfristig stellen sich folgende Herausforderungen: ­

Entwicklungsinvestitionen: Die im Jahr 2000 von der Staatengemeinschaft vereinbarten Millenniumsentwicklungsziele (Halbierung der weltweiten Armut bis 2015, wirksame Investitionen in die Entwicklungszusammenarbeit) können nur mit enormen Anstrengungen und Reformen in den Entwicklungsländern erreicht werden. Dies bedingt auch eine stärkere Arbeitsteilung, eine verlässliche Unterstützung der Partnerländer, mehr Verantwortung für entwicklungsorientierte Partner vor Ort und klare Zielvereinbarungen.

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Wirksamkeit: In den letzten Jahren ist der Druck von Parlament und Öffentlichkeit gestiegen, die in der Entwicklungszusammenarbeit erreichten Resultate zu messen. Dies hat zur Verbesserung der Qualität der Hilfe beigetragen. Der Glaube an die Messbarkeit hat aber auch Grenzen. Oft wird eine kurzfristige messbare Entwicklung auf Kosten einer langfristigen und nachhaltigen Wirkung gefordert. Es ist nur mit äusserst aufwendigen Evaluationsprogrammen möglich, zum Beispiel die Armutsreduktion auf den Beitrag einzelner Akteure in einer bestimmten Region zurückzuführen. Ob der Anstieg des Volkseinkommens in einem Land auf Entwicklungshilfe zurückgeführt werden kann, ist schwierig zu messen, weil es zu viele Einflussfaktoren gibt.

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Gemeinsame und geteilte Verantwortung: Armutsreduktion hängt stark von den richtigen Politiken und deren Durchsetzung im Entwicklungsland ab.

Entwicklungszusammenarbeit zeigt dort Wirkung, wo die Institutionen im Partnerland, also Regierung, Parlament, Justiz, Privatsektor und Zivilgesellschaft, Verantwortung wahrnehmen und mit eigenen Steuereinnahmen oder privaten Ersparnissen in Entwicklung investieren. Die OECD-Mitgliedsländer bleiben verantwortlich für ein angemessenes Entwicklungsbudget und für möglichst positive Ausseneinflüsse auf arme Länder (entwicklungsförderliche Handels-, Investitions-, Patent-, Umweltpolitik).

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Fragile Staaten: Die internationale Gemeinschaft muss die Ursachen stagnierender oder langsamer Entwicklung offener und direkter angehen.

Bewaffnete Konflikte sowie instabile oder fragile Situationen lähmen die Wirtschaftstätigkeit und machen Entwicklungsfortschritte zunichte. Vielerorts führen ausbleibende Investitionen, mangelnde Wirtschaftsleistungen, fehlende Innovationen zu einer hohen Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung. Es müssen Antworten auf Konflikte in schwachen und fragilen Staaten, die auch Regionen zu destabilisieren drohen, gefunden werden.

­

Bewahrung der natürlichen Ressourcen: Das Ressourcenmanagement muss die langfristige quantitative und qualitative Bewahrung der natürlichen Ressourcen zum Ziel haben sowie die Regulierung des Zugangs zu diesen Ressourcen. Insbesondere der Schutz der Klimastabilität, der Biodiversität und der Bodenfruchtbarkeit ist eine wesentliche Voraussetzung für die Ernährungssicherheit weltweit und die Bekämpfung der Armut. Somit ist es unerlässlich, dass die entwickelten Länder, namentlich die Schweiz, sich für den Schutz der natürlichen Ressourcen einsetzen, denn die Entwicklungsländer legen begreiflicherweise den Schwerpunkt eher auf die Bereiche mit unmittelbareren wirtschaftlichen Vorteilen.

­

Klimawandel und Entwicklungszusammenarbeit: Die Auswirkungen des fortschreitenden Klimawandels zwingen schwache Länder zu aufwendigen Anpassungsmassnahmen. In den Ländern und Regionen sind Programme der Entwicklungszusammenarbeit eng mit Massnahmen zur Bewältigung der Auswirkungen des Klimawandels zu verbinden. Um Glaubwürdigkeit nicht zu schwächen und das Vertrauen der Entwicklungsländer in die klimapolitischen Verhandlungen nicht zu untergraben, sind die OECD-Länder gefordert, Finanzierungszusagen für klimapolitische Massnahmen nicht mit Mitteln, die für die Entwicklungszusammenarbeit eingeplant sind, einzulösen.

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Globale Risiken: In der internationalen Politik stehen Entscheidungen an, die für die Zukunft der globalen Entwicklung von höchster Bedeutung sind, so die Ausgestaltung einer zukunftstauglichen Weltwirtschaftsordnung, die Eindämmung des Klimawandels oder die Schaffung von Global-Governance-Regelungen. Die Entwicklungspolitik ist gefordert, vor diesem Hintergrund Beiträge zu leisten. Sie kann dafür sorgen, dass auch schwache Akteure bei der Aushandlung legitimer Regelungen faire Chancen haben.

Sie kann dazu beitragen, dass die Gestaltung der Entwicklungspfade die Grenzen des Klimasystems und der natürlichen Ressourcen akzeptieren.

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Schwellenländer sind zunehmend wichtige Akteure der Weltpolitik. Ohne ihre aktive Beteiligung an Global-Governance-Prozessen sind Lösungen unter anderem in Bezug auf Millenniumsentwicklungsziele, Klimapolitik, Energiesicherheit oder Friedenspolitik kaum zu erreichen. Deshalb müssen die aufsteigenden Mächte aus den Entwicklungsregionen in die internationalen Prozesse der Politikkoordination miteinbezogen werden und globale Mitverantwortung übernehmen. Um dies zu erreichen, sind jedoch faire und kooperative Reformen des globalen Gouvernanzsystems notwendig.

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Kohärenz für Entwicklung: Das Parlament hat im Rahmen der Botschaft vom 14. März 200848 zur Weiterführung der technischen Zusammenarbeit BBl 2008 2959

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und der Finanzhilfe zugunsten von Entwicklungsländern die Ausrichtung der einheitlichen Entwicklungspolitik des Bundes für eine gerechte und nachhaltige globale Entwicklung festgelegt. Der Beitrag der Schweiz umfasst die drei oben erwähnten strategischen Schwerpunkte der Verminderung der Armut und der Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele, der Förderung der menschlichen Sicherheit und der Reduktion der Sicherheitsrisiken sowie der entwicklungsförderlichen Gestaltung der Globalisierung.

Der Erfolg der Entwicklungspolitik hängt allerdings nicht allein von ihr selbst, sondern auch von anderen Politiken ab, die entwicklungspolitische Anstrengungen unterstützen. Um Entwicklungsprozesse in armen Ländern möglichst wirksam zu unterstützen und die Kohärenz zwischen verschiedenen sektoriellen Politiken entsprechend zu gestalten, wird das Ziel, die globale nachhaltige Entwicklung zu fördern, immer stärker zu einer Querschnittsaufgabe der nationalen Politik. Die Sicherheits-, Umwelt-, Handels-, Finanz-, Landwirtschafts- und Wirtschaftspolitik der OECD-Länder muss in die Erreichung übergeordneter Entwicklungsziele miteinbezogen werden.

Die Legitimation für die Forderung nach mehr Politikkohärenz leitet sich aus der von der internationalen Staatengemeinschaft verabschiedeten Millenniumserklärung ab. Gemäss dieser ist Entwicklungspolitik Teil der Bemühungen zur positiven Gestaltung der Globalisierung. Gleichzeitig muss sich die Entwicklungspolitik auch den Kohärenzforderungen der anderen Politikbereiche stellen.

In der Länderprüfung 2009 fordert der OECD-Entwicklungsausschuss DAC die Schweiz auf, ihre Anstrengungen in Bezug auf die Kohärenz der Entwicklung zu verstärken. Der Ausschuss kritisiert unter anderem den Mangel an griffigen Strukturen innerhalb der Bundesverwaltung, um die Kohärenz der verschiedenen Politikbereiche zu verbessern. Der Interdepartementale Ausschuss für Entwicklung und Zusammenarbeit muss derart ausgestaltet werden, dass die Entwicklungsverträglichkeit von Massnahmen in anderen Politikbereichen analysiert und Vorschläge zu deren Verbesserung gemacht werden können.

Die einzelnen Bundesstellen können die Möglichkeiten der gegenseitigen Einflussnahme noch besser nutzen. Folgende Beispiele zeigen Lösungswege auf: ­ Eine faire und nachhaltige Klimapolitik erfordert eine enge Abstimmung
mit entwicklungspolitischen Anliegen. Im Rahmen der Teilnahme der Schweiz an der Klimakonferenz in Kopenhagen haben entwicklungspolitische Anliegen das Verhandlungsmandat der Schweiz stark geprägt. Als wichtiger Grundsatz galt, dass der Schweizer Beitrag zur Finanzierung des neuen internationalen Klimaregimes nach 2012 zusätzlich zur bestehenden öffentlichen Entwicklungshilfe und auf der Grundlage des Verursacherprinzips erfolgen soll.

­ Umwelt- und entwicklungspolitische Anliegen haben Parlament und Bundesrat im Entscheid zur Förderung von biogenen Treibstoffen geleitet. Im Rahmen der Revision der Mineralölsteuergesetzgebung hat die Schweiz 2007 als weltweit erstes Land bei der Förderung von biogenen Treibstoffen ökologische und soziale Kriterien eingeführt. Im Auftrag

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4.4.4

des SECO wurde auch ein Tool entwickelt, um die Nachhaltigkeit von biogenen Treibstoffen online abzuschätzen49. Bei den verringerten administrativen Hürden für die Steuerbefreiung hält der Bundesrat an ökologischen und sozialen Kriterien für die Förderung von biogenen Treibstoffen fest. Damit ist auch dem Grundsatz Rechnung getragen, wonach Pflanzen zuerst als Nahrungsmittel, sodann als Futtermittel und erst zuletzt als Treibstoff verwendet werden sollen.

In der Bundesverwaltung wurde zwischen DEZA und Bundesamt für Landwirtschaft eine gemeinsame Diskussionsplattform zum Thema Kohärenz geschaffen. Damit wird die Sensibilisierung für die landwirtschaftlichen und ernährungspolitischen Komponenten und deren Berücksichtigung in der Ausgestaltung der entsprechenden Politiken verstärkt.

Bretton-Woods-Institutionen und Armutsreduktion

Die Bretton-Woods-Institutionen waren gefordert, auf die Finanz- und Wirtschaftskrise rasch mit angemessenen Kreditinstrumenten und zusätzlichen Finanzmitteln zu reagieren. Sie konnten damit den besonderen Bedürfnissen der Mitglieder in der Krise Rechnung tragen. Die Krise hat die Forderung nach einer Gouvernanzreform, die den neuen weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Kräfteverhältnissen und dem Aufstieg der Schwellenländer Rechnung trägt, verstärkt.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) Finanzkrise und globaler Abschwung führten in zahlreichen Ländern zu einem hohen Bedarf an externer Finanzierung. Seit Herbst 2008 hat der IWF 19 neue Beistandsabkommen mit Mitgliedsländern abgeschlossen. Die Europäische Union und die Weltbank haben diese Abkommen mit zusätzlichen Mittelvergaben teilweise noch ergänzt. Die reguläre Obergrenze für IWF-Kredite wurde verdoppelt, und die Auszahlung der Mittel mehrheitlich zeitlich vorgezogen. Bis März 2010 hat der IWF im Rahmen von Kreditabkommen insgesamt rund 180 Milliarden US-Dollar verpflichtet. Im Frühjahr 2009 schuf er die «Flexible Credit Line» (FCL), die auf Antrag jenen Ländern Kreditlinien zur Verfügung stellt, die sich ohne Probleme an den Finanzmärkten finanzieren und eine nachhaltige Wirtschafts- und Finanzsektorpolitik nachweisen können. Bislang haben Mexiko, Polen und Kolumbien dieses Instrument beansprucht mit einer Verpflichtung von insgesamt rund 80 Milliarden US-Dollar. Des Weiteren passte der IWF die Kreditfazilitäten für arme Länder an. Je nach Bedürfnis und Struktur des jeweiligen Mitgliedslandes stehen drei verschiedene Instrumente zur Verfügung. Dies entspricht der Forderung der G-20 an den IWF, auch für ärmere Ländern passende Kreditlinien bereit zu halten.

Mit erhöhten Finanzmitteln konnte der IWF die weitere Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Krisenbewältigung sicherstellen. Mit einer allgemeinen Zuteilung an Sonderziehungsrechten in der Höhe von 250 Milliarden Dollar konnte deren Bestand signifikant erhöht werden. Zur Sicherstellung des erhöhten Mittelbedarfs wurden dem IWF bilaterale Kreditlinien zur Verfügung gestellt. Diese werden abgelöst sobald die Reform der Neuen Kreditvereinbarungen (NKV) von den Ländern ratifi49

«Sustainability Quick Check for Biofuels», www.sqcb.org.

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ziert ist. Die NKV, das finanzielle Sicherungsnetz des IWF, soll von derzeit rund 55 Milliarden US-Dollar auf rund 540 Milliarden US-Dollar ausgedehnt werden. Die NKV sollen aber weiterhin nur im systemischen Krisenfall und bei drohender Erschöpfung der IWF-eigenen Ressourcen aktiviert werden. Zu den 26 bisherigen Kreditorenländern sollen noch 13 weitere dazu kommen, darunter vor allem die BRIC-Staaten. Die Schweizerische Nationalbank beteiligt sich mit Krediten an den IWF von bis zu rund 16.5 Milliarden Dollar an den NKV. Diese Kredite werden marktgerecht verzinst und nicht vom Bund garantiert. Der Bundesrat hat die Vorlage zur Reform der NKV im September 2010 den eidgenössischen Räten zur Genehmigung unterbreitet.

Die Quoten- und Gouvernanzreform des IWF war das zentrale Thema seiner Tagung vom 8. und 9. Oktober 2010. Gemäss der inzwischen vom Exekutivrat verabschiedeten Resolution werden über die Quoten bereitgestellten regulären Mittel des IWF verdoppelt (auf rund SZR 477 Mrd. ­ oder USD 756 Mrd.). Zugunsten der Schwellen- und Entwicklungsländer werden ferner Quoten im Umfang von 6% der Gesamtquote von über- zu unterrepräsentierten Ländern umverteilt. Die Grösse des Exekutivrats soll bei 24 Mitgliedern bleiben, und es sollen neu alle Exekutivdirektoren gewählt werden. Gleichzeitig sollen zwei Sitze fortgeschrittener europäischer Länder zugunsten der Schwellen- und Entwicklungsländer aufgegeben werden.

Die Schweiz unterstützt grundsätzlich eine faire Quoten- und Gouvernanzreform des IWF. Dadurch soll einerseits eine Anpassung der Stimmrechte der Mitgliedsstaaten an die Entwicklung der Weltwirtschaft und andererseits eine Modernisierung der Gouvernanzstruktur erreicht werden. Die Stimmgewichte sollen im Einklang mit dem Mandat des IWF die wirtschaftliche Grösse und die Bedeutung der Länder im internationalen Finanzsystem spiegeln. Die Resolution erfüllt dies leider nur bedingt.

Der mangelnde Einbezug der Nicht-G-20 Länder in der Schlussphase der Lösungsfindung hat einerseits dazu geführt, dass mittelgrosse Industrieländer überdurchschnittlich viele Quotenanteile abgeben müssen. Andererseits besteht die Gefahr, dass die Quotenformel in den kommenden Jahren erneut unsachgemäss angepasst wird. Aus diesen Gründen ­ und aufgrund unterschiedlicher Haltungen innerhalb der Stimmrechtsgruppe ­ hat sich
der schweizerische Exekutivdirektor bei der Überweisung der Resolution der Stimme enthalten.

Die Auswirkungen der Quotenreform auf die Vertretung der Schweiz in den Bretton-Woods-Institutionen kann derzeit noch nicht abschliessend beurteilt werden. Der Druck für weitere Anpassungen in der Gouvernanz des IWF dürfte jedoch weiterhin bestehen bleiben. Der Bundesrat hat bereits am 21. Oktober 2009 das EFD, das EVD und das EDA beauftragt, die notwendigen Massnahmen zu treffen, um die Stellung der Schweiz in den Exekutivräten der Bretton-Woods-Institutionen zu wahren. Zu diesen Massnahmen zählt eine klare und kohärente Positionierung in den Entscheidgremien und eine intensivierte Kontaktpflege zu massgebenden Mitgliedsländern.

Die Weltbankgruppe50 Auch die Weltbankgruppe hat sich 2009 intensiv mit der Bewältigung der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise und deren Folgen beschäftigt. Die verpflichteten Mittel sind stark angestiegen, und die Instrumente für eine rasche und wirksame 50

Zur Weltbank-Gruppe gehören: International Bank for Reconstruction and Development IBRD, International Finance Corporation IFC, International Development Association IDA, Multilateral Investment Guarantee Agency MIGA.

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Unterstützung von stark betroffenen Ländern wurden angepasst. Während die Weltbank (IBRD) ihren bestehenden Kreditvergabespielraum zugunsten der fortgeschrittenen Länder kurzfristig nützen konnte, erlaubte die begrenzte Verfügbarkeit von konzessionellen Mitteln (IDA) zugunsten der armen Länder lediglich einen Vorbezug ohne Additionalität. Die derzeit laufenden Verhandlungen zur 16. Wiederauffüllung der IDA-Fonds werden diesen Umstand berücksichtigen.

Ebenso wie der IWF und die regionalen Entwicklungsbanken hat die Weltbank im April 2010 entschieden, ihr Kapital (IBRD) um 86 Milliarden US-Dollar (+39 %) zu erhöhen und damit auf den zusätzlichen Mittelbedarf zu antworten. Zudem wird das Kapital der «International Finance Corporation» (IFC) um 200 Millionen US-Dollar erhöht. Die bereits entschiedenen Kapitalerhöhungen der regionalen Entwicklungsbanken sind allerdings viel höher ausgefallen. Ihr Kapitalvolumen wird nicht mehr viel tiefer sein als jenes der Weltbank. Damit wird eine zunehmende Multipolarität der internationalen Finanzinstitutionen sichtbar. Dies erfordert eine stärkere Zusammenarbeit und Koordination sowie eine Arbeitsteilung zwischen den Institutionen. Die Weltbank hat eine überzeugende mittelfristige Strategie vorgelegt. Die Schweiz hat die Kapitalerhöhung im Grundsatz unterstützt. Eine Botschaft zuhanden des Parlaments zur Beteiligung an den Kapitalerhöhungen ist in Vorbereitung.

Die Frage der Stimmrechtsreform ist auch bei der Weltbank von strategischem Interesse für die Schweiz. Die Frühjahrstagung (April 2010) der Bretton-WoodsInstitutionen hat entschieden, 3,13 % der Stimmrechte an Entwicklungs- und Transitionsländer umzuverteilen. Letztere werden somit über 47,19 % der Stimmrechte verfügen. Der Anteil der Schweiz wird von 1,63 % auf 1,46 % der Stimmrechte sinken. Die Schweiz hat sich sehr aktiv an den Diskussionen beteiligt. Es ist ihr gelungen, einen stärkeren Stimmrechtsverlust zu verhindern. Es geht nicht zuletzt um die Aufrechterhaltung ihres Sitzes im Exekutivrat wie auch um eine angemessene Verteilung der Stimmrechte. Die Schweiz setzte sich insbesondere dafür ein, dass die Gruppe der ärmeren Länder gegenüber den reichen, wie auch gegenüber den Schwellenländern, nicht an Gewicht verliert.

Die Weltbank verfügt über ein gut ausgebautes System zur Qualitätssicherung. Die
Quote der Weltbank-Projekte, welche zufriedenstellende Resultate erzielen, verbesserte sich in den letzten Jahren kontinuierlich auf hohem Niveau. Für die Schweiz ist diese stetige Verbesserung der Qualität der Projekte ein wichtiges Anliegen. Entsprechend engagiert sie sich namentlich für ein umfassendes Resultatemanagement.

Perspektiven und Herausforderungen Die Weltbank nimmt sich schon seit Jahren des Themas Klimawandel und seiner Bedeutung für die Entwicklungsländer an. Sie wird auch bei der Umsetzung und gegebenenfalls der Finanzierung von neuen Klimaverpflichtungen eine wichtige Rolle spielen. Eine weitere Priorität gilt den Ländern mit fragiler Staatlichkeit. Dazu gehören nicht nur Länder, die von internen Konflikten betroffen sind, sondern auch Länder wie zum Beispiel Haiti, wo sich nach dem verheerenden Erdbeben vom Januar 2010 die Fragilität noch verschärft hat. Um derartige Herausforderungen bewältigen zu können, ist eine enge Abstimmung und Zusammenarbeit der Akteure (UNO, regionale Finanzierungsinstitutionen, bilaterale Geber) besonders wichtig.

Die rasche Bereitstellung der Finanzmittel und die makroökonomische Antwort auf die Krise stellen in den aktuellen Diskussionen nur einen Aspekt dar. Es geht überdies um die längerfristige Positionierung der Bretton-Woods-Institutionen (BWI) in 1186

einem sich rasch verändernden internationalen Kontext mit neuartigen weltwirtschaftlichen Kräfteverhältnissen. Die G-20 stellen für die BWI eine besondere Herausforderung dar. Einerseits werden letztere zur inhaltlichen Aufbereitung und andererseits zur Umsetzung von strategischen Entscheiden der G-20 eingesetzt. Es ist daher wichtig, dass die Schweiz über die BWI aktiv Einfluss ausübt auf die Entscheide der G-20.

Bislang hat sich die Gouvernanzreform der Weltbank auf eine Neuverteilung der Stimmrechte zugunsten der Entwicklungs- und Transitionsländer konzentriert. Für eine bessere Vertretung des afrikanischen Kontinents wurde ein zusätzlicher Sitz geschaffen. Während an der Frühjahrstagung im April 2010 entschieden wurde, die Frage der Anzahl der Verwaltungsratssitze beim IWF zu prüfen, ist bei der Weltbank vorgesehen, die Gouvernanzreform im Jahr 2015 wieder zu thematisieren.

In der Bundesverwaltung wird diese Thematik von einer interdepartementalen Arbeitsgruppe eng verfolgt. International wurden Kontakte geknüpft, um die von der Schweiz geführte Stimmrechtsgruppe zu verstärken und so bei möglichen zukünftigen Gouvernanzreformen besser positioniert zu sein.

4.4.5

Regionale Entwicklungsbanken und Armutsreduktion

Die unter Ziffer 4.4.3 erörterten globalen Herausforderungen haben ihre jeweiligen regionalen Ausprägungen. Sie prägen auch die strategische Stossrichtung der regionalen Finanzierungsinstitutionen (Afrikanische, Asiatische und Interamerikanische Entwicklungsbank). Das Wirtschaftswachstum der ärmsten Entwicklungsländer ging wegen der Krise zurück. Dank langjährigen Reformen und Strukturanpassungen sowie einer begrenzten Integration ins globale Wirtschaftssystem konnten aber die meisten der ärmsten afrikanischen Entwicklungsländer ein wesentlich kleineres, aber positives Wachstum bewahren.

Die regionalen Entwicklungsbanken spielen in der Krise eine eminent wichtige Rolle bei der Bewältigung der Risiken. Die Mitgliedsländer der Banken stammen mehrheitlich aus den jeweiligen Regionen. Die Vertrautheit mit den lokalen Problemen und Partnern vor Ort stärkt die Rolle der Banken im Politikdialog und bei Gouvernanzfragen sowie in der Unterstützung der regionalen Integrationsprozesse.

In der Krise investierten die regionalen Entwicklungsbanken antizyklisch und vergrösserten das Ausleihvolumen zum Teil massiv. In der Folge wurden teilweise massive Kapitalaufstockungen beschleunigt. Die Asiatische und Afrikanische Entwicklungsbank haben eine Verdreifachung des Kapitals beschlossen; bei der Interamerikanischen Entwicklungsbank ist die Entscheidung über eine Kapitalerhöhung von 70 % festgelegt. Über die Beteiligung der Schweiz an den Kapitalaufstockungen der regionalen Entwicklungsbanken sowie der Weltbankgruppe wird eine Botschaft ans Parlament vorbereitet.

Ausserdem laufen mit der Afrikanischen und der Interamerikanischen Entwicklungsbank Verhandlungen über die Wiederauffüllung des Entwicklungsfonds, der zinslose Darlehen und Zuschüsse für die ärmsten Entwicklungsländer anbietet. Der Bundesrat wird, unter Vorbehalt parlamentarischer Zustimmung, im Rahmen der Botschaft über die Umsetzung des parlamentarischen Entscheides vom Dezember

1187

2008 (Botschaft über die Erhöhung der öffentlichen Entwicklungshilfe auf 0,5 % bis 2015) über die Beteiligung der Schweiz an den Fonds entscheiden.

Als Beitragszahlerin und als Mitglied der Leitungsgremien kann die Schweiz die Strategie der regionalen Entwicklungsbanken mitsteuern. Hierfür nutzt sie auch die Expertise , die dank der bilateralen Hilfe in den jeweiligen Schwerpunktländern und -regionen gesammelt werden kann. Sie kann aufgrund solider Kenntnisse des Kontexts die Politik der Banken beeinflussen. Unter anderem plädiert sie für eine verstärkte Zusammenarbeit der regionalen Finanzierungsinstitutionen mit der Weltbank, den UNO-Organisationen und mit schweizerischen Akteuren (Privatsektor, Hilfswerke, Universitäten). Überdies setzt sie sich dafür ein, dass die Institutionen sich auf wenige Schlüsselsektoren konzentrieren und die Verwaltungskosten möglichst tief halten. In Bezug auf die Kapitalaufstockungen und Wiederauffüllungen legt die Schweiz besonderes Gewicht auf das Erreichen der international vereinbarten Entwicklungsziele, eine verstärkte Resultat- und Wirkungsorientierung, die Förderung des Privatsektors, die Gleichstellung der Geschlechter sowie ein nachhaltiges Management in Bezug auf die Verschuldung der öffentlichen Haushalte.

Perspektiven und Herausforderungen Für die Schweiz spielen die Regionalbanken auch künftig eine bedeutende Rolle.

Die Schweiz will die Erfahrungen ihrer bilateralen Programme gezielt in deren Politik einbringen. Die bilateralen Programme der Schweiz bieten dank der Nähe zu lokalen Regierungen privilegierte Möglichkeiten, die Zusammenarbeit der Schweiz mit den Banken weiter auszubauen und die in der bilateralen Zusammenarbeit erfolgreich erprobten Pilotaktivitäten zu verbreitern. Diesbezüglich verfügt die Entwicklungszusammenarbeit des Bundes über langjährige Erfahrungen und verschiedentlich erprobte Ansätze. Der Dialog mit den Regionalbanken auf nationaler und regionaler Ebene gibt die Möglichkeit, bei den Regierungen die schweizerischen Erfahrungen stärker zu Geltung zu bringen. Mit diesen Anstrengungen kann die Schweiz die Entwicklungsorientierung der Regierungspolitiken, beispielsweise im Bereich Klimawandel, verstärken und die regionale Zusammenarbeit, zum Beispiel bei der Nutzung internationaler Gewässer, fördern.

Um diese Chancen zu nutzen,
verstärkt die Entwicklungszusammenarbeit des Bundes die multilateralen Aspekte ihrer Programme. Sie nutzt gezielt die Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit, namentlich mit den regionalen Entwicklungsbanken, mittels Kofinanzierung von Projekten und dem Einsatz von Schweizer Experten in den Organisationen sowie mittels Austausch auf fachlich-technischer Ebene. Die Schweiz wird sich in Zukunft noch stärker einbringen bei der Beurteilung der Leistungen der Regionalbanken und ihre Einschätzung in deren Leitungsgremien kundtun.

Die grösste Herausforderung für die Schweiz besteht derzeit darin, ihre Kapitalanteile in den regionalen Entwicklungsbanken zu halten und sich angemessen an den Wiederauffülllungen der regionalen Entwicklungsfonds zu beteiligen. Damit verknüpft ist die Frage, wie die Schweiz für ihre Anliegen am besten Gehör finden kann und inwieweit die internationale Gemeinschaft die Leistungen der Schweiz anerkennt. Eine Reduktion des Beitrages, den die Schweiz im Rahmen des internationalen Lastenausgleichs tätigt, kann sich negativ auf ihre internationale Reputation auswirken. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Beteiligung der Schweiz am Kapital der Banken sowie an den Wiederauffüllungen der Entwicklungsfonds eine

1188

multiplikatorische Wirkung hat: Von entsprechenden Nachfolgeaufträgen zieht die schweizerische Wirtschaft in beträchtlichem Umfang Nutzen.

4.4.6

Humanitäre Hilfe

Die Humanitäre Hilfe des Bundes unterstützt Menschen in Notsituationen. Die erbrachten Leistungen respektieren die humanitären Prinzipien der Menschlichkeit, Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit. Im Unterschied zu anderen Agenturen ist die Humanitäre Hilfe des Bundes mehr als nur eine Geldgeberin. Der operationell ausgerichtete Ansatz (Milizsystem des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe, SKH) ermöglicht direkte Aktionen vor Ort. Die Humanitäre Hilfe des Bundes kann sich mit operationellen Erfahrungen in den verschiedenen internationalen Gremien und Fora besonders einflussreich einbringen.

Die Hilfe bei Naturkatastrophen und Hungerkrisen stand bis in die frühen Neunzigerjahre im Vordergrund. Dann sind aufgrund von bewaffneten Konflikten die Hilfeleistungen für Flüchtlinge und intern Vertriebene wichtig geworden. In den letzten Jahren stellen extreme Wetterereignisse (Dürren, Flutkatastrophen) und die Auswirkungen des Klimawandels besonders in armen Ländern neue Anforderungen an die humanitäre Hilfe.

Gewaltkonflikte um Wasserknappheit können in Zukunft in erheblichem Masse zunehmen. Laut UNEP werden im Jahr 2050 rund 2 Milliarden Menschen unter Wasserknappheit leiden. Nahrungsmittel- und Ressourcenknappheiten verschärfen vor allem in Ländern mit fragiler oder prekärer Staatlichkeit bereits existierende Konflikte.

Das Beispiel des Darfurkonflikts Die oben beschriebenen Entwicklungen lassen sich am Beispiel des Darfurkonflikts illustrieren. Im Darfur (Sudan) stellten umweltbedingte Probleme in Verbindung mit dem Bevölkerungswachstum sowie mit dem bestehenden Gefälle zwischen dem politisch-wirtschaftlichen Zentrum Khartum und dem peripheren Darfur die Rahmenbedingungen für Gewaltkonflikte, die zum Teil ethnisch aufgeladen und ausgetragen werden.

Wo das Überleben ohnehin schon gefährdet ist, führen geringfügige Verschlechterungen zu Gewalt. Der rasch fortschreitende Desertifikationsprozess sowie das Fehlen einer politischen Lösung des Darfurkonflikts erschwert es vielen Flüchtlingen, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Der Boden ist vielerorts für eine Bewirtschaftung nicht mehr brauchbar. Die ökologischen Bedingungen sind durch Dürren und Wüstenbildung gekennzeichnet. Nomadische Viehzüchter brauchen Weiden, auf denen ihre Tiere grasen können. Die Kleinbauern brauchen Land, um
Getreide und Gemüse für ihre Familien anbauen zu können.

Wenn die Wüste sich ausbreitet, beanspruchen die Viehzüchter das Land der Bauern oder Bauern das Land der Viehzüchter. Der ausbleibende Regen sorgte im Darfur dafür, dass die nördlichen Regionen für die Viehzucht nicht mehr brauchbar waren und trieb die Viehzüchter nach Süden. Zugleich führten drastisch steigende Bevölkerungszahlen zur Übernutzung von Weiden und Ländereien und damit zu einer Steigerung des ohnehin vorhandenen Konfliktpotenzials.

1189

Die asymmetrischen Gewaltkonflikte mit massiven Folgen für die Zivilbevölkerung stellen für die humanitäre Hilfe eine besondere Herausforderung dar. Das internationale Völkerrecht sowie die Menschenrechte werden in zahlreichen Konflikten missachtet. Der Zugang zur Not leidenden Bevölkerung ist schwierig. Die internationale humanitäre Hilfe muss zunehmend in Krisenregionen und Ländern mit erodierender Staatlichkeit agieren, in denen gezielte Übergriffe auf die Zivilbevölkerung erfolgen.

Für das humanitäre Personal ist die Akzeptanz und damit die Sicherheit häufig nicht mehr im gleichen Mass wie früher gegeben. Weiter stellt man fest, dass das humanitäre Engagement in vielen Konfliktsituationen über Jahre weitergeführt werden muss, weil keine politischen Lösungen gefunden werden.

Die Sofort- und Überlebenshilfe nach Katastrophen umfasst folgende Instrumente: Rettungskette, Soforteinsatzteams, Lieferungen von Hilfsgütern und finanzielle Beiträge und Experteneinsätze für Partnerorganisationen. Die Extremereignisse treffen oft arme Länder mit schwachen institutionellen Kapazitäten. Flutkatastrophen, Dürren, Erdbeben usw. erfordern sowohl in Bezug auf die Prävention, die Vorbereitung wie auf die Krisenbewältigung ein kurz- und mittelfristiges Engagement der Humanitären Hilfe. Der OECD-Entwicklungsausschuss hat im Länderexamen 2009 das Engagement der Schweiz als ausgesprochen positiv beurteilt. Er stuft sowohl das Vorgehen, die erreichten Resultate bei «Disaster Risk Reduction» und Nothilfemassnahmen als hervorragend ein.

Aufgrund ihres langjährigen professionellen Engagements verfügt die Humanitäre Hilfe des Bundes auch international über ein hohes Ansehen. Sie kann aufgrund von breiten operationellen Erfahrungen einen wirksamen Einfluss auf internationaler Ebene nehmen: ­

Die Schweiz ist in der Retterkoordination im Katastrophenfall international führend. Sie nimmt Einsitz und Einfluss im INSARAG (International Search and Rescue Advisory Group) der UNO (OCHA). Es werden die Richtlinien und die Klassifizierung der internationalen Retterteams behandelt. Ihr Wissen bringt die Humanitäre Hilfe auch in der Ausbildung von Retterkapazitäten in zahlreichen Ländern ein. China, Indien, Peru, Jordanien, Türkei sind einige Länder, die vom Know-how von der Schweiz für den Aufbau ihrer Retterdienste profitieren konnten.

­

Die Schweiz hat eine führende Rolle im Bereich Umweltkatastrophen. Die internationale Verständigung über die rasch zunehmenden Umweltrisiken und ihre Auswirkungen auf die Bevölkerung ist besonders wichtig. Die Schweiz leitet die Arbeitsgruppe, die gemeinsam von der OCHA und dem UNO-Umweltprogramm (UNEP) getragen wird.

­

Die Humanitäre Hilfe des Bundes hat die Präsidentschaft der «Good Humanitarian Donorship» inne, eine Initiative von 36 Geberländern. Dieser Verbund von gleichgesinnten Ländern erarbeitet die Regeln für das humanitäre Engagement und die entsprechenden Richtlinien. Damit sollen insbesondere die Professionalisierung der internationalen Nothilfe vorangebracht und Qualitätsstandards umgesetzt werden.

­

Der Wiederaufbau von Schulen, Spitälern oder Wohneinheiten nach Katastrophen oder Konflikten ist eine starke Kompetenz des SKH. In Sri Lanka z.B. führt die Humanitäre Hilfe des Bundes ein Programm zum Wiederaufbau von Schulhäusern, das mehreren tausend Schülerinnen und Schüler im

1190

konfliktgeprägten Land eine neue Zukunft bietet. Dieses direkte Engagement wird unter anderem in enger Zusammenarbeit mit der UNICEF durchgeführt, dem Kinderhilfswerk der UNO, das für einen grossen Teil der Kosten für den Wiederaufbau aufkommt.

Einsatzschwerpunkte Nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti vom Januar 2010 hat die Humanitäre Hilfe des Bundes insgesamt 12 Millionen Franken für Sofort- und Überlebenshilfe eingesetzt. Insgesamt waren 110 Spezialisten des SKH im Einsatz. Das SKH organisierte die Hilfsleistungen in folgenden Bereichen: medizinische Betreuung für Kinder und Mütter (620 chirurgische Eingriffe und 95 Geburten), Verteilung von Trinkwasser für insgesamt 50 000 Personen und Unterstützung für 2000 obdachlose Familien sowie Koordination mit UNO-Organisationen und Regierung.

Der Bundesrat hat im März 2010 für Wiederaufbauvorhaben (2010­2012) 36 Millionen Franken beschlossen. Der Betrag wird unter anderem für den Wiederaufbau der sozialen Infrastruktur wie Schulen und Spitäler, für die ländliche Entwicklung und für Massnahmen der wirtschaftlichen Rehabilitation eingesetzt. Die eindrückliche Solidarität des Schweizervolks mit Haiti ermöglichte es der Glückskette, bis Anfang März 2010 über 65 Millionen Franken zu sammeln, ihr bisher drittbestes Sammelergebnis.

Im Horn von Afrika leiden rund 20 Millionen Menschen an Hunger oder sind mangelernährt. Die Region gehört weltweit zu den grössten humanitären Herausforderungen. Naturkatastrophen (Dürren, Überschwemmungen) und interne Konflikte (Somalia/Äthiopien) sowie grenzüberschreitende Auseinandersetzungen (Djibuti/ Eritrea, Äthiopien/Eritrea) prägen das Bild. Die Region wird aller Voraussicht nach mittelfristig ein Schwerpunkt der Humanitären Hilfe bleiben. Die Schweiz konzentriert sich primär auf Somalia und auf somalische Flüchtlinge in der Region. Sie engagiert sich mit einem Budget von 17 Millionen Franken jährlich in den Bereichen Nothilfe, Nahrungssicherheit und Schutz der Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten.

Sudan. Die Schweiz engagiert mit jährlich 15 Millionen Franken für die Rückkehr der intern Vertriebenen, den Schutz der Zivilbevölkerung und für deren Zugang zu Nahrungsmitteln, Trinkwasser und einer minimalen Gesundheitsversorgung.

Im Nahen Osten arbeitet die Humanitäre Hilfe eng mit dem Hilfswerk der Vereinten Nationen
für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Middle East, UNRWA) zusammen zugunsten einer Verbesserung der Basisdienstleistungen für Palästinaflüchtlinge. Im Gazastreifen beispielsweise ist eine Fachperson aus dem Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe im Einsatz, um gemeinsam mit Fachleuten der UNRWA Bauprojekte für Unterkünfte zu entwickeln.

4.5

Abrüstungs- und Nonproliferationspolitik

4.5.1

Herausforderungen

Das Sicherheitsumfeld ist auch heute noch in zahlreichen Weltregionen fragil, und die sicherheitspolitischen Herausforderungen sind besonders komplex. Nach wie vor bestehen zahlreiche offene Konflikte, insbesondere auch zwischen Staaten. Derzeit 1191

wüten weltweit über fünfzehn zwischenstaatliche Konflikte. Ihre Folgen sind für die Zivilbevölkerung besonders verheerend. Zudem sind die Rüstungsausgaben in den letzten Jahren praktisch kontinuierlich gestiegen; als einzige Region bildet hier Westeuropa eine gewisse Ausnahme.

Die Schwächung der Mechanismen zur Rüstungs- und Abrüstungskontrolle gibt ebenfalls Anlass zu Sorge. In den letzten Jahren galt dies ganz besonders für den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons, NPT), eine der Säulen des internationalen Sicherheitssystems.

Das Scheitern der Überprüfungskonferenz von 2005 sowie die Verstösse etlicher Staaten gegen die Bestimmungen des Vertrages ­ ob bei der Abrüstung oder der Nichtverbreitung ­ liessen sogar Befürchtungen über das Weiterbestehen des Systems aufkommen. Die Suspendierung der Umsetzung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) durch Russland kann ebenfalls als Beispiel für die Erosion bestehender Systeme genannt werden. Und die Gremien, die sich mit Abrüstung befassen, sind im Wesentlichen blockiert. Besonders trifft das für das älteste unter ihnen zu, die Genfer Abrüstungskonferenz, die seit über dreizehn Jahren keine Verhandlungen zu substanziellen Themen mehr einleiten konnte. Diese Blockierung lässt im Übrigen längerfristig um den Platz Genf als «Welthaupthautstadt der Abrüstung» fürchten. Hauptursache dieser Blockierungen ist das Fehlen eines Konsenses: Der Grund hierfür ist das Misstrauen, das in den letzten Jahren die Beziehungen der wichtigsten Akteure des internationalen Systems prägte.

Eine Ausnahme bilden die Fortschritte bei der Ächtung von Sub- oder Streumunition: 2008 wurde in Oslo ein entsprechendes Übereinkommen verabschiedet. Dieser Erfolg lässt sich dadurch erklären, dass die Verhandlungen nicht in den üblichen Abrüstungsgremien stattfanden, sondern ad hoc unter den sogenannten gleichgesinnten Staaten.

Jüngste Entwicklungen lassen jedoch darauf hoffen, dass sich die Lage bessern wird.

Eine der wichtigsten ist die Verabschiedung eines Schlussdokuments durch die Überprüfungskonferenz 2010 des NPT, das Empfehlungen zu konkreten Massnahmen enthält. Auch wenn dieser Aktionsplan bescheiden ist, kann er als Grundlage für weitere Vorstösse in den kommenden Jahren und generell als
Katalysator im gesamten Abrüstungsbereich dienen. Diese Entwicklung ist insbesondere auf einem positiveren politischen Umfeld auf internationaler Ebene zu verdanken. So hat die Regierung Obama gleich bei Amtsantritt den Willen bekundet, die Beziehungen zu Russland neu zu gestalten, multilaterale Mechanismen der Rüstungskontrolle befürwortet und die Vision einer Welt ohne Kernwaffen verkündet. Weitere Entwicklungen des Jahres 2009 sind ebenfalls ermutigend. Auf Fortschritte im Schlüsselbereich der nuklearen Abrüstung lässt z.B. die gemeinsame Erklärung der Präsidenten Medwedew und Obama hoffen, in der sie sich verpflichten, ihre Kernwaffenarsenale zu reduzieren, ebenso der klare Wille, Verhandlungen über ein Übereinkommen zum Verbot der Herstellung von spaltbarem Material zu militärischen Zwecken aufzunehmen, oder auch die von der US-Regierung eingegangene Verpflichtung hinsichtlich der Ratifizierung des Vertrages über ein vollständiges Verbot von Nuklearversuchen (Comprehensive Test Ban Treaty, CTBT). Ein weiteres positives Signal ist der formelle Beschluss der UNO-Generalversammlung, Verhandlungen über ein Abkommen zum Waffenhandel einzuleiten; dies muss jedoch noch bestätigt werden.

1192

4.5.2

Politik und Aktivitäten der Schweiz

Die Aktivitäten der Schweiz auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle und der Abrüstung verfolgen das vorrangige Ziel, zur Stabilität des internationalen Systems beizutragen und damit auch die Sicherheit der Schweiz zu stärken. Jeder Konflikt, ob nah oder fern, kann nämlich ihre Sicherheit beeinträchtigen. Die Abrüstungspolitik der Schweiz hat daher präventiven Charakter. Darüber hinaus besteht ein direkter Bezug zwischen der ständigen Neutralität der Schweiz und ihrem Engagement im Abrüstungsbereich. Da die Schweiz keiner militärischen Allianz angehört, muss sie selbst für ihre Sicherheit sorgen. Sie hat daher alles Interesse daran, aktiv an Rüstungskontrolle und Abrüstung mitzuwirken, um den internationalen Frieden zu wahren.

Das Engagement der Schweiz bei der Rüstungskontrolle fügt sich nicht zuletzt auch in ihre lange humanitäre Tradition ein, die es ihr erlaubt, ihre Solidarität mit der internationalen Staatengemeinschaft zu beweisen. Die Sicherheit der Einzelnen ist daher ein zentrales Element ihres Sicherheitsprogramms.

Die Schweiz ist bestrebt, ihre Abrüstungsziele mittels einer aktiven Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik zu erreichen, die auf einer pragmatischen und realistischen Haltung beruht. Leitlinien dieser Politik sind Sicherheit, nationale und internationale Stabilität sowie die Schaffung eines Klimas des Vertrauens bei einem möglichst niedrigen Rüstungsniveau. Sie fördert den vollständigen Verzicht auf Massenvernichtungswaffen und verfolgt das Ziel, die Weitergabe solcher Waffen an Staaten oder nichtstaatliche Akteure zu verhindern. Weitere Ziele sind die destabilisierende Anhäufung und den illegalen Handel mit konventionellen Waffen zu verhindern, die Transparenz im Rüstungsbereich zu fördern und ein Verbot von Waffen durchzusetzen, die übermässiges Leiden verursachen oder unterschiedslos wirken.

Die Schweiz setzt sich für die Universalisierung der bestehenden Abkommen und eine bessere Anwendung ihrer Bestimmungen ein. Sie tritt grundsätzlich allen rechtlich bindenden Vereinbarungen bei, die ihr zugänglich sind, und setzt sich dafür ein, dass die Entwicklung des humanitären Völkerrechts mit dem technischen Fortschritt im Rüstungsbereich Schritt hält.

Abrüstung und Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen Kernwaffen: Der Vertrag über die Nichtweiterverbreitung
von Kernwaffen (Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons, NPT) ist ein wesentliches Element bei der Wahrung der internationalen Sicherheit. Leider ist dieser Vertrag in den letzten zehn Jahren ziemlich ausgehöhlt worden. Diese Erosion des Vertrages ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass eine zentrale Abmachung des NPT nicht eingehalten wurde, dass nämlich die Staaten, die über Kernwaffen verfügen, Abrüstungsmassnahmen ergreifen, wenn sich im Gegenzug die Staaten ohne Kernwaffen verpflichten, auf den Erwerb solcher Waffen zu verzichten. Die meisten Abrüstungsverpflichtungen, die anlässlich der NPT-Überprüfungskonferenzen von 1995 und 2000 eingegangen wurden, sind nicht eingehalten worden. Andererseits gibt es mehrere erwiesene oder vermutete Fälle von Weiterverbreitung von Kernwaffen.

Dass bei der NPT-Überprüfungskonferenz von 2010 durch Konsens eine Abschlusserklärung verabschiedet werden konnte ­ ein Ergebnis, mit dem nicht unbedingt gerechnet werden durfte ­, ist in dieser Hinsicht positiv zu werten. Bei der Abrüs1193

tung im Kernwaffenbereich konnten damit die Errungenschaften der Überprüfungskonferenzen von 1995 und 2000 bestätigt und einige Fortschritte verankert werden, selbst wenn letztere bescheiden sind. So wird im Schlussdokument erstmals eine Verknüpfung zwischen dem Einsatz von Kernwaffen und der Notwendigkeit, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten, hergestellt; ferner werden zum ersten Mal Verhandlungen über einen Vertrag zum Verbot von Kernwaffen erwähnt. Hingegen enthält das Schlussdokument keinen genauen Zeitplan in Bezug auf die zu ergreifenden Abrüstungsmassnahmen, obwohl zahlreiche Konferenzteilnehmer dies als wünschenswert erachteten. Auf jeden Fall bilden dieses Abschlussdokument und der in ihm enthaltene Massnahmenplan eine neue Arbeitsgrundlage für die kommenden Jahre.

Da die Schweiz von der Notwendigkeit überzeugt ist, die nukleare Abrüstung voranzutreiben, hat sie schon vor der Überprüfungskonferenz 2010 Massnahmen ergriffen. Zur Verstärkung ihrer Aktivitäten hat sie insbesondere 2008 eine departementsübergreifende Taskforce geschaffen, die sich auf verschiedene Initiativen der Schweiz in diesem Bereich konzentrierte. Ein Themenschwerpunkt war beispielsweise das De-Alerting ­ die Herabsetzung der Alarmstufe für Kernwaffen. Hier haben die Schweiz und eine Gruppe anderer Länder an der UNO-Generalversammlung von 2007 eine neue Resolution eingebracht. In diesem Zusammenhang hat die Schweiz eine Studie erstellen lassen, die nun als massgeblich in diesem Bereich gilt.

Sie wird das Thema auch weiterhin vertiefen, sowohl im Rahmen der NPT-Überprüfungskonferenz 2010 als auch im Hinblick auf die UNO-Generalversammlung 2010.

Die Schweiz ist ferner von der Notwendigkeit überzeugt, so rasch wie möglich Verhandlungen über ein Verbot der Produktion von spaltbarem Material für die Herstellung von Kernwaffen (Fissile Material Cut-Off Treaty, FMCT) aufzunehmen.

Sie hat bekanntgegeben, dass sie bereit wäre, den Vorsitz bei solchen Verhandlungen zu übernehmen. Diese haben jedoch noch nicht begonnen. Die Schweiz unterstützt daher das Vorantreiben des FMCT-Themas, indem sie Studien erstellt und Seminare zu bestimmten Aspekten dieser Problematik abhält. Das wachsende Interesse zahlreicher Staaten, einschliesslich einiger Grossmächte, an einer baldigen Aufnahme von Verhandlungen über ein FMCT könnte einige
veranlassen, darauf hinzuwirken, dass ein Verhandlungsprozess ausserhalb der Abrüstungskonferenz eingeleitet wird, um die Blockaden zu umgehen, an denen dieses Gremium leidet. In diesem Zusammenhang könnte Genf als wichtigstes Abrüstungszentrum in Frage gestellt werden.

Was die Frage der Nonproliferation betrifft, leistet die Schweiz seit 2006 einen Beitrag zum Versuch, die iranische Nuklearfrage zu regeln. Sie ist dabei bestrebt, eine diplomatische Lösung zu fördern, bei der berücksichtigt wird, dass Iran seine internationalen Verpflichtungen einhält, d.h. seine Garantievereinbarung mit der IAEA gemäss NPT. In diesem Zusammenhang hatte die Schweiz zahlreiche Kontakte zu verschiedenen Parteien, nämlich Iran, E3+3 (China, Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Russland, USA), der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien und der EU. Diese Aktivitäten mündeten in die «Geneva Talks-1» vom Juli 2008, die auf dem von der Schweiz entwickelten Konzept des «Freeze-forFreeze» beruhten, sowie in die «Geneva Talks-2» vom Oktober 2009. Als Ergebnis der «Geneva Talks-2» einigten sich die Parteien auf einen Dreipunkteplan: erstens Weiterführung der Verhandlungen, zweitens Besuch der neuen Anreicherungsanlagen von Fordou durch die IAEA und drittens schliesslich ein Kooperationsplan zum 1194

Forschungsreaktor von Teheran. Die Umsetzung dieser drei Punkte geht nicht gleich zügig voran, doch haben die Aktivitäten der Schweiz in diesem Fall zweifellos dazu beigetragen, dass die Parteien miteinander reden. Im gleichen Kontext hat die Schweiz hochrangige Gespräche geführt, um die Wiederaufnahme direkter Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und Iran zu begünstigen.

Des Weiteren beabsichtigt die Schweiz, ihre Beteiligung im Rahmen der IAEA zu verstärken. Nach dem 20/20-Bericht über die Zukunft der IAEA wurden nämlich verschiedene Wege vorgeschlagen, insbesondere das Ziel, die Rolle der IAEA im Verifikationsbereich auf die nukleare Abrüstung auszudehnen. Eine solche Option ist zwar noch Zukunftsmusik, doch die Schweiz hat schon Überlegungen dazu angestellt, welche Rolle die IAEA bei der Überprüfung eines Vertrages spielen könnte, der die Herstellung von spaltbarem Material für militärische Zwecke verbietet. Die Schweiz erwägt ferner, ein Projekt zu lancieren, damit mehr Staaten gewisse Mechanismen des Verifikationssystems der IAEA übernehmen können. Und schliesslich beabsichtigt sie, verstärkt bei Fragen zur Führung der IAEA mitzuwirken, insbesondere Fragen des IAEA-Haushalts.

Ein weiteres wichtiges Signal: Die neue amerikanische Regierung hat ihre Absicht bekanntgegeben, an der Verstärkung der Nuklearsicherheit zu arbeiten, um Nuklearterrorismus zu verhindern. Zu diesem Zweck hat sie im April 2010 ein Gipfeltreffen in Washington einberufen. Die Schweiz, die zur Teilnahme eingeladen wurde, betonte bei dieser Konferenz, dass ein hohes Sicherheitsniveau nicht nur bei zivilem nuklearem Material, sondern auch bei militärischem Material notwendig sei.

Angesichts der Bedeutung der gesamten Nuklearthematik wird die Schweiz in den kommenden Jahren ihr Engagement in diesen Bereichen intensivieren. Die Glaubwürdigkeit, die sie geniesst, sowie ihr unabhängiges Handeln sollten es ihr erlauben, eine aktivere Rolle zu spielen.

Chemiewaffen: Die Schweiz ist Vertragsstaat des Chemiewaffenübereinkommens (Chemical Weapons Convention, CWC), dem 188 Staaten angehören.51 Für die Vertragsstaaten stehen zur Zeit die Diskussionen um die endgültige Vernichtung aller Chemiewaffenbestände, die gemäss Übereinkommen Ende April 2012 abgeschlossen sein muss, im Vordergrund. Die USA, Russland, Libyen und Irak
besitzen noch derartige Bestände (wobei beim Letzteren der Zustand dieser Bestände unklar ist). Die USA haben mittlerweile angekündigt, dass sie die Frist nicht werden einhalten können, und auch bei Russland ist fraglich, ob die definitive Vernichtung fristgerecht abgeschlossen werden wird. Dies stellt die Vertragsstaaten ­ also auch die Schweiz ­ vor komplexe völkerrechtliche und politische Fragen, denn die Konvention soll durch die Nichteinhaltung der Verpflichtungen keinesfalls geschwächt werden.

Die Schweiz weist im Bereich der Abrüstung und der Verhinderung der Proliferation von chemischen Waffen ein langjähriges Engagement auf, das sie aufrechtzuerhalten gedenkt. 2003­2009 hat sie sich an den Vernichtungsaktivitäten in Russland und Albanien beteiligt. Seit dem Auslaufen des vom Parlament zu diesem Zweck bewilligten Rahmenkredits kann die Schweiz die Vernichtung der noch verbleibenden Chemiewaffenbestände jedoch nicht mehr aktiv unterstützen.

51

Nichtmitglieder sind: Israel, Myanmar (Signatarstaaten), Ägypten, Angola, Nordkorea, Somalia, Syrien (weder unterschrieben noch ratifiziert).

1195

Ein Schwerpunkt der Schweiz liegt auf der Stärkung des Verifikationssystems des Übereinkommens und des Schutzes gegen chemische Waffen. So hilft die Schweiz der Organisation, die die Umsetzung des Chemiewaffenübereinkommens überwacht (Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons, OPCW), bei der Aus- und Weiterbildung von Inspektoren und stellt Material zur Verfügung für den Fall, dass ein Vertragsstaat mit Chemiewaffen angegriffen werden sollte. Die Schweiz wird dieses finanzielle, materielle und personelle Engagement auch in den kommenden Jahren aufrechterhalten.

Weiter setzt sich die Schweiz auf politischer Ebene dafür ein, dass die Chemiewaffenkonvention neuste Entwicklungen in der chemischen Forschung (sog. «Incapacitating Agents» zum Beispiel) laufend berücksichtigt. Dies ist im Moment nicht der Fall, was die Gefahr birgt, dass das Chemiewaffenübereinkommen an Relevanz verliert. Dies wiederum würde zu einer Schwächung der multilateralen Abrüstungsund Nonproliferationsarchitektur führen, was aus der Sicht der Schweiz unbedingt zu verhindern ist. In den Jahren bis zur nächsten Überprüfungskonferenz 2013 wird sie ihre Bemühungen auf diesem Gebiet deshalb verstärken.

Biologische Waffen: Das Übereinkommen über das Verbot biologischer Waffen ist institutionell schwächer als das Chemiewaffenübereinkommen, denn es verfügt weder über eine Organisation zur Implementierung noch über einen Mechanismus zur Überprüfung der Einhaltung der Verpflichtungen durch die Vertragsstaaten. Die 163 Vertragsstaaten haben das nächste Mal anlässlich der in Genf stattfindenden Überprüfungskonferenz 2011 Gelegenheit, sich auf Schritte zur Stärkung der Konvention zu einigen. Zusammen mit einer Gruppe von gleichgesinnten Staaten versucht die Schweiz, neue Ansätze zur Stärkung der Konvention zu formulieren. Ein von der Schweiz favorisierter Ansatz sind die vertrauensbildenden Massnahmen, die einen (allerdings völkerrechtlich nicht bindenden) Austausch von relevanten Informationen zwischen Vertragsstaaten erlauben.

Die Schweiz ist bestrebt, das Übereinkommen auf nationaler Ebene bestmöglich umzusetzen. Im 2009 fand z.B. eine erste Reihe von Veranstaltungen in Hochschulen und Forschungsanstalten statt, um die Forschergemeinde im Inland über die Dual-Use-Problematik in der biotechnischen Forschung zu sensibilisieren. Als
nächster Schritt ist geplant, diese Aktivitäten zu institutionalisieren, unter anderem auch, um der im Biologiewaffenübereinkommen enthaltenen Verpflichtung, die Proliferation von biologischem Material zu verhindern, nachzukommen.

Mit der geplanten Inbetriebnahme des Sicherheitslabors im Labor Spiez Ende 2010 wird die Schweiz ihre internationalen Aktivitäten auch in Bezug auf Biosicherheit und internationale Zusammenarbeit intensivieren können. Solche Kooperationen sind nicht nur auf bilateraler Ebene, sondern auch im Zusammenhang mit der multilateralen Abrüstungs- und Nonproliferationsarchitektur für die Schweiz relevant.

Abrüstung und Verhinderung der Verbreitung von konventionellen Waffen Übereinkommen von 1980 über bestimmte konventionelle Waffen und Übereinkommen über Streumunition: Mit dem Übereinkommen von 1980 über bestimmte konventionelle Waffen (Convention on Certain Conventional Weapons, CCW) wurde in Genf der grundlegende UNO-Rahmen geschaffen, in dem die Mehrheit der Übereinkommen des humanitären Völkerrechts ausgehandelt wurde, die die Beschränkung des Einsatzes oder das Verbot konventioneller Waffen zum Gegenstand haben. Das bisher letzte solche Instrument ist das Protokoll V über explosive 1196

Kriegsmunitionsrückstände, das 2003 verabschiedet wurde und 2006 in Kraft trat.

Seither versuchen die Vertragsstaaten, das Problem der Streumunition anzugehen, aber bisher ohne konkrete Ergebnisse, obgleich seit 2008 jedes Jahr eine Gruppe staatlicher Experten beauftragt worden ist, ein neues Instrument über Streumunition auszuhandeln. Obwohl zum Abschluss des Oslo-Prozesses das Übereinkommen über Streumunition verabschiedet wurde, engagiert sich die Schweiz weiterhin im Rahmen des CCW, denn dieses umfasst such die militärischen Grossmächte. Diese sind die wichtigsten Hersteller und Nutzer von Streumunition und müssen ebenfalls in spezifische Regelungen eingebunden werden, die die inakzeptablen humanitären Folgen des Einsatzes solcher Waffen beschränken.

2009 wurde eine Gruppe zur Unterstützung der Umsetzung des CCW eingesetzt. Die Schweiz, als Vorsitzende der Vertragsstaatenversammlung des Protokolls II, das 2008 geändert wurde, war eine der Initiantinnen dieser Gruppe. Damit haben sich die Vertragsstaaten ein Instrument geschaffen, um das CCW wieder zu beleben und um für eine wirksamere Umsetzung seiner Bestimmungen zu sorgen. Die seit 2008 jährlich von den Vertragsstaaten einberufenen Expertensitzungen, die an der Umsetzung des revidierten Protokolls II und des Protokolls V arbeiten, sind eine Bekräftigung dieses Willens. Die Schweiz nimmt an diesen Expertentreffen regelmässig teil. Sie trägt damit zur Umsetzung dieses Übereinkommens bei, eines wichtigen Elements des Standorts Genf als Zentrum für Abrüstungsaktivitäten im Rahmen des humanitären Völkerrechts.

Das Übereinkommen über Streumunition (Convention on Cluster Munitions, CCM), das 2008 in Dublin von rund hundert Staaten zum Abschluss eines multilateralen Prozesses ausserhalb des üblichen institutionellen Rahmens verabschiedet wurde, ist am 1. August 2010 in Kraft getreten. Neben dem Übereinkommen über das Verbot von Personenminen bildet das CCM einen der grössten Erfolge der letzten Jahre bei der Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts im Bereich der Abrüstung konventioneller Waffen. Die Schweiz hat zum Abschluss des CCM beigetragen, indem sie bei den Schlussverhandlungen als Fazilitatorin im Bereich der Interoperabilität wirkte. Die Schweiz hat das CCM im Dezember 2008 unterzeichnet. Die zuständigen Stellen bereiten die
Ratifikation vor, die eine Änderung des Bundesgesetzes vom 13. Dezember 1996 über das Kriegsmaterial erfordert. Einige Aspekte erforderten umfangreiche Abklärungen, damit die Schweiz ­ deren Armee Streumunition für die Artillerie lagert ­ sämtliche Verpflichtungen gemäss dem CCM erfüllen kann.

Damit das CCM schnellstmöglich wirksam werden und die Zivilbevölkerung vor den humanitären Schäden dieser Waffen geschützt werden kann, indem die Weiterverbreitung dieser Waffen eingedämmt wird, wirkt die Schweiz im Rahmen ihres Engagements für die Förderung des humanitären Völkerrechts bei entsprechenden internationalen Bemühungen mit. Sie achtet ferner darauf, dass die Synergien mit dem Übereinkommen über das Verbot von Personenminen unter Berücksichtigung der Unterschiede zwischen den beiden Prozessen optimal genutzt werden. Sie engagiert sich aktiv in den einschlägigen bilateralen und multilateralen Gesprächen sowie mit den betroffenen Partnern, um den Status von Genf als «Welthauptstadt der Abrüstung» zu wahren und zu verstärken, insbesondere im Bereich des humanitären Völkerrechts.

Die Schweiz wird als Beobachterin an der ersten Konferenz der Vertragsstaaten teilnehmen, die im November 2010 in Laos stattfinden wird.

1197

Leichte Waffen, Kleinwaffen, Personenminen: Der Themenbereich der leichten Waffen und Kleinwaffen sowie der Personenminen wird im Kapitel «Menschliche Sicherheit/Friedensförderung» dieses Berichts behandelt (siehe Ziff. 4.2.2).

Schwere konventionelle Waffen und Förderung der Transparenz: Im Bereich der schweren konventionellen Waffen unterstützt die Schweiz die vertrauens- und sicherheitsbildenden Instrumente der UNO, der OSZE und anderer Gremien und beteiligt sich aktiv an allen Aktivitäten in den Bereichen Verifikation und Transparenz. Das besondere Augenmerk der Schweiz gilt dabei dem UNO-Register über konventionelle Waffen, dem weltweit wichtigsten transparenzfördernden Instrument. Sie beabsichtigt, dessen Einführung aktiv zu unterstützen.

Auf regionaler Ebene nimmt die Schweiz aktiv an den Gesprächen über eine mögliche Revision des Wiener Dokuments der OSZE von 1999 teil. Dieses Dokument legt die bisher umfassendsten vertrauens- und sicherheitsbildenden Massnahmen fest.

Die Schweiz bedauert die Blockaden im Zusammenhang mit dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa von 1990 (KSE-Vertrag), denn dieser ist nach wie vor eine der Säulen der Sicherheitsarchitektur Europas. Sie hofft, dass eine Lösung gefunden wird, damit der angepasste KSE-Vertrag von 1999 in Kraft treten oder ein neuer Vertragstext ausgehandelt werden kann. Sollte eine solche Entwicklung eintreten, würde die Schweiz die Möglichkeit eines Beitritts zu einem solchen Vertrag ernsthaft prüfen.

Trägersysteme und Militarisierung des Weltalls: In den letzten Jahren war in verschiedenen Ländern die Entwicklung neuer Trägersysteme (ballistische Raketen und Marschflugkörper, unbemannte Flugzeuge, antiballistische Systeme) zu beobachten, die konventionelle Waffen, aber auch Kern-, Chemie- und biologische Waffen transportieren können. Die Schweiz setzt sich dafür ein, die Verbreitung solcher Systeme einzudämmen. Sie unterstützt die Bemühungen zur Stärkung der bestehenden internationalen Mechanismen. Diese sind nämlich derzeit noch sehr lückenhaft.

So ist der Verhaltenskodex von Den Haag gegen die Verbreitung ballistischer Raketen, weltweit das wichtigste transparenzfördernde Instrument, nicht allgemein anerkannt, rechtlich nicht bindend und erfasst eine ganze Kategorie von Raketen, nämlich die Marschflugkörper, nicht.
Die absichtliche Zerstörung von Satelliten auf einer Erdumlaufbahn mithilfe von Abfangraketen, die von der Erde aus abgefeuert wurden, hat in den letzten beiden Jahren veranschaulicht, welche Gefahren der Sicherheit im Weltraum drohen; sie hat auch gezeigt, dass gewisse Staaten an der Entwicklung von Antisatellitenwaffen arbeiten. Jeglicher Konflikt im Weltraum hätte gravierende Folgen für die gesamte internationale Gemeinschaft, die nicht eingegrenzt werden könnten. Der dadurch entstehende Weltraumschrott würde nämlich ganze Umlaufbahnen für mehrere Generationen unbrauchbar machen und Dienstleistungen, die heute unverzichtbar geworden sind, gefährden. Die Schweiz unterstützt daher die internationalen Bemühungen um die Wiederherstellung von Vertrauen und Transparenz bei der Nutzung des Weltraums und die Verhinderung von dort ausgetragenen Konflikten. Leider werden Fortschritte in diesem Bereich teilweise durch die Blockaden in der Genfer Abrüstungskonferenz gebremst, dem Gremium, das beauftragt ist, die Platzierung von Waffen im Weltraum zu verhüten.

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Exportkontrolle Massenvernichtungswaffen: Die Schweiz wirkt an sämtlichen Exportkontrollsystemen für Massenvernichtungswaffen und deren Trägersysteme mit: der Gruppe der Nuklearlieferländer (Nuclear Suppliers Group, NSG), der Australiengruppe (biologische und chemische Güter) sowie dem Raketentechnologie-Kontrollregime (Missile Technology Control Regime, MTCR). Diese drei Regimes zählen je etwa vierzig Mitgliedstaaten. Sie sind wesentliche Mechanismen der Nonproliferation von Massenvernichtungswaffen. In ihrem Rahmen streben die Teilnehmerstaaten eine Harmonisierung ihrer Exportkontrollen an, um somit eine möglichst einheitliche und effektive Kontrolle zu schaffen. Dadurch wird eine gewisse Kohärenz der Nonproliferationsbestrebungen der Lieferstaaten erreicht.

In der NSG engagiert sich die Schweiz für die Einhaltung strenger und nichtdiskriminierender Regeln für den Export von nuklearen Rüstungsgütern im engen Sinne, aber auch von Gütern für zivilen und militärischen Gebrauch. Gleichzeitig ist die Schweiz bestrebt sicherzustellen, dass die von der NSG festgelegten Exportbedingungen ihren Zugang zu Nukleartechnologie für friedliche Zwecke nicht einschränken und dass die Exportkontrollen nicht als Vorwand für den Schutz kommerzieller Interessen dienen. Als einer von 41 Mitgliedstaaten (grösstenteils Industriestaaten) der Australiengruppe (AG) engagiert sich die Schweiz aktiv in den Diskussionen über die Verhinderung der Proliferation von chemischen und biologischen Agenzien und Gütern.

Angesichts der starken Zunahme von Raketen und unbemannten Flugzeugen ist das MTCR wichtiger denn je. Der Mechanismus ist mit neuen Entwicklungen konfrontiert, insbesondere der wirtschaftlichen Globalisierung, dem Auftreten neuer Akteure im Ballistikbereich und der rasanten technologischen Entwicklung. Die Schweiz hofft, dass dieses Regime möglichst relevant bleibt und den heutigen Herausforderungen gewachsen bleibt. In diesem Zusammenhang beobachtet die Schweiz im MTCR eine Tendenz, den Schwerpunkt immer stärker auf die Gefahr zu legen, die von bestimmten Ländern und Terroristengruppen ausgeht, die unbemannte Flugzeuge dazu benutzen könnten, Massenvernichtungswaffen abzuwerfen. Daher ist das MTCR bestrebt, solche Systeme und ihre Komponenten besser zu kontrollieren.

Das ist zwangsläufig eine schwierige Aufgabe,
denn die einschlägige Technologie ist die gleiche wie in der zivilen Luftfahrt. Darüber hinaus bestehen Widerstände gegen das Unterstellen gewisser Schlüsseltechnologien der kommerziellen Luftfahrt unter Exportkontrollen. Neue Kontrollen würden sich sehr stark auf bestimmte Sektoren der Schweizer Industrie auswirken, insbesondere auf die Hersteller von Bauteilen.

Konventionelle Waffen: 2010 hat die Schweiz den Vorsitz der Plenartagung des Wassenaar-Arrangements inne. Das Wassenaar-Arrangement kontrolliert den Export von konventionellen Rüstungsgütern und doppelt verwendbaren Gütern zu deren Herstellung und umfasst gegenwärtig 40 Staaten. Die Schweiz setzt sich dafür ein, dass die Harmonisierung der Exportkontrollen und die Transparenz unter den Wassenaar-Staaten weiter gefördert werden.

Seitdem 2006 die Initiative zur Erarbeitung eines Waffenhandelsvertrages ergriffen wurde, wird sie von der Schweiz aktiv unterstützt. Ein solches Abkommen könnte dazu beitragen, den Transfer von Waffen in Fällen zu verhindern, wo z.B. Menschenrechte verletzt oder Demokratie und Rechtsstaat unterhöhlt werden könnten.

So hat die Schweiz 2008 in einer Gruppe von Regierungsexperten der UNO mitge1199

wirkt, die den Problemkreis genauer definieren sollte. Sie findet es daher sehr erfreulich, dass die UNO-Generalversammlung anlässlich ihrer letzten Session beschlossen hat, 2012 eine Konferenz abzuhalten mit dem Ziel, ein rechtsverbindliches Abkommen über den Transfer konventioneller Waffen auszuarbeiten. Die Schweiz, die in diesem Bereich über eine besonders strenge Regelung verfügt, wird auf die Erarbeitung eines starken Vertrages hinwirken, sei es hinsichtlich seines Geltungsbereichs, seiner Parameter oder der Grundsätze, auf denen diese beruhen.

4.5.3

Für eine aktivere Politik in Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nonproliferation

Die Abrüstungs- und Rüstungskontrollthematik ist geprägt durch komplexe Herausforderungen, aber auch durch neue Chancen, die lang ersehnte Fortschritte ermöglichen könnten. Die Schweiz ist zwar bisher in den Bereichen, die mit der Abrüstung aus humanitären Gründen oder der Förderung der menschlichen Sicherheit zusammenhängen, sehr aktiv gewesen. Dies gilt jedoch nicht für die Abrüstungsthematik insgesamt. Dieser Zustand muss jetzt korrigiert werden. In Zukunft muss mehr in diesen Bereich investiert werden.

Daher erweist sich ein stärkeres Engagement der Schweiz im Abrüstungsbereich als notwendig und opportun. Das liegt auch durchaus in ihrem eigenen Interesse. Fortschritte bei der Abrüstung würden nämlich ihre Sicherheit stärken und zur Stabilisierung ihres regionalen Umfelds beitragen. Fortschritte in diesem Bereich würden darüber hinaus die weltweite Stabilisierung fördern, von der der Wohlstand der Schweiz zunehmend abhängt. Überdies ist die Schweiz besonders gut positioniert, um in diesem Bereich eine wichtige Rolle zu spielen. Sie verfügt über solide Erfahrungen mit guten Diensten und diplomatischen Initiativen; zudem pflegt sie zu praktisch allen Ländern, einschliesslich der Grossmächte, gute Beziehungen. Ihre humanitäre Tradition und ihre ständige Neutralität verpflichten sie zum Gewaltverzicht und zur Nichtzugehörigkeit zu militärischen Bündnissen. Ausserdem verfügt die Schweiz über keine Massenvernichtungswaffen und pflegt eine Doktrin des defensiven Einsatzes ihrer Streitkräfte.

Die Schweiz wird somit ihr Engagement für Abrüstung, Nonproliferation und Rüstungskontrolle verstärken. Wie der Bundesrat in seinem Aussenpolitischen Bericht von 2009 festhielt, bildet die nukleare Abrüstung eine Hauptachse der Politik.52 Die Schweiz will zudem ihre Aktivitäten in anderen wichtigen Abrüstungsdossiers ebenfalls verstärken und zur Deblockierung der Abrüstungsmechanismen beitragen.

Damit soll insbesondere die Position von Genf in diesem Bereich gestärkt werden.

Die finanziellen Mittel für dieses Engagement werden dem Rahmenkredit für die zivile Friedensförderung und die Stärkung der Menschenrechte entnommen.53

52 53

Aussenpolitischer Bericht 2009, BBl 2009 6291, S. 5.

Bundesbeschluss über einen Rahmenkredit zur Weiterführung von Massnahmen zur zivilen Friedensförderung und Stärkung der Menschenrechte vom 4. März 2008; BBl 2008 2491.

1200

4.6

Umweltaussenpolitik

Die Umweltaussenpolitik hat in den letzten Jahren weiter an Bedeutung gewonnen.

Der anthropogen verursachte Klimawandel, die Verknappung von Wasserressourcen, die schleichende Desertifikation und der damit einhergehende Verlust von Agrarböden, der Verlust an Biodiversität wie auch die Zunahme von meteorologischen Extremereignissen wirken sich unmittelbar auf das Wohlergehen der Weltbevölkerung aus. Diese negativen Umwelttrends haben global starke Auswirkungen, insbesondere in den ärmsten Ländern der Welt. Sie führen zu sozialen Spannungen sowie Migration und haben auch einen negativen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung.

Die schweizerische Aussenpolitik engagiert sich deshalb für einen nachhaltigen Umgang mit den natürlichen Ressourcen. Sie konzentriert sich dabei verstärkt auf jene Bereiche, in denen Verbesserungen auf globaler Ebene dringlich sind. Derzeit ist dies insbesondere in den Bereichen Biodiversität und Klima der Fall.

4.6.1

Biodiversität

Die UNO-Generalversammlung hat das Jahr 2010 zum Internationalen Jahr der Biodiversität erklärt, um darauf hinzuweisen, dass der Erhalt der biologischen Vielfalt neben dem Klimawandel gegenwärtig die grösste Herausforderung ist, welcher sich die Staatengemeinschaft im Umweltbereich gegenübersieht. Die internationale Gemeinschaft hatte sich 2002 am Weltgipfel für eine nachhaltige Entwicklung in Johannesburg, verpflichtet, den Verlust an biologischer Vielfalt bis 2010 deutlich zu reduzieren. Dieser Entscheid stellte einen Meilenstein für den Schutz der Biodiversität dar. Dennoch konnte der Verlust der globalen Biodiversität bisher nicht gestoppt werden. Oft fehlten auf internationaler Ebene die hierzu notwendigen finanziellen Mittel.

Die Schweiz setzt sich aktiv für den Erhalt der Biodiversität ein. Auf nationaler Ebene erarbeitet sie hierzu eine Biodiversitätsstrategie. Auf internationaler Ebene engagiert sie sich in erster Linie im Rahmen des Übereinkommens über die biologische Vielfalt. Im Oktober 2010 fand in Nagoya, Japan, das zehnte Treffen der Vertragsparteien statt. Dabei wurde ein neuer Strategischer Plan 2020 verabschiedet, mit welchem Ziele zum Schutz der Ökosysteme und der Verhinderung des Verlustes der Artenvielfalt für die Zeit bis 2020 festgelegt wurden. Zudem fand am Rande der UNO-Generalversammlung 2010 zum ersten Mal ein hochrangiges Treffen zum Thema Biodiversität auf Ebene Staats- und Regierungschefs statt, an dem die Schweiz teilnahm.

Zu den Hauptzielen des Übereinkommens über die biologische Vielfalt gehört die ausgewogene und gerechte Aufteilung der Vorteile, die sich aus der Nutzung der genetischen Ressourcen ergeben. Die Schweiz setzt sich dafür ein, dass in Nagoya die Verhandlungen über ein entsprechendes Zusatzprotokoll zum Übereinkommen abgeschlossen werden können und damit fortan der Zugang und das Recht zur Nutzung von genetischen Ressourcen klar geregelt wird. Die Schweiz wird des Weiteren aktiv an der Erarbeitung eines strategischen Planes mitwirken, der die Umsetzung des Übereinkommens im nächsten Jahrzehnt sicher stellen soll.

1201

4.6.2

Klima-Aussenpolitik

Der UNO-Klimagipfel von Kopenhagen im Dezember 2009 hat die hohen Erwartungen der internationalen Gemeinschaft nicht erfüllt: Das Ziel, die Verabschiedung eines neuen globalen Klimaregimes für die Zeit nach 2012, d.h. nach Ablauf der ersten Verpflichtungsperiode unter dem Kyoto-Protokoll, konnte mangels Konsens nicht erreicht werden. Nachdem die Verhandlungen auf Expertenebene in Grundsatzfragen blockiert waren, wurde auf Ebene der Staats- und Regierungschefs immerhin ein Minimalkonsens erreicht. Dieser fand seine Niederschrift in der Übereinkunft von Kopenhagen (Copenhagen Accord), die von über 130 Staaten, darunter auch der Schweiz, unterzeichnet wurde.

Die in der Übereinkunft von Kopenhagen festgehaltenen Ziele (Beschränkung des globalen durchschnittlichen Temperaturanstiegs auf maximal zwei Grad Celsius gegenüber vorindustriellen Werten, möglichst baldiges Erreichen des Höhepunktes und Trendumkehr bei den globalen Treibhausgasemissionen) gehen zwar in die angestrebte Richtung, sind aber nicht rechtlich bindend. Ausserdem bedarf es für das Erreichen dieser Ziele weiterer Einigungen hinsichtlich der hierzu notwendigen Massnahmen wie auch deren Lastenverteilung. Aus der Sicht der Schweiz ist es deshalb von herausragender Bedeutung, dass die globale Klimapolitik auch für die Zeit nach 2012 mittels einer völkerrechtlich verbindlichen und klimatisch wirksamen Regelung erfolgt. Die Übereinkunft von Kopenhagen setzt indessen ambitiöse Ziele bei der Unterstützung der Entwicklungsländer durch die industrialisierten Staaten: Bis 2012 sollen dafür 30 Milliarden Dollar aus öffentlichen und privaten Mitteln bereitgestellt werden, ein Betrag, der bis 2020 auf 100 Milliarden Dollar pro Jahr aufgestockt werden soll.

Wissenschaftliche Grundlage der Klimapolitik Im Jahr 2007 hatte der UNO-Klimarat (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) zusammen mit dem früheren amerikanischen Vizepräsidenten Al Gore den Friedensnobelpreis erhalten für seine Bemühungen, das Wissen über den Klimawandel zu verbreiten und die Grundlagen für Massnahmen zu dessen Bekämpfung zu legen. In seinem im gleichen Jahr publizierten vierten Sachstandsbericht hatte der IPCC aufgezeigt, dass das Phänomen der globalen Erwärmung eine nachweisbare Tatsache ist und dass diese Erwärmung mit hoher Wahrscheinlichkeit durch menschliche
Aktivitäten verursacht wird. Der Bericht weist darauf hin, dass ohne wesentliche Reduktion des heutigen Treibhausgasausstosses die globale Durchschnittstemperatur weiter zunehmen wird, mit Folgen wie dem Anstieg des Meeresspiegels, verstärkter Wüstenbildung und Zunahme meteorologischer Extremereignisse.

Im Kontext des Klimagipfels in Kopenhagen wurden einzelne Aussagen im Bericht des IPCC in Frage gestellt. Dabei ging es in erster Linie um den Fortgang der Gletscherschmelze im Himalaja. Die Hauptaussagen des Berichts zu den längerfristigen Folgen des Klimawandels werden aber nicht angefochten: Die vom IPCC postulierte Notwendigkeit des Handelns steht auf wissenschaftlich solider Grundlage. Dennoch wurde ein unabhängiges Gremium eingesetzt, das eruieren soll, wie die Arbeit des IPCC weiter verbessert werden kann. Dieses bekräftigt in seinem Bericht die Notwendigkeit einer Verbesserung der Arbeitsweise des IPCC. Der Rat soll namentlich die Transparenz seiner wissenschaftlichen Evaluationen erhöhen. Das Gremium hält

1202

gleichzeitig fest, dass die periodischen Berichte des IPCC die Auswirkungen des Klimawandels korrekt wiedergeben.

Parallel hierzu laufen die Arbeiten für den nächsten, und damit fünften, Sachstandsbericht des IPCC. Er soll im Jahre 2015 publiziert werden. Die Schweiz engagiert sich aktiv an dessen Erarbeitung. Professor Thomas Stocker von der Universität Bern wird als Ko-Vorsitzender jene der drei Arbeitsgruppen des IPCC leiten, welche sich mit den wissenschaftlichen und technischen Aspekten der Klimaerwärmung befasst.

Fortsetzung des eingeschlagenen Weges Der Bundesrat hat mit der beschlossenen Unterzeichnung der Übereinkunft von Kopenhagen ­ und mit den dabei gleichzeitig vermittelten Zielen zur Reduktion der nationalen Treibhausgasemissionen ­ seine auf nationaler und internationaler Ebene verfolgte Politik zur Bekämpfung des Klimawandels bekräftigt. Die Schweiz ist bereit, ihren Anteil zur Lösung des Problems zu leisten. Sie ist als Alpenland im Zentrum des europäischen Kontinents der Klimaerwärmung besonders stark ausgesetzt.

Die Schweiz hat ein entsprechend grosses Interesse an einer zielgerichteten und globalen Bekämpfung des Klimawandels. Kein Staat kann das Problem alleine lösen. Notwendig bleibt eine koordinierte Antwort der ganzen internationalen Staatengemeinschaft. Die Schweiz setzt deshalb auf die Fortsetzung der internationalen Verhandlungen im Rahmen der Vereinten Nationen und deren Klimarahmenkonvention. Die Vertragsstaatenkonferenz von Ende 2010 in Cancún ist der nächste Meilenstein. Zu diesem Anlass erhofft man sich weitere Schritte auf ein verbindliches Regime zu, das alle OECD-Mitgliedstaaten und die grossen Entwicklungsländer, insbesondere die aufstrebenden Schwellenländer, gemäss ihren Möglichkeiten zu Begrenzung und Reduktionen ihrer Treibhausgasemissionen verpflichtet. Die Schweiz befürwortet die Diskussion zu Klimafragen auch in anderen Gremien wie der OECD oder der G-20, dies in der Erwartung, dass dort erzielte Fortschritte anschliessend in die Verhandlungen der UNO-Klimakonvention einfliessen. Das Ziel bleibt eine globale Lösung mittels einer völkerrechtlichen Vereinbarung.

Die internationale Klimapolitik der Schweiz wird vom Bundesamt für Umwelt koordiniert. Dieses steht dem interdepartementalen Ausschuss Klima (IDA Klima) vor und arbeitet eng mit allen involvierten
Bundesämtern zusammen. Die Stellungnahme der Schweiz zu den zahlreichen Themen, die derzeit im Zusammenhang mit dem Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (United Nations Framework Convention on Climate Change, UNFCC) und in anderen Foren diskutiert werden, wird in der Gruppe «internationale Aspekte» des interdepartementalen Ausschusses erarbeitet. Angesichts der Bedeutung dieses Prozesses für die Aussenpolitik der Schweiz übernimmt das EDA (PA V) das Kopräsidium dieser Gruppe.

Die Schweiz ist dabei auch ausserhalb der multilateralen Foren aktiv. Die DEZA hat den Klimawandel zum Inhalt eines ihrer globalen Programme gemacht. Auf dieser Basis führt sie in verschiedenen Ländern spezifische Klimaprojekte durch, und in einigen Ländern wie beispielsweise Indien stellt die Klimafrage gar das Hauptthema der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit dar (siehe Ziff. 4.4). Auch das SECO stärkt im Rahmen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung seine langjährigen Anstrengungen zugunsten des Klimaschutzes. Es konzentriert sich 1203

dabei auf die Förderung von Energieeffizienz und erneuerbaren Energien sowie auf den Technologietransfer. Weitere Schwerpunkte sind das nachhaltige Tropenwaldmanagement und die Mitgestaltung der Klimaschutzprogramme der Entwicklungsbanken. Seit Dezember 2009 ist die Schweiz zudem Mitglied der Globalen Forschungsallianz zu landwirtschaftlichen Treibhausgasen (Global Research Alliance on Agricultural Greenhouse Gases). Die Allianz verfolgt das Ziel, durch verstärkte internationale Kooperation und Zusammenarbeit der öffentlichen und privaten Forschung zur Reduktion der Treibhausgasemissionen und zur Erhöhung der Kohlenstoffsequestrierung in der Landwirtschaft beizutragen. Die Schweiz wird in der Allianz durch das BLW und die ETH Zürich vertreten.

Herausforderungen und Perspektiven Die Bekämpfung des Klimawandels und die Anpassung an dessen bereits unabwendbare Folgen stellen die internationale Staatengemeinschaft vor eine gewaltige Herausforderung. Diese Herausforderung bedarf einer globalen Antwort. Der Klimagipfel in Kopenhagen hat gezeigt, wie schwierig es ist, die komplexen Fragen aus den verschiedensten Politikbereichen miteinander zu verknüpfen und Lösungen auszuarbeiten, welche von der ganzen Staatengemeinschaft getragen werden. Eine rasche Konsensfindung erweist sich trotz der Dringlichkeit des Handelns und angesichts der unterschiedlichsten Erwartungen an ein zukünftiges globales Klimaregime als ausgesprochen schwierig. Die Erfolgsaussichten der internationalen Klimaverhandlungen hängen dabei auch davon ab, ob es die Staatengemeinschaft schafft, das Vertrauen in den Multilateralismus und so auch die Basis für ein gemeinsames globales Handeln im Klimabereich wieder zu stärken.

Ziel der Schweiz ist und bleibt es, einen konstruktiven Beitrag an die Formulierung eines neuen globalen Klimaregimes zu leisten. Sie tut dies auch aus Eigeninteresse.

Die Zeitachse des Handelns bleibt dabei von grosser Bedeutung: Je länger mit den nötigen Massnahmen zugewartet wird, umso schwieriger wird es sein, eine Beschränkung der globalen Temperaturerhöhung auf ein verträgliches Mass zu erreichen und damit gleichzeitig die gesamtgesellschaftlichen Folgekosten so niedrig wie möglich zu halten. Die Schweiz ist direkt vom Klimawandel betroffen. Als Mitglied der Weltgemeinschaft und als global hoch integrierte Volkswirtschaft hat sie ein starkes Interesse daran, auf allen Ebenen zur Lösung des Problems beizutragen.

4.7

Energieaussenpolitik

Trends und Entwicklungen Das globale energiepolitische Umfeld, welches den Rahmen für die schweizerische Energieaussenpolitik bildet, zeichnete sich in den letzten Jahren durch eine hohe Dynamik aus und war massgeblichen Veränderungen unterworfen. Die teils in enger gegenseitiger Abhängigkeit stehenden Treiber dieser Entwicklung sind sowohl wirtschaftlicher als auch geo- und umweltpolitischer Natur. Die Folgen sind vielfältig: volatilere Preise für Erdöl und die meisten übrigen Energieträger, Verschiebung des Nachfragewachstums in die Schwellenländer (besonders nach China und Indien) und damit verstärkter internationaler Wettbewerb um Energieressourcen, Problematik der Versorgungssicherheit bei Energiekonsumenten und der Nachfragestabilität bei Energieproduzenten, Uneinigkeit zwischen Energieproduzenten und -konsu1204

menten über die Ausgestaltung und Finanzierung eines zuverlässigen globalen Energiesystems, ein gewaltiger Investitionsbedarf im Infrastrukturbereich, starker Innovationsdruck im Bereich neuer Technologien zur Energiegewinnung und die Neugründung oder Neuausrichtung von internationalen Institutionen. Die Frage der weltweiten «Energiegouvernanz» ­ einer ordnenden Instanz auf globaler Ebene im Energiebereich ­ stellt sich vor diesem Hintergrund in verstärktem Masse. Ihre zufriedenstellende Beantwortung ist allerdings zumindest mittelfristig nicht zu erwarten.

Auf europäischer Ebene ist insbesondere festzustellen, dass die Wichtigkeit der Europäischen Union als energiepolitische Akteurin aufgrund der Schaffung des Energiebinnenmarktes zunimmt.

Strategie der Schweiz Abgeleitet von der oben beschriebenen Ausgangslage hat der Bundesrat in seiner Strategie vom Februar 2008 als Hauptziele der Energieaussenpolitik die Versorgungssicherheit, die Wirtschaftlichkeit und die Umweltverträglichkeit definiert. Er will damit eine starke und engagierte Energieaussenpolitik aufbauen, die es der Schweiz erlaubt, internationale Entscheide im Energiebereich in ihrem Sinne mitzugestalten. Die folgenden Aktivitäten sollen die zielgerichtete Umsetzung dieser Strategie sicherstellen: Verhandlungen mit der EU: Die EU hat in den letzten Jahren einen Energiebinnenmarkt geschaffen. Durch die physische und wirtschaftliche Verflechtung der Energiemärkte ist die Schweiz von der europäischen Entwicklung im Energiebereich unmittelbar betroffen. Es besteht daher ein beidseitiges Interesse an einer engen Abstimmung zwischen der schweizerischen und der europäischen Energiepolitik.

Aufgrund der aktiveren Rolle der EU büsst die Schweiz allerdings derzeit in Europa tendenziell an energiepolitischem Mitspracherecht ein, insbesondere bei energierelevanten Gremien, die der Kompetenz der EU zugeordnet werden.54 Die seit 2007 laufenden Stromverhandlungen zwischen der Schweiz und der EU bewegen sich in einem sehr dynamischen Umfeld: Zum einen hat die EU seit Verhandlungsbeginn den Acquis communautaire in zwei wichtigen Gebieten weiterentwickelt und will die Verhandlungen auf der Grundlage des aktualisierten Rechtsbestands weiterführen.55 Zum andern erschwert die integrierte Energie- und Klimapolitik der EU die Begrenzung des Verhandlungsfelds
auf den Strombereich.

Entsprechend hat der Bundesrat das Verhandlungsmandat der Schweiz im September 2010 der neuen Ausgangslage angepasst. Er nutzte dies, um gleichzeitig auch den Fokus für die Reichweite des angestrebten Abkommens auszudehnen. Es soll sich nicht mehr nur auf den Strombereich, sondern auf den gesamten Energiebereich beziehen. Angesichts der dynamischen Entwicklungen des Energiebereichs in der EU und mit dem Ziel, die Schweiz optimal in die zukünftige Architektur von Energie-Europa einzufügen, soll ein eigenständiges und ausbaubares Energieabkommen angestrebt werden. Im Rahmen von neuen Verhandlungen soll dieses dann auf weitere Bereiche ausgedehnt werden, zum Beispiel auf die Energieeffizienz (z.B.

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Es sind dies beispielsweise die neu entstehende Dachregulierungsbehörde Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (Agency for the Cooperation of Energy Regulators, ACER) und der Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber (European Network of Transmission System Operators ­ Electricity, ENTSO-E).

Drittes Energiemarktliberalisierungspaket und neue Erneuerbaren-Richtlinie.

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Harmonisierung der Verbrauchsvorschriften für Elektrogeräte), die Beteiligung der Schweiz am strategischen Energietechnologie-Plan (SET-Plan) und am Energieinfrastrukturpaket der EU oder die Integration der Schweiz in die Krisenbewältigungsmechanismen der EU oder die Integration der Schweiz in die Krisenbewältigungsmechanismen der EU bei der Gasversorgung.

Mit dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags wird Energiepolitik verstärkt zur Kompetenz der EU.56 Im Vertrag ist erstmals ein Kapitel der gemeinsamen Energiepolitik gewidmet. Die ambitionierten 20-20-20-Ziele57 unterstreichen zudem die zentrale Rolle, die die EU durch ihre gesetzgeberische Tätigkeit im Energiebereich einnimmt. Dies hat zunehmend auch Auswirkungen auf die Schweiz. Die Schweiz sieht sich beispielsweise als Lieferantin von kurzfristig einsetzbarem Spitzenstrom im europäischen Strombinnenmarkt, in dem der Anteil von unregelmässig verfügbarem Wind- und Solarstrom zunehmen wird.

Mittelfristig ist die Versorgungssicherheit eine der grössten Herausforderungen der EU. Entsprechend trifft die Union beispielsweise Massnahmen für eine verbesserte Gasversorgungssicherheit. Dies auch vor dem Hintergrund der wiederholten Gasversorgungskrisen in den vergangenen Jahren. Die Schweiz strebt neben der Diversifizierung ihrer Gaslieferanten wie auch der Versorgungswege eine Einbindung in das entstehende europäische Gaskrisenmanagement an. In diesem Zusammenhang kommt insbesondere einer möglichen Zusammenarbeit mit der von der EU speziell für Krisensituationen geschaffenen «Gas Coordination Group» eine hohe Bedeutung zu.

Mit Zielhorizont 2050 verfolgt die EU die Vision einer bis zu 80-prozentigen Reduzierung ihres Treibhausgasausstosses. Die Schweiz beteiligt sich im Rahmen des bilateralen Forschungsabkommens am 7. Energieforschungsrahmenprogramm und nimmt als Beobachterin am «Strategic Energy Technology Plan» teil. Dies sind zentrale Steuerungselemente zur Entwicklung CO2-armer Technologien und neuer Netzinfrastrukturen, einschliesslich «Smart Grids»,58 die zur Realisierung dieser Vision beitragen sollen. Es wird für die Schweiz entscheidend sein, in Zukunft nicht nur bei der Forschung, sondern auch bei Netzinvestitionen auf europäischem Niveau eingebunden zu werden. Aus all diesen Gründen ist es wichtig, dass die Schweiz ihre Energieaussenpolitik
in Zukunft stärker auf die EU als zentrale energiepolitische Akteurin ausrichtet.

Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen: Die Mitarbeit in energierelevanten internationalen Organisationen gewinnt mit zunehmender Globalisierung an Bedeutung. Die Schweiz hat ein Interesse daran, dass die globale Energiepolitik von multilateralen Gremien mitgestaltet wird, in denen sie als Mitglied Mitspracherecht

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57

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Die Mitgliedstaaten behalten allerdings die Kontrolle über die Nutzung der nationalen Energieressourcen sowie die Wahl zwischen Energiequellen und der Struktur der nationalen Energieversorgung. Weiter behalten sie das Recht, nationale Massnahmen zur Sicherung der Energieversorgung zu erlassen.

Reduktion der Treibhausgasemissionen um 20 % (gegenüber 1990) sowie Steigerung der Energieeffizienz um 20 % und des Anteils erneuerbarer Energieträger an der Energieproduktion auf 20 % bis 2020.

«Intelligente» Stromnetze, die den Anforderungen des Wandels hin zu liberalisierten Märkten und dezentralen Stromerzeugungsstrukturen sowie zu volatilen erneuerbaren Energien und Elektromobilität Rechnung tragen und gleichzeitig ein Höchstmass an Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit und Umweltverträglichkeit sicherstellen.

1206

besitzt. Dank solcher Institutionen kann sich die Schweiz bei Energiefragen von geopolitischer Tragweite einbringen.

Die Schweiz setzt sich insbesondere dafür ein, dass die Internationale Energieagentur in Paris (IEA), die internationale Atomenergiebehörde in Wien (IAEA) und die Energiecharta mit Sitz in Brüssel als zentrale multilaterale Energieinstitutionen an Relevanz gewinnen und weiter gestärkt werden. Der Beitritt der Schweiz zur Internationalen Agentur für erneuerbare Energien (International Renewable Energy Agency, IRENA) in Abu Dhabi, der am 13. Mai 2009 mit dem Entscheid des Bundesrats zur Unterzeichnung der Statuten beschlossen wurde, entspricht ebenfalls der strategischen Ausrichtung der Energieaussenpolitik der Schweiz. Die Organisation wird einen Beitrag an die internationale Förderung von erneuerbaren Energien, besonders in Entwicklungsländern, leisten und kann langfristig die Energieversorgungssicherheit der Schweiz stärken. Die Ratifikation des Beitritts der Schweiz durch das Parlament hat im September 2010 stattgefunden.

Weiter prüft die Schweiz den Beitritt zum Internationalen Energieforum (International Energy Forum, IEF), das das einzige weltweite Treffen von Energieministern darstellt. Traktanden sind Versorgungssicherheit, Nachhaltigkeit und Energiearmut.

Wichtige permanente Aktivitäten des IEF sind ausserdem die Erhöhung der Transparenz von Erdölmarktdaten sowie mögliche Massnahmen zur Dämpfung der Erdölpreisvolatilität. Die Schweiz nimmt seit 2002 regelmässig an den Ministertreffen des IEF teil.

Bilaterale Beziehungen zu Nachbarn und ausgewählten Partnerstaaten: Mit allen Nachbarländern der Schweiz werden regelmässige Kontakte auf Bundesrats- oder Direktorenstufe gepflegt. Die breite Palette der Gesprächsthemen und Zusammenarbeitsbereiche erstreckt sich dabei von Strom und Gas über Transport und Handel bis hin zur Förderung erneuerbarer Energien, Fragen der Energieeffizienz und Forschungszusammenarbeit. Die Beziehungen zu EU-Mitgliedstaaten werden so ausgestaltet, dass sie die Bemühungen der Schweiz um die Wahrung ihrer energiepolitischen Interessen gegenüber der EU unterstützen. Dabei gilt es, den Einfluss eines Landes im Konzert der EU-Staaten und den Grad seiner Interessenübereinstimmung mit der Schweiz zu berücksichtigen. Gute bilaterale Beziehungen mit EU-Staaten
sind besonders dann wichtig, wenn deren Umsetzung der EU-Energiepolitik Schweizer Interessen tangiert.

Die Versorgungssicherheit kann durch den Bezug von fossilen Energieträgern aus möglichst verschiedenen Energiequellen und Transportwegen erhöht werden. Die Schweiz will daher mit ausgewählten anderen Staaten, die entweder fossile Energieträger fördern oder durchleiten, oder die sich für die Förderung von erneuerbaren Energien, Energieeffizienz und der Energieforschung einsetzen, Energiepartnerschaften aufbauen und vertiefen. Für die Schweiz von besonderem Interesse sind dabei Aserbaidschan, Türkei, Norwegen, die Vereinigten Arabischen Emirate, Russland und Algerien.

Mit dem EWR-Land Norwegen besteht ein Energiedialog, der es der Schweiz erlaubt, von den Erfahrungen zu profitieren, die Norwegen mit der weitgehenden Übernahme des energiepolitischen Acquis communautaire macht. Mit Aserbaidschan (2007), den Vereinigten Arabischen Emiraten und mit der Türkei (beide 2009) konnten in den letzten Jahren Absichtserklärungen über eine engere Zusammenarbeit im Energiebereich unterzeichnet werden. Für die Schweiz hat dabei die Erschliessung des sogenannten südlichen Erdgaskorridors, der die noch nicht opera1207

tive, pipelinegebundene Erdgaslieferroute aus dem kaspischen Raum, Zentralasien und dem Nahen Osten nach Europa umfasst, hohe Bedeutung. Gegenwärtig ist ein eigentlicher Wettlauf um die Erschliessung dieses Korridors im Gange.

Es ist jedoch davon auszugehen, dass letztlich nur ein Teil der sich derzeit konkurrenzierenden Pipelineprojekte realisiert werden wird. Dies aus zwei Gründen: 1.

Die nach Europa lieferbaren Mengen von Erdgas aus diesem geografischen Raum sind aufgrund mangelnder Investitionen in Produktions- und Transportinfrastruktur sowie steigender Nachfrage aus China und Indien begrenzt.

2.

Die kumulierte Kapazität der geplanten Pipelines würde die Nachfrage Europas nach pipelinegebundenem Erdgas wohl übertreffen. Diese dürfte mittelfristig stagnieren, da die Technologie für den Transport von verflüssigtem Erdgas (Liquefied Natural Gas, LNG) mit Schiffen rasch Fortschritte erzielt und Erdgas zur Strom- und Wärmeproduktion zudem vermehrt durch so genannte grüne Technologien substituiert werden wird.

Eines dieser Projekte ist die Trans-Adriatische Pipeline (TAP), deren Bau und Betrieb die Schweizer Firma EGL zusammen mit den Partnern Statoil (Norwegen) und E.ON Ruhrgas (Deutschland) plant. Die Schweiz unterstützt das Projekt im Rahmen Ihrer Energieaussenpolitik offiziell, da die TAP einen wichtigen Beitrag zur Diversifizierung und Sicherstellung der Gasversorgung der Schweiz leisten könnte.

Die TAP soll ab 2015 Erdgas aus dem kaspischen Raum via Türkei, Griechenland und Albanien nach Italien und dereinst möglicherweise auch in die Schweiz transportieren. Die Pipeline würde in der Nähe der griechischen Stadt Thessaloniki beginnen. Da für den Transit durch die Türkei geplant ist, die bestehende türkische Pipelineinfrastruktur zu benutzen ­ Transitverhandlungen mit dem türkischen Pipelinenetzbetreiber BOTAS laufen derzeit ­, würde die Gesamtlänge der TAP nur 520 Kilometer betragen. Dies ist im Vergleich zu den deutlich längeren Konkurrenzprojekten ein Vorteil, da die Bau- und Unterhaltskosten damit verhältnismässig tief gehalten werden können. Zudem ist die für die TAP vorgesehene Route zur Durchquerung der Adria von Albanien nach Italien unter verschiedenen Gesichtspunkten (Länge, Geologie) die Ideallinie. Auch die Pipelinekapazität von anfänglich 10 Milliarden Kubikmetern im Jahr (ausbaubar auf 20 Milliarden Kubikmeter/Jahr) liegt im Vergleich zu den teilweise wesentlich grösser dimensionierten Konkurrenzprojekten voraussichtlich am nächsten an den Marktrealitäten. TAP gilt damit insgesamt als das technisch und wirtschaftlich solideste Projekt.

Die Vorsteherin des EDA war 2008 bei der Unterzeichnung eines Erdgasliefervertrags zwischen EGL und der iranischen Gasgesellschaft NIGEC in Teheran zugegen.

Dieser Erdgasliefervertrag fällt weder unter das bisherige noch unter das neue, vom Sicherheitsrat am 9. Juni 2010 verabschiedete, Sanktionsregime der UNO gegenüber dem Iran (Resolution 1929). Die von verschiedenen Staaten ergriffenen unilateralen Sanktionsmassnahmen könnten die Umsetzung des Vertrages künftig jedoch erschweren.

Entwicklungszusammenarbeit: Auch die schweizerische Entwicklungszusammenarbeit wird dem Thema Energie künftig verstärkt Rechnung tragen. Im Rahmen von multilateralen Programmen der Entwicklungsbanken und bilateralen Projekten will die Schweiz dazu beitragen, dass in
Transitions- und Entwicklungsländern die Energie effizienter genutzt, erneuerbare Energien verstärkt eingesetzt und klimaschädliche Energieproduktionsanlagen ersetzt werden. So beteiligt sich die Schweiz 1208

beispielsweise an den von der Weltbank verwalteten Klimafonds, indem sie einen Beitrag an das Programm zur Förderung erneuerbarer Energien in ärmeren Entwicklungsländern leistet.

Perspektiven Die hauptsächlichen Herausforderungen für die Schweiz im Energiebereich werden in den kommenden Jahren die steigende Energienachfrage (insbesondere bei Strom), die starke Abhängigkeit von Energieimporten bei stärkerem internationalem Wettbewerb um Ressourcen sowie der emissionsbedingte Klimawandel sein. Gleichzeitig ist eine Gewichtsverschiebung beim Stellenwert der energieaussenpolitischen Partner festzustellen, die eine stärkere Fokussierung auf die EU sowie ein erhöhtes Engagement der Schweiz bei den wichtigsten multilateralen energiepolitischen Akteuren erforderlich macht. Den bilateralen energiepolitischen Beziehungen zu Nachbar- und ausgewählten Drittstaaten kommt allerdings weiterhin eine sehr wichtige Rolle in der schweizerischen Energiediplomatie zu. Um Einfluss zu nehmen und die Interessen der Schweiz adäquat wahrzunehmen, muss sich diese auf multilateraler und bilateraler Ebene mit einer Vielzahl von Akteuren auseinandersetzen.

Zugleich will die Schweiz ihren Beitrag leisten zur zufriedenstellenden Beantwortung der Frage nach einer guten globalen Energiegouvernanz.

4.8

Gesundheitsaussenpolitik

Globale Herausforderungen Seit rund zehn Jahren gewinnt das Thema Gesundheit auf der internationalen Agenda an Bedeutung. Die Rolle des Faktors Gesundheit, insbesondere wenn es um Entwicklung, Stabilität und Wohlstand eines Landes geht, ist heutzutage allgemein anerkannt; Gesundheit wird immer mehr zu einem öffentlichen Gut. Damit wird die Gesundheit zu einem tragenden Element der Aussenpolitik, und die Schweiz spielt dabei eine Pionierrolle. Verschiedene Initiativen sind im Gang, um die Präsenz der Gesundheit in internationalen Gremien zu fördern. Beispielsweise wird das Thema Weltgesundheit in einigen UNO-Gremien aufgegriffen, wie dem ECOSOC, dem Menschenrechtsrat oder der Generalversammlung. Bei der UNO-Generalversammlung steht das Thema Weltgesundheit und Aussenpolitik ständig auf der Tagesordnung, und der UNO-Generalsekretär hat Ende 2009 einen Bericht dazu vorgelegt.

Infolge der Globalisierung und der wachsenden gegenseitigen Abhängigkeit wandelt sich die Art und Weise, wie Gesundheitsfragen angegangen werden. Eine stärkere internationale Zusammenarbeit ist notwendig, um Probleme wie AIDS, die SARSEpidemie oder in jüngster Zeit die H1N1-Grippepandemie anzupacken. Gesundheitsfragen werden nicht mehr nur unter technischen Gesichtspunkten behandelt, auch nicht nur auf nationaler Ebene, sondern immer häufiger interdisziplinär und international; zudem werden neuartige Netzwerke geschaffen, wie z.B. die Erklärung von Oslo. Diese ist von sieben Ländern aus allen Kontinenten59 unterzeichnet worden. Sie hat die Besonderheit, dass sie Aussenminister von Ländern mit sehr unterschiedlichen Interessen zusammenbringt. Es handelt sich um eine «BridgeBuilding Coalition» mit dem Ziel, dem Thema Gesundheit auf der internationalen Agenda einen Spitzenplatz zu verschaffen.

59

Brasilien, Frankreich, Indonesien, Norwegen, Senegal, Südafrika und Thailand.

1209

Auch bei der Entwicklungspolitik gewinnt die Gesundheit zunehmend an Bedeutung. Das internationale Gesundheitswesen ist darüber hinaus durch die Präsenz zahlreicher Akteure geprägt, die ein sehr breites Interessenspektrum vertreten.

Neben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) treten auch zahlreiche staatliche, private oder gemischte Institutionen auf. Dank ihrer zum Teil sehr grossen Finanzkraft haben sie auf dem internationalen Parkett rasch an Einfluss gewonnen (Bill and Melinda Gates Foundation, Global Fund to Fight AIDS, Tuberculosis and Malaria, U.S. President's Emergency Plan for Aids Relief, U.S. President's Malaria Initiative usw.). Die globale Architektur im Gesundheitsbereich ist damit komplexer geworden, und die globale Gouvernanz wird schwieriger.

Angesichts dieser Komplexität der Strukturen und der Akteure hat die Schweiz schon 2006 die Leitlinien ihrer Gesundheitsaussenpolitik festgelegt. In diesem Zusammenhang wurde zwischen dem EDI und dem EDA eine Zielvereinbarung abgeschlossen. Sie soll die Arbeit der verschiedenen nationalen Akteure koordinieren, um eine grössere Kohärenz der Aktivitäten der Schweiz auf internationaler Ebene zu erreichen. Es geht darum, die nationale und die internationale Gesundheitspolitik zu koordinieren, die internationale Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich effizienter zu gestalten sowie die Rolle der Schweiz als Gaststaat und Sitz von Schlüsselorganisationen und -unternehmen im Gesundheitssektor zu stärken. Diese ­ einzigartige ­ Zielvereinbarung hat auch im Ausland Aufmerksamkeit erregt, insbesondere in der UNO, wo sie in einem Bericht des Generalsekretärs als nachahmenswertes Beispiel genannt wird.60 Sie wird 2012 aktualisiert werden.

Aktivitäten der multilateralen Gremien im Gesundheitsbereich Weltgesundheitsorganisation (WHO): Die Schweiz wirkt aktiv in der WHO mit. Sie betrachtet diese als die Schlüsselorganisation und die wichtigste internationale Plattform für Gesundheitsfragen. Die Auswirkungen der UNO-Reform (One UN) auf die WHO sowie die Frage, welche Rolle sie angesichts der Vielfalt der Akteure im Gesundheitsbereich auf lange Sicht spielen wird, sind für die Schweiz von wesentlicher Bedeutung. Die Schweiz engagiert sich überdies in der Debatte über die weltweite Gouvernanz im Gesundheitssektor; insbesondere organisiert sie Treffen der
Schlüsselakteure in diesem Bereich. Die Schweiz ist ausserdem Kandidatin für einen Sitz im Exekutivrat der WHO für die Periode 2011­2013. Falls sie gewählt wird, will sie in dieser Frage aktiv werden.

In der Arbeit der WHO dominierte 2009 das Thema der H1N1-Grippepandemie. Die Schweiz leistete einen internationalen Solidaritätsbeitrag, indem sie der WHO einen Betrag von 5 Millionen Franken zugunsten des weltweiten Pandemiebekämpfungsplans überwies. Sie ist auch am Projekt für Impfstoffspenden beteiligt, das USPräsident Obama zugunsten der Entwicklungsländer lancierte. In dessen Rahmen hat sie der WHO einen Zehntel des von ihr bestellten Impfstoffs geschenkt. Die Pandemie hat im Übrigen den Verhandlungen in der WHO über den Austausch von Grippeviren und den Zugang zu Impfstoffen neuen Schub verliehen. In diesem Zusammenhang arbeitet die Schweiz auch weiterhin auf ein transparentes internationales System unter der Ägide der WHO hin, das auf Grippepandemien rasch und wirksam reagieren kann.

60

«Global health and foreign policy: strategic opportunities and challenges», Note by the Secretary General, UNO-Dokument A/64/365, September 2009.

1210

Angesichts des weltweiten Mangels an Gesundheitspersonal, der zurzeit auf mehr als vier Millionen Menschen geschätzt wird, haben die Mitgliedstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Mai 2010 einen globalen Kodex für die grenzüberschreitende Anwerbung von Gesundheitsfachkräften verabschiedet. Dieser nicht verbindliche Kodex soll die Mitgliedstaaten dazu bewegen, ethische Grundsätze für die internationale Rekrutierung zu fördern, um so die Gesundheitssysteme der Entwicklungsländer zu stärken. Insbesondere empfiehlt er den Mitgliedstaaten, nicht in den Entwicklungsländern mit besonders gravierendem Personalmangel im Gesundheitsbereich zu rekrutieren, die Arbeitsbedingungen für das zugewanderte Gesundheitspersonal zu verbessern, im Rahmen des Möglichen inländische Arbeitskräfte anzustellen und die Datenerhebung zu verbessern. Im Rahmen ihrer Gesundheitsaussenpolitik hat die Schweiz seit 2008 unter der Federführung des Bundesamts für Gesundheit (BAG) eine interdepartementale Arbeitsgruppe eingesetzt, um die Umsetzung dieses Kodexes vorzubereiten. Bis 2012 muss der WHO ein Bericht zur Situation in der Schweiz zugestellt werden.

Kampf gegen HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose: Im Kampf gegen HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose unterstützt die Schweiz auf multilateraler Ebene den Globalen Fonds zur Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria und das Gemeinsame Programm der Vereinten Nationen zu HIV/Aids (UNAIDS). Dank den Programmen dieser Institutionen erhielten bis Ende 2009 2,5 Millionen Menschen Zugang zu Medikamenten gegen HIV/Aids. Damit konnten in den letzten 5 Jahren rund 4 Millionen potenzielle Todesfälle vermieden werden, die durch HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose verursacht worden wären. Im Rahmen von MalariaKontrollprogrammen wurden insgesamt 104 Millionen imprägnierte Bettnetze abgegeben und 108 Millionen medikamentöse Behandlungszyklen verabreicht.

Zudem unterstützt die Schweiz via Budgethilfe beispielsweise in Tansania und Mosambik die nationalen Programme zur Bekämpfung von übertragbaren Krankheiten. Die systematische Einbettung dieser Programme in die Gesundheitssysteme dieser Länder trägt zu sinkenden Prävalenzraten im HIV/Aids-Bereich und zu vermehrt erfolgreicher Behandlung von Tuberkulosekranken bei.

Aktivitäten auf bilateraler Ebene Entwicklungszusammenarbeit: Vor allem
in Subsahara-Afrika bedarf es grosser Anstrengungen und Ressourcen, um die Millenniumsentwicklungsziele im Gesundheitsbereich zu erreichen. Dies gilt insbesondere für die Reduktion der Müttersterblichkeit. Die Schweiz hat daher die Synergien zwischen multilateraler und bilateraler Entwicklungszusammenarbeit verstärkt. Sie ist gegenwärtig mit Gesundheitsprogrammen in 38 Ländern in Afrika, Osteuropa und Zentralasien tätig. Ihre Aktivitäten reichen hierbei vom Aufbau von Basisgesundheit über Unterstützung des gesamten Gesundheitssektors in Ländern wie Kirgisistan, Tansania und Mosambik bis hin zur Einflussnahme auf die nationale und internationale gesundheitspolitische Prioritätensetzung. Eine deutliche Verbesserung der Gesundheitsindikatoren ist in den Ländern festzustellen, deren Gesundheitsbudgets von der Schweiz gesamthaft unterstützt werden: So sank beispielsweise während des achtjährigen Schweizer Programms in Tansania die Sterblichkeit von Kindern unter fünf Jahren deutlich um 26 %.

Die Schweiz wird sich auch weiterhin auf eine bedürfnisorientierte Gesundheitsverbesserung in ihren Partnerländern konzentrieren und diese, mit anderen Gebern koordiniert, auf die dezentrale Stärkung der Gesundheitssysteme und die Bekämp1211

fung von übertragbaren Armutskrankheiten ausrichten. Im Zentrum stehen überdies Themen wie der gerechtere Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen sowie, auf dem Gebiet der übertragbaren Krankheiten, die vermehrte Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft.

Verhandlungen mit der Europäischen Union: Seit Herbst 2008 verhandeln die Schweiz und die Europäische Union (EU) über ein Gesundheitsabkommen. Dieses wird insbesondere den Kampf gegen ansteckende Krankheiten, die Lebensmittelsicherheit und die Produktesicherheit umfassen. Gegenstand dieser Verhandlungen ist auch die Teilnahme an zwei europäischen Agenturen (Europäisches Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten sowie Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit), die Integration in drei Früh- und Schnellwarnsysteme sowie die Beteiligung am Gesundheitsprogramm der EU. Durch Teilnahme an den genannten Agenturen und Programmen kann die Schweiz ihrer Bevölkerung einen zusätzlichen Schutz im Gesundheitsbereich verschaffen.

Pandemieabkommen mit Frankreich: Die Schweiz und Frankreich haben ein Abkommen über den Informationsaustausch bei einer Grippepandemie (Accord sur l'échange d'information en matière de pandémie de grippe et de risques sanitaires) abgeschlossen. Damit können die Pandemiemassnahmen in den beiden Ländern koordiniert worden. Das Abkommen sieht insbesondere vor, dass französisches Personal, das in Schweizer Spitälern arbeitet, im Falle einer Pandemie von Frankreich nicht requiriert wird.

Das internationale Genf und die Weltgesundheit Die Stärkung der Position Genfs als internationales Kompetenzzentrum für globale Gesundheitsfragen bleibt eine Priorität der Schweiz. In Ergänzung zu seiner Rolle als Sitz der WHO muss sich das internationale Genf an die Zunahme der Akteure im Gesundheitsbereich anpassen. Mehrere Projekte zielen darauf ab, seine Rolle als «internationale Gesundheitshauptstadt» zu stärken. Das Projekt «Campus Santé» beispielsweise soll die Synergien bei den Zuständigkeiten und räumlichen Verhältnisse zwischen WHO, UNAIDS und dem Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria besser nutzen. Die Schweiz hat zudem vor Kurzem ein Sitzabkommen mit der Globalen Allianz für Impfstoffe und Immunisierung (GAVI) abgeschlossen. Auf akademischer Ebene trägt das «Institut des hautes études internationales
et du développement» (IHEID) mit seinem Fachbereich Gesundheit und dessen zahlreichen Schwerpunktveranstaltungen ebenfalls dazu bei, den Ruf Genfs als weltweites Kompetenzzentrum im Gesundheitsbereich zu festigen.

Perspektiven Die zahlreichen Facetten der Gesundheit stellen die staatlichen Behörden vor erhebliche Herausforderungen. Die wichtigsten unter ihnen (Gesundheit von Mutter und Kind, Aids, Tuberkulose, Malaria, Pandemien usw.) werden sowohl in politischer als auch in finanzieller Hinsicht ein grosses Engagement erfordern. Damit die Probleme effizient angegangen werden, ist es unerlässlich, dass die Beteiligten ihre Arbeit koordinieren und sich für eine stärkere politische Kohärenz ihrer Aktivitäten einsetzen, ob in inhaltlicher Hinsicht oder auf regionaler bzw. globaler Ebene. Mit Blick auf diese Ziele beabsichtigt die Schweiz, an der Stärkung der weltweiten Gesundheitsinstitutionen und an der Verbesserung der Gouvernanzinstrumente zu arbeiten.

1212

4.9

Aussenpolitik im Bereich Bildung, Forschung und Innovation

Bildung, Forschung und Innovation sind entscheidende Faktoren für eine nachhaltige wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklung und für die Lösung globaler Probleme. Die globalen wissenschaftlichen Trends sind stark geprägt von Interdependenz, Kooperation und Wettbewerb. Die Schweiz ist in diesem Wettbewerb gut positioniert, muss ihre Position aber permanent weiterentwickeln und festigen.

Die internationale Zusammenarbeit im Bereich Bildung, Forschung und Innovation ist für die Wettbewerbsfähigkeit des Landes sowie für die Innovationsfähigkeit seiner Gesellschaft von entscheidender Bedeutung.

Im Hinblick auf die kommenden Botschaften über die Förderung von Bildung, Forschung und Innovation hat der Bundesrat am 30. Juni 2010 seine internationale Strategie im Politikbereich Bildung, Forschung und Innovation (BFI) festgelegt. In den kommenden Jahren soll sich die Schweiz global als bevorzugter Standort für BFI etablieren und ihre Exzellenz in diesen Bereichen für die Integration in den weltweiten Bildungs-, Forschungs- und Innovationsraum nützen. Sie soll sich so an der Spitze der innovativsten Länder der Welt behaupten.

Das Dokument des Bundesrates vom 30. Juni 2010 unterstreicht, dass die bisherige internationale Strategie weiter verfolgt weren soll, weil sie ausgezeichnete Resultate erbracht hat: ­

Die Schweiz gehört heute zu den innovativsten Ländern der Welt. Sie ist seit zwei Jahren zudem die Nummer eins der europäischen Innovationsrangliste.

­

Im internationalen Vergleich erreicht sie ausgezeichnete Resultate im Bereich der Forschung, wie die Zitationsindizes oder die Erfolgsrate der Forscherinnen und Forscher der schweizerischen Hochschulen im Rahmen der europäischen Programme zeigen.

­

Mehr als die Hälfte der jungen Universitätsabsolventen studieren in der Schweiz in einer Institution, die unter den 200 Besten der Welt klassiert ist (gegenüber zum Beispiel 20 % in den Vereinigten Staten).

­

Insbesondere dank dem dualen Bildungssystem und dem Netz der Fachhochschulen ist die Arbeitslosenrate bei den jungen Schweizern eine der niedrigsten der Welt.

Der Bericht legt für die BFI-Politik der Schweiz drei Prioritäten mit entsprechenden Zielen für die zukünftige internationale sektorielle Zusammenarbeit fest. Erste Priorität ist die Stärkung und Erweiterung der internationalen Vernetzung, zweite Priorität die Unterstützung von Bildungsexport und Talentimport zur Stärkung des Standorts Schweiz und dritte Priorität die Förderung der internationalen Anerkennung. Die entsprechenden Schwerpunktländer der internationalen Zusammenarbeit werden im Hinblick auf die Zielerreichung bestimmt. Zusätzlich wird mit Forschung und Innovation wesentlich zur Lösung von globalen Problemen beigetragen.

Das EDA strebt eine umfassendere BFI-Aussenpolitik an, die alle BFI-Aktivitäten des Bundes, insbesondere auch die Förderung der Bildung und Forschung im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit einbezieht. Aus diesem Grund befürwortet es die interdepartementale Erarbeitung einer aussenpolitischen Zielvereinbarung im Bereich Bildung, Forschung, Innovation.

1213

Zusammenarbeit mit der Europäischen Union Das Engagement der Schweiz in den Bereichen Bildung, Forschung und Innovation ist zwar seit den Achtzigerjahren stark ausgebaut worden, doch diese Entwicklung war vor allem durch engere Beziehungen zur Europäischen Union geprägt. Einen Wendepunkt im Bereich der Hochschulbildung sowie der Forschung und Innovation bildete 1986 der Abschluss eines Bildungsabkommens mit der Europäischen Gemeinschaft. Dadurch konnte die wissenschaftliche Schweiz eine Isolierung vermeiden. Sie ist zwar nicht Vollmitglied der verschiedenen Programme, aber seit 2004 assoziiertes Mitglied. Dank stetiger Verhandlungen konnte sie sich dem europäischen Netz anschliessen, das heute ­ zusammen mit den Vereinigten Staaten ­ der wichtigste Partner der schweizerischen Wissenschaft ist. Die Unterzeichnung des bilateralen Bildungsabkommens zwischen der Schweiz und der EU am 15. Februar 2010 ermöglicht der Schweiz neu statt einer indirekten die volle Teilnahme an den EU-Bildungs- und Jugendprogrammen. Damit können künftig nicht nur Schweizer und Schweizerinnen vermehrt europäische Erfahrungen sammeln, sondern auch eine grössere Zahl von jungen Europäern von den schweizerischen Bildungsinstitutionen mit ihrem guten internationalen Ruf profitieren.

Was die Berufsbildung betrifft, wird derzeit geprüft, ob eine Beteiligung der Schweiz am Kopenhagen-Prozess opportun ist, um die schweizerische Berufsbildung international zu stärken. Der Kopenhagen-Prozess hat das Ziel, die Qualität und Attraktivität der Berufsbildung zu steigern sowie die Mobilität zu fördern. Diese Ziele werden durch die Vergleichbarkeit, Durchlässigkeit und Transparenz von Qualifikationen sichergestellt. Dadurch können letztlich die Qualität und Attraktivität des Bildungs- und Wirtschaftsstandortes Schweiz gesteigert und die Chancen von Arbeitnehmern mit Schweizer Abschluss auf dem internationalen Arbeitsmarkt erhöht werden.

Bilaterale Zusammenarbeit Neben den Beziehungen zur EU wird die Zusammenarbeit mit Schwellenländern intensiviert, die über ein bedeutendes wissenschaftliches und technologisches Potenzial verfügen. Unter Berücksichtigung der verfügbaren Mittel, der gegenseitigen Interessen, des wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Potenzials und der Ergebnisse von Pilotprogrammen mit China und Indien wurden acht
Schwerpunktländer ermittelt, nämlich China, Indien, Russland, Südafrika, Brasilien Japan, Südkorea und Chile, mit denen die Schweiz gemeinsame Forschungsprogramme entwickelt. Dazu werden zwei hervorragende Forschungsinstitute in Côte d'Ivoire und Tansania unterstützt.

Parallel zu diesen Aktivitäten fördert der Bund die Mobilität in die Schweiz durch das bewährte Instrument der Bundesstipendien für ausländische Studierende. Diese Universitätsstipendien bieten Studierenden aller Fachrichtungen die Möglichkeit, ihre Studien oder ihre Forschungsarbeiten an einer öffentlichen oder vom Staat anerkannten Universität in der Schweiz weiterzuführen. Die meisten Schweizer Hochschulen arbeiten auf eigene Initiative in gemeinsamen Projekten und im Austausch von Forschenden und Studierenden mit internationalen Partnerinstitutionen zusammen. Bedeutende Anstrengungen sind unternommen worden, um die Aktivitäten der Schweizer Hochschulen zu koordinieren und deren Wirkung im Ausland zu verbessern.

1214

Die Schweiz betreibt ein Netz von Wissenschafts- und Technologieverantwortlichen, die in 18 Ländern in die schweizerischen Aussenvertretungen integriert sind, sowie eine Reihe von swissnex genannten Schweizer Häusern für den wissenschaftlichen Austausch an besonders wichtigen Wissenschaftsstandorten. Mit swissnex wurde ein innovatives Instrument geschaffen, das der Stärkung der bilateralen Zusammenarbeit mit ausgewählten Partnerländern dient und die Institutionen des Schweizer Hochschul- und Forschungsbereichs subsidiär bei deren internationalen Aktivitäten unterstützt. swissnex Boston wurde im Jahr 2000 als erstes Schweizer Wissenschaftshaus dieser Art mit der Unterstützung einer Genfer Privatbank gegründet, die aus Anlass ihres 200-jährigen Bestehens dem Bund die Liegenschaft schenkte. In der Folge entstanden weitere swissnex-Vertretungen in San Francisco (2003), Singapur (2004) und Shanghai (2008). Weiter geplant ist ein swissnex in Bangalore, Indien.

Entwicklungs- und Ostzusammenarbeit Im Rahmen ihrer Entwicklungs- und Ostzusammenarbeit hat die Schweiz eine lange Tradition, Bildungs- und Berufsbildungsprogramme in ausgewählten Partnerländern zu unterstützen und Forschungspartnerschaften mit Asien, Afrika, Lateinamerika und Osteuropa zu fördern. Bei der Forschungsförderung im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit steht das Erarbeiten von Wissen zur Lösung von Entwicklungs- und globalen Problemen sowie die Stärkung der Forschungskapazitäten in Entwicklungs- und Transitionsländern im Vordergrund. Nord-Süd-Forschungskooperationen bieten der Schweizer Wissenschaft Zugang zu neuen und aufstrebenden Wissensmärkten. Sie verschafft letzterer aber auch die Möglichkeit, in globalen Netzwerken an international aktuellen Themen zu forschen, und damit der wachsenden Nachfrage der Politik nach Lösungen für globale Probleme gerecht zu werden.

Herausforderungen und Perspektiven Die Zukunft der Schweiz im Bereich Bildung, Forschung und Innovation wird vom internationalen Umfeld beeinflusst werden, aber auch die Schweiz selbst kann Einfluss ausüben. Es geht insbesondere um folgende Punkte: Internationale Forschungspartnerschaften, Netzwerke und Infrastrukturprojekte: Die Schweiz ist gefordert, ihre Vorteile und ihre Exzellenz in der Bildung, Forschung und Innovation im Kontext der internationalen Zusammenarbeit
durch Partizipation an den verschiedenen Programmen, Netzwerken und Infrastrukturgemeinschaften zu verstärken. In diesem Zusammenhang ist die Teilnahme der Schweiz an den Initiativen der EU zum Aufbau des europäischen Wirtschafts- und Wissensraums zu sehen. Die bilaterale Kooperation der Schweiz mit einzelnen europäischen Ländern darf durch das starke Schweizer Forschungsengagement im EU-Rahmen nicht vernachlässigt werden. Dabei können auch multilaterale Instrumente der EUForschungsrahmenprogramme für die bilaterale Zusammenarbeit mit europäischen Ländern ideal genutzt werden. Diese bilaterale Zusammenarbeit kann wiederum dazu beitragen, die Position der Schweiz in den EU-Rahmenprogrammen (z.B.

Eureka, COST, Bologna- und Kopenhagen-Prozess) zu stärken. Die Zusammenarbeit mit aufstrebenden Schwellenländern ist zudem für die Stärkung des Werk- und Denkplatzes Schweiz nutzbar zu machen.

Humankapital und Mobilität: In einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft ist das Vorhandensein von Humankapital mit den richtigen Qualifikationen auf sämtlichen Bildungsstufen ein kritischer Erfolgsfaktor. Die internationale Attraktivität der 1215

Schweizer Wirtschaft als Ausbildungs- und Forschungsstandort ist zu konsolidieren.

Gleichzeitig sind die Schweizer Studierenden und Lehrlinge auf den internationalen Arbeitsmarkt und die internationale Forschungstätigkeit vorzubereiten.

Vergleichbare Studiengänge und internationale Anerkennung: Die vermehrte Beteiligung und das wachsende Engagement der Schweiz bei der Schaffung internationaler Qualifikationsstandards würden die Mobilität und damit auch die internationale Anerkennung der Schweizer Berufsbildung verbessern.

Bildungsexport und Bildungsförderung waren lange den Programmen der Entwicklungszusammenarbeit vorbehalten. Damit sich die Schweiz im Bildungsbereich international besser positionieren kann, sollten die Schweizer Schulen im Ausland zur Förderung des Qualitätsimages der Schweiz und ihres Bildungssystems beitragen. Bezüglich der Anerkennung der Berufsbildung sieht ein mögliches Geschäftsmodell eine Expansion von Elementen der dualen Berufsbildung in Zielländer nach den Bedürfnissen bestimmter Branchen der Schweizer Wirtschaft vor, wie dies gegenwärtig am Beispiel der Schweizer Maschinenindustrie in Indien erprobt wird.

Globale Einflussnahme: Die international hoch angesehene und konkurrenzfähige Schweizer Forschung und Innovation kann einen wesentlichen Beitrag zur Lösung der anstehenden globalen Probleme (z.B. Umweltprobleme, Klimawandel, Gesundheit, Ernährungs- und Energiesicherheit) beitragen. Damit kommt diesen Kompetenzen eine Schlüsselrolle bei der Erreichung der aussenpolitischen Ziel der Schweiz zu.

4.10

Neutralität

Die dauernde Neutralität der Schweiz ist ein Grundsatz der schweizerischen Aussenpolitik. Sie hat die Schweiz seit Jahrhunderten vor Krieg und Zerstörung bewahrt und ist auch heute ein wichtiges Instrument zur Sicherung der Unabhängigkeit des Landes und der Unverletzlichkeit ihres Staatsgebietes.

Im Grunde genommen ist die Selbstverpflichtung der Schweiz zur Neutralität eine Friedensbotschaft. Die Schweiz hat damit seit Jahrhunderten der internationalen Gemeinschaft ohne Vorbedingungen zugesichert, niemanden militärisch zu bedrohen und sich nur im Fall eines Angriffs militärisch zu Wehr zu setzen. Diese Kernaussage der Neutralität hat nichts von ihrer Bedeutung verloren. Im Gegenteil, heute besteht ein umfassendes Gewaltverbot in den internationalen zwischenstaatlichen Beziehungen. Ausnahmen dieses Gewaltverbot sind nur das Selbstverteidigungsrecht gemäss Artikel 51 UNO-Charta sowie kollektive Sanktionsmassnahmen auf der Grundlage eines Mandates der Vereinten Nationen.

Die Neutralitätspolitik der Schweiz bestimmt sich zum einen in Funktion der völkerrechtlichen Pflichten eines dauernd neutralen Staates: Das Neutralitätsrecht verbietet der Schweiz, Krieg gegen andere zu führen oder andere Staaten bei einem zwischenstaatlichen Konflikt aktiv oder passiv zu unterstützen. Kein Krieg im Sinne des Neutralitätsrechts sind kollektive Zwangsmassnahmen der Vereinten Nationen, da die UNO nie Konfliktpartei ist, sondern im Namen der gesamten Staatengemeinschaft für Recht, Frieden und Ordnung sorgt. Zum anderen bestimmt sich die Neutralitätspolitik der Schweiz in Funktion der aktuellen geopolitischen Lage. Die wesentliche Weichenstellung für die aktuelle Neutralitätspolitik erfolgte Anfang der 90er Jahre nach Ende des Kalten Krieges, vom Bundesrat im Bericht zur Neutralität 1216

vom 29. November 199361 festgehalten. Er zog darin die Schlussfolgerung, dass die frei gewählte Verpflichtung zur Neutralität das Land nicht daran hindern darf, die für seine Verteidigung nötigen Vorkehrungen zur Abwehr von Bedrohungen zu treffen, gegen die man sich nur mit internationaler Zusammenarbeit schützen kann.

Die Neuausrichtung der Neutralitätspolitik schlug sich im Sicherheitspolitischen Bericht von 199962 sowie in der Botschaft zum UNO-Beitritt von 200063 nieder und wurde im Bericht des Bundesrats über die Neutralität von 200764 präzisiert.

Neutralität bedeutet demnach nicht aussenpolitische Passivität. Die Schweiz ist Teil einer Welt, die immer näher zusammenrückt und in der scheinbar weit Entferntes auch einen selbst unmittelbar betreffen kann. Weil die Schweiz nur dann in Sicherheit und Frieden leben kann, wenn es um sie herum friedlich ist, erfordert dies ausgreifendes und vorbeugendes Handeln, in Einklang mit der internationalen Gemeinschaft. Als Nichtmitglied einer Militärallianz muss die Schweiz noch mehr als andere mit einer engagierten Aussen- und Sicherheitspolitik dafür sorgen, dass das Land von Krisen und gewaltsamen Konflikten verschont bleibt. Deshalb hat der Bundesrat in den letzten Jahren die Friedenspolitik wesentlich ausgebaut. Sowohl der zivilen Friedensförderung als auch der internationalen Gerichtsbarkeit kommen eine immer wichtigere Rolle zu. Im Bereich der Sicherheitspolitik hielt der Bundesrat schon 1999 fest, dass der Lösungsansatz in einer partizipativen Politik liegt, die es der Schweiz erlaubt, aktiv und solidarisch am Aufbau tragfähiger Sicherheitsstrukturen mitzuwirken.65 Das wichtigste internationale Forum, in dem die Schweiz sich für Frieden und Sicherheit einsetzt, ist die UNO. Die Ziele der schweizerischen Aussenpolitik sind mit den Grundsätzen der Vereinten Nationen deckungsgleich, der UNO-Sicherheitsrat wird als wichtiger Pfeiler der internationalen Sicherheitsarchitektur anerkannt. Die Frage eines Einsitzes der Schweiz in den UNO-Sicherheitsrat wird gegenwärtig denn auch diskutiert.

Der Sicherheitsrat setzt sich für die friedliche Beilegung von Streitigkeiten ein und beschliesst Massnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen. Wenn der Sicherheitsrat ­ als «ultima ratio» ­ militärische Zwangsmassnahmen beschliesst,
handelt er im Interesse des Friedens und der internationalen Sicherheit. Als Sicherheitsratsmitglied würde die Schweiz damit nicht zur Konfliktpartei im Neutralitätssinne. Sie würde sich vielmehr gemeinsam mit den anderen 14 Sicherheitsratsmitgliedern im Auftrag der gesamten Staatengemeinschaft für die Einhaltung des Völkerrechts und für den Frieden einsetzen. Als Mitglied könnte sie ausserdem darauf Einfluss nehmen, dass das Entscheidverfahren des Sicherheitsrats transparenter würde. Die Schweiz hat als Staat ohne politische oder militärische Machtstellung besonderes Interesse daran, dass das System der kollektiven Sicherheit funktioniert und dass das Völkerrecht an sich gestärkt und weiterentwickelt wird.

Zur Stärkung der internationalen Sicherheitsarchitektur engagiert sich die Schweiz ausserdem in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), in der Partnerschaft für den Frieden (PfP), im Euro-Atlantischen Partner61 62 63 64 65

BBl 1994 153 ff.

BBl 1999 7657 ff.

BBl 2001 1183 ff.

BBl 2007 5557 ff.

BBl 1999 7701

1217

schaftsrat und beteiligt sich an zivilen und militärischen Friedensförderungsmissionen der Europäischen Union. All diese Formen der Zusammenarbeit berühren das Neutralitätsrecht nicht, erlauben der Schweiz aber, sich aktiv einzubringen und die internationale Verantwortung für Frieden und Sicherheit solidarisch mitzutragen.

Dabei beachtet der Bundesrat immer auch die neutralitätspolitische Komponente. So ist die Zusammenarbeit im Rahmen von PfP bewusst so ausgestaltet, dass sie mit der Neutralität vereinbar ist und eine aktive Beteiligung von Nicht-NATO-Staaten erlaubt, ohne dass völkerrechtliche Verpflichtungen entstehen: Falls PfP-Übungen in einem Kontext stattfinden, der für die neutralitätspolitische Glaubwürdigkeit problematisch ist, behält die Schweiz es sich vor, nicht daran teilzunehmen.

Als neutraler Staat, der sich international engagiert und Einfluss nimmt, kann die Schweiz wichtige Beiträge zur Förderung globaler Stabilität und damit zur eigenen Sicherheit leisten. Die Tatsache, dass Georgien und Russland die Schweiz gebeten haben, ihre Interessen im jeweils anderen Land zu vertreten, aber auch die Rolle der Schweiz im Annäherungsprozess zwischen Armenien und der Türkei zeigen, dass die Neutralität auch im heutigen Umfeld in der internationalen Gemeinschaft hohen Stellenwert geniesst.

5

Service Public

5.1

Konsularische Aufgaben66

Die Schweizer Vertretungen im Ausland (Botschaften und Konsulate) sind die Ansprechpartner der Schweizer Staatsangehörigen, die im betreffenden Land ihren Wohnsitz haben oder sich vorübergehend dort aufhalten. Damit erfüllen sie ähnliche Aufgaben wie die Gemeindeverwaltungen in der Schweiz. Darüber hinaus gewährleisten sie die Verbindung der Auslandschweizerinnen und -schweizer zu ihrem Heimatland und fördern ihre Beziehungen untereinander sowie zur Schweiz. All diese Aufgaben nehmen sie in einem Umfeld der ständig wachsenden und komplexer werdenden konsularischen Dienstleistungen wahr. Zu den konsularischen Aufgaben der Vertretungen gehören die Immatrikulation von Schweizer Staatsangehörigen, die sich im Ausland niederlassen, die Übermittlung von Informationen, das Ausstellen von Identitätsausweisen, die Bearbeitung von Zivilstandsangelegenheiten, von Gesuchen um erleichterte Einbürgerung, um Sozialhilfe sowie verschiedene weitere Dienstleistungen wie Registrierung hinterlegter Dokumente, Ausfertigung von Bescheinigungen und Beglaubigung von Unterschriften. Zudem stellen die Vertretungen Visa für ausländische Staatsangehörige aus, die in die Schweiz oder in den Schengenraum reisen wollen.

In allen Leistungsbereichen sind die Auslandvertretungen gehalten, einen qualitativ guten Service public zu gewährleisten. Die Ansprüche und Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger steigen, und die Vertretungen müssen sie rasch und professionell erfüllen können. Die modernen Kommunikationsmittel, die neuen Technologien und die zunehmende Informatisierung der Arbeit erhöhen nicht nur die Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger, sie erfordern auch eine ständige Anpassung und Modernisierung der Arbeitsweise der Vertretungen. Die Einführung von standardisierten 66

Konsularische Aufgaben: Dienstleistungen für Schweizer Bürgerinnen und Bürger sowie für Ausländerinnen und Ausländer, auf welche in der Regel ein Rechtsanspruch besteht (z.B. Ausweise, Visa, Einbürgerungen, Zivilstandsangelegenheiten).

1218

Arbeitsabläufen für die Geschäftsabwicklung wirkt sich nicht nur auf die Planung der Arbeit, sondern auch auf deren Ausführung und Kontrolle aus. Das EDA untersucht zusammen mit seinen Partnern, wie es diesen neuen Anforderungen ­ sowohl in technischer wie in organisatorischer Hinsicht ­ langfristig am besten gerecht werden kann.

Ausweise: Der Schweizer Pass entwickelt sich ständig weiter. Für die Einführung des biometrischen Passes auf den 1. März 2010 waren umfangreiche Anpassungen erforderlich: In über 130 Vertretungen mussten rund 140 Spezialkabinen für die Erfassung der biometrischen Daten für den neuen elektronischen Pass eingerichtet werden. Der neue Pass war sofort ein grosser Erfolg. Bis Mitte Mai 2010 wurden in der Schweiz und bei den Schweizer Auslandvertretungen bereits über 100 000 Pässe beantragt.

Zivilstandswesen: Die von den Vertretungen bearbeiteten Zivilstandsdossiers haben nicht nur zahlenmässig zugenommen (35 % mehr Dossiers als 2001), sondern sind auch komplizierter geworden. Das Problem der Scheinehen verschärft sich, so dass die Schweizer Behörden im Rahmen der Ehevorbereitung und des Familiennachzugs je nach Fall Befragungen der Ehepartner durchführen müssen, was für die Vertretungen einen grossen Aufwand bedeutet. Ausserdem müssen die für die Eintragung von Zivilstandsereignissen in der Schweiz benötigten Dokumente oft überprüft werden, in gelegentlich recht langwierigen Verfahren.

Information der Auslandschweizerinnen und -schweizer: Die ständig wachsende Schweizer Kolonie im Ausland erwartet, regelmässig informiert zu werden. Seit März 2009 steht den Auslandschweizern und Auslandschweizerinnen die Internetseite www.swissabroad.ch zur Verfügung. Dort können sie sich für den Bezug der «Schweizer Revue» anmelden, die viermal jährlich erscheint und rund 400 000 Haushalte erreicht. Es besteht die Möglichkeit, die Zeitschrift als Online-Version oder in Papierform zu abonnieren. Die neuen Bedürfnisse und das geänderte Leseverhalten bringen es mit sich, dass 120 000 Exemplare online versandt werden. Dies bringt eine Einsparung von 30 % bei der Druckversion.

Erleichterte Einbürgerung: Die Zahl der bearbeiteten Fälle ist zwar relativ konstant, doch sind sie komplizierter geworden, und die häufigen Änderungen der Schweizer Bürgerrechtsgesetze wie auch deren Anforderungen führen
dazu, dass die Schweizer Vertretungen im Ausland ziemlich viel Zeit für diese Fälle aufwenden müssen.

Sozialhilfe: Im Bereich Sozialhilfe besteht eine institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen dem EDA und anderen involvierten Bundesstellen wie dem Sozialhilfedienst für Auslandschweizer. In Schwerpunktländern werden künftig Mitarbeitende dieser Bundesstellen gemeinsam mit Revisoren des EDA die lokale Situation der hilfsbedürftigen Auslandschweizer prüfen und die Berechtigung von Sozialhilfeempfängern auf Unterstützung vor Ort klären. Damit soll der Missbrauch von Unterstützungsgeldern eingedämmt werden.

Visa: Im Visageschäft setzt die Schweiz das Schengen-Abkommen seit Dezember 2008 operationell um. Weil Europareisende kein spezielles Visum für die Schweiz mehr brauchen und weil bei Inkrafttreten des Abkommens zahlreiche Gesuchstellende im Besitz eines gültigen Schengenvisums waren und daher kein Visum für die Schweiz mehr beantragen mussten, war im ersten Jahr mit einem starken Rückgang der Visagesuche gerechnet worden. Der erwartete Rückgang der Visagesuche von rund 20 % fiel im Jahr 2009 mit 34,1 % einiges höher aus. Der Grund dafür war die einsetzende Wirtschaftskrise und das Ausbleiben von Touristen und Geschäftsleu1219

ten. Die vorläufigen Zahlen für die Monate Januar bis Mai 2010 zeigen eine erneute Zunahme der Anträge um 10 %.

Statistik Bundesamt für Migration BFM Jahr

Anzahl erteilte Visa

Anzahl abgelehnte Gesuche

Anzahl behandelte Gesuche

2007

629 315

26 970

656 285

2008

621 940

26 958

648 898

­1,1 % ­34,1 %

2009

394 368

33 534

427 902

2010 (Jan­Mai)

149 153

27 480

176 633

Veränderung in %

Trotz der erhöhten Komplexität des Verfahrens und der normativen Entwicklungsdynamik des Schengen-Abkommens kann festgestellt werden, dass die Schweiz die Schengen-Bestimmungen erfolgreich eingeführt hat. In diesem Zusammenhang stehen verschiedene weitere Änderungen und Neuerungen. Das Schengen-Abkommen gibt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, sich in Ländern ohne eigene Vertretung durch andere Schengen-Staaten vertreten zu lassen. Dadurch sind Synergiegewinne und eine effizientere Bearbeitung von Visagesuchen möglich. Die Schweiz hat am 29. Januar 2010 ein erstes Abkommen zur Ländervertretung mit Österreich abgeschlossen. Es sieht vor, dass die Schweiz Österreich in Santo Domingo (Dominikanische Republik) und in Pristina (Kosovo) vertritt. Ein zweites Abkommen mit Ungarn ist seit dem 1. Februar 2010 in Kraft und sieht schweizerischerseits die Vertretung in Sydney (Australien), Kuala Lumpur (Malaysia), Sao Paulo (Brasilien), Bogota (Kolumbien), und Santiago de Chile sowie, seitens Ungarns, in Minsk (Belarus) und Chisinau (Moldawien) vor. Weitere Ländervertretungen mit SchengenMitgliedstaaten sind derzeit in Erarbeitung.

Trotz des Beitritts zum Schengen-Raum bleiben für die Schweiz die illegale Einreise und der Migrationsdruck eine Herausforderung. In Zusammenarbeit mit dem EJPD war das EDA an der Ausarbeitung der gesetzlichen Grundlagen zur Entsendung von Spezialistinnen und Spezialisten zwecks Dokumentenprüfung ins Ausland beteiligt.

Der erste Einsatz ist für Herbst 2010 in Kairo geplant. Regelmässige Einsätze an verschiedenen Orten sind ab 2011 vorgesehen. Speziell ausgebildetes Personal soll in Zukunft in risikoreiche Länder detachiert werden können, um schweizerische Vertretungen und Personal von Fluggesellschaften bei der Erkennung von gefälschten Reisedokumenten zu unterstützen.

Konsularische Zusammenarbeit mit den Partnerländern: Neben der Vertretung durch ein anderes Land im Rahmen des Schengen-Abkommens gibt es verschiedene Möglichkeiten zur verstärkten Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern der Schweiz bei den konsularischen Dienstleistungen: gemeinsame Infrastruktur (z.B.

für die Erfassung der biometrischen Daten), Gewährleistung des konsularischen Schutzes durch einen Drittstaat oder Entsendung von Personal in die Vertretung eines Drittstaats in Ländern, wo es keine Schweizer
Vertretung (mehr) gibt. Eine solche Zusammenarbeit muss auf Gegenseitigkeit beruhen. Diese Formen der Zusammenarbeit werden innerhalb der EU bereits praktiziert, zumindest in Rahmen von Pilotprojekten.

1220

5.2

Konsularischer Schutz

Der konsularische Schutz ­ das heisst die Hilfeleistung an Schweizerinnen und Schweizer bei Notlagen im Ausland ­ ist eine Kernaufgabe des EDA. Entsprechende Statistiken zeigen auf, dass Schweizerinnen und Schweizer pro Jahr im Durchschnitt 2,3 Mal ins Ausland reisen. Mehr als die Hälfte der Reiseziele (zirka 8 Mio.) liegen in Deutschland, Frankreich und Italien. Im Sinne der Prävention ist das EDA daran interessiert, die Eigenverantwortung der ins Ausland reisenden Mitbürgerinnen und Mitbürger zu stärken. Dies geschieht in erster Linie durch die auf der Internetsite des EDA publizierten, regelmässig angepassten und mit aktuellen Schwerpunktthemen versehenen Reisehinweise (siehe Ziff. 5.3).

Um die Schweizerbürgerinnen und -bürger, die auf einer Reise in eines der Nachbarländer verunfallen, kümmern sich diverse private Hilfe-, Reiseassistenz- und Versicherungsorganisationen. Die erwähnten Einrichtungen unterstützen auch Schweizerinnen und Schweizer, die im weiteren europäischen Ausland oder in Übersee zu Schaden kommen. Auch Fälle von Geldverlust, mit denen sich in früheren Zeiten die schweizerischen Auslandvertretungen zu befassen hatten, können heute oft über private Organisationen geregelt werden.

Trotz der steigenden Bedeutung privater Organisationen bei der Hilfe für Schweizerinnen und Schweizer im Ausland bewegt sich die Zahl der durch die Schweizer Auslandvertretungen betreuten Fälle konstant bei rund 2000 Interventionen pro Jahr.

Es handelt sich dabei in erster Linie um Fälle von Krankheit und Unfall, Gewalttaten, Inhaftierungen und um Kindsentführungen.

Einfachere konsularische Schutzfälle werden in der Regel von den Vertretungen selbständig erledigt, während kompliziertere Schutzfälle die Zusammenarbeit mit der EDA-Zentrale in Bern (Sektion Konsularischer Schutz, SKS) erfordern. Obwohl die Anzahl konsularischer Schutzfälle über Jahre hinweg relativ stabil geblieben ist (2009: 1833 Fälle, davon 900 durch die SKS; 2008: 1750 Fälle, davon 833 durch die SKS; 2007: 1925 Fälle, davon 852 durch die SKS), ist der Aufwand für die Betreuung dieser sensiblen Angelegenheiten stetig gestiegen. Der Grund dafür ist, dass der Konsularische Schutz heutzutage mit mehr und komplexeren Haft- und Unglücksfällen konfrontiert ist, die zudem eine hohe mediale Aufmerksamkeit mit sich bringen.

Die hohe
Erwartungshaltung der von einem Ereignis im Ausland Betroffenen, mangelnde Vorbereitungs- und Vorsichtsmassnahmen bei Fernreisen, zu geringe Beachtung der Notwendigkeit eines genügenden Versicherungsschutzes sowie die rasche Verbreitung von Meldungen über Unglücksfälle in den Medien tragen zu dieser Entwicklung bei.

Eine ständige Herausforderung des konsularischen Schutzes ist die Sicherstellung von raschen, effizienten Hilfeleistungen in Not- bzw. Krisensituationen und ausserhalb der ordentlichen Geschäftszeiten. Diesem Umstand sollte künftig vermehrt Rechnung getragen werden. Deshalb prüft das EDA die Schaffung eines 24-Stunden-Bürgerservice. Um einerseits Klarheit hinsichtlich der Leistungen der Vertretungen zu schaffen und andererseits auch bisweilen ungerechtfertigten Ansprüchen zu begegnen, werden im Moment die Vor- und Nachteile der Schaffung eines eigenen Konsulargesetzes geprüft. Ein solches Gesetz könnte insbesondere die verschiedenen Typen konsularischer Dienstleistungen der Auslandvertretungen sowie deren Modalitäten regeln und würde grundsätzlich zu mehr Rechtssicherheit in diesem Bereich führen. Auch die Wünschbarkeit und die Voraussetzungen einer

1221

möglichen Kostenübernahme oder -beteiligung durch die Betroffenen könnten in diesem Rahmen rechtlich festgelegt werden.

5.3

Krisenprävention und Krisenmanagement

Globale Trends und Herausforderungen Die Globalisierung hat den Handel erleichtert und zu einer beträchtlichen Zunahme des Personenverkehrs geführt. Infolge der stark gesunkenen Transportkosten namentlich im Flugverkehr und der Möglichkeit, Reisen individuell über das Internet zu organisieren, haben die Auslandreisen massiv zugenommen. Ihre Zahl liegt heute bei rund 16 Millionen jährlich. Hinzu kommen etwa 700 000 Schweizerinnen und Schweizer mit Wohnsitz im Ausland, die bei den Botschaften und Konsulaten registriert sind und deren Zahl ebenfalls jedes Jahr zunimmt.

Naturkatastrophen, Konflikte, Unfälle und Gewalt treffen im Ausland auch Schweizer Staatsangehörige. Entführungen und Geiselnahmen sind häufiger geworden.

Daher kommt es heute wesentlich öfter vor als früher, dass Schweizerinnen und Schweizer im Ausland in Krisen und Notsituationen geraten. Dies hat zur Folge, dass solche Ereignisse heute öfter im Fokus der Medien stehen und die konsularischen Aufgaben dadurch komplexer geworden sind. Hinzu kommt, dass die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an den Staat und seine Leistungen im Steigen begriffen sind.

Diese Entwicklungen betreffen nicht nur die Schweiz. Beim Krisenmanagement stehen die Aussenministerien der europäischen Länder vor den gleichen Herausforderungen: Die Zahl der im Ausland lebenden oder ins Ausland reisenden Bürgerinnen und Bürger nimmt stark zu, und diese haben immer höhere Erwartungen und Ansprüche an die Aussenministerien ihrer Länder. Tragödien wie der Tsunami 2004 und die Evakuierungen aus Libanon 2006, aber auch die seit einigen Jahren erneut zunehmenden Entführungsfälle, haben das Bewusstsein für die Komplexität solcher Krisen geweckt. Die europäischen Aussenministerien mussten ihre Strukturen, ihre Abläufe und die Ausbildung ihres Personals im Bereich des Krisenmanagements überdenken, anpassen und modernisieren. Die Nachbarländer, vor allem Frankreich, Deutschland und Italien, haben grosse Anstrengungen unternommen, um ihre Instrumente des Krisenmanagements zu modernisieren. Verschiedene europäische Länder haben in den letzten fünf Jahren spezielle «Krisenmanagement-Zentren» für die Unterstützung ihrer Staatsangehörigen im Ausland eingerichtet.

Präventionsarbeit und Entwicklungsperspektiven Der konsularische Schutz ist zu einer zentralen Aufgabe des EDA
geworden. Alle Schweizerinnen und Schweizer erwarten, dass sie im Ausland auf die Unterstützung durch eine Schweizer Vertretung zählen können, wenn sie nicht in der Lage sind, sich selbst zu helfen. Der Staat ist in der Tatzur Hilfeleistung verpflichtet, wenn die betreffende Person alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel ausgeschöpft hat.

Um bei grossen Krisen (Naturkatastrophen, Anschlägen, Entführungen, bewaffneten Konflikten usw.) adäquat reagieren zu können, hat das EDA in den letzten Jahren sein Krisenmanagement modernisiert und professionalisiert. Es hat eine Krisenzelle geschaffen, die bei Bedarf aktiviert werden kann, und einen Pool von Mitarbeitenden gebildet, die bei Bedarf die Vertretungen im Ausland vorübergehend verstärken 1222

können. Weil immer öfter mehrere Krisen oder Notsituationen gleichzeitig bewältigt werden müssen, prüft das EDA die Schaffung eines Krisenmanagement-Zentrums nach dem Vorbild anderer europäischer Länder.

Bei einer Krise sind in den allermeisten Fällen Angehörige verschiedener Staaten betroffen. Die Schweiz steht also oft nicht alleine vor der Herausforderung, eine Krise zu meistern. In der Regel werden die Aktivitäten mit den anderen betroffenen Staaten koordiniert. Dies war etwa der Fall mit Frankreich bei der Evakuierung ausländischer Staatsangehöriger aus dem Tschad (2008), mit Deutschland und Grossbritannien bei den Entführungen in Mali (2009), mit Italien bei der Entführung der IKRK-Delegierten auf der philippinischen Insel Jolo (2009) und kürzlich mit den EU-Staaten anlässlich der Erdbeben in Haiti (2010) und Chile (2010). Bei der Bewältigung von Krisen, welche die Sicherheit von Schweizer Staatsangehörigen im Ausland gefährden, ist die Zusammenarbeit mit den übrigen betroffenen Ländern unerlässlich. Die Schweiz sollte daher prüfen, inwiefern die Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten und der EU im Bereich der Prävention, der Vorbereitung auf und der Bewältigung von konsularischen Krisen verstärkt werden muss, damit eine gemeinsame europäische Kultur des Krisenmanagements geschaffen werden kann.

Im Sinne der Prävention veröffentlicht das EDA auf seiner Internetseite Reisehinweise. Diese informieren über die Sicherheitslage in 155 Ländern und enthalten auch Empfehlungen für Sicherheitsmassnahmen. Die Reisehinweise werden in den drei Amtssprachen publiziert und regelmässig, bei sicherheitsrelevanten Ereignissen innert Stunden, aktualisiert. Diese Internetseite mit den Reisehinweisen wird jedes Jahr fast 1,5 Millionen Mal aufgerufen.

5.4

Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer

Die Zahl der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer hat im Jahr 2009 erneut zugenommen, und zwar um 8798 Personen auf 684 974. Dies bedeutet gegenüber der letzten Berichtsperiode eine Zunahme von +1,3 %. 60 % der Schweizerinnen und Schweizer im Ausland leben in Ländern der Europäischen Union. Die grössten Auslandschweizergemeinschaften befinden sich in Frankreich (179 106), Deutschland (76 565) und Italien (48 638). Vor zehn Jahren lebten noch 580 396 Schweizerinnen und Schweizer im Ausland. Seither ist vor allem die Zahl der Doppelbürgerinnen und Doppelbürger gewachsen: von 405 921 im Jahr 2000 auf heute 493 468 Personen (+21,5 %). Im Jahr 2009 haben sich 130 017 Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer ­ dies sind knapp 25 % der 528 705 Stimmberechtigten im Ausland ­ im Stimmregister einer Schweizer Gemeinde eingetragen, um ihr Stimm- und Wahlrecht auszuüben. Ende 2008 waren es noch 124 399 Personen.

1223

Auslandschweizer 2009 Total: 684'974 39'726 6%

Europa

29'505 4%

Afrika Amerika

172'770 25%

Asien Ozeanien

423'343 62% 19'630 3%

Entsprechend deren Bedeutung unterstützt und fördert der Bundesrat via das EDA und dessen Vertretungsnetz die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Interessen der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer. Um die politischen Rechte der Schweizerinnen und Schweizer im Ausland zu stärken, arbeitet der Auslandschweizerdienst mit der Bundeskanzlei und den Kantonen an einer möglichst raschen Einführung der elektronischen Stimmabgabe. Die Schweizer Vertretungen im Ausland leisten im Auftrag des Sozialhilfedienstes für Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer finanzielle Unterstützung an Mitbürgerinnen und Mitbürger im Ausland, namentlich Rückkehrhilfe oder Nothilfe bei Katastrophen (z.B. anlässlich des Erdbebens in Haiti vom Januar 2010). Finanzielle Unterstützung des Bundes erhalten auch Auslandschweizer Institutionen, aufgrund einer seit anfangs 2010 gültigen revidierten Rechtsgrundlage67. Basierend auf dieser Verordnung unterstützt der Bund die Auslandschweizer-Organisation (ASO) und ihr Informationsorgan «Schweizer Revue» sowie den Schweizer Verein Fürstentum Liechtenstein. Die Auslandvertretungen nehmen auch die kulturellen Interessen der Auslandschweizergemeinschaft wahr, indem sie den Kontakt zu den Schweizerkolonien pflegen und die Vernetzung der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer untereinander fördern. Dies geschieht beispielsweise durch die Unterstützung von Veranstaltungen wie Nationalfeiern und durch die Publikation eines periodischen elektronischen Newsletters.

Der Bund unterstützt aufgrund des Bundesgesetzes vom 9. Oktober 1987 (SR 418.0) über die Förderung der Ausbildung junger Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer (AAG) auch siebzehn Schweizerschulen im Ausland. Diese Schulen sind wichtige Stützpunkte der schweizerischen Präsenz im Ausland. In ihrer Motion 09.3974 vom 16. Oktober 2009 verlangte die Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Nationalrats eine Revision des AAG mit dem Ziel, die schweizerische Bildungspräsenz im Ausland und damit das Image der Schweiz zu stärken.

67

Verordnung vom 26. Feb. 2003 über die finanzielle Unterstützung von Auslandschweizer Institutionen, SR 195.11.

1224

Der Bundesrat hat diese Motion angenommen und für die entsprechenden Revisionsarbeiten eine interdepartementale Arbeitsgruppe eingesetzt.

Im Parlament werden die Anliegen von Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern von der Parlamentarischen Gruppe «Auslandschweizer» unterstützt. In der Berichtsperiode hatten verschiedene parlamentarische Vorstösse eine Verbesserung der politischen Rechte der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer zum Gegenstand: ­

Die Parlamentarische Initiative Sommaruga (07.460, 22. Juni 2007) verlangte eine direkte Vertretung der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer in den eidgenössischen Räten. Sie wurde am 2. März 2009 vom Ständerat abgelehnt.

­

Der Nationalrat hat im März 2009 oppositionslos das Postulat Mario Fehr vom 14. Juni 2007 (Postulat 07.3331) überwiesen, welches den Bundesrat einlud, sich bei den Kantonen dafür zu verwenden, dass die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer bei den Ständeratswahlen in allen Kantonen wahlberechtigt sind. Der Bundesrat hatte in seiner Antwort festgehalten, dass er dieses Anliegen unter dem Gesichtspunkt der Rechtsgleichheit befürworten würde. Unter Berücksichtigung der kantonalen Kompetenz in Sachen Gesetzgebung ist der Bund in diesem Sinne aktiv.

­

Auch die Motion Segmüller vom 24.September 2009 (09.3852) für eine stärkere staatsbürgerliche Einbindung von Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern durch bessere politische Information hatte die Förderung der Teilnahme von Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern am politischen Leben in der Schweiz zum Gegenstand.

­

Der Bericht des Bundesrates in Beantwortung des Postulats Lombardi «Die Fünfte Schweiz als Verbindung zur Welt» vom 15. Dezember 2004 (04.3571) wurde vom Bundesrat am 18. Juni 2010 gutgeheissen. Der Bundesrat anerkennt im Bericht den Nutzen, den die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer der Schweiz durch ihre Auslanderfahrung bringen.

Allerdings zeigten die bisherigen Arbeiten, dass solides Datenmaterial erst erarbeitet werden müsste, um die Bedeutung der Auslandschweizer für die Schweiz wissenschaftlich zu quantifizieren.

Eine grosse Herausforderung im Berichtsjahr und für die Zukunft ist die Restrukturierung des Vertretungsnetzes. Das EDA bemüht sich, mittels eines Ausbaus und einer Verstärkung des Honorarkonsulnetzes, einer Verbesserung der elektronischen Dienstleistungen (E-Government) sowie der Prüfung des Aufbaus mobiler Vertretungsposten die teils unumgänglichen Schliessungen ordentlicher Vertretungen optimal zu kompensieren und den Umfang der Dienstleistungen für Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer aufrecht zu erhalten. Vor diesem Hintergrund steht auch die zurzeit diskutierte Schaffung einer einheitlichen Gesetzesgrundlage, die alle diesbezüglichen Belange umfassen und damit eine kohärente Auslandschweizerpolitik ermöglichen würde. Ausserdem wird im Zuge der Reorganisation des EDA die Schaffung einer Direktion für konsularische Angelegenheiten geprüft, innerhalb welcher der Auslandschweizerdienst eine Stärkung seiner Funktion als «Guichet unique» für die Auslandschweizerbelange erfahren könnte.

1225

6

Aussenpolitik und Öffentlichkeit

In der globalen Informationsgesellschaft spielt die Kommunikation im Ausland eine immer stärkere Rolle für die Interessenwahrung eines Landes. Diese Kommunikation lässt sich in drei Ebenen mit unterschiedlichem Zeithorizont unterteilen: Erstens die tägliche Information zur aussenpolitischen Aktualität, zweitens die strategische Landeskommunikation mit Fokussierung auf ausgewählte Themen und Länder und schliesslich die langfristig ausgerichtete Beziehungspflege zu ausländischen Schlüsselfiguren, die auf Gegenseitigkeit und Glaubwürdigkeit basiert.

6.1

Medienarbeit

Das öffentliche Interesse für die Schweiz, ihre Stellung in der Welt und ihre Aussenpolitik war in letzter Zeit anhaltend überdurchschnittlich gross. Die Schweiz machte auf internationaler Ebene Schlagzeilen in einem Mass, wie es seit der Auseinandersetzung um die nachrichtenlosen Vermögen in der zweiten Hälfte der 1990erJahre nicht mehr zu beobachten war. Im Zentrum dieser Medienaufmerksamkeit standen klar der internationale Druck auf den Finanz- und Steuerstandort Schweiz, die Abstimmung über ein Minarett-Verbot sowie die bilateralen Probleme zwischen der Schweiz und Libyen.

In der globalisierten Welt von heute spielen sich aussenpolitische Interessenwahrung und Einflussnahme zu einem grossen Teil in der Öffentlichkeit ab. Parallel zu ihren Aktivitäten auf bi- oder multilateraler Ebene versuchen sämtliche Akteure, die öffentliche Meinung mit gezielter Information und Kommunikation zu ihren Gunsten zu mobilisieren. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an die Medienarbeit.

Die zuständigen Informationsdienste der Bundesverwaltung und insbesondere des EDA waren in der Berichtsperiode stark gefordert. Sie mussten eine aussenpolitische Aktualität verfolgen und dokumentieren, die sich rasant entwickelte und ­ je nach Dossier ­ wachsenden Druck auf die Schweiz schuf. In diesem zuvor kaum gekannten Klima teilweise massiver internationaler Kritik an der Schweiz hatten sie sich den nationalen und ausländischen Medien zu stellen, die in hoher Kadenz verbindliche Antworten einforderten. Unter dem Druck der Ereignisse war es die Herausforderung, dass die Medienarbeit nicht nur nach reaktiven Mustern erfolgte, sondern auch proaktiv die Faktenlage klärte, um die Haltung und Sicht des Bundes in der öffentlichen Debatte zeitgerecht und gezielt einzubringen. Ob Steuerstreit oder Minarett-Verbot ­ oft galt es, Vorwürfe zu entkräften, Missverständnisse zu klären und die eigenen Positionen zu erläutern. In der medialen Wahrnehmung konnte deshalb der Eindruck entstehen, die Schweiz und ihre für die Aussenpolitik zuständigen Stellen kommunizierten gegenüber der Öffentlichkeit zu defensiv und hätten keine klare Vorstellung von den eigenen Interessen.

Dieser Eindruck trügt. Proaktive Medienarbeit setzt eine klare Faktenlage und gesicherte Positionen voraus. Aussenpolitische Erfolge wie die Unterzeichnung der Protokolle
zwischen Armenien und der Türkei unter Vermittlung der Schweiz werden aktiv und transparent kommuniziert ­ aber eben erst nach Abschluss der diplomatischen Arbeit. Der feierliche Unterzeichnungsakt der beiden Parteien in Zürich im Beisein der Aussenminister der USA, Russlands und Frankreichs sowie des EUAussenbeauftragten wurden von den nationalen und internationalen Medien breit abgedeckt. Der Staatsvertrag Schweiz­USA zum UBS-Amtshilfeverfahren konnte 1226

namentlich dank guter diplomatischer Beziehungen zu Washington abgeschlossen werden und wurde entsprechend auch als Erfolg der schweizerischen Aussenpolitik kommuniziert. Nicht zu unterschätzen sind generell die logistischen Bemühungen: Grossereignisse wie die Unterzeichnung der Protokolle zwischen Armenien und der Türkei in Zürich oder auch die von der Schweiz beherbergten Geneva Talks 2 betreffend Iran brachten eine weltweite Medienaufmerksamkeit mit sich. Die professionelle Unterstützung der in grosser Zahl aufmarschierten Weltmedien war ein wichtiger Bestandteil der erfolgreichen Medienarbeit.

Eine besondere Rolle spielte die proaktive Kommunikation bei der Abstimmung über das Minarett-Verbot: Durch koordinierte Informationsbemühungen vor und nach der Abstimmung konnten aussenpolitische Konsequenzen vermieden werden.

Sowohl in der Medienarbeit wie auch bei der institutionellen Kommunikation auf allen politischen Ebenen gegenüber Regierungen, Behörden, Meinungsführern, religiösen Gruppen und Organisationen gelang es, das politische System der Schweiz, die direkte Demokratie, die Vorlage und das Abstimmungsergebnis zu erklären und dadurch grobe Missverständnisse und entsprechende Folgeprobleme zu verhindern.

Die sensible Natur von diplomatischen Prozessen (beispielsweise Verhandlungssituationen) bedingt eine gewisse Zurückhaltung in der öffentlichen Kommunikation.

Die grosse Herausforderung der Medienarbeit bestand in den genannten Dossiers darin, in einem Umfeld massiver medialer Erwartungen, intensiver Recherchen und immer wieder auftretender Indiskretionen gleichwohl im Dienste der eigenen politischen Interessen zu kommunizieren: Die Kommunikationslogik hat sich trotz Mediendruck immer klar der politischen Strategie unterzuordnen. Das setzte die Informationsdienste immer wieder vor die Aufgabe, als Pförtner der Diplomatie laufenden Verhandlungen den nötigen Freiraum unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu bewahren.

Besonders deutlich zeigte sich dieser Zielkonflikt zwischen Informationsbedürfnis der Medien und politischer Strategie bei den bilateralen Problemen zwischen der Schweiz und Libyen, bei den Folgen des UBS-Engagements in den USA sowie bei den bi- und multilateralen Bemühungen des Bundesrats in Steuerfragen. Um die Erfolgsaussichten der eigenen Strategie nicht zu schmälern, musste man auch oft schweigen.

6.2

Strategische Landeskommunikation

Die Landeskommunikation muss langfristig ausgerichtet sein, um die Interessenwahrung eines Landes im Ausland nachhaltig und wirkungsvoll unterstützen zu können. Ein Image lässt sich nicht kurzfristig verändern, Beziehungen lassen sich nicht von einem Tag auf den anderen aufbauen. Beides muss dauerhaft gepflegt werden, damit auch in Krisenzeiten darauf zurückgegriffen werden kann.

Vor diesem Hintergrund haben Bundesrat und Parlament die Rahmenbedingungen der Landeskommunikation überprüft und angepasst und per 1. Januar 2009 das revidierte Bundesgesetz über die Pflege des schweizerischen Erscheinungsbildes im Ausland in Kraft gesetzt.68 Gleichzeitig wurde die ausserparlamentarische Kommis68

SR 194.1

1227

sion «Präsenz Schweiz» aufgehoben und die vormals dezentrale Verwaltungseinheit «Präsenz Schweiz» in das Generalsekretariat EDA integriert. Zudem hat der Bundesrat die Strategie der Landeskommunikation für die Jahre 2010/11 festgelegt.

Image der Schweiz im Ausland Eine strategisch ausgerichtete Landeskommunikation bedingt eine kontinuierliche Analyse des Images der Schweiz im Ausland. Präsenz Schweiz hat in der Vergangenheit verschiedene Imagestudien durchgeführt und verfügt inzwischen über fundierte Informationen über die Schwerpunktländer Grossbritannien, USA, Frankreich, Spanien, Deutschland, Japan und China. Für die USA wurde im Zusammenhang mit der Wahrnehmung des Schweizer Finanzplatzes im Jahr 2009 eine NachfolgeUntersuchung durchgeführt.

Gefehlt hat bisher die kontinuierliche Analyse der Medienberichterstattung über die Schweiz im Ausland. Aufgrund der neuen Landeskommunikationsverordnung hat das EDA in Ergänzung zur Medienbeobachtung der Vertretungen ein systematisches, quantitatives Monitoring der Medienberichterstattung über die Schweiz eingerichtet. Für dieses Monitoring werden die wichtigsten Medien in Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Grossbritannien und den USA ausgewertet.

Auf dieser Basis lässt sich ein kontinuierlicher Anstieg der ausländischen Medienberichterstattung über die Schweiz feststellen: Die Visibilität der Schweiz in den Leitmedien hat in den letzten Jahren ­ insbesondere 2009 ­ zugenommen, obwohl die Auslandberichterstattung generell abnimmt. Dies hängt mit unterschiedlichen, tendenziell negativ behafteten Ereignissen zusammen, die insbesondere in der zweiten Jahreshälfte auch vermehrt kritische Beiträge zur Schweiz zur Folge hatten.

Besonders ausgeprägt war die Berichterstattung ausländischer Medien über die Schweiz zwischen August 2009 und Januar 2010. Themen wie die MinarettInitiative, die Verhaftung von Roman Polanski, die Libyen-Affäre sowie diverse Steuerstreits sorgten für anhaltende leicht kritische Resonanz der Schweiz in ausländischen Medien.

2009 wurden weltweit rund 240 000 Informationsmittel zur Schweiz und rund 200 000 Promotionsmittel an ausländische Meinungsführer, Medienschaffende, Studierende und Wissenschaftler verteilt. Zudem wurden über 600 Studierende, Journalistinnen, Politiker und hohe Beamte für thematische Reisen in die Schweiz
eingeladen. Durch die Vereinheitlichung des Auftritts der Schweiz im Ausland mittels inhaltlicher und visueller Vorgaben («Marke Schweiz») und der entsprechenden Schulung der Mitarbeitenden auf den Vertretungen im Bereich der Landeskommunikation wurde ein wichtiger Beitrag zur Stärkung eines einheitlichen Auftritts der Schweiz im Ausland geleistet.

Schwerpunktländer der Landeskommunikation Die Schweizer Landeskommunikation konzentrierte sich im Jahr 2009 auf die vier grossen Nachbarländer Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich sowie Grossbritannien, die USA und China. Zusätzlich werden in Lateinamerika die Feierlichkeiten zur zweihundertjährigen Unabhängigkeit von Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko genutzt, um die Schweiz besser bekannt zu machen.

Aktivitäten in den vier Nachbarländern: Die vier Nachbarländer sind seit jeher Schwerpunktländer der Landeskommunikation. Im vergangenen Jahr wurde der Fokus auf Deutschland und Italien gelegt. In Österreich wurden die anlässlich der 1228

Euro 08 geknüpften Netzwerke konsolidiert. In Frankreich wurden Vorbereitungen getroffen für die Neuausrichtung der Landeskommunikation auf eine stärker politisch orientierte Kommunikation, wie dies in Deutschland und Italien bereits umgesetzt wird.

Grossbritannien: In Grossbritannien ist das Image der Schweiz grundsätzlich positiv, doch reduziert sich die Wahrnehmung zu einem grossen Teil auf touristische und sportliche Aspekte sowie auf den Wirtschafts- und Finanzsektor, in dem die Schweiz primär als Konkurrentin wahrgenommen wird. Die Landeskommunikation sucht dieses Bild zu diversifizieren mit dem Aufgreifen von in Grossbritannien aktuellen Themen: Im Jahr 2009 fanden Veranstaltungen unter anderem zum öffentlichen Verkehr, zur Abfallentsorgung, zum Umweltschutz, zum Finanzplatz und zur Berufsbildung statt. Zielpublikum waren parlamentarische und akademische Kreise sowie Medienschaffende. Daneben wurde, auch im Hinblick auf die Olympischen Winterspiele 2012 in London, das Netzwerk mit britischen Meinungsführerinnen und -führern gezielt weiter ausgebaut.

USA: In den USA bestehen Defizite in der Wahrnehmung der Schweiz in den Bereichen Bildung, Forschung, Wissenschaft und Innovation. Diesem Handlungsbedarf begegnete die Landeskommunikation mit dem Programm «ThinkSwiss ­ Brainstorm the Future», das 2007 lanciert wurde. Es wird je zur Hälfte durch private Sponsoren und durch den Bund finanziert. Das Programm steigert die Bekanntheit der Schweizer Stärken in Bildung, Forschung und Innovation beim amerikanischen Zielpublikum, schafft Plattformen für die Pflege und den Ausbau von Netzwerken und lässt die verschiedenen Schweizer Vertretungen in den USA unter einem gemeinsamen Dach auftreten. Zusätzlich wurden mit dem Programm «Swiss Roots ­ How Swiss Are You?» im Jahr 2009 erneut amerikanische Entscheidungsträgerinnen und -träger mit Schweizer Wurzeln oder solche mit einer positiven emotionalen Anbindung an die Schweiz angesprochen. Das Kernstück des Programms, die Website von Swissroots, wird seit Anfang 2010 nicht mehr durch Präsenz Schweiz, sondern durch das Swiss Center of North America betrieben.

China: Die Hauptziele der Schweizer Präsenz in China sind die Erhaltung und Erhöhung der Visibilität und der Aufmerksamkeit für die Schweiz sowie die Schaffung und Stärkung von Kontaktnetzen mit Forschenden,
Universitäten und den wichtigsten chinesischen Medien, hauptsächlich in den Regionen Peking, Shanghai, Guangzhou und Hongkong. Das Schwergewicht liegt auf den Stärken der Schweiz im Bereich Lebensqualität (Umwelt, Verkehr, Sicherheit, Architektur, Design) sowie beim internationalen Ansehen, namentlich mit Bezug auf das internationalen Genf und den Bereich Bildung und Wissenschaft. Die Aktivitäten in China wurden begleitet durch eine intensive Medienarbeit, z.B. Reisen von Journalisten in die Schweiz, um die Berichterstattung zur Schweiz in chinesischen Medien zu erhöhen.

Lateinamerika: In Argentinien, Chile und Mexiko nutzte die Schweiz die 2010 geplanten Zweihundertjahrfeiern der Unabhängigkeit dieser Länder für eine Reihe von Landeskommunikationsprojekten. Das geopolitisch wichtige Brasilien wurde in dieses Regionalprogramm miteinbezogen. In diesem Zusammenhang wurde die Schweizer Präsenz seit 2009 mit Aktivitäten zur Erhöhung der Visibilität und des Austauschs verstärkt. Beispiele dafür sind die «Metro Suizo» in Santiago, die «interaktive Ausstellung» über die Schweizer Auswanderung nach Argentinien und die Ausstellung «Suíços do Brasil». Dank diesen Veranstaltungen konnte über lokale und nationale Medien ein breites Zielpublikum angesprochen werden. Ausserdem

1229

unterstützt die Schweiz die Zweihundertjahrfeiern, indem sie Beiträge an die Renovation spezifischer Denkmäler in den einzelnen Hauptstädten leistet.

Landeskommunikation in ausserordentlichen Lagen Gemäss der neuen Landeskommunikationsverordnung kommen der Landeskommunikation im Falle einer Imagebedrohung oder -krise besondere Aufgaben zu: Ist das Ansehen der Schweiz im Ausland ernsthaft bedroht oder ist eine Imagekrise bereits eingetreten, so unterbreitet das EDA dem Bundesrat ein Kommunikationskonzept mit Inhalten, Verantwortlichkeiten und Budget. Solche ausserordentlichen Aktionen kamen im Jahr 2009 im Zusammenhang mit der Finanzplatz-Problematik sowie in Bezug auf die Minarett-Initiative zur Anwendung.

So beschloss der Bundesrat im Juni 2009, die Interessenwahrung der Schweiz in den USA und in Deutschland mit gezielten Kommunikationsmassnahmen zu unterstützen, und sprach für die USA zusätzliche Mittel. Die Finanzdelegation des Parlaments bewilligte diese Mittel Ende August, im Rahmen der Budgetberatung 2010 entschied das Parlament allerdings, die zusätzlichen Kommunikationsmassnahmen in den USA per Ende 2009 zu beenden.

Eine wichtige Rolle kam der Landeskommunikation im Rahmen der Abstimmung über die Minarett-Initiative zu: Bereits im Sommer 2009 entschied der Bundesrat, den Abstimmungskampf mit einer Verstärkung der Kommunikation gegenüber dem Ausland zu begleiten. Den Schweizerischen Vertretungen wurden für die Kommunikation gegenüber dem ausländischen Publikum laufend sachgerechte Informationen zur Initiative und zur Abstimmung zur Verfügung gestellt. Das Abstimmungsresultat stiess im Ausland auf sehr grosse Aufmerksamkeit und rief an vielen Orten Unverständnis hervor. In ausländischen Medien wurde das Resultat zuweilen als Zeichen der zunehmenden Islamophobie und Diskriminierung gegen Muslime in Europa gedeutet. Auch die direkte Demokratie geriet in die Kritik. Mit intensiver Informationstätigkeit und transparenter Kommunikation konnte dazu beigetragen werden, dass die Reaktionen der Regierungen und der offiziellen religiösen Institutionen in der islamisch geprägten Welt zwar kritisch, aber mehrheitlich moderat ausfielen. Hierzu leistete auch das gute Image der Schweiz einen wichtigen Beitrag, das die Schweizer Aussenpolitik namentlich in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens über
Jahre hinweg aufgebaut hatte, indem sie stets auf Dialog setzte und Beziehungen mit allen Parteien pflegte.

Landeskommunikation an internationalen Grossveranstaltungen Auch internationale Sportgrossanlässe sowie Weltausstellungen sind geeignete Plattformen für die Landeskommunikation. So wurde an den Olympischen Winterspielen 2010 in Kanada «Houses of Switzerland» an den beiden Austragungsorten Vancouver und Whistler betrieben. Die Häuser wurden für Empfänge, Medienkonferenzen, Beziehungspflege und Medaillenfeiern genutzt. Insgesamt haben rund 60 000 Personen die beiden Häuser besucht. In kanadischen und internationalen Medien wurden über 380 Berichte dazu publiziert.

An der Weltausstellung vom 5. Mai bis 31. Oktober 2010 in Shanghai ist die Schweiz ebenfalls mit Aktivitäten der Landeskommunikation präsent. Ihr Auftritt ist eingebettet in das Schwerpunktprogramm von Präsenz Schweiz in China. Der Schweizer Pavillon an der Weltausstellung ist dem Thema Stadt-Land gewidmet und gehört zu den erfolgreichsten Pavillons an der Ausstellung. Daneben werden diverse

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Veranstaltungen organisiert, unter anderem zum sechzigjährigen Jubiläum der diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und der Volksrepublik China.

6.3

Herausforderungen und Perspektiven

Generell verfügt die Schweiz über ein gutes Image. Dabei ist zu beachten, dass das Image eines Landes über Jahrzehnte hinweg aufgebaut wird und sich aufgrund von Einzelereignissen nicht grundlegend verändert. Dies zeigte sich auch in der Berichtsperiode, in der das Image der Schweiz trotz den oben erwähnten Kontroversen stabil blieb. Inwiefern diese Ereignisse langfristig Spuren bei der Wahrnehmung der Schweiz durch das Ausland hinterlassen, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen. Ein positiv besetztes Feld, bei dem indessen nach wie vor ein beträchtliches Wahrnehmungsdefizit besteht, ist der Bereich Bildung, Forschung und Innovation: Die Schweiz verkauft sich hier unter ihrem tatsächlichen Wert; hier ergibt sich eine klassische Herausforderung für die Landeskommunikation.

Deutlich zugenommen hat in der Berichtsperiode das Ausmass der Berichterstattung über die Schweiz in den internationalen Medien und damit verbunden die Notwendigkeit zu verstärkter Information und Kommunikation gegenüber der ausländischen Öffentlichkeit. Dazu gehört auch die Darstellung konkreter Leistungen eines Landes wie beispielsweise der Vermittlungstätigkeit der Schweiz zwischen Armenien und der Türkei, der vorbildlichen Gesetzgebung der Schweiz zur Bekämpfung von Korruption und Geldwäscherei oder des Schweizer Beitrags zur EU-Osterweiterung.

Ein gutes Image verbunden mit einer starken Präsenz im öffentlichen Raum und namentlich auch in den internationalen Leitmedien trägt zur so genannten «Soft Power» eines Landes bei. Diese spielt in der globalisierten Welt von heute eine zunehmende Rolle: Wer über «Soft Power» verfügt, kann seine Interessen effizienter vertreten und besser Einfluss nehmen, ohne auf sogenannte «Hard Power» (militärische und ökonomische Macht) zurückzugreifen. Die Landeskommunikation ist daher integraler Bestandteil der Aussenpolitik und wird als wirkungsvolles Instrument entsprechend eingesetzt.

7

Führung der Aussenpolitik

7.1

Herausforderungen

Die wirtschaftlichen und politischen Folgen der Globalisierung verändern die Rahmenbedingungen für die Aussenpolitik. Die internationalen Herausforderungen sind von zunehmender Komplexität und gegenseitiger Interdependenz geprägt. In diesem Umfeld ist es entscheidend, dass die Schweiz beim Einsatz ihrer Mittel kohärente Strategien entwickelt, um ihre Interessen bestmöglich zu wahren.

Das EDA ist mit der Koordination der Aussenpolitik beauftragt und verfügt entsprechend dem Budget-Voranschlag 2010 über finanzielle Mittel von knapp 2,5 Milliarden Franken, was zirka 4 % des Gesamtbudgets der Eidgenossenschaft entspricht.

Im personellen Bereich beschäftigt das Departement rund 5200 Angestellte und damit rund 14 % des Personalbestandes des Bundes (wobei die Personalkosten mit rund 350 Mio. CHF zirka 8 % der Personalkosten der Bundesverwaltung ausmachen).

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Um bestmögliche Wirkung in der Führung und Koordination der Aussenpolitik und bei der Erbringung seiner zahlreichen Dienstleistungen zu erzielen, ist das EDA bestrebt, die verfügbaren personellen und finanziellen Ressourcen mit hoher Effizienz einzusetzen. Im sich wandelnden aussenpolitischen Umfeld ist es dabei wichtig, die Strukturen regelmässig den wechselnden Gegebenheiten anzupassen. Vor diesem Hintergrund ist eine Reorganisation des Departements im Gang, die auf eine verstärkt wirkungsorientierte Verwaltungsführung hinzielt.

Die Reorganisation orientiert sich an der Philosophie und am konzeptuellen Rahmen des Projekts VEKTOR. Das Projekt wurde im Rahmen der Verwaltungsreform des Bundes mit einem Pilotprojekt zur effizienteren Steuerung des schweizerischen Aussennetzes gestartet. VEKTOR zielt auf eine wirkungsorientierte Steuerung ab und basiert auf folgenden Grundprinzipien: klare Ziele und Vorgaben; Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung in einer Hand, mehr Autonomie und Verantwortung sowie ein erhöhtes Ressourcenbewusstsein.

Die Erfahrungen mit VEKTOR sind hilfreich für die laufenden umfassenderen Überlegungen zur Steuerung von Aktivitäten, die zum Kerngeschäft der Verwaltung gehören. Zurzeit gibt es in der Bundesverwaltung zwei Steuerungs- und Managementkonzepte: das herkömmliche und das Führen mit Leistungsauftrag und Globalbudget. Aktuell wird geprüft, wie die Vorteile beider Modelle am besten kombiniert werden können, was vermutlich auf die Schaffung eines sogenannten Konvergenzmodells hinausläuft. Das Projekt VEKTOR hat gezeigt, dass ein sparsamerer Umgang mit den Ressourcen und administrative Vereinfachungen auch bei einer politischen Steuerung möglich sind. Es liefert damit interessante Denkanstösse, die weiterverfolgt werden sollten. Die finanzielle Steuerung des Aussennetzes könnte über einen Leistungsauftrag an das EDA und ein entsprechendes Globalbudget für die Verwaltung dieses Netzes erfolgen. Ein ähnlicher Mechanismus wäre auch denkbar für die Betriebskosten der Zentrale.

7.2

Reorganisation des EDA

Das EDA will der Schweizer Aussenpolitik eine möglichst leistungsfähige Organisation zur Verfügung stellen und führt daher verschiedene interne Reorganisationen durch. Dabei geht es darum, das Departement so zu organisieren, dass es die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an die Verwaltung erfüllen kann, nämlich Transparenz und Verständlichkeit beim Vorgehen und Qualität, Effizienz, aber auch Kostenbewusstsein bei den Leistungen.

Die Grundzüge der Reorganisation des EDA wurden im letzten Aussenpolitischen Bericht dargelegt. Sie können wie folgt zusammengefasst werden: ­

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Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten werden geklärt und aufeinander abgestimmt, das EDA konzentriert sich auf seine Schlüsselkompetenzen. Die wichtigsten Beispiele dazu: Die DEZA muss sich auf die Wirksamkeit ihrer Tätigkeit konzentrieren und ihre Präsenz vor Ort verstärken; das Generalsekretariat muss sich auf seine Kernaufgaben wie Planung, Koordination und Controlling sowie Information auf Departementsebene konzentrieren; die Direktion für Ressourcen muss sich auf ihre Dienstleistungensfunktion beschränken.

­

Das Schwergewicht liegt stärker auf der Wirkungsorientierung. Dazu muss das EDA nicht nur umstrukturiert werden, es muss auch seine Managementinstrumente modernisieren. Das bedeutet, dass die Kompetenzen bezüglich Unternehmensführung weiterentwickelt werden müssen. Und dazu ist vielleicht auch und vor allem ein Mentalitätswandel nötig. Es geht darum, wegzukommen vom Denken in Hierarchien, Prestige und Dienstwegen, und sich vermehrt an den erwarteten Wirkungen zu orientieren. Dieser von VEKTOR angestossene Kulturwandel wird in den nächsten Jahren weitergehen.

­

Alle internen Reorganisationen sind darauf ausgerichtet, durch ein Zusammenführen der Kompetenzen Verbesserungen für das ganze Departement zu erzielen und die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Doppelspurigkeiten sollen in den Departementsstrukturen beseitigt werden. Mit diesen Massnahmen können zumindest mittelfristig Synergien freigesetzt werden, was bei der aktuellen Finanzlage nicht zu verachten ist. Sie bringen aber auch wichtige qualitative Vorteile, indem sie den Zusammenhalt und die gemeinsame Vision des Departements stärken, sei es über die Landeskommunikation und die Förderung des Schweizer Images im Ausland, die Finanzplanung, die interne Revision oder das Controlling, um nur die wichtigsten zu nennen.

­

Die Reorganisationen zielen auch darauf ab, den Handlungsspielraum bei der Führung der Schweizer Aussenpolitik zu erhalten ­ und wenn möglich zu vergrössern, damit Gelegenheiten genutzt und die Herausforderungen, die sich der Schweiz stellen, gemeistert werden können. Von diesem Handlungsspielraum hängt der Erfolg der Aussenpolitik ab. Mit einer Departementsvision und einheitlichen wirkungsorientierten Strategien können Rahmenbedingungen geschaffen werden, die einem solchen Erfolg dienlich sind.

Innerhalb dieses Rahmens geniessen die Organisationseinheiten grösstmögliche Autonomie. Wenn Auftrag, Kompetenzen und Verantwortung übereinstimmen und an jene Ebene delegiert werden, auf der das Fachwissen vorhanden ist, und wenn ein angemessenes Mass an Autonomie gewährt wird, dann sind die Voraussetzungen für die Entwicklung einer eigentlichen Kultur der Wirkungsorientierung gegeben.

Die Reorgnisationsmassnahmen wurden parallel zu den normalen Geschäften ständig vorangetrieben. Die im Folgenden im Detail vorgestellten Arbeiten sind unterschiedlich weit fortgeschritten. Es handelt sich um eine grundlegende Reorganisation des EDA, die ihre Wirkung mittel- und langfristig entfalten wird. Im Moment fällt das allgemeine Fazit positiv aus, die Aussichten sind gut.

Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit Seit dem 1. Oktober 2008 arbeitet die DEZA in einer neuen Struktur. Insgesamt haben 340 Mitarbeitende andere Pflichtenhefte erhalten oder wechselten in andere Organisationseinheiten. Über 700 Programme und Projekte wurden überprüft, teilweise angepasst und neuen Dienststellen zugeteilt.

Mit der Reorganisation will sich die DEZA vermehrt an operationellen Ergebnissen orientieren und zur Umsetzung einer einheitlichen entwicklungspolitischen Strategie beitragen. Sie will das umfassende institutionelle Wissen und die breite Erfahrung optimaler nutzen, ihre Präsenz im Feld verstärken und den Kooperationsbüros mehr

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Verantwortung übertragen. Überdies soll die Reorganisation die Zusammenarbeit mit anderen Stellen im EDA und der Bundesverwaltung stärken.

Der Bereich Support, der Dienstleistungen wie Rechnungswesen, Personal und Informationsverwaltung umfasste, wurde aufgelöst und in die operationellen Bereiche oder in die Direktion für Ressourcen des Departements integriert. Ebenfalls in die Direktion für Ressourcen eingegliedert wurden der Übersetzungsdienst und die Telematiksteuerung. Der Informationsdienst der DEZA und das interne Audit sind ins Generalsekretariat EDA transferiert worden. Damit werden eine einheitliche Informationspolitik im Departement sowie eine grössere Unabhängigkeit der Revisionsorgane angestrebt.

Für die auf Departementsstufe übertragenen Aufgaben bestehen Leistungsvereinbarungen mit der Direktion für Ressourcen und dem Generalsekretariat, die sicherstellen, dass die vom Parlament gesprochenen Mittel für Entwicklungszusammenarbeit, Osthilfe und humanitäre Hilfe dem Zweck entsprechend und transparent eingesetzt werden.

Die bis Ende 2010 laufende zweite Phase der Reorganisation mit dem Ziel, die Wirkung der eingesetzten Mittel sowie die Präsenz in den Partnerländern zu verstärken, sieht eine gezieltere strategische Ausrichtung der DEZA-Aktivitäten durch thematische Konzentration und Überarbeitung der Instrumente und Prozesse vor. Im Vordergrund stehen dabei eine höhere Anzahl von Ausschreibungen der Mandate und eine verbesserte Rechenschaftslegung über die erreichte Wirkung der eingesetzten Mittel. Zur Steigerung der Effizienz sollen die Projektvolumen generell erhöht und damit die Zahl der Projekte bis 2010 um rund einen Drittel reduziert werden.

Direktion für Ressourcen Der Umbau der Direktion für Ressourcen (früher Direktion für Ressourcen und Aussennetz) in ein Dienstleistungs- und Kompetenzzentrum für das ganze Departement ist mit dem Zusammenzug verschiedener Dienstleistungen unter einem Dach konkretisiert worden: ­

Die Telematik hat mit dem Informatik-Dienstleistungszentrum fusioniert und ist jetzt in einer einzigen Dienststelle zusammengefasst: EDA Informatik.

­

Die Personalabteilungen (einschliesslich die Einheit für das Lokalpersonal) sind zusammengelegt worden. Diese Fusion steht im Einklang mit der Absicht des EDA, eine einheitliche Personalpolitik für das ganze Departement zu entwickeln, die auf die Förderung der Kompetenzen setzt.

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Die Dienste für Buchhaltung und Reiseabrechnungen sowie alle Dienste, die sich mit den SAP-Programmen zur Unternehmensführung befassen, sind unter EDA Finanzen zusammengeführt.

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Die für das Sicherheitsmanagement zuständigen Dienststellen sind in einer Einheit zusammengefasst worden, die für die Sicherheit im ganzen EDA verantwortlich ist. Gleichzeitig sind dieser neuen Einheit Aufgaben übertragen worden, die bisher von verschiedenen Abteilungen wahrgenommen wurden (Informatiksicherheit, Sicherheit von Übermittlungen, Sicherheit und Gesundheit). Mit diesen Massnahmen soll ein umfassendes Sicherheitskonzept des EDA vorangetrieben werden.

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­

Alle Kanzleien sowie die Archive und das Kompetenzzentrum für konventionelle und elektronische Geschäftsverwaltung sind in einer neuen Einheit zusammengefasst worden.

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Die Kompetenzen und Dienstleistungen der für das Prozessmanagement zuständigen Einheit sind auf das ganze Departement ausgedehnt worden.

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Eine Bereinigung von Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten hat bezüglich der visuellen Kommunikation (Verschiebung ins Generalsekretariat) und der Rechtsdienste (Neuverteilung der Aufgaben zwischen Generalsekretariat, Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit sowie Direktion für Ressourcen) stattgefunden.

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Alle Fachdienste der Direktion für Ressourcen sind im Zusammenhang mit der Schaffung einer neuen Führungsstruktur für die Direktion in einer übergeordneten Organisationseinheit zusammengeführt worden.

Die Strukturen sind jetzt aufgebaut und die Direktion für Ressourcen wird sich in Zukunft auf die Bereitstellung interner Dienstleistungen und die ständige Verbesserung der Qualität ihrer Leistungen konzentrieren.

Generalsekretariat Ins Generalsekretariat wurden im Rahmen der Reorganisation des EDA der zentralisierte Informationsdienst, die frühere Landeskommunikationsagentur Präsenz Schweiz und das Kompetenzzentrum für Kulturaussenpolitik integriert.

Ebenfalls im Generalsekretariat ist die Interne Revision EDA angesiedelt. Diese prüft im gesamten Aufgabengebiet des Departements die Effizienz und Wirksamkeit der internen Steuerung und der Kontrollsysteme. Die Revisionsgruppen Zentrale, Vertretungen sowie Programme/Projekte führen Prüfungen gemäss international anerkannten Revisionsstandards durch. In den Bereichen Evaluation und Intervention werden Kompetenzen aufgebaut. Mit der neu ausgerichteten Internen Revision verfügt das EDA über ein Instrument, welches die Departementsleitung in der Wahrnehmung ihrer Aufsichtsaufgaben unterstützt.

Zur weiteren Führungsunterstützung wurden zwei Stabstellen geschaffen. Das Strategische Controlling EDA unterstützt die Departementsleitung in strategischen Fragen und fördert Massnahmen, damit Steuerungsinformationen der Direktionen und des Aussennetzes erfasst, aufbereitet und für die internen Steuerungsanliegen interpretiert werden. Das Risikomanagement EDA unterstützt die Departementsleitung bei einer geeigneten Umsetzung der Risikopolitik Bund. In diesem Rahmen wird auch das Interne Kontrollsystem (IKS) des EDA, gemäss den Bestimmungen im Finanzhaushaltgesetz vom 7. Oktober 2005 (SR 611.0), koordiniert. Zu den weiteren Aufgaben gehören auch zentrale Elemente der Korruptionsprävention.

Im Zuge der Reorganisation wurden auch die Ressourcen zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Männern sowie der Mehrsprachigkeit im Generalsekretariat zusammengelegt und in ein departementweites Kompetenzzentrum Chancengleichheit überführt. Diese Fachstelle trägt dazu bei, auf eine ausgewogene Vertretung der Geschlechter zu achten und die Sprachenvielfalt zu einem wertschöpfenden Element des Departements weiterzuentwickeln und das EDA für Personen beider Geschlechter und verschiedener Sprachgruppen als attraktiven Arbeitgeber zu positionieren.

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Die Förderung der Chancengleichheit wird im EDA als Teil eines umfassenden Organisations- und Kulturwandels verstanden. Chancengleichheit ist Ziel dieses Wandels und wird als klaren Mehrwert deklariert. Die Vielfalt in der Zusammensetzung des EDA Personalkörpers, die Unterschiedlichkeit von Erfahrungen und Kompetenzen aus verschiedenen Lebensrealitäten, Kulturen und Sprachgemeinschaften führt zu einer höheren Sensibilität und Kompetenz in der Organisation, um komplexe Situationen und Fragen differenziert wahrzunehmen und zukunftsorientierte Lösungen zu erarbeiten. Vielfalt ist für das EDA und seine facettenreichen internationalen Aufgaben erfolgsrelevant und wird deshalb gezielt gefördert.

Konsularische Angelegenheiten Mit der Vergrösserung der Auslandschweizerkolonie und der zunehmenden internationalen Mobilität sind die Erwartungen der Schweizer Bürgerinnen und Bürger an die konsularischen Dienste deutlich angestiegen. Es ist jedoch zu wenig klar und bekannt, auf welche Leistungen sie effektiv Anspruch haben. Das führt zu unrealistischen Erwartungen und in der Folge zu Reklamationen und rechtlichen Auseinandersetzungen, aber auch zu Imageproblemen, denn es handelt sich um einen sehr sichtbaren und von den Medien stark beachteten Bereich.

Das EDA prüft, alle Dienste, die mit konsularischen Aufgaben betraut sind, in einer neuen Direktion zusammenzufassen. In der Politischen Direktion und in der Direktion für Ressourcen erreichen diese Dienste zurzeit die kritische Grösse nicht, um von ihren hauptsächlichen Partnern als gewichtige Akteure anerkannt zu werden.

Mit der Zusammenführung würde ein Prozess eingeleitet, der unter anderem darauf abzielt, den Service public zu stärken und dem konsularischen Bereich eine höhere Kundenorientierung zu verleihen. Das EDA untersucht insbesondere die Einführung einer permanenten Betreuung, sieben Tage die Woche und 365 Tage im Jahr.Das Departement möchte damit mehr Transparenz bezüglich der erbrachten Leistungen schaffen, damit die Medien und die Öffentlichkeit allgemein besser informiert sind.

8

Schlussfolgerung: Interessenwahrung durch Einflussnahme

Die Welt von heute ist eine Welt der Abhängigkeiten, der schrumpfenden Distanzen und der zunehmenden Interdependenzen von Staaten, Organisationen, wirtschaftlichen Akteuren, Interessengruppen und Individuen. Politische Themenfelder, die sich in der Vergangenheit oft autonom oder in einem eindeutig definierten Umfeld entwickelten, sind auf vielfältige Weise miteinander verbunden: keine Umweltohne Energiepolitik, keine Entwicklungs- ohne Klimapolitik, keine Friedenspolitik ohne Achtung der Menschenrechte, keine wirtschaftliche Entwicklung ohne wissenschaftliche Innovation. Was im innerstaatlichen Verhältnis inzwischen selbstverständlich ist, gilt zunehmend auch für die internationalen Beziehungen.

Private Akteure, die internationale Organisationen ergänzen und mit ihnen zusammenarbeiten, erhalten vermehrt Bedeutung, auch in der Politikformulierung mit internationaler Tragweite. Die Grenzen zwischen Innen- und Aussenpolitik verlieren an Schärfte, und lokale, nationale und globale Politik greift verstärkt ineinander und bildet ein Netz wechselseitiger Abhängigkeiten. Um in diesem globalen Umfeld seine nationalen Interessen zu wahren, muss jeder Staat dort, wo er betroffen ist, seinen Einfluss geltend machen und mitbestimmen. So muss auch die Schweiz 1236

unablässig Einflussmöglichkeiten identifizieren und nutzen, um ihre aussenpolitischen Interessen wahrzunehmen.

Der vorliegende Bericht hat aufgezeigt, wo sich für die schweizerische Aussenpolitik Möglichkeiten der Einflussnahme ergeben und wie diese im vergangenen Jahr wahrgenommen wurden. Die Schweiz pflegte in ihrem internationalen Engagement Beziehungen mit einer Vielzahl von Staaten, Organisationen sowie formellen und informellen Kontaktnetzen. Sie hat sich an zahlreichen Vertragswerken beteiligt und diese weiterentwickelt, sie hat neue Abkommen abgeschlossen oder ist solchen beigetreten, sie hat im Verbund mit andern zur Lösung von Problemen beigetragen und hat an internationalen Konferenzen zu einer Vielzahl von Themen ihre Meinung geäussert. Dabei hat sie sich für die Interessen der schweizerischen Wirtschaft, der Gesellschaft insgesamt, der Wissenschaft und der Kulturschaffenden eingesetzt und Schweizerinnen und Schweizer im Ausland auf vielfältige Weise unterstützt.

Beziehungspflege und Einflussnahme bedingen sich gegenseitig, im Sinne eines Gebens und Nehmens. Interessenswahrung und Einflussnahme schaffen aber auch Spannungsfelder, denn völlige Autonomie gibt es nicht. Wer seine Meinung kund tut und Einfluss nehmen will, muss auch mit Widerspruch rechnen. Die Schweiz ist in ein System von immer dichteren Beziehungen und Normen eingebunden, und die internationale Komponente schweizerischer Interessenwahrung wird immer bedeutsamer. Es verwundert daher nicht, dass Fragen der Souveränität und Abhängigkeit sowie der Stellung der Schweiz in der internationalen Gouvernanz zunehmend und auch kontrovers diskutiert werden.

Souveränität in einem globalisierten Umfeld Die Schweiz ist nicht das einzige Land, das sich verstärkt dem Spannungsfeld von internationaler Kooperation und nationaler Souveränität ausgesetzt sieht. Die nationale Selbstbestimmung ist ein wichtiges Leitmotiv der Aussenpolitik vieler Länder.

Einfluss zu nehmen mit dem Ziel, nationale Interessen international zu wahren, hat angesichts der wachsenden Bedürfnisse zur Zusammenarbeit zwischen Staaten und Organisationen Konjunktur. Die Herausforderung besteht dabei darin, die nationale Selbstbestimmung mit der Notwendigkeit zur internationalen Kooperation in Einklang zu bringen. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Krisen oder Unsicherheit
ist dies besonders schwierig. In vielen Staaten reagiert die Politik genau dann besonders sensibel gegenüber jeglicher Form von Fremdbestimmung und ist zunehmend zurückhaltend, wenn es darum geht, internationale Institutionen und Regelwerke weiter zu entwickeln oder neu zu schaffen.

Internationale Zusammenarbeit bei grenzüberschreitenden Problemen ist in der jüngsten Vergangenheit tendenziell schwieriger geworden, weil die nationalen Sensibilitäten stark ausgeprägt sind. Staaten sind oft nicht bereit, ihre Institutionen mehr als nötig anzupassen oder Entscheidbefugnisse einer internationalen Behörde zu übertragen. Davon zeugen sowohl die Schwierigkeiten regionaler Integrationsprozesse wie auch die Bemühungen, Organisationen wie die Vereinten Nationen oder die Bretton-Woods-Institutionen zu reformieren. Diese Entwicklung erhöht das Bedürfnis, aussenpolitische Interessen und Anforderungen innenpolitisch zu begründen und die nationalstaatlichen Interessen deutlicher zu machen.

Auch für die schweizerische Aussenpolitik ist die Vermittlung zwischen Innen und Aussen ein zentrales Thema. Grundsätzlich gibt es aber keine wirklichen Alternativen zur Interessenwahrung durch internationale Zusammenarbeit: Lösungen für 1237

globale Probleme müssen im Kompromiss mit anderen gefunden werden; internationalen Gremien bieten sich dabei als Diskussionsplattformen an. Aussenpolitisch steht die Schweiz, genau wie andere vergleichbare Länder, heute vor der Wahl, Interessenwahrung und Einflussnahme in den traditionellen zwischenstaatlichen Formen zu verfolgen, also im Wesentlichen alleine und durch ad-hoc Koalitionen von Gleichgesinnten. Oder sie kann ihre Interessen als Mitglied einer Organisation wahren, mit institutionell abgesicherten und klar definierten Verfahren, wie dies etwa bei der Europäischen Union (EU) der Fall ist.

Dass nationale Souveränität und internationale Einflussnahme keineswegs Widersprüche sein müssen, zeigt sich gerade mit Blick auf die EU: Unter einer wachsenden Zahl von Mitgliedstaaten der Union hat sich zwar die Erkenntnis durchgesetzt, dass Einflussnahme in Brüssel gleich wichtig oder wichtiger ist als nationalstaatliche Entscheidfindung. Gleichzeitig aber handelt die EU in ihrem Aussenverhältnis als ein sehr souveränitätsbewusstes Gebilde. So werden interne Entscheidprozesse unter den Mitgliedstaaten sorgfältig vor der Einflussnahme durch Nichtmitglieder geschützt. Es ist daher keineswegs so, dass die Mitgliedstaaten der EU ihre Souveränität aufgegeben hätten. Zwar verlagern sich die Kanäle zur politischen Einflussnahme von den nationalen Institutionen zu denjenigen der Union; gleichzeitig gewinnt die EU aber durch die Bündelung ihrer Interessen und den gemeinsamen Auftritt weltweit an Einfluss.

Die Gegenüberstellung von Souveränität und Unabhängigkeit einerseits und von Globalisierung, internationaler Kooperation und Abhängigkeit anderseits zielt vor dem Hintergrund solcher Beispiele an den wirklichen Herausforderungen vorbei.

Internationale Zusammenarbeit bedeutet nicht in erster Linie Abhängigkeit und Verlust von Souveränität. Sie sollte auch nicht als solche wahrgenommen werden, sondern ist vor allem eine Chance, entsprechend den eigenen Interessen verantwortlich zu handeln. Die im Zuge der Globalisierung entstandenen Institutionen und Vertragswerke haben in diesem Sinn die Optionen der Einflussnahme erhöht. Sie machen eine breite Palette von Möglichkeiten geteilter oder gemeinsam ausgeübter Souveränität verfügbar.

Einflussnahme ist somit ein Leitmotiv zeitgemässer Souveränität. Wie für
zahlreiche andere Länder stellt sich auch für die Schweiz die Frage, wie diese Realität mit den nationalen Entscheidstrukturen in Einklang gebracht werden kann. Auf welchem Niveau sind welche Entscheide zu fällen? Wie und mit welchen Vor- und Nachteilen soll Einfluss genommen werden? Subsidiarität wird bei dieser Fragestellung zu einer wichtigen, auch international bedeutsamen Grösse.

Der Trend, Einflussnahme durch Mitbestimmung auf internationaler Ebene zu suchen, hält nun seit Jahrzehnten unvermindert an. Natürlich kann die Schweiz heute autonom entscheiden, ob sie diese oder jene Frage gleich oder anders regeln will als die Staaten in ihrem Umfeld. In dem Sinne steht es ihr frei, ein rigoroses Bankgeheimnis zu haben, den Bau von Minaretten zu verbieten oder strenge Normen für Tiertransporte aufzustellen. Dennoch illustrieren gerade diese Beispiele die praktischen Grenzen autonomer Entscheide: Wenn solche die Interessen anderer tangieren, internationale Normen verletzen, oder einem breiten Trend zuwider laufen, führen sie im eng vernetzten internationalen Umfeld von heute verstärkt zu Reaktionen oder Gegenmassnahmen.

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Somit muss sich, wer autonom und ohne Rücksicht auf andere Interessierte agiert, der steigenden Opportunitätskosten seines Handelns bewusst sein. Auch die Schweiz muss sich im heutigen Beziehungsgeflecht der Staaten die Frage nach Gewinn und Verlust von politischem Handeln stellen, muss Kosten und Nutzen von vertraglichen und institutionellen Bindungen sowie von entsprechenden Unterlassungen abwägen.

Souveränität und Einfluss in Europa Am dringendsten stellt sich die Frage von nationaler Souveränität und internationaler Mitwirkung im Rahmen der Europapolitik. Die Schweiz ist ein europäischer Staat. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind mit Abstand ihre wichtigsten Partner, sowohl aufgrund ihres politischen und wirtschaftlichen Gewichts, als auch wegen ihrer geografischen und kulturellen Nähe. Die Beziehungen der Schweiz mit der EU sind eng und zeichnen sich durch eine breite, gefestigte und für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit aus. Der bilaterale Weg, auf dem die Schweiz ihre Europapolitik verfolgt, bietet bislang eine solide Basis für eine wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich enge Zusammenarbeit und gleichzeitig die Möglichkeit, ihre institutionelle Unabhängigkeit formell und rechtlich zu wahren. Es ist der Schweiz in diesem Rahmen möglich, weiterhin Regelungen auszuhandeln, die sich von den EUBestimmungen unterscheiden, beispielsweise in der Aussenhandels- und Währungspolitik oder beim Arbeitsmarkt, und gleichzeitig auf dem Weg der wachsenden Vernetzung und Integration in den europäischen Binnenmarkt voranzuschreiten.

Diese Europapolitik wird von Parlament, Kantonen und vom Volk mitgetragen, das alle entscheidenden Etappen in Referenden genehmigt hat.

Die Zusammenarbeit mit der EU basiert jedoch zunehmend auf der Übernahme des geltenden EU-Rechts, ohne dass die Schweiz bei der Entwicklung dieses Rechts vollwertig mitbestimmen könnte. Zudem wird auch deutlich, dass der bilaterale Weg seitens der EU bedeutend zurückhaltender beurteilt wird; diese betont zunehmend die Notwendigkeit, den Acquis communataire und dessen Weiterentwicklung in den bilateral geregelten Bereichen auch in Zukunft vollumfänglich zu übernehmen und keine Ausnahmeregelungen zuzulassen.

Künftige Verhandlungen mit der EU werden sich an vorgegebenen und im Bericht des Bundesrates zum Postulat Markwalder
definierten Eckwerten orientieren. Sie zielen darauf ab, die Unabhängigkeit der Schweiz zu wahren, den Zugang der wirtschaftlichen Akteure zum Binnenmarkt unter Wahrung beidseitiger Souveränitäten zu sichern und ein zuverlässiger Partner in der Verfolgung unserer gemeinsamen Interessen auf dem europäischen Kontinent und weltweit zu sein, insbesondere im Kampf gegen die Armut, in der Friedens- und Menschenrechtsförderung, in der Unterstützung von Rechtsstaat und Demokratie sowie in der Bewahrung unserer natürlichen Ressourcen.

Um diese Ziele erreichen zu können, müssen die bisherigen Abkommen zur gegenseitigen Zufriedenheit umgesetzt werden. Es ist überdies eine Serie von Themenbereichen für eine nächste Etappe bilateraler Abkommen zu definieren, für welche gegenseitige Interessen bestehen. Schliesslich müssen innovative Lösungen für die zahlreichen horizontalen und institutionellen Fragen der Auslegung, Überwachung und Streitbeilegung gefunden werden.

Die Weiterentwicklung der bilateralen Abkommen ist in dem Sinne ein zentrales Thema für die künftige europapolitische Orientierung der Schweiz. Im Laufe der nächsten Etappe bilateraler Verhandlungen wird die Schweiz im Lichte der Ver1239

handlungsergebnisse einmal mehr beurteilen müssen, welches die politischen und wirtschaftlichen Opportunitätskosten eigenständiger und abweichender Normen und institutioneller Arrangements sind. Es gilt daher, die Souveränitätsbilanz und die wirtschaftlichen Kosten aller Handlungsoptionen zu beurteilen und am Kriterium der Interessenvertretung und der Möglichkeit zur Einflussnahme zu messen.

Einflussnahme durch Schaffung von Mehrwert Internationale Kooperation erfolgt auch ausserhalb unseres engen Verhältnisses zur EU, nämlich dort, wo durch gemeinsames Handeln Mehrwert geschaffen wird, oder dort, wo die Herausforderungen zu gross sind, um von einem Land allein gelöst zu werden. Für die Schweiz besonders wichtige Bereiche sind in diesem Zusammenhang die Regulierung der Finanzmärkte, die internationale Wissenschafts- und Forschungspolitik, die Abrüstungs- und Sicherheitspolitik, die Bekämpfung verschiedenster Formen transnationaler Gewalt, die Menschenrechtspolitik und das humanitäre Engagement, die Entwicklungspolitik, die Umwelt- und Klimapolitik und die internationale Migrationspolitik.

Einflussnahme geschieht durch die Beteiligung an politischen und wirtschaftlichen Stabilisierungsbemühungen, sei es durch Friedensförderung, Mediation, humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit oder durch ein Engagement für die Menschenrechte. Wenn die Schweiz im Balkan, im Kaukasus, in Zentralasien, im Nahen Osten und in der afrikanischen Region der Grossen Seen aktiv ist, dann tut sie dies auch, um ihre Interessen und Werte einzubringen und um Beziehungsnetze aufzubauen. Es ist für die Interessenwahrung zentral, sich nicht nur im engeren Sinn auf Wirtschafts- und Finanzpolitik zu konzentrieren. Dafür sind die Beziehungen der Schweiz mit andern Ländern und internationalen Organisationen zu vielfältig, und genau diese Vielfalt der Beziehungen enthält Chancen, ausgewogene Lösungen dort zu finden, wo sich gegensätzliche Interessen gegenüberstehen. Die Tatsache, dass die USA die Wahrnehmung des Schutzmachtmandates in Iran, das Vermittlungsengagement zwischen der Türkei und Armenien oder die Stabilisierungsbemühungen der Schweiz auf dem Balkan schätzen, ist der beste Garant dafür, im Rahmen einer Gesamtschau der Beziehungen ausgewogene Lösungen in Finanz- und Steuerfragen zu finden. Beispiele dieser Art könnten
für die Beziehungen zu praktisch jedem Land gefunden werden. Wer Beziehungen hingegen auf kontroverse Themen reduziert, verpasst unter Umständen Gelegenheiten zur Einflussnahme.

Einflussnahme geschieht auch im Rahmen von internationalen Institutionen, in der UNO, in den Bretton Woods Institutionen, in der WTO, der OECD, der OSZE oder dem Europarat. Einfluss nehmen kann die Schweiz in diesen Institutionen, indem sie Anliegen und Initiativen einbringt, sich als Maklerin für multilaterale Lösungen einsetzt oder sachgerechte Reformvorschläge unterbreitet. Durch die Zusammenlegung der eigenen Bemühungen mit jenen von andern Ländern, gewinnt das schweizerische Engagement an Wirkung und die Schweiz an Einfluss. Die Beteiligung der Schweiz am «burden-sharing» der internationalen Gemeinschaft ist besonders wichtig. Gerade wenn diese im Bereich der militärischen Sicherheit auch in Zukunft aus neutralitätspolitischen Überlegungen bescheiden bleiben wird, werden die Erwartungen an unsere Beiträge im Bereich der humanitären Hilfe, der zivilen Friedensförderung, der Entwicklungszusammenarbeit und der Kohäsionszahlungen in unserer europäischen Nachbarschaft steigen.

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Im Sinne effektiver Einflussnahme ist es daher selbstverständlich, dass die Schweiz in jenen Organisationen und Institutionen, in denen sie Mitglied ist, die Rechte und Pflichten ihrer Mitgliedschaft vollumfänglich mitträgt. Das sechsmonatige Präsidium des Europarates gehört ebenso in diese Logik, wie das Wirken der Schweiz als Gaststaat für den Frankophoniegipfel 2010 oder die mögliche Kandidatur für einen nichtständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat.

Einflussnahme durch Interessenbündelung Einflussnahme bedingt aber auch, dass die Schweiz in ihrer Aussenpolitik den internationalen Machtverschiebungen Rechnung trägt. Dabei ist ein besonderes Augenmerk auf die Beziehungen zur G-20 und zu deren Mitglieder, sowie zu andern wichtigen Ländern mit regionaler Bedeutung und Ausstrahlung zu legen. Angesicht der Grösse und Bedeutung dieser Akteure ist ein kohärentes Auftreten wichtig, denn der Bedeutungszuwachs der G-20 ist nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch souveränitätspolitischer Natur. Einflussnahme kann bilateral gesucht werden, aber auch im Rahmen von Konsultationen zwischen der G-20 und Organisationen, in denen die Schweiz Mitglied ist. Wichtig ist daher, dass die Schweiz den bilateralen Beziehungen zu den an Bedeutung gewinnenden Akteuren der Weltpolitik ein besonderes Augenmerk schenkt. Wichtig ist auch, dass die Schweiz ihre Interessen bekannt macht, ihre Anliegen in die internationalen Entscheidprozesse einfliessen lässt, sich Kooperationsmöglichkeiten erschliesst und ihre traditionellen Werte und Interessen unter sich ändernden machtpolitischen Verhältnissen wahrnimmt. Dies verlangt die Bündelung der Interessen, das Schnüren von Paketen und die Unterstellung von Teilaspekten unter das Ganze.

Die Schweiz gehört beim Schwerpunktthema der G-20, bei der internationalen Finanzmarktpolitik, zu den wichtigsten Ländern weltweit. Durch ihre prominente Stellung in den die G-20-Gipfel vorbereitenden Gremien IWF, OECD und Financial Stability Board kann die Schweiz zwar einen gewissen Einfluss geltend machen. Es besteht jedoch das Bedürfnis und zweifellos auch das Potential, diesen Einfluss in zentralen Bereichen zu verstärken. Wichtig sind dabei der gemeinsame Auftritt und die Kooperation mit Gleichgesinnten. Weil sich Staaten wie China, Indien, Brasilien oder Südafrika wirtschaftlich stark entwickeln,
sinkt tendenziell das Gewicht der Schweiz und auch Europas in den meisten Gremien der internationalen Politik.

Damit besteht das Risiko, dass traditionelle Mitbestimmungsmöglichkeiten verloren gehen. Nur wenn die erforderlichen finanziellen und personellen Mittel bereitgestellt und die notwendigen Allianzen mit Partnerstaaten eingegangen werden, kann sich die Schweiz in Zukunft Mitsprache und Einfluss sichern.

Auch auf globaler Ebene wird die Schweiz zunehmend von der europäischen Integrationsdynamik begleitet. In allen Organisationen und Themenbereichen, die für die Schweiz von Bedeutung sind, kommt der EU eine zunehmend bedeutende Stellung als regionales Sprachrohr zu. Autonome, von der EU unabhängige Politik ist deshalb auch auf globaler Ebene komplexer geworden. Oft stimmen die schweizerischen Interessen zwar mit jenen der EU überein. Wo dies aber nicht der Fall ist, ist autonome Interessenwahrung schwierig. Die Schweiz kann fast nur dort erfolgreich autonom agieren, wo die EU keine oder eine unzureichend klar definierte gemeinsame Position inne hat; dies ist wegen der europäischen Integrationsdynamik an immer weniger Orten und zu immer weniger Themen möglich.

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Einflussnahme durch Zusammenarbeit mit privaten Akteuren Wichtig ist heute auch die Erkenntnis, dass die Gestaltung der internationalen Beziehungen nicht mehr allein Sache von Staaten ist. Multinationale Unternehmen, wissenschaftliche Institutionen und Nichtregierungsorganisationen sind immer stärker in transnationalen Netzwerken organisiert und werden damit zu wichtigen Akteuren der Globalisierung. Die neuen Technologien haben diesen Trend im letzten Jahrzehnt verstärkt. Zwischen Staaten und Privaten bilden sich neue, gemischte Organe und Organisationen zur Bewältigung globaler Herausforderungen. Der «Globale Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria» ist dafür ein Beispiel. Berufsleute organisieren sich in transnationalen Netzwerken, jenseits von traditionellen staatlichen Strukturen, und auch in den Wirtschaftsbranchen bilden sich häufig regionale und globale Foren, die in der Selbstregulierung, bei der Entwicklung von Standards, bei der Ausbildung oder beim Erfahrungsaustausch eine wichtige Rolle spielen. Die Schweiz ist mit ihrer lebendigen und gut organisierten Zivilgesellschaft und ihrer spezialisierten und international stark vernetzten Berufswelt ausgezeichnet positioniert, hier eine führende Rolle einzunehmen.

Schliesslich gehört zur souveränen Einflussnahme ein aktives Kommunikations- und Wahrnehmungsmanagement unter Zuhilfenahme aller technisch verfügbaren Plattformen. Die politische Kultur der Schweiz tut sich eher schwer mit medialer und kommunikativer Selbstinszenierung. Diese widerspricht der sprichwörtlichen schweizerischen Bescheidenheit die durchaus ihre Vorzüge hat und entsprechend hochzuhalten ist. Dennoch muss anerkannt werden, dass die Schweiz ihre materiellen Interessen im heutigen mediatisierten Umfeld nicht ausreichend vertreten kann, wenn sie ihre Ziele, Entscheide und Absichten sowie die Überzeugungen und Gründe, die dahinter stehen, nicht dezidiert kommuniziert. Einfluss nehmen bedeutet heute auch, gezielt und sachlich zu kommunizieren und sich im globalen Kommunikationskonzert Gehör zu verschaffen.

Wer eine nationalstaatliche Politik der umfassenden Interessenwahrung verfolgt, muss ehrlicherweise auch darauf hinweisen, wo die Grenzen dieser Politik liegen.

Diese liegen einerseits in der machtpolitischen und institutionellen Konstellation, das heisst in
der Nichtmitgliedschaft in der EU und der NATO, wobei Mitgliedschaften in diesen Organisationen Anpassungen des demokratischen, föderalen und sicherheitspolitischen Instrumentariums zur Folge hätten. Sie liegen aber auch in korporativen und protektionistischen Ängsten von gewissen Wirtschaftssektoren und Bevölkerungsgruppen begründet. Diese fussen zum Beispiel in der Furcht vor der internationalen Konkurrenz, oder in der Befürchtung, dass innenpolitische Arrangements durch die Aussenbeziehungen gefährdet werden könnten. Wo legitme Aengste und Befürchtungen vor Auswirkungen internationaler Kooperation und Integration bestehen, muss diesen wirksam begegnet werden. Auf Dauer wird die Schweiz auch in heiklen Bereichen Veränderungen vornehmen müssen und wohl stärker gezwungen werden, das für die Identität des Landes Wesentliche vom Verhandelbaren zu trennen. Dies zwingt zu eindeutiger Definition unserer Interessen und zu einem einheitlicheren Auftritt auf internationaler Ebene.

Grenzen der Prioritätensetzung In Zeiten des erhöhten Drucks auf staatliche Ausgaben und tendenziell steigenden internationalen Kooperationskosten ertönt oft der Ruf nach finanziell orientierter Prioritätensetzung und der Bevorzugung nationaler vor internationaler Anliegen.

Solche Stimmen sind zwar verständlich und teilweise durchaus begründet; häufig 1242

verkennen sie aber die Realität der globalen Vernetzungen, die internationalen Ansprüche an ein reiches Land wie die Schweiz, die Notwendigkeit, Probleme auf nationaler Ebene durch internationale Zusammenarbeit zu lösen, und sie unterschätzen die enormen Schwierigkeiten und politischen Kosten, welche die Umsetzung einer solchen Politik haben würde.

Geografisch ist zwar die Priorisierung des europäischen Umfelds und der unmittelbaren europäischen Nachbarschaft in Osteuropa, dem Westbalkan, dem Mittelmeer, dem Kaukasus und Zentralasiens durch die Substanz der Beziehungen schon heute weitgehend gegeben. Die Schweiz unterscheidet sich jedoch von vergleichbaren europäischen Ländern gerade durch ihr breites und globales Beziehungsnetz. Dieser Ansatz ist einerseits bedingt durch die schweizerische Neutralität und die Bündnisfreiheit, die dazu führen, dass die Schweiz ihre Interessen selbständig vertritt. Sie begründet sich andererseits auch in einer im internationalen Vergleich breiten Streuung ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen. Die Schweiz und ihre Bürgerinnen und Bürger waren und sind trotz der starken europäischen Verankerung global orientiert. Eine ausschliessliche Fokussierung der Aussenpolitik auf Europa auf Kosten des globalen Umfeldes wäre demnach illusorisch und der Vertretung schweizerischer Interessen nicht förderlich.

Thematisch präsentiert sich die Situation ähnlich. Zum einen ist die Schweiz zu gross, als dass sie eine Nischen-Aussenpolitik führen und sich in ihrer Aussenpolitik auf einige wenige Themen konzentrieren könnte. Zum anderen besteht ihre Besonderheit gerade in ihrer breiten und vielfältigen internationalen Vernetzung. Somit würde auch diesbezüglich eine Aussenpolitik, die sich auf ausgewählte Themen und Problembereiche konzentrieren würde, den Stärken eines thematisch breiten aussenpolitischen Ansatzes zuwiderlaufen.

Auch die Bevorzugung des bilateralen zugunsten des multilateralen Ansatzes ist immer wieder versucht worden, zuletzt im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit. Sie erweist sich aber im Sinne der aussenpolitischen Interessenwahrung als nicht zielführend und wird allzu oft durch nationale Partikularinteressen geleitet.

Multilaterale Institutionen erzielen bezüglich Effizienz und Effektivität keineswegs schlechtere Ergebnisse als bilaterale
Aktionen und eröffnen der Schweiz zudem hervorragende Einflussmöglichkeiten. Um diese Möglichkeiten ausschöpfen zu können, muss die Schweiz auch fortan ihre Beträge an die multilateralen Organisationen in Europa und weltweit leisten, auch wenn die Kosten dafür tendenziell wachsen.

Schliesslich gilt es, der Kohärenz des aussenpolitischen Handelns die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Aussenpolitik ist, wie weiter oben festgestellt, ein vielfältiges Zusammenspiel innerstaatlicher Interessen, die es auf der internationalen Ebene zu wahren gilt. Dies bedingt in der Bundesverwaltung eine zunehmend dichtere interdepartementale Zusammenarbeit der verschiedenen international tätigen Fachämter. Vor diesem Hintergrund ist eine gemeinsame Problemanalyse, sind abgestimmte Sichtweisen zu Problemlösung und Prioritätensetzung wichtig. Multilaterale Institutionen erweisen sich dabei oft als nützliche Diskussionsplattformen, um eine kohärente Definition der vordringlichsten globalen Herausforderungen zu formulieren.

Damit die Schweiz ihre Interessen in einer globalisierten Welt erfolgreich wahrnehmen kann, ist die Kohärenz ihrer Aussenbeziehungen ein wichtiges Element. Ein kohärenter internationaler Auftritt, der sich an den bewährten Werten des Landes 1243

orientiert, ist die beste Voraussetzung dafür, um auf die globalen Rahmenbedingungen Einfluss nehmen zu können und zur Bewältigung weltweiter Probleme beizutragen.

Wandel der Diplomatie In einem sich stark wandelnden Umfeld ist es unumgänglich, das aussenpolitische Instrumentarium an die neuen Erfordernisse anzupassen und die verfügbaren aussenpolitischen Betriebsausgaben auf aktuelle Aufgaben und Herausforderungen umzulagern. In diesem Sinne muss auch das Vertretungsnetz der Schweiz periodisch überprüft und den sich ändernden Umständen angepasst werden. Schweizerische Aussenvertretungen haben gerade in neuen Märkten und aufstrebenden Regionen eine grosse Bedeutung beim Aufbau von Beziehungsnetzen und deren Pflege. Bei gleich bleibenden Ressourcen bedeutet dies jedoch, dass tendenziell dort gespart werden muss, wo etablierte Kontakte existieren und stabile politische Kontakte auch auf anderen als den diplomatischen Kanälen wahrgenommen werden können.

Zudem muss das Vertretungsnetz auch der wachsenden Nachfrage nach konsularischen Dienstleistungen Rechnung tragen. Diese Nachfragesteigerung ist für viele unserer Auslandsvertretungen sehr direkt spürbar und im grossen und ganzen auf drei Faktoren zurückzuführen: erstens die steigende Anzahl von Schweizerinnen und Schweizern, die ihren Wohnsitz im Ausland haben, zweitens die starke Zunahme von Ferien- und Geschäftsreisen ins Ausland und drittens die generell höheren Ansprüche, die Bürgerinnen und Bürger an die Verwaltung stellen.

Vor diesem Hintergrund sind die Möglichkeiten, die neue Technologien und Verfahren im Bereich e-Government bieten, so zu nutzen, dass administrative Aufgaben wo immer möglich in Dienstleistungszentren erbracht werden. Angesichts der Vielzahl schweizerischer Aussenvertretungen (Botschaften, Konsulate, Swissnex, OSEC und Pro Helvetia) sind Synergiemöglichkeiten zu prüfen. Noch stärker als bislang müssen die vom EDA bedienten schweizerischen Botschaften zu Zentren werden, die die Vielzahl der internationalen Beziehungsnetze koordinieren und die Kohärenz des Auftrittes der Schweiz sicherstellen. Wo dies nötig und sinnvoll ist, sollte dies durch die personelle Unterstützung aus andern Departementen der Bundesverwaltung erfolgen.

Von grösster Bedeutung sind ausserdem die jüngsten Entwicklungen im Bereich der Internetdiplomatie. Neue
Formen politischer Meinungsbildung beeinflussen heute immer stärker Inhalt und Führung der Aussenpolitik, und es ist eine Tatsache, dass der Trend zu virtuellem Arbeiten auch in der Aussenpolitik verstärkt Einzug hält: ­

Kaum eine Krise, in der die Koordination der Akteure, der Austausch von Informationen und die Bedürfnisanalyse nicht im Rahmen virtueller multilateraler Netzwerke erfolgt;

­

kaum ein Thema, bei dem Analyse, Meinungsbildung und Handlungsoptionen unter Fachpersonen nicht auch auf virtuellen Plattformen diskutiert und erarbeitet werden;

­

kaum ein politisches Ereignis, das nicht in Blogs und Chats von einer breiten Öffentlichkeit diskutiert wird.

Natürlich wäre es falsch zu glauben, dass diese neuen Instrumente den persönlichen Kontakt oder das Verhandeln von Angesicht zu Angesicht ersetzen. Ebenso falsch wäre es zu meinen, der traditionelle Stammtisch als Ort politischer Meinungsbildung würde bald nicht mehr existieren. Daneben entstehen aber andere Formen der politi1244

schen Auseinandersetzung, die ihrerseits beachtet und in die aussenpolitische Meinungsbildung einbezogen werden müssen. Die virtuelle Gemeinschaft Aussenpolitik befindet sich in raschem Wachstum.

Das EDA, das bereits in der Vergangenheit im Aufbau der e-Diplomatie international führend war, hat jahrelange Erfahrungen sowohl in der Bereitstellung von gemeinsamen verwaltungsinternen Plattformen für die aussenpolitische Entscheidbildung als auch in der Umsetzung aussenpolitischer Aktionen. Auch künftig wird das EDA der sich herausbildenden e-Diplomatie hohe Aufmerksamkeit widmen und seine Anstrengungen im Bereich der virtuellen Aussenkontakte mit Netzwerken von Spezialisten und mit der breiteren Öffentlichkeit verstärken.

Zum Schluss bleibt festzustellen, dass gewissen Debatten über die Aussenpolitik ein Hauch von Vergangenheit anhängt. Oft wird aussenpolitisches Handeln im Spannungsfeld von «Anpassung oder Widerstand» begriffen und das Augenmerk darauf gerichtet, ob irgendwelche Konzessionen gemacht wurden. Status quo und Widerstand gegen Veränderungsansprüchen von Aussen scheinen mit einem Sonderpreis bedacht zu werden. Dies ist allerdings eine politische Einbahnstrasse, und zwar aus verschiedenen Gründen: Historisch war und ist die Schweiz traditionell ein international stark vernetztes Land, das sich über Jahrhunderte durch das dynamische Management von Innen und Aussen ausgezeichnet hat, nach dem Motto «Anpassung wo nötig, Eigenständigkeit wo möglich». Aussenpolitik definiert sich immer in der permanenten Verhandlung, im Geben und Nehmen, in hartnäckiger Verteidigung und im Offerieren von Konzession. Das richtige zum richtigen Zeitpunkt zu tun, erfordert politisches Augenmass, und dieses strebt der Bundesrat in der Verfolgung seiner Aussenpolitik auch in Zukunft an.

1245

Anhang 1

Ergänzende Angaben zum Europarat (2009­Mai 2010) Dieser Anhang enthält ergänzende Angaben zur Tätigkeit der Schweiz in den verschiedenen Zuständigkeitsbereichen des Europarats.

1

Ministerkomitee

Entsprechend der englischen alphabetischen Reihenfolge übernahm die Schweiz für sechs Monate ­ vom 18. November 2009 bis zum 11. Mai 2010 ­ den Vorsitz im Ministerkomitee des Europarats. Der schweizerische Vorsitz endete mit der 120. Sitzung des Ministerkomitees in Strassburg. Die Vorsitzende, Bundesrätin Micheline Calmy-Rey, leitete sie zusammen mit dem neuen Vorsitzenden, dem mazedonischen Aussenminister A. Milososki.

Der Vorsitz bot der Schweiz eine Gelegenheit, ihr Engagement für die Werte und Normen des Europarats in Bereichen wie Schutz der Menschenrechte, Einhaltung des Rechtsstaats und Förderung der Demokratie zu bezeugen. Diese sind auch Prioritäten der Aussenpolitik unseres Landes.

Zusätzliche Aufgaben und Aktivitäten wurden unter dem Schweizer Vorsitz während dessen gesamter halbjähriger Dauer koordiniert und sichergestellt. Dies führte zu einer erhöhten Arbeitsbelastung für alle betroffenen Stellen in und ausserhalb der Bundesverwaltung.

Eine Zusammenfassung und Bilanz findet sich in Ziffer 2.2.2 des Berichts.

Das Ministerkomitee des Europarats hielt am 12. Mai 2009 in Madrid seine 119. Sitzung ab, zunächst unter dem Vorsitz von A. Moratinos, dem spanischen Aussenminister, dann unter dem Vorsitz von S. Zbogar, dem slowenischen Aussenminister. Die schweizerische Delegation wurde von der Vorsteherin des EDA, Bundesrätin Micheline Calmy-Rey, geleitet. 25 Minister sowie 16 Vizeminister oder Staatssekretäre nahmen an dieser Sitzung teil, die ausnahmsweise in der spanischen Hauptstadt stattfand, um das 60-jährige Bestehen der Organisation zu feiern. Das wichtigste Ergebnis des spanischen Vorsitzes im Ministerkomitee, der in Madrid endete, war die Verabschiedung von Beschlüssen, mit denen die Überlastung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte behoben werden sollte. Die Zukunft des Gerichtshofs genoss besondere Aufmerksamkeit. Dieses Thema entsprach den Zielen, die sich die Schweiz für ihren Vorsitz im Ministerkomitee gesteckt hatte. Die Vorsteherin des EDA erklärte, die Schweiz werde zu diesem Zweck eine hochrangige Konferenz einberufen, deren Thema die Zukunft des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sei.

Die Minister begrüssten diese Initiative und beschlossen, die Konferenz in der Abschlusserklärung zu erwähnen. Die Wahl eines neuen Generalsekretärs des Europarats
beschäftigte die Minister ebenfalls. Die Wahl erfolgt durch die parlamentarische Versammlung des Europarats aus einer vom Ministerkomitee vorgeschlagenen Kandidatenliste. Dabei war bei der Empfehlung von Kandidaten eine heikle Situation entstanden. Nachdem die Minister nämlich zwei der vier Kandidaten eliminiert hatten, war es zum Konflikt zwischen dem Ministerkomitee und der parlamentari1246

schen Versammlung gekommen, und letztere wollte zunächst nicht auf das Geschäft eintreten.

Dank der Bemühungen des slowenischen Vorsitzenden, der eng mit der zukünftigen schweizerischen Vorsitzenden, der Vorsteherin des EDA, zusammenarbeitete, konnte ein intensiver Dialog mit der parlamentarischen Versammlung aufgenommen werden. Am 29. September 2009 wählte diese schliesslich den Norweger T. Jagland mit 165 Stimmen gegen 80 Stimmen für den polnischen Kandidaten W. Cimoszewicz.

Der Dialog zwischen dem Ministerkomitee und der parlamentarischen Versammlung wurde unter dem schweizerischen Vorsitz fortgeführt. Ad-hoc-Sitzungen fanden am 18. März 2010 in Paris und am 26. April 2010 in Strassburg statt. Sie waren sehr nützlich, um den Informationsaustausch zu verbessern und das gegenseitige Vertrauen zu stärken.

An der 120. Sitzung des Ministerkomitees nahmen 34 Aussenminister und Vizeaussenminister teil. An dieser Sitzung konnte das Ministerkomitee eine Anzahl formeller Beschlüsse über Themen von strategischer Bedeutung fassen, insbesondere betreffend die Folgetätigkeit nach der Konferenz von Interlaken und die Beziehungen zur Europäischen Union. Auf Initiative der Schweiz wurde von der scheidenden und dem neuen Vorsitzenden des Ministerkomitees eine Erklärung über Bosnien und Herzegowina abgegeben. Sie appelliert an das Land, nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von Ende 2009 im Fall Sejdic und Finci gegen Bosnien und Herzegowina seine Verfassung in Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention zu bringen; ferner hält sie die Behörden dazu an, das Fachwissen der Venedigkommission in Anspruch zu nehmen, und bietet die Unterstützung des Europarats für die Reformbemühungen an.

Der Erfolg des Schweizer Vorsitzes wurde von allen Delegationen, die das Wort ergriffen, begrüsst. Sein wichtigstes Ergebnis ist zweifellos die einstimmige Verabschiedung der «Erklärung von Interlaken» durch alle Mitgliedstaaten.

2 2.1

Demokratischer Zusammenhalt Menschenrechte

Im Mittelpunkt der Aktivitäten des Lenkungsausschusses für Menschenrechte (CDDH) standen auch in diesem Berichtsjahr die Diskussionen über die Reform des Kontrollsystems der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Die Diskussionen standen bereits stark unter den Vorzeichen der Konferenz von Interlaken, welche die Schweiz im Rahmen ihrer Präsidentschaft des Ministerkomitees im Februar 2010 organisiert hat. An seiner Frühjahrssitzung im März 2009 verabschiedete der Ausschuss seinen Tätigkeitsbericht «Sicherstellung der langfristigen Effizienz des EMRK-Kontrollverfahrens». Im gleichen Zusammenhang verabschiedete er seine abschliessende Stellungnahme zur Frage, wie gewisse in Protokoll Nr. 14 zur EMRK vorgesehene organisatorische Entlastungsmassnahmen (Einführung von Einzelrichtern; neue Kompetenzen für die Dreierausschüsse) bereits vor Inkraft-

1247

treten dieses Protokolls69 umgesetzt werden könnten. Auf der Grundlage dieser Stellungnahme konnten die zuständigen Minister an der Konferenz von Madrid im Mai 2009 unter anderem das Protokoll Nr. 14bis zur EMRK verabschieden, welches die genannten Entlastungsmassnahmen enthält.

Wichtigstes Ergebnis der Herbstsitzung im November 2009 war die Verabschiedung der Stellungnahme des CDDH zu den Themen, die an der Interlaken Konferenz behandelt werden sollten. Das Dokument bildete in der Folge eine wichtige Grundlage bei der Vorbereitung der politischen Erklärung, welche schliesslich am 19. Februar 2010 in Interlaken verabschiedet werden konnte (s. dazu Ziff. 2.2.1).

Neben der Reformdiskussion begleitete der CDDH die Aktivitäten seiner Unterausschüsse sowie der von diesen eingesetzten Arbeitsgruppen. Zu den wichtigsten gehören die Arbeiten in den Bereichen Menschenrechte und Asylverfahren (Verabschiedung von kommentierten Leitlinien über den Schutz der Menschenrechte im beschleunigten Asylverfahren), Menschenrechte der Armeeangehörigen und Schutz vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung (je Verabschiedung einer Empfehlung, mit Begleitbericht).

Der dem CDDH unterstellte Sachverständigenausschuss für Fragen zum Schutz nationaler Minderheiten hat seine zwei jährlichen Sitzungen im April bzw. November 2009 abgehalten. Er hat insbesondere geprüft, ob es zulässig sei, Daten ethnischer Art zu erheben, und hat geeignete Methoden dafür untersucht. Ferner hat er eine Analyse der Verteilung öffentlicher finanzieller Unterstützung an Verbände nationaler Minderheiten in Angriff genommen, um eine diesbezügliche gute Praxis zu bestimmen.

Neu geschaffen worden ist der Sachverständigenausschuss über Straflosigkeit, der dem CDDH untersteht. Anlässlich seiner ersten Sitzung vom 9.­11. September 2009 drehten sich die Diskussionen darum, ob Richtlinien des Europarats zur Bekämpfung der Straflosigkeit bei Verletzung von Menschenrechten angezeigt und machbar seien. Der Sachverständigenausschuss sprach sich für die Erarbeitung solcher Richtlinien aus, aber die Frage ihrer konkreten Form blieb weitgehend offen. An seiner zweiten Sitzung am 4. und 5. März 2010 begann er mit der Erarbeitung der Richtlinien.

Im Berichtsjahr feierte der Lenkungsausschuss für Bioethik (CDBI) den 10. Jahrestag des Inkrafttretens
der Konvention über Biomedizin. Der Schwerpunkt seiner Arbeit lag auf der Vorbereitung einer für Ende 2010 geplanten Ministerkonferenz zu ethischen Fragen im Zusammenhang mit der Forschung am Menschen in Entwicklungs- und Transitionsländern. Er genehmigte ferner die Publikation eines Leitfadens für die Mitglieder von nationalen Ethikkommissionen für die Forschung, der im Zuge einer informellen Vernehmlassung in der Schweiz verbreitet wurde.

Damit die Arbeit des CDBI wirksamer wird, haben die Mitgliedstaaten, unter ihnen die Schweiz, beschlossen, die Arbeitsmethoden des Lenkungsausschusses zu überprüfen und die Dauer der beiden jährlichen Sitzungen zu verkürzen.

69

Das Protokoll Nr. 14 zur Europäischen Menschenrechtskonvention ist am 1. Juni 2010 in Kraft getreten, nachdem Russland es als 47. und letzter Vertragsstaat am 18. Februar 2010 in Interlaken ratifiziert hat.

1248

2.2 2.2.1

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Konferenz von Interlaken über die Reform des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Im Rahmen ihres Europaratsvorsitzes organisierte die Schweiz am 18. und 19. Februar 2010 in Interlaken eine hochrangige Konferenz über die Zukunft des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) unter dem gemeinsamen Vorsitz der beiden Departementschefinnen des EJPD und des EDA. Die Schweiz, welche die Reform des Gerichtshofs zu einem der Schwerpunkte ihrer Präsidentschaft erklärt hatte, wollte mit der Konferenz von Interlaken ein klares politisches Zeichen zur Dynamisierung dieses Reformprozesses setzen.

Anlass dieser Konferenz, welche auf eine Idee des Präsidenten des EGMR zurückgeht, war die chronische Überlastung des EGMR, welche das längerfristige Funktionieren des Systems gefährdet: Über 120 000 Beschwerden waren anfangs Januar 2010 hängig. Die Tendenz ist weiter zunehmend. Grosse Probleme werfen insbesondere die zahlreichen unzulässigen Beschwerden sowie die stets wiederkehrenden Fälle auf, welche die Hauptursachen für die Überlastung des Systems bilden.

Gewisse Abhilfe verspricht hier das Protokoll Nr. 14 zur EMRK, das im Mai 2004 verabschiedet wurde und am 1. Juni 2010 in Kraft getreten ist, nachdem Russland als letzter Vertragsstaat sinne Ratifikationsurkunde am Rande der Konferenz von Interlaken hinterlegt hat. Um die dringendsten Probleme zu beheben, hatten die Vertragsstaaten der EMRK anlässlich des Treffens des Ministerkomitees in Madrid vom 12. Mai 2009 die vorläufige Anwendung gewisser Teile des Protokolls Nr. 14 auf den 1. Juni 2009 beschlossen.

Die Schweiz verfolgte mit der Interlaken-Konferenz drei Ziele: 1.

Die Bekräftigung der Verpflichtung der Vertragsstaaten zur Einhaltung und Umsetzung der in der EMRK garantierten Rechte.

2.

Die politische Unterstützung für die Anstrengungen des Gerichtshofs, seine eigene Effizienz im Rahmen der geltenden Bestimmungen kurzfristig zu steigern.70

3.

Die Aktivierung eines Prozesses zur mittel- und langfristigen Reform des Gerichtshofs, um diesen auf eine dauerhaft funktionsfähige Grundlage zu stellen.

Diese Ziele wurden vollumfänglich erreicht. Die Konferenz, an welcher die meisten Mitgliedstaaten des Europarates auf Ministerebene vertreten waren, verabschiedete am 19. Februar 2010 per Akklamation die von der Schweiz vorbereitete «Erklärung von Interlaken», welche das System zur Kontrolle der EMRK stärkt und verbessert.

Eine positive Vorwirkung erzielte die Konferenz dadurch, dass Russland unmittelbar vor Beginn als letztes Land das Protokoll 14 zur EMRK ratifizierte.

Die Interlaken-Erklärung beschränkt sich nicht auf eine politische Absichtserklärung. Sie enthält auch einen umfangreichen Aktionsplan zur Verbesserung und Reform des Systems. Darin werden konkrete, mit Fristen versehene Schritte angeführt, die dazu beitragen sollen, den EGMR dauerhaft zu entlasten. Die Erklärung bekräftigt unter anderem das Subsidiaritätsprinzip: Primär verantwortlich für die 70

D.h. ohne Änderung der EMRK.

1249

Umsetzung und Einhaltung EMRK und der Rechtsprechung des EGMR sind die Vertragsstaaten. Ebenfalls unterstrichen wird die Wichtigkeit der raschen und konsequenten Umsetzung der Urteile des EGMR im Einzelfall und auf allgemeiner Ebene. Diese und weitere Massnahmen sollen die Anzahl Beschwerden verringern helfen.

Auch der Gerichtshof selbst ist im Aktionsplan angesprochen: Er soll durch organisatorische Verbesserungen sowie durch eine klare und kohärente Rechtsprechung zu seiner Entlastung beitragen. Das Ministerkomitee wird die im Aktionsplan enthaltenen Massnahmen einer laufenden Evaluation unterziehen, damit es anschliessend über die Notwendigkeit tiefgreifender Reformen des Systems entscheiden kann, falls die Effizienzsteigerungen nicht im erforderlichen Ausmass eintreten.

2.2.2

Die Schweiz vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

Im Berichtszeitraum fällte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sieben die Schweiz direkt betreffende Urteile.71 In fünf Fällen stellte der EGMR mindestens eine Verletzung der EMRK fest. Zwei an die Regierung zugestellte Beschwerden erklärte er für unzulässig. Fünf weitere Fälle strich er ferner aus dem Register, weil die Umstände Grund zur Annahme gaben, dass die Beschwerdeführer beabsichtigten, ihre Beschwerde nicht weiterzuverfolgen (Art. 37 Abs. 1 Bst. a EMRK) respektive die Streitigkeit einer Lösung zugeführt worden war (Art. 37 Abs. 1 Bst. b EMRK). Zwei weitere Beschwerden erklärte er für unzulässig.

Im Fall Shabani (Urteil vom 5. November 2009) verbrachte der Beschwerdeführer in der Schweiz fünf Jahre in Untersuchungshaft, ehe ihn das Bundesstrafgericht wegen schwerer, gewerbsmässig begangener Verstösse gegen die Betäubungsmittelgesetzgebung sowie wegen seiner führenden Rolle in einer kriminellen Organisation zu einer Gefängnisstrafe von 15 Jahren verurteilte. Vor dem EGMR macht der Beschwerdeführer die Verletzung seines Rechts auf ein Urteil innert angemessener Frist oder auf Entlassung während des Verfahrens geltend (Art. 5 Abs. 1 Bst. c und Abs. 3 EMRK). Für den EGMR hatten innerstaatlichen Stellen die Möglichkeit der Entlassung bis zur Gerichtsverhandlung aufgrund der starken Indizien für die Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zu einer kriminellen Organisation sowie seiner Fluchtgefahr zu Recht ausgeschlossen. Was die Verfahrenslänge anbelangt, verweist der EGMR auf die grosse Komplexität, die der Verfolgung von organisiertem Verbrechen eigen ist, sowie auf die Schwere der vorgeworfenen Verbrechen im vorliegenden Fall, weshalb er die Anforderungen von Artikel 5 Absatz 3 EMRK als erfüllt betrachtet.72 Der Fall Werz (Urteil vom 17. Dezember 2009) betrifft das Recht auf ein faires Verfahren und auf ein Urteil innert angemessener Frist. Dem Beschwerdeführer waren vom Bundesgericht die Schreiben des Obergerichts des Kantons Bern und der Staatsanwaltschaft nicht übermittelt worden. Zudem wurde ihm das schriftlich 71

72

Seit 2008 publiziert das Bundesamt für Justiz die Quartalsberichte über die Rechtsprechung des EGMR; darin werden die Urteile und Entscheidungen des EGMR in Schweizer Fällen zusammengefasst, desgleichen eine Auswahl aus der Rechtsprechung gegenüber anderen Vertragsstaaten (http://www.bj.admin.ch/bj/de/home/themen/staat_und_buerger/ menschenrechte2/europaeische_menschenrechtskonvention.html).

Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK.

1250

begründete Urteil des Obergerichts 15 Monate nach der mündlichen Urteilsverkündung zugestellt, derweil die kantonale Strafprozessordnung hierzu eine Frist von 60 Tagen vorsah. Der EGMR unterstrich das Recht der Prozessparteien zu sämtlichen Eingaben der Gegenparteien Stellung nehmen zu können sowie auf das Recht auf ein Urteil innert angemessener Frist und schloss auf eine Verletzung von Artikel 6 EMRK.73 Im Fall Schlumpf (Urteil vom 8. Januar 2009) lebte die ursprünglich männliche Beschwerdeführerin seit 2002 im Alltag als Frau. 2003 begann sie eine Hormonund eine Psychotherapie. Im November 2004 beantragte sie bei ihrer Krankenkasse die Übernahme der Kosten für eine Geschlechtsumwandlungsoperation. Mit Schreiben vom 29. November 2004 lehnte die Krankenkasse das Gesuch ab. Ohne von diesem Schreiben Kenntnis genommen zu haben, unterzog sich die Beschwerdeführerin am 30. November 2004 der Operation. Sie verlangte daraufhin von der Krankenkasse eine anfechtbare Verfügung, gegen welche sie in der Folge bis vor Bundesgericht Beschwerde erhob. Gemäss Rechtsprechung werden die Kosten für Geschlechtsumwandlungsoperationen nur dann übernommen, wenn die Diagnose gesichert ist, wofür sich der Patient vorgängig während zwei Jahren einer Hormonund Psychotherapie unterzogen haben muss. Unter Hinweis auf diese Rechtsprechung, deren Bedingungen nicht erfüllt waren, wurden die Beschwerden abgewiesen. Die Beschwerdeführerin rügt vor dem EGMR eine Verletzung von Artikel 6 Absatz 1 und Artikel 8 EMRK.

Für den EGMR ist die Ablehnung des Antrags auf Einholung von zusätzlichen Expertenmeinungen durch das Eidgenössische Versicherungsgericht (EVG) unverhältnismässig gewesen. Das Gericht habe damit unzulässigerweise seine eigene Meinung anstelle derjenigen der medizinischen Fachpersonen gesetzt. Weil sich im Verfahren im Übrigen nicht nur rechtliche oder technische Fragen gestellt hätten, seien die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Verweigerung einer öffentlichen Verhandlung nicht erfüllt gewesen, weshalb das Recht der Beschwerdeführerin auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 EMRK verletzt sei.74 Bei der Anwendung der zweijährigen Wartefrist schliesslich habe das EVG nicht berücksichtigt, dass seit der Begründung der diesbezüglichen Rechtsprechung im Jahr 1988 im Bereich der Feststellung der Transsexualität medizinische
Fortschritte gemacht worden seien.

Der auf diese Rechtsprechung gestützte Entscheid habe der besonderen Situation der Beschwerdeführerin, die im Zeitpunkt des Antrags auf Kostenübernahme bereits 67 Jahre alt war, nicht genügend Rechnung getragen, weshalb der Gerichtshof darauf schloss, dass das Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Artikel 8 EMRK verletzt sei.75 Die Erstbeschwerdeführerin im Fall Neulinger und Shuruk (Urteil vom 8. Januar 2009) verliess 2005 mit ihrem Sohn (Zweitbeschwerdeführer) Israel in Missachtung eines örtlichen Gerichtsbeschlusses. Nachdem die kantonalen Gerichte das Rückführungsgesuch des Kindsvaters abgewiesen hatten, ordnete das Bundesgericht mit Urteil vom 16. August 2007 an, die Erstbeschwerdeführerin müsse für die Rückkehr des Kindes bis Ende September 2007 sorgen. Für die Beschwerdeführer hat das Bundesgericht dem Kindswohl nicht genügend Rechnung getragen. Der EGMR 73 74 75

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK.

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK.

Verletzung von Art. 8; das Gesuch der Schweiz um Neubeurteilung durch die Grosse Kammer wurde abgelehnt.

1251

qualifiziert die Abreise der Beschwerdeführer aus Israel als widerrechtlich im Sinne des Haager Kindsentführungsübereinkommens.76 Das Übereinkommen sieht für solche Fälle die sofortige Rückführung des Kindes in den Herkunftsstaat vor, es sei denn, diese sei mit der Gefahr eines schwerwiegenden körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden. Bei der nach Artikel 8 Absatz 2 EMRK vorzunehmenden Interessenabwägung sei deshalb zu prüfen, ob das Bundesgericht zu Recht einen solchen Ausnahmefall verneint habe.

Für den EGMR deutet nichts darauf hin, dass die israelischen Behörden nicht im Stande oder nicht willens wären, die Beschwerdeführer vor allfälligen Aggressionen des Kindsvaters zu schützen. Der EGMR hält eine Rückkehr weiter für zumutbar, weil die Erstbeschwerdeführerin seinerzeit freiwillig nach Israel gezogen sei, dort sechs Jahre gelebt habe und in der Schweiz für dasselbe multinationale Unternehmen tätig sei, wie sie es dort gewesen sei. Die Gefahr einer strafrechtlichen Verurteilung und einer damit verbundenen Inhaftierung der Erstbeschwerdeführerin sei schliesslich auf Grund der Aussagen der israelischen Behörden stark zu relativieren.

Endlich sei das Wohl des Kindes am besten gewahrt, wenn Letzteres zu beiden Eltern Kontakt pflegen könne. Der Gerichtshof befand somit, der angefochtene Entscheid des Bundesgerichts stelle keine Verletzung von Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) dar. Das Urteil des EGMR wurde inzwischen von der grossen Kammer umgestossen.77 Im Fall Glor (Urteil vom 30. April 2009) war der Beschwerdeführer aus gesundheitlichen Gründen für militärdienstuntauglich erklärt worden. Da sein Invaliditätsgrad die Grenze einer 40-prozentigen Beeinträchtigung nicht erreichte, wurde er von der Militärpflichtersatzabgabe jedoch nicht befreit. Vor dem EGMR behauptete der Beschwerdeführer einen diskriminierenden Eingriff in sein Privatleben (Art. 8 i.V.m. Art. 14 EMRK), weil er einerseits gegen seinen Willen vom Militärdienst abgehalten, ihm jedoch andererseits die Militärpflichtersatzabgabe aufgebürdet werde.

Nach dem EGMR erfasst Artikel 8 EMRK auch die physische Integrität von Personen, mithin auch eine Abgabe, die ihren Ursprung in einer krankheitsbedingten Untauglichkeit zum Militärdienst hat. Der Beschwerdeführer sei in zweierlei Hinsicht
ungleich behandelt worden: Einerseits gegenüber Personen, die einen höheren Behinderungsgrad als er aufweisen; diese sind von der Militärpflichtersatzabgabe befreit. Andererseits kann er sich auch nicht über den Zivildienst von der Steuer befreien, weil dieser Personen offen steht, die den Militärdienst aus Gewissensgründen verweigern. Die objektive Begründung dieser Unterscheidungen prüft der EGMR namentlich anhand folgender Kriterien: die Höhe der Ersatzabgabe und die Dauer der Zahlungspflicht; der Wille des Beschwerdeführers, Militärdienst oder auch Zivildienst zu leisten, das Fehlen von geeigneten Alternativen für behinderte Personen. Er folgert, dass die von der Schweiz angeführten Gründe nicht überzeugten und die Schweiz der Situation des Beschwerdeführers nicht hinreichend Rechnung getragen hat und damit gegen Art. 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) in Verbindung mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) verstossen hat.78 76 77 78

SR 0.211.230.02 Siehe Urteil der Grossen Kammer des EGMR Neulinger und Shuruk gegen die Schweiz vom 6. Juli 2010.

Das Gesuch der Schweiz um Neubeurteilung durch die Grosse Kammer wurde abgelehnt.

1252

Im Fall Gsell (Urteil vom 8. Oktober 2009) war der Beschwerdeführer von der Polizei des Kantons Graubünden daran gehindert worden, sich als Journalist an das World Economic Forum 2001 und die Gegenveranstaltung Public Eye on Davos zu begeben. Für den EGMR beruhte die Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit des Beschwerdeführers (Art. 10 EMRK) nicht auf einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage. Die von den zuständigen Behörden angerufene polizeiliche Generalklausel (Art. 36 Absatz 1 der Bundesverfassung) genüge nicht, weil die für Davos befürchteten Ausschreitungen voraussehbar gewesen seien: Die Bündner Behörden hätten den Umfang der Demonstrationen der Antiglobalisierungsbewegung in Anbetracht der Ereignisse, die sich bereits im Vorfeld des WEF auf internationaler Ebene abspielten, voraussehen müssen, zumal sich bereits in den beiden Jahren zuvor militante Demonstranten in Davos eingefunden hatten. Der Gerichtshof schloss auf eine Verletzung von Artikel 10 EMRK (Freiheit der Meinungsäusserung).79 Im Fall VgT Verein gegen Tierfabriken Schweiz Nr. 2 (Urteil vom 30. Juni 2009) bestätigte die von der Schweiz angerufene Grosse Kammer des EGMR das Urteil der Kammer vom 4. Oktober 2007, JB 2007, BBl 2008 4510 f. Der Fall betraf die Ausstrahlung eines Fernsehspots über die Zucht von Tieren für die Fleischproduktion. Nachdem die Übertragung des Spots von den zuständigen Behörden abgelehnt worden war, stellte der Gerichtshof in einem ersten Urteil vom 28. Juni 2001 eine Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit gemäss Artikel 10 der Konvention fest.

Ein in der Folge des ersten EGMR Urteil vom VgT eingereichtes Revisionsgesuch wies das Bundesgericht mit der Begründung ab, der VgT habe kein fortbestehendes Interesse an der Ausstrahlung des ursprünglichen Spots dargelegt.

Erneut befasst durch den VgT erklärte sich der EGMR als zuständig, da die Rüge des VgT eine neue Frage sei, die über die Überprüfung der Umsetzung des ersten Urteils hinausgehe. Wie bereits die Kammer stellt auch die Grosse Kammer eine Verletzung von Artikel 10 EMRK fest. Das Bundesgericht sei übermässig formalistisch vorgegangen und habe seine eigene Einschätzung des Interesses an einer Ausstrahlung des Spots derjenigen des VgT substituiert. Es fehlte somit eine rechtserhebliche und ausreichende Begründung für den streitigen Eingriff in die Meinungsäusserungsfreiheit nach Artikel 10 EMRK.

2.3

Gleichstellung von Männern und Frauen

Die Schweiz hat an der Konferenz über eine geschlechterspezifische Perspektive des Budgetprozesses (Gender Budgeting) teilgenommen, die am 5. und 6. Mai 2009 in Athen stattfand. Sie befasste sich mit dem Thema der öffentlichen Haushalte ­ wesentliches Element einer echten Gleichstellung von Frauen und Männern.

Am 23. September 2009 fand in Strassburg ein informelles Netzwerktreffen über eine durchgängige Gleichstellungsorientierung (Gender Mainstreaming) statt, mit Schwerpunktthema Gender Mainstreaming und sozialer Schutz. Die teilnehmende Schweizer Fachfrau wies auf das Armutsrisiko von Frauen nach einer Scheidung hin. Das Ministerkomitee gab anlässlich seiner 119. Plenarsitzung vom 12. Mai 2009 in Madrid eine Erklärung über die effektive Verwirklichung der Gleichstellung von Frauen und Männern ab; diese fand in den Mitgliedstaaten weite Verbreitung.

79

Verletzung von Art. 10 EMRK.

1253

Überdies verpflichteten sich die Justizminister der Mitgliedsländer des Europarats an ihrer Sitzung in Tromso am 19. Juni 2009, konkrete Massnahmen zur Bekämpfung der häuslichen Gewalt zu ergreifen und das Schweigen zu brechen, das diese umgibt.80 Eine Schweizer Delegation, die sich aus Vertreterinnen des eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann, des Bundesamts für Justiz und der Direktion für Völkerrecht zusammensetzte, nahm an der Erarbeitung des Entwurfs eines Übereinkommens über Verhütung und Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen und der häuslichen Gewalt und an den Verhandlungen darüber teil. Ziel dieses Übereinkommens ist der Schutz der Opfer und die strafrechtliche Verfolgung der Täter.

Im Rahmen eines parallelen Anlasses, der von der schweizerischen Delegation bei der parlamentarischen Versammlung des Europarats anlässlich der Sitzung des Ständigen Ausschusses der Versammlung in Bern am 19. November 2009 organisiert wurde, stellte das eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann seine Übersichtsstudie «Gewalt in Paarbeziehungen ­ Ursachen und in der Schweiz getroffene Massnahmen» vor.

2.4

Kampf gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit

Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) veröffentlichte 2009 ihren vierten Bericht über die Schweiz auf der Grundlage schriftlicher Dokumente sowie eines Delegationsbesuchs (15.­19. September 2008). Die Delegierten trafen sich mit Vertretern und Vertreterinnen von Bundesämtern sowie interkantonaler Konferenzen und besuchten die Stadt Zürich und den Kanton Neuenburg. Sie führten ausserdem auf eigene Initiative Gespräche mit ausserparlamentarischen Kommissionen sowie Vertretungen von Nichtregierungsorganisationen.

Im Vergleich zu den vorherigen Berichten geht der vierte Bericht eingehender auf die Rolle ein, welche Föderalismus, Subsidiarität und direkte Demokratie in politischen Prozessen und Entscheidungsfindungen spielt. Der Bericht lobt die Fortschritte der letzten Jahren und erwähnt dabei speziell das neue Ausländergesetz, das neue Einbürgerungsgesetz (SR 141.0), die Bemühungen im Integrationsbereich, die klaren Stellungnahmen der Behörden gegen Rassismus, Antisemitismus und religiöse Intoleranz und den erfolgreichen Einsatz zur Sensibilisierung für Rassismus und Diskriminierung der Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB), der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) und der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen (EKM), dies trotz limitierter personeller und finanzieller Ressourcen. Verbesserungsvorschläge betreffen insbesondere die Sensibilisierung von Polizisten, Richtern, Anwälten und Juristen bezüglich der Anwendung der Antirassismus-Strafnorm sowie die kontinuierliche Überprüfung der Wirkung der Integrationsmassnahmen.

Der Bericht wurde vom EDI den involvierten Stellen, den Kantonen und den angesprochenen interkantonalen Konferenzen mit der Anregung weitergeleitet, die Empfehlungen zu prüfen und sich gemeinsam verstärkt gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu engagieren.

80

Entschliessung Nr. 1 über die Verhütung und Bekämpfung der häuslichen Gewalt.

1254

Die EKR informierte die ECRI über die aktuelle Lage der Rassismusbekämpfung in der Schweiz im Vorfeld der Veröffentlichung im Berichtsjahr des Vierten Länderberichts zur Schweiz. In ihrer Medienmitteilung zum ECRI-Bericht (15. September 2009) wies die EKR insbesondere auf den fehlenden Diskriminierungsschutz in wichtigen zivilen Lebensbereichen wie Arbeit und Wohnen hin. Auch begrüsste die EKR die Empfehlung zur Verstärkung der Bemühungen im Kampf gegen Rassismus im politischen Diskurs und in den Medien.

2.5

Rechtliche Zusammenarbeit und Strafrechtsfragen

Im Rahmen des Aktionsplans 2008­2009 hat der Europäische Ausschuss für rechtliche Zusammenarbeit (CDCJ) eine Arbeitsgruppe, die sich aus Fachleuten des Bürgerrechts zusammensetzt und in der die Schweiz ebenfalls vertreten ist, beauftragt, eine Empfehlung für Massnahmen zu erarbeiten, mit denen die Fälle staatenloser Kinder vermindert werden sollen. Das Ministerkomitee hat diese Empfehlung am 9. Dezember 2009 angenommen.81 Im Vordergrund der Tätigkeit des Sachverständigenausschusses für die Anwendung europäischer Übereinkommen auf dem Gebiet des Strafrechts stand die Aktualisierung des Europäischen Auslieferungsübereinkommens von 1957. Der Ausschuss hat einen Entwurf für ein drittes Zusatzprotokoll zu diesem Übereinkommen und den dazugehörigen erläuternden Bericht fertiggestellt und zuhanden des Europäischen Ausschusses für Strafrechtsfragen (CDPC) verabschiedet. Mit diesem neuen Instrument sollte das Auslieferungsverfahren bei Zustimmung der strafrechtlich verfolgten Person vereinfacht und beschleunigt werden.

Der Europarat hat die Empfehlung Rec(2004)11 des Ministerkomitees über juristische, organisatorische und technische Standards für E-Voting (elektronische Wahlen) ausgearbeitet. Die Empfehlung Rec(2004)11 enthält eine Folgeklausel, d.h. die Empfehlung muss nach ihrer Annahme periodisch überprüft werden, um ihre Auswirkungen in den Mitgliedstaaten zu evaluieren und zu entscheiden, ob eine Aktualisierung notwendig ist. Die Zertifizierung der elektronischen Stimmabgabesysteme und die Entwicklung von Richtlinien zur Beobachtung von elektronischen Wahlen sind derzeit Gegenstand von Untersuchungen im Hinblick auf eine allfällige Aktualisierung der Empfehlung Rec(2004)11. Der Europarat organisierte vom 26.­27. November 2009 eine erste Sitzung zum Thema Zertifizierung von E-VotingSystemen (Programm und Links zu den Präsentationen). Die Bundeskanzlei war an dieser Konferenz vertreten; ebenso waren Vertreter des E-Voting-Projekts des Kantons Genf anwesend, die den Genfer Zertifizierungsansatz für E-Voting-Systeme vorstellten.

81

CM/Rec(2009)13.

1255

2.6 2.6.1

Medien Ministerkonferenz von Reykjavik

Am 28. und 29. Mai 2009 trafen sich die für Medien und die neuen Kommunikationsmittel verantwortlichen Minister der 47 Mitgliedstaaten des Europarats, Sachverständige sowie Vertreter der Zivilgesellschaft, der Jugend und der Geschäftswelt in Reykjavik. Thema der Konferenz waren die sozialen, kulturellen und technologischen Umwälzungen im Medien- und Kommunikationssektor, und es wurde über die Herausforderungen diskutiert, die sich durch die neuen Medien oder verwandte Dienstleistungen wie Suchmaschinen, Blogs, soziale Netzwerke oder InternetProvider für die Meinungsäusserungsfreiheit stellen. Diese Ministerkonferenz ist von grosser Bedeutung, denn sie legt das Arbeitsprogramm des Europarats im Bereich Medien und neue Kommunikationswege für die nächsten Jahre fest.

Ergebnis dieser Konferenz unter dem Motto «Ein neues Medienkonzept?» waren eine politischen Grundsatzerklärung und eine Entschliessung mit dem Titel «Auf dem Weg zu einem neuen Medienkonzept?» samt einem Aktionsplan, eine Entschliessung über die Internet-Gouvernanz und sensible Ressourcen im Internet sowie eine Entschliessung über die Entwicklung der Gesetzgebung im Bereich Terrorismusbekämpfung in den Mitgliedstaaten des Europarats und deren Auswirkungen auf die Meinungsäusserungs- und Informationsfreiheit.

Im Rahmen der Debatte zum Unterthema «Vertrauen in den Inhalt ­ Vertrauen in die Medien?» hat die Schweiz betont, dass eine gewisse Regulierung der Medien und der neuen Kommunikationswege, insbesondere des Internets, erforderlich ist.

Das enorme Informationsvolumen in den neuen Medien und die Geschwindigkeit, mit der Informationen übermittelt werden, bietet nämlich an sich noch keine Gewähr für eine erhöhte Qualität des Inhalts. Es sollten daher geeignete Massnahmen ergriffen werden, um die Diversität und die Qualität der Inhalte im Internet wie auch in den traditionellen Medien zu fördern.

Die Schweiz, die sich aktiv an der Vorbereitung der Konferenz beteiligte und an ihr mitwirkte, betonte die Notwendigkeit, den kritischen Sinn der Öffentlichkeit gegenüber den neuen Kommunikationsdiensten und -technologien durch geeignete erzieherische Mittel zu fördern. Insbesondere was das Internet betrifft, forderte sie alle Beteiligten auf, sich zusammenzusetzen, um eine Gouvernanz der InternetRessourcen zu definieren, die den Bedürfnissen
der Benutzerinnen und Benutzer entspricht. Der Europarat, als Vorkämpfer für die mit den Menschenrechten verbundenen Werte, sei es sich schuldig, in diesem Bereich eine Schlüsselposition einzunehmen.

In den zwei Tagen vor der Ministerkonferenz organisierte der Europarat ein Jugendforum, um diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die die Zukunft der Informationsgesellschaft bilden, und um die Debatten an der Konferenz zu bereichern. Die Schweiz hat die Beteiligung eines Vertreters der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände (SAJV) an diesem Forum unterstützt.

Am 27. Mai 2009, also am Tag vor der Ministerkonferenz, organisierte der Europarat gemeinsam mit dem niederländischen Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft und dem Institute for Information Law der Universität Amsterdam sowie mit Unterstützung des isländischen Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Reykjavik ein Forum über Anti-Terror-Gesetze in Europa und ihre Folgen für die Meinungs- und Informationsfreiheit.

1256

Zweck dieses Forums war ein Erfahrungsaustausch unter den Mitgliedstaaten des Europarats über die Auswirkungen der Anti-Terror-Gesetze und ihrer Umsetzung auf die Meinungsäusserungs- und Informationsfreiheit. Vertreter der Medien, der Zivilgesellschaft, der nationalen Behörden sowie unabhängige Sachverständige untersuchten, ob die Standards des Europarats, welche das Recht auf Meinungsäusserungs- und Informationsfreiheit im Rahmen der Terrorismusbekämpfung festlegten, in der europäischen Gesetzgebung und Praxis eingehalten werden.

2.6.2

Europäischer Dialog über die Internet-Gouvernanz (EuroDIG)

Die Schweiz spielte eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung des zweiten europäischen Dialogs über die Internet-Gouvernanz (EuroDIG), den sie gemeinsam mit der Europäischen Rundfunkunion und dem Bundesamt für Kommunikation ­ mit Unterstützung des Europarats ­ organisierte. Dieser Dialog fand am 14. und 15. September 2009 in Genf statt. Über 200 Vertreter der Branche, der Regierungen, der Parlamente und der Zivilgesellschaft nahmen daran teil. Der EuroDIG ist ein multilaterales Netzwerk, das allen offen steht. Er wurde 2008 geschaffen mit dem Ziel, auf gesamteuropäischer Ebene eine Gesprächsplattform über die Herausforderungen der Internet-Nutzung und -Gouvernanz zu bilden. Das Engagement der Schweiz und des Europarats bei der Entwicklung des EuroDIG wurde von den Teilnhemenden sehr geschätzt. Der EuroDIG hiess den Vorschlag gut, dass der Europarat ­ vorbehaltlich der Genehmigung durch dessen leitende Instanzen ­ sein Sekretariat führt, um seinen Fortbestand zu gewährleisten.

Die Debatten des EuroDig dienten der Vorbereitung der europäischen Beiträge für das Internet Governance Forum (IGF), das vom 15. bis 18. November 2009 in Sharm El Sheikh (Ägypten) stattfand. Bei dieser Gelegenheit sprach sich Bundesrat Moritz Leuenberger im Namen des Schweizer Vorsitzes im Ministerkomitee des Europarats für eine Stärkung des Schutzes und der Achtung der Menschenrechte, die Vorrangstellung des Rechts und die Internetdemokratie aus. Das Sekretariat des Europarats und die eingeladenen Sachverständigen nahmen an sieben Veranstaltungen teil, die der Rat organisierte oder mitorganisierte, und amteten als Moderatoren in dreizehn von anderen Stellen veranstalteten Workshops. Im Rahmen des IGF organisierte der Europarat auch ein offenes Forum, an dem die Zusammenhänge zwischen der Meinungsfreiheit und der Verwaltung der kritischen Internetressourcen sowie die damit verbundenen Aspekte des Völkerrechts debattiert wurden. Die Vertreter der Schweiz leisteten einen wichtigen Beitrag zu diesen Veranstaltungen.

2.6.3

Die wichtigsten von den Organen des Europarats verabschiedeten Texte

Das Ministerkomitee verabschiedete am 11. Februar 2009 eine Erklärung zur Rolle nichtkommerzieller Medien bei der Förderung des sozialen Zusammenhalts und des interkulturellen Dialogs (Declaration on the role of community media in promoting social cohesion and intercultural dialogue). Darin wird die Bedeutung des nichtkommerziellen Rundfunksektors für einen einfacheren Zugang zu Informationen und Kommunikationsmitteln für untervertretene oder randständige Bevölkerungsgruppen und deren Beteiligung an Entscheidungsprozessen hervorgehoben.

1257

Am 8. Juli 2009 verabschiedete es die Empfehlung über Massnahmen zum Schutz von Kindern vor schädlichen Inhalten und Verhaltensweisen und zur Förderung ihrer aktiven Beteiligung am neuen Informations- und Kommunikationsumfeld (Recommendation on measures to protect children against harmful content and behaviour and to promote their active participation in the new information and communications environment). Hier geht es darum, für Minderjährige einen kohärenten Schutz vor schädlichen Inhalten zu gewährleisten und die Fähigkeiten der Kinder im Umgang mit Medien weiterzuentwickeln.

Die parlamentarische Versammlung verabschiedete am 27. Januar 2009 die Empfehlung über die Regulierung audiovisueller Mediendienste, am 25. Juni 2009 die Empfehlung über die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und am 28.

September 2009 die Empfehlung über die Förderung geeigneter Internet- und Onlinemediendienste für Minderjährige.

Die Schweiz ist ad personam in drei neuen Arbeitsgruppen des Lenkungsausschusses für Massenmedien und neue Kommunikationsdienste (Comité directeur sur les médias et les nouveaux services de communication, CDMC) vertreten, die anlässlich der Ministerkonferenz in Reykjavik eingesetzt wurden: der Sachverständigengruppe für neue Medien, in der sie den Vorsitz innehat, der Ad-hoc-Beratergruppe für die Gouvernanz der öffentlich-rechtlichen Medien sowie der Sachverständigengruppe für den Schutz der verwandten Rechte der Rundfunkorganisationen. Das CDMCSekretariat hat überdies einen Schweizer Sachverständigen für die Ad-hocBeratergruppe für grenzüberschreitendes Internet vorgeschlagen.

Der Leiter der Abteilung Internationale Beziehungen des BAKOM gehörte bis Ende 2009 dem Büro des CDMC an.

2.6.4

Eurimages

Der Lenkungsausschuss von Eurimages befasste sich in fünf Sitzungen mit der Unterstützung von europäischen Koproduktionen, Kinosälen und Filmverleihern.

Die Schweiz war an vier Koproduktionen beteiligt; zwei davon hatten einen schweizerischen Produzenten. Der Anteil, der auf die Schweizer Produzenten entfiel, betrug insgesamt 205 000 Euro. Seit 2006 ist die Schweiz Mitglied von MEDIA; somit erhalten nur noch Verleihfirmen Förderbeiträge für den Verleih von Dokumentar- und Jugendfilmen. 2009 wurde eine Verleihfirma mit 4000 Euro unterstützt.

2.7

Gemeinden und Regionen, grenzüberschreitende Zusammenarbeit

Die Schweiz hat an der 16. Konferenz des Europarates der für die lokalen und regionalen Körperschaften zuständigen Ministerinnen und Minister teilgenommen, die vom 16.­17. November 2009 in Utrecht stattgefunden hat. Delegationsleiterin war die St. Galler Regierungsrätin Kathrin Hilber. Begleitet wurde sie von je einem Vertreter der Direktion für Völkerrecht und des Bundesamtes für Justiz.

An der Ministerkonferenz wurden zwei Zusatzprotokolle zur Unterzeichnung aufgelegt. Zum Europäischen Rahmenübereinkommen vom 21. Mai 1980 über die grenz-

1258

überschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften82 liegt nun ein 3. Zusatzprotokoll betreffend Verbände für euroregionale Zusammenarbeit vor.83 Das Protokoll sieht zur Förderung und Vereinfachung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit die Möglichkeit vor, «Groupements eurorégionaux de coopération» zu gründen und stellt dazu einen Rechtsrahmen bereit. Vertreter des Bundes und der Kantone waren an den Arbeiten zu diesem neuen Protokoll beteiligt. La Suisse est très active dans le domaine de la coopération transfrontalière. L'adhésion à cet instrument juridique du Conseil d'Europe permettra de compléter le cadre juridique existant.

Ebenfalls zur Unterzeichnung bereit war ein Zusatzprotokoll zur Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung.84 Das Zusatzprotokoll über die Mitwirkungsrechte an den kommunalen Angelegenheiten ist im Rahmen der Ministerkonferenz von 12 Staaten unterzeichnet worden.85 Das Zusatzprotokoll will die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der lokalen Ebene verstärken. Vor einer allfälligen Unterzeichnung durch die Schweiz sind noch vertiefte Abklärungen zur innerstaatlichen Tragweite des Protokolls zu treffen.

Die Arbeiten für eine Charta der regionalen Selbstverwaltung mündeten in Utrecht einstweilen in ein Referenzdokument (frz: «Cadre de réference»), das den Europarats-Acquis im Bereich regionale Selbstverwaltung auflistet.86 Es kann Staaten dienen, die eine Regionalisierung durchführen wollen, stellt aber kein verpflichtendes Dokument dar. Es wurde von den Ministern bloss zur Kenntnis genommen ­ für mehr fehlte ein Konsens.

Vom 13.­15. Oktober 2009 und vom 17.­19. März 2010 fand die 17. bzw. die 18. Plenarsession des Kongresses der Gemeinden und Regionen des Europarates (KGRE) in Strassburg statt. Die Schweizer Delegation wurde an beiden Sessionen vom Delegationspräsidenten Dario Ghisletta geleitet. Die Delegation beteiligte sich aktiv an den Diskussionen und während des Jahres in den vier statuarischen. Ausschüssen.87 Des Weiteren hielt Frau Regierungsrätin Kathrin Hilber (St. Gallen) als Vertreterin von Bundesrätin Micheline Calmy-Rey an der 18. Session eine Rede über die Prioritäten des Schweizer Vorsitzes beim Europarat.

82 83 84 85 86 87

SR 0.131.1 Es wurde von sieben Staaten unterzeichnet: Deutschland, Belgien, Frankreich, Litauen, Montenegro, Niederlande und Slowenien.

SR 0.102 Belgien, Estland, Finnland, Frankreich, Ungarn, Island, Litauen, Montenegro, Norwegen, die Niederlande, das Vereinigtes Königreich und Slowenien.

Vgl. Jahresbericht 2004.

Ausschüsse: Institutionelle Fragen; Kultur und Erziehung; Nachhaltige Entwicklung; Sozialer Zusammenhalt.

1259

3 3.1

Sozialer Zusammenhalt und Lebensqualität Migrationsfragen

2009 befasste sich der Europäische Migrationsausschuss (CDMG) mit der Umsetzung des Aktionsplans, der anlässlich der 8. Konferenz der für Migrationsfragen zuständigen europäischen Minister angenommen wurde.88 Dieser Aktionsplan umfasst insbesondere die beiden folgenden Projekte: ­

Entwicklung der Fähigkeiten von Migrantinnen und Migranten sowie Stärkung des sozialen Zusammenhalts;

­

Schutz der Menschenrechte und der Würde von verletzlichen Migrantinnen und Migranten.

Im Rahmen dieser beiden Projekte werden derzeit folgende Teilprojekte und Programme verwirklicht: ­

Sachverständigenausschuss über Aufwertung der Fähigkeiten und Erfahrung von Migrantinnen und Migranten;

­

Förderung des Wohlbefindens von Migrantinnen. Dieses Programm wird gemeinsam mit dem Lenkungsausschuss für die Gleichstellung von Frauen und Männern (CDEG) verwirklicht;

­

verletzliche ältere Migrantinnen und Migranten;

­

Berichte über die Politik gewisser Länder gegenüber irregulären Migrantinnen und Migranten;

­

Lebensentwürfe für unbegleitete Minderjährige;

­

neue Integrationsansätze.

Im Oktober 2009 fand im Rahmen des letztgenannten Teilprojekts eine Konferenz in Barcelona statt. Sie widmete sich dem Thema «Interaktion zwischen Migrantinnen/Migranten und der Gastgesellschaft: Lehren aus Politik und Praxis». Die Schweiz nahm an dieser Konferenz teil.

3.2

Sozialpolitik

Am 26. und 27. Februar 2009 hielt der Europarat in Moskau die erste Konferenz der Minister für soziale Kohäsion ab. Bundesrat Pascal Couchepin leitete die schweizerische Delegation. Die Konferenz, die unter dem Motto «Investieren in soziale Kohäsion ­ Investieren in Stabilität und Wohlbefinden der Gesellschaft» stand, bot im Wesentlichen die Gelegenheit, den Bericht der hochrangigen Taskforce zum sozialen Zusammenhalt vorzustellen. Die zum Abschluss der Konferenz verabschiedete Erklärung enthält einige Anträge zuhanden des Ministerkomitees. Die Minister verpflichten sich insbesondere, eine integrierte Politik des sozialen Zusammenhalts auszuarbeiten, unter Berücksichtigung der Umstände in ihrem jeweiligen Land.

Die Familienminister trafen sich am 16. und 17. Juni 2009 in Wien. Sie verabschiedeten Grundsätze, mit denen Familien bei der Realisierung ihres Kinderwunsches geholfen werden soll. Die schweizerische Delegation an dieser Konferenz wurde 88

Kiew, 4./5. September 2008

1260

von Regierungsrätin Kathrin Hilber (St. Gallen) geleitet, der Präsidentin der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren. Die Minister stellten fest, dass die europäischen Länder alle die gleichen Tendenzen verzeichnen: niedrige Geburtenrate, späte Mutterschaften, Vorrang für die Vereinbarung von Beruf und Familie. Sie empfahlen die Umsetzung von Normen des Europarats zur Familienpolitik und schlugen einige Ansätze für Überlegungen zu Aktivitäten betreffend Familie und Kindheit vor, mit denen sich der Europarat befassen könnte.

Im Berichtsjahr beteiligte sich die Schweiz an den Aktivitäten des Koordinationsforums für den Aktionsplan des Europarates zugunsten von Menschen mit Behinderungen (CAHPAH). Es ging in erster Linie darum, an einer Sachverständigenkommission mitzuwirken, die den Auftrag hatte, für die Mitgliedstaaten bis spätestens Ende 2010 Indikatoren zu entwickeln, anhand derer die Fortschritte bei der Umsetzung des Aktionsplans gemessen werden können. Mehrere Mitgliedstaaten sind der Schweiz in diesem Bereich voraus. Die durch die Teilnahme an dieser Kommission gewonnen Erfahrungen können für die Evaluierung der Massnahmen genutzt werden, mit denen die Gleichstellung von Behinderten gemäss Behindertengleichstellungsgesetz vom 13. Dezember 2002 (SR 151.3) gefördert werden soll. Nicht aktiv teil nimmt die Schweiz an anderen Sachverständigengruppen des CAHPAH, die bestimmte Aspekte der Umsetzung untersuchen; sie berücksichtigt jedoch deren Empfehlungen für die Umsetzung und die Weiterentwicklung der Gleichstellungspolitik des Landes.

3.3

Gesundheitswesen

Das Europäische Komitee für Gesundheit (CDSP) tritt nunmehr alljährlich zusammen. Sein Arbeitsprogramm gilt hauptsächlich der Gesundheitsversorgung für verletzliche Personen (insbesondere Kinder) sowie der guten Gouvernanz der Gesundheitssysteme. Das CDSP hat im Übrigen eine Reflexion über seine Rolle und seine Zukunft angesichts der beschränkten finanziellen und personellen Ressourcen eingeleitet. Die Schweiz wurde als Mitglied ins Büro gewählt, mit dem Auftrag, alle Optionen für die Zukunft des CDSP zu prüfen, einschliesslich der Möglichkeit eines Transfers seiner Aktivitäten an das Regionalbüro Europa der Weltgesundheitsorganisation.

Nach der Aufhebung des Teilabkommens im Bereich Soziales und öffentliche Gesundheit trifft sich das Komitee für den Gesundheitsschutz der Konsumentinnen und Konsumenten jetzt unter der Ägide des Europäischen Direktorats für die Qualität von Arzneimitteln und Gesundheitsfürsorge (EDQM). Das neue Mandat dieses Komitees wurde von den Delegierten der Minister am 11. März 2009 2010 genehmigt. Ziel ist, die Kontinuität der Arbeiten zu Kosmetika und Lebensmittelverpackungen sicherzustellen. Gleichzeitig sollen Bereiche von gemeinsamem Interesse mit dem Pharmasektor identifiziert werden, und die Arbeit sollte diejenige anderer internationaler Organisationen in diesem Bereich gut ergänzen.89 Die Schweiz wirkte aktiv an den Arbeiten des Komitees für Arzneimittel mit, das dem EDQM untersteht, seitdem 2008 die Aktivitäten des ehemaligen Teilabkommens im Bereich Soziales und öffentliche Gesundheit auf dieses übertragen wurden.

Es wurden drei Sachverständigenausschüsse bestellt, die sich mit folgenden Berei89

Insbesondere Europäische Union und Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit.

1261

chen befassen: Qualitäts- und Sicherheitsnormen in der Arzneimittelpraxis, internationale Klassifizierung der Arzneimittel nach Verabreichungsart, Minimierung der Gefahren für die öffentliche Gesundheit durch gefälschte Arzneimittel. Bei der Erarbeitung von Empfehlungen zu Qualität und Sicherheit von Arzneimitteln und pharmazeutischer Praxis konnte die Schweiz Informationen austauschen und sie im Rahmen der laufenden Revision des allgemeinen rechtlichen Rahmens verwenden.

Im Bereich der Arzneimittelfälschung wurden Weiterbildungsseminare für Vertreterinnen und Vertreter nationaler Behörden geschaffen, ausserdem ein Netzwerk von «Single points of contact». Ferner wird an einer Datenbank über illegale Medikamente gearbeitet.

Die Schweiz hat überdies aktiv an den Verhandlungen über ein Übereinkommen über Arzneimittelfälschungen und ähnliche Straftaten, die die öffentliche Gesundheit gefährden, (Medicrime-Übereinkommen) teilgenommen. Der Text des Übereinkommens sowie der erläuternde Bericht wurden dem Ministerkomitee übermittelt.

Besonders stark engagierte sich die Schweiz für einen möglichst weit gefassten Anwendungsbereich des Übereinkommens, und zwar durch Einschluss bestimmter Medizinalprodukte sowie eines Begriffs der Straftat, der vorsätzliche Handlungen erfasst, die nicht Fälschungen zum Gegenstand haben, sondern die Umgehung von geltenden Zulassungs- und Prüfvorschriften. Nicht zuletzt hat die Schweiz im Rahmen ihres Vorsitzes im Ministerkomitee am 15. und 16. April 2010 eine internationale Konferenz organisiert, welche die praktische Umsetzung dieses Übereinkommens zum Gegenstand hatte.

Die Schweiz wirkt an den Arbeiten des Lenkungsausschusses Organtransplantation mit, insbesondere bei der Organisation des 11. Europäischen Tages und des 5. Welttages für Organspende und Transplantation, der im Oktober 2009 in Berlin stattfand.

Ebenso arbeitet sie im Ausschuss für Bluttransfusionen mit.

Die Europäische Pharmakopöe (Ph.Eur.) ist ein Referenzwerk, das die Kontrolle der Qualität von Arzneimitteln, Hilfsstoffen und bestimmten Medizinprodukten regelt.

Sie behandelt insbesondere Wirkstoffe, Impfstoffe, Blutprodukte oder auch Arzneidrogen. Die Ph.Eur. ist für die 37 Signatarstaaten des Übereinkommens über die Ausarbeitung einer Europäischen Pharmakopöe verbindlich.90 2009 veröffentlichte der
Europarat die Addenda 6.3, 6.4 und 6.5 zur 6. Auflage der Ph.Eur.

Die Signatarstaaten sind gehalten, an der Ausarbeitung der Ph.Eur. mitzuwirken, die in Strassburg unter der Ägide des EDQM erfolgt, und die genehmigten Qualitätsnormen in ihr nationales Recht zu übernehmen. Dabei werden sie von 23 Staaten mit Beobachterstatus unterstützt. Die Ph.Eur. hat weltweiten Einfluss auf die Qualität von Arzneimitteln und medizinischen Substanzen. 2009 hatte die Schweiz 77 Mandate in verschiedenen Organen der Ph.Eur. inne. Die Sachverständigen, die sie vertraten, kamen aus der Industrie, den Hochschulen und der öffentlichen Verwaltung. Ihre Arbeitsleistung entspricht sieben Jahresvollzeitstellen (Personenjahre), was zeigt, dass das Know-how unseres Landes im Bereich der Pharmakopöe anerkannt ist. Die Schweiz, deren Pharma-Industrie international einen hohen Rang einnimmt, liefert einen unverzichtbaren Beitrag zur Ausarbeitung neuer Arzneimittelreglemente.

Die Ph.Eur. muss nicht nur neue Vorschriften erarbeiten, sondern auch laufend die bestehenden Monografien anpassen. In diesem Zusammenhang stellt sie, gestützt auf 90

Einschl. Europäischer Union.

1262

die neuesten technischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse, die Kontrolle der Rohstoffe und der Präparate auf dem Weltmarkt sicher und/oder deckt Arzneimitteldelikte auf und bekämpft sie.

Die Qualitätsnormen gewinnen stetig an Bedeutung, sowohl für Innovationen und neue Technologien wie Zell- oder Gentherapien als auch für klassische und komplementärmedizinische Arzneimittel, wie die wachsende Zahl von Vorschriften in diesen Bereichen beweist. Um ihr gesetzliches Mandat erfüllen zu können und für die nötigen Kenntnisse auf diesem Gebiet zu sorgen, hat die Schweiz einen neuen Sachverständigenausschuss für komplementärmedizinische Heilmittel eingesetzt.

Dieser Ausschuss, der seine Arbeit im August 2009 aufgenommen hat, ist dafür zuständig, die Monografien zu den Heilmitteln der traditionellen chinesischen Medizin, der Homöopathie und der anthroposophischen Medizin zu erstellen und zu überprüfen.

Die Pompidou-Gruppe, eine Gruppe des Europarates für die Zusammenarbeit im Kampf gegen den Missbrauch von und den illegalen Handel mit Betäubungsmitteln, koordiniert unter ihren Mitgliedstaaten drogenpolitische Fragen von gemeinsamem Interesse. Ihre Aufgabe ist, für eine Vernetzung von Politik, Wissenschaft und Arbeit vor Ort im Drogenbereich zu sorgen. Die öffentlichen Diskussionsforen, die keiner Einflussnahme von Justiz oder Politik unterliegen, sind für jeden einzelnen Mitgliedstaat von grosser Bedeutung, denn sie tragen dazu bei, eine innovative Politik voranzutreiben. Die Schweiz hat sich erneut vertieft mit der Herausforderung der Abhängigkeit befasst, entsprechend den Entwicklungen im Inland. Sie nimmt mit sechs weiteren Ländern an einer empirischen Studie zu diesem Thema teil. Die Pompidou-Gruppe umfasst derzeit 35 Mitgliedstaaten, zu denen noch die Europäische Kommission hinzukommt.

Im Rahmen der Plattform «Therapie und Behandlung» hat die Schweiz eine Konferenz mit renommierten Sachverständigen organisiert. Zum Thema «Ethik» konnte die Schweiz vom Erfahrungsaustausch mit den anderen Mitgliedstaaten profitieren.

3.4

Tierschutz

Dem Plenum des ständigen Ausschusses des Europäischen Übereinkommens zum Schutz von Tieren in landwirtschaftlichen Tierhaltungen (STE 087) lagen im Dezember 2009 die Empfehlungen zur Farm-Haltung verschiedener Fischarten zur Verabschiedung vor. Die EU verzichtete auf eine Koordination, so dass alle Mitgliedstaaten einzeln abstimmen konnten. Die Empfehlungen wurden von allen bis auf Spanien und Frankreich angenommen. Die Ablehnung dieser beiden Länder erfolgte aufgrund EU interner Verfahrensfragen und fehlerhaften französischen Versionen. Das Büro des Ausschusses wird die verbleibenden Vorbehalte bilateral ausräumen. Die Revision der Empfehlungen zur Haltung des Rindviehs wurde in einer für die Schweiz annehmbaren Form abgeschlossen91.

91

Die Verabschiedung ist für die Plenarsitzung im Herbst 2010 vorgesehen.

1263

3.5

Umwelt und Naturschutz

Der Rat für die Paneuropäische Strategie zur Erhaltung der biologischen und landschaftlichen Vielfalt (STRA-CO) trat im Rahmen der 5. Konferenz über die Biodiversität in Europa zusammen, die vom 22. bis 24. September 2009 in Lüttich (Belgien) stattfand.92 Diese Konferenz war der gesamteuropäischen Stärkung der SynerSynergien zur Umsetzung des Übereinkommens über die biologische Vielfalt und der Vorbereitung der wichtigsten Fragen für die 10. Konferenz der Vertragsstaaten des Übereinkommens über die biologische Vielfalt gewidmet, die im Oktober 2010 in Nagoya (Japan) stattfinden wird.

Ein Vertreter des Bundesamtes für Umwelt wirkte jeweils in den verschiedenen Expertengruppen93 des Übereinkommens über die Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer Lebensräume94 mit.

Die Vertragsstaaten kamen vom 23. bis 26. November 2009 erstmals ausserhalb von Strassburg zusammen, nämlich aus Anlass des 30. Geburtstages der «Berner Konvention» während des Schweizer Vorsitzes beim Europarat auf Einladung der Schweiz in Bern. Das Treffen wurde von Bundesrat Moritz Leuenberger eröffnet.

Die Delegation führten insbesondere ihre Arbeiten zum Schutz verschiedener Artengruppen95 sowie der europäischen Lebensräume fort.

Das Europäische Übereinkommen für die Landschaft (STE 176) hat zum Ziel, den Schutz, die Pflege und die Gestaltung von städtischen und stadtnahen Landschaften sowie Kultur- und Naturlandschaften zu fördern, die Landschaft in die verschiedenen sachpolitischen Strategien zu integrieren und geschädigte Landschaften wiederherzustellen. Das Übereinkommen trat am 31. März 2004 in Kraft und zählt im Moment 30 Vertragsstaaten. 6 weitere Staaten, darunter die Schweiz, haben das Übereinkommen unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert. Auf fachlicher Ebene fand am 8./9. September in Malmö (Schweden) das achte Workshop-Treffen zur Umsetzung des Übereinkommens statt, das dem Thema «Landscape and Driving Forces» gewidmet war und an dem rund 250 Regierungsvertreter, Experten und Teilnehmer aus Nichtregierungsorganisationen aus über 30 Staaten teilnahmen. Der Schweizer Vertreter für die Landschaftskonvention im Comité directeur pour le patrimoine culturel et le paysage (CDPATEP) wurden an der Plenumssitzung des CDPATEP im Mai 2009 als Vizepräsident für die Amtsperiode 2009­2010 wiedergewählt.

3.6

Entwicklungsbank des Europarats

Die Entwicklungsbank des Europarates (CEB) wies ­ trotz der globalen Wirtschaftskrise ­ auch 2009 einen Gewinn aus (107 Mio. Euro), was auf die gestiegene Nachfrage in Osteuropa zurückzuführen war. Besondere Bedeutung hatte die Diskussion zur Umsetzung der vorangegangen strategischen Analyse der Institution.

92 93

94 95

Die STRA-CO wird zur Zeit von der Schweiz präsidiert.

Expertengruppen: Schaffung des Smaragd-Netzwerks für besonders schützenswerte Lebensräume und jene zur Schaffung des paneuropäischen ökologischen Netzwerks sowie der Spezialistengruppe. für das Europäische Diplom für geschützte Gebiete, letztere unter dem Präsidium.

«Berner Übereinkommen» (STE 104).

Pflanzen, wirbellose Tiere, Amphibien, Reptilien, bedrohte Vögel.

1264

Zentrale Bereiche betrafen die verstärkte geografische und thematische Fokussierung sowie die Verbesserung der Gouvernanz der Institution. Mit besonderem Fokus auf eine Steigerung der Effizienz und Verschlankung der europäischen Hilfsarchitektur, engagierte sich die Schweiz, zusammen mit gleichgesinnten Staaten, stark für die Verabschiedung der entsprechenden Reformen. 2009 wurde auch der neue Geschäftsplan 2010­2014 verabschiedet, der unter anderem einen Anstieg der Investitionen der Bank in Zentral- und Südosteuropa vorsieht.

3.7

Nord-Süd-Zentrum

Das Europäische Zentrum für globale Interdependenz und Solidarität (Nord-SüdZentrum) in Lissabon feierte im Jahr 2009 sein 20-jähriges Bestehen. Im Rahmen der Feierlichkeiten fanden die 42. Sitzung des Exekutivrates Zentrums sowie das «Forum von Lissabon» (12.­14. November 2009) statt.

Mit Frankreich, Italien (beide Wiedereintritte), Serbien sowie den Nichtmitgliedstaaten des Europarats Kapverden und Marokko sind im Lauf der Berichtszeit fünf Staaten dem Nord-Süd-Zentrum beigetreten. Die Schweiz ist seit 1991 Mitglied dieses Teilabkommens, welches gegenwärtig 22 Mitgliedstaaten zählt.

4

Kultureller Zusammenhalt und Pluralismus der Kulturen Kultur und Kulturerbe

4.1

Im Berichtsjahr war die Schweiz erneut im Lenkungsausschuss Kultur aktiv. Durch Entsendung von Sachverständigen und mit einem finanziellen Beitrag half sie insbesondere wesentlich bei der Ausarbeitung einer Empfehlung zur Filmpolitik und zur Diversität kultureller Ausdrucksformen mit. Diese Empfehlung wurde im September vom Ministerkomitee des Europarats angenommen. Dieses (nicht zwingende) Rechtsinstrument fordert zur Einführung einer globalen Filmpolitik auf, die die gesamte Wertschöpfungskette umfasst. Es enthält Vorschläge an die 47 Mitgliedstaaten des Europarats, ihre Förderprogramme der technischen und kulturellen Entwicklung anzupassen und den Ressourceneinsatz zu optimieren, um die Verbreitung von Filmen zu stärken und dem Publikum den Zugang dazu zu erleichtern.

Im Rahmen des Projekts «interkulturelle Städte» hat der Kanton Neuenburg einen Studienbesuch für die Vertreter der elf Partnerstädte organisiert, bei dem diese die interkulturelle Strategie des Kantons kennenlernen konnten. Auf den Besuch folgte am 27. November 2009 eine öffentliche Veranstaltung zum Thema «Kulturelle Vielfalt in der Schweiz», und zwar im Rahmen des schweizerischen Vorsitzes im Ministerkomitee.

Im Bereich Kulturerbe engagierte sich die Schweiz im Lenkungsausschuss für Kulturerbe und Landschaft. Sie wirkt intensiv an den Arbeiten am Projekt «European Heritage Net» mit. Dieses Projekt ist das Monitoring-Instrument des Übereinkommens zum Schutz des baugeschichtlichen Erbes in Europa96 und des Europäischen Übereinkommens zum Schutz des archäologischen Erbes97.

96 97

SR 0.440.4 SR 0.440.5

1265

4.2

Erziehungs- und Hochschulwesen

Beim Comité Directeur de l'Education konzentrierten sich die Arbeiten im Berichtsjahr auf die Erarbeitung und Verabschiedung einer (nicht verbindlichen) Charta über die Demokratieerziehung (ECD) sowie auf die Vorbereitung der nächsten Konferenz der europäischen Erziehungsminister im Jahr 2010. Die ECD-Charta enthält in zusammengefasster Form das Ergebnis der diesbezüglichen Arbeiten des Komitees in den letzten Jahren. Die schweizerischen Sachverständigen spielten eine wichtige Rolle, insbesondere durch ihre technische Unterstützung in Südosteuropa. Ihre Aktivitäten betrafen vor allem die Aktualisierung der ECD-Programme und -Lehrmittel in dieser Region. Das Programm «Lebende Sprachen» sowie die Arbeiten des Fremdsprachenzentrums in Graz sind nach wie vor von zentraler Bedeutung für die Entwicklung der Sprachunterrichtstrategie in der Schweiz. Diesbezüglich standen im Berichtsjahr die wissenschaftlichen Vorbereitungsarbeiten der nächsten grossen Konferenz über den Sprachunterricht im Vordergrund, die 2010 in der Schweiz stattfinden wird.

Der Leitende Ausschuss für Höheres Bildungswesen und Forschung (CDESR) hielt 2009 seine achte Plenarversammlung ab. Über diesen Ausschuss nimmt der Europarat nach wie vor eine zentrale Stellung bei der Weiterentwicklung des BolognaProzesses ein, insbesondere dank der Mitwirkung in der «Bologna Follow-up Group». Diese Beiträge konkretisieren sich auch in Arbeiten und in der Koordination zwecks Erleichterung des Erfahrungsaustauschs im Hinblick auf die Bereitstellung von nationalen Qualifikationsrahmen, die mit dem Rahmen des Europäischen Hochschulraums kompatibel sind. Der Europarat hält es für wichtig, die beiden europäischen Rahmenwerke zu koordinieren: den Rahmen für die Hochschulen und den Rahmen für das lebenslange Lernen. Das Thema Qualitätssicherung ­ im Bologna-Prozess von grundlegender Bedeutung ­ hat den CDESR veranlasst, eine Erklärung über Qualitätssicherung, Klassifizierung und Typologie mit Blick auf den Auftrag der Hochschulen abzugeben. Andere Beiträge im Rahmen des BolognaProzesses werden im Hinblick auf die Strategie und die weitere Entwicklung dieses Prozesses nach 2010 erwogen.

Über das Projekt «Universitäten zwischen Humanismus und Markt» beteiligt sich der Ausschuss an den Überlegungen zur Rolle der Hochschulen bei der Stärkung der demokratischen
Kultur und des interkulturellen Dialogs. Die in Angriff genommenen Aktivitäten werden 2011 mit der Ausarbeitung von Empfehlungen abgeschlossen werden. Der CDESR hat beschlossen, eine Machbarkeitsstudie über die Erarbeitung eines normativen Instruments zur akademischen Freiheit, zur Autonomie der Universitäten und zur Rolle des Staates durchzuführen.

4.3

Jugend

Der Europarat hat für die drei nächsten Jahre (2010­2012) folgende Prioritäten im Bereich Jugend gesetzt: Menschenrechte und Demokratie sowie Zusammenleben in pluralistischen Gesellschaften und soziale Eingliederung der Jugendlichen. Dies entspricht den Prioritäten der «Agenda 2020: Orientierungshilfe für die Jugendpolitik des Europarats in den kommenden 10 Jahren», die an der Konferenz der für die Jugend zuständigen Minister in Kiew im Oktober 2008 angenommen wurde.

1266

Ferner wurde im Rahmen der Strategie 2009­2011 des Programms «Ein Europa für Kinder und mit den Kindern aufbauen» 2009 eine Ad-hoc-Konsultativgruppe über die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen geschaffen, die dem Direktorat Jugend und Sport untersteht. Ein unabhängiger Schweizer Sachverständiger nahm an den Arbeiten teil. Zu den Aufgaben der Gruppe gehören die Ausarbeitung von Richtlinien über die Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene sowie die Prüfung einer eventuellen Aktualisierung der Empfehlungen des Ministerkomitees zu diesem Thema oder Erarbeitung einer neuen Empfehlung.

4.4

Sport

Ende 2009 waren 32 Staaten dem erweiterten Sport-Teilabkommen (APES, Accord partiel élargi sur le sport) beigetreten; zwei weitere haben den Beobachterstatus erhalten. Die Schweiz wirkte 2009 aktiv an der Umsetzung der Prioritäten mit, die im Dezember 2008 an der 11. Sportministerkonferenz in Athen in den Bereichen Autonomie des Sports und Ethik im Sport festgelegt worden waren. Die Schweiz nahm ferner an der dritten Sitzung des APES-Lenkungsausschusses teil, die im Mai 2009 in Baku stattfand. An dieser Sitzung wurden die Arbeitsprioritäten für 2010 festgelegt und das Budget 2010 des APES erstellt. Zudem wurde die nächste Konferenz der Sportminister, die im September 2010 in Baku durchgeführt wurde, vorbereitet. Die Schweiz hat überdies das Thema eines runden Tischs vorgeschlagen, der im Oktober in Paris stattfand und an dem sie teilnahm: Turnen und Sport an der Schule. Ebenso ist eine schweizerische Delegation im Oktober auf Einladung der serbischen Behörden und des APES nach Belgrad gereist, um an einer Konferenz zum Thema «Fight against Racism and Violence through Diversity in Sport» teilzunehmen.

Das Ständige Komitee, das die Umsetzung des europäischen Übereinkommens vom 19. August 1985 über Gewalttätigkeiten und Ausschreitungen von Zuschauern bei Sportanlässen ­ insbesondere Fussballspielen ­ überwacht, widmet sich im Wesentlichen dem Kampf gegen Gewalt im Zusammenhang mit Sportveranstaltungen. 2009 trat das Komitee zweimal zusammen. Bei der ersten Sitzung in Lissabon wurde die Empfehlung zu «Public Viewing» von allen Mitgliedstaaten angenommen und bekanntgemacht. Die während der EURO 2008 gesammelten Erfahrungen ermöglichten es der Schweiz, einen wesentlichen Beitrag zur Ausarbeitung dieser Empfehlung zu leisten. Auch die Empfehlungen betreffend Stewards und Feuerwerkskörper wurden angenommen. Die Schweiz legte ferner die Evaluierung der Sicherheitsmassnahmen während der EURO 2008 vor. Die zweite Sitzung des ständigen Komitees, die in Strassburg stattfand, stand im Zeichen der Fussballweltmeisterschaft 2010 in Südafrika. Als Teilnehmerland erhielt die Schweiz von der FIFA und den südafrikanischen Behörden Informationen aus erster Hand über den Stand der Vorbereitungen und die Sicherheitsmassnahmen. Schliesslich hat die Schweiz wie üblich zuhanden des Ständigen Komitees den Fragebogen zu den
Jahresberichten der Teilnehmerländer ausgefüllt.

Die Schweiz leistete erneut ihren Beitrag zur Ausarbeitung des Welt-Anti-DopingProgramms, indem sie an den Sitzungen der verschiedenen Arbeitsgruppen zur Europaratskonvention gegen Doping teilnahm. Normen betreffend Ausnahmebewilligungen zu therapeutischen Zwecken treten am 1. Januar 2010 in Kraft. Zwischen 1267

Europa und der Welt-Anti-Doping-Agentur bestehen immer noch Differenzen betreffend den Datenschutz. Dank der Arbeiten und der Vorschläge einer Arbeitsgruppe «Recht» ist jedoch eine gewisse Aufweichung der Fronten festzustellen. In der gleichen Arbeitsgruppe wurde auch die Stellungnahme Europas für die erste Folgesitzung des UNESCO-Übereinkommens gegen Doping vorbereitet. Im Rahmen des Programms «Einhaltung der Verpflichtungen» hat die Schweiz unter der Leitung eines Spezialisten der Stiftung Antidoping Schweiz an einem Evaluationsbesuch in Deutschland teilgenommen.

1268

Anhang 2

Bericht über die Menschenrechtsaussenpolitik der Schweiz (2007­2011)

(In Erfüllung des Postulats «Regelmässige Berichterstattung über die Menschenrechtspolitik der Schweiz» der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates vom 14. August 2000.)

1269

Übersicht Die rechtlichen und institutionellen Fortschritte, die in den letzten zwanzig Jahren auf globaler und regionaler Ebene erzielt wurden, werden von den negativen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen überschattet. Seit Ende der 1990erJahre wird die Universalität der Menschenrechte wieder zunehmend in Frage gestellt. Die Meinungsäusserungsfreiheit und die Religionsfreiheit werden hinterfragt, um ihren Geltungsbereich einzuschränken. Gleichzeitig hat der Einsatz von Folter durch westliche Regierungen im Rahmen der Terrorismusbekämpfung ein negatives Licht auf ihr allgemeines Engagement zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte geworfen. Zudem traf die Nahrungsmittelkrise 2007/2008 vor allem die besonders armen und gefährdeten Länder und Bevölkerungsgruppen. Die Entwicklungsländer machen in erster Linie die Industrieländer für die wirtschaftliche Unterentwicklung verantwortlich. Das Zusammenspiel dieser beiden ausgeprägten Trends hat unter anderem zur Folge, dass die auf internationaler Ebene verabschiedeten Normen nicht konsequent umgesetzt werden. Fehlende Mittel, mangelnder politischer Wille, aber auch gegenseitiges Misstrauen führen dazu, dass zahlreiche Normen zwar nicht gerade toter Buchstabe bleiben, aber doch eher deklaratorischen denn verbindlicher Charakter haben.

Die in den vergangenen Jahren festgelegte Menschenrechtsaussenpolitik der Schweiz umfasst drei Schwerpunkte: die Wahrung und Förderung der zwingenden Menschenrechte, die selbst im Notstandsfall einzuhalten sind, der Schutz besonders verletzlicher Bevölkerungsgruppen und der Beitrag zur Entwicklung und Anwendung der Menschenrechtsnormen in kritischen Bereichen, die direkt von der Globalisierung betroffen sind. Der Bundesrat hält diese drei Schwerpunkte weiterhin für sinnvoll, sowohl für die allgemeine Förderung und Wahrung der Menschenrechte als auch aufgrund der bisherigen Aktivitäten der Schweiz und der dabei erworbenen Kompetenz und Glaubwürdigkeit. Er möchte jedoch präzisieren, in welchen Bereichen sich die Schweiz engagieren wird und insbesondere welchen Beitrag sie zur Entwicklung und Anwendung der Normen in sensiblen Bereichen leisten will, die direkt von der Globalisierung betroffen sind. Dabei will er sich die erforderliche Flexibilität für Anpassungen an das aktuelle internationale Umfeld bewahren.
Der Bund hat verschiedene Initiativen zur Stärkung der Normen im Bereich der Menschenrechte lanciert. Der Einsatz von privaten Militär- und Sicherheitsunternehmen (Private Military and Security Companies, PMSC) in bewaffneten Konflikten ist umstritten. Ausgehend von den rechtlichen Fragen, die sich bei Völkerrechtsverletzungen durch das Personal dieser Unternehmen stellen, lancierte die Schweiz eine Initiative, die es ermöglichte, einen Verhaltenskodex für diese Branche zu erarbeiten. Eine zweite Initiative im Rahmen des 60-Jahr-Jubiläums der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte diente der Erarbeitung einer Menschenrechtsagenda für das nächste Jahrzehnt. Das von einer unabhängigen Expertengruppe veröffentlichte Dokument «Die Achtung der menschlichen Würde: eine Agenda für Menschenrechte», das konkrete Vorschläge enthält, soll den Menschenrechten mehr

1270

Achtung verschaffen. Mit einer dritten Initiative setzt sich die Schweiz für den Einbezug der Menschenrechte, namentlich der Bekämpfung der Straffreiheit, bei der Aushandlung und Umsetzung von Friedensverträgen ein. Im Menschenrechtsrat haben die Schweiz und Marokko einen Entwurf für eine Erklärung der Vereinten Nationen über Menschenrechtsbildung und -ausbildung eingebracht. Ziel der Initiative ist es, durch Bildungsmassnahmen das Wissen über die Menschenrechte zu verbreiten und diese Rechte bekannt zu machen, damit sie eingehalten werden. Die Kommission für die Stärkung der Rechtsstellung der Armen (Commission on Legal Empowerment of the Poor, CLEP), deren Arbeiten die Schweiz unterstützt hat, ist überzeugt, dass die Rechtsstellung der Armen auf der Grundlage von vier Pfeilern gestärkt werden kann: Zugang zum Rechtssystem und Rechtsstaatlichkeit, Eigentumsrechte, Arbeitsrecht und Unternehmensfreiheit.

Verschiedene interne Konsultations- und Entscheidungsmechanismen stärken die Kohärenz bei den Aktivitäten im Bereich der Menschenrechte und der übrigen Rechte. Zudem trägt der schrittweise Einbezug der Menschenrechte (Mainstreaming) bei der Definition und Umsetzung der Politik der Bundesverwaltung zu einer kohärenteren Aussenpolitik der Schweiz bei. Dem Bundesrat stehen verschiedene aussenpolitische Koordinationsinstrumente zur Verfügung: Menschenrechtsdialoge, bilaterale und multilaterale politische Demarchen und Interventionen, Erklärungen des Bundesrates sowie protokollarische oder diplomatische Massnahmen mit Symbolgehalt. Hinzu kommen direktere Aktionen: Unterstützungsprogramme, Projekte oder die Entsendung von Expertinnen und Experten. Die Palette an Instrumenten hat sich nicht wesentlich verändert, doch wurden gewisse Instrumente optimiert.

Die Schweiz hat strategische Partnerschaften mit verschiedenen Universitätsinstituten und Think Tanks im In- und Ausland aufgebaut. Der Entscheid des Bundesrates vom Juli 2009, ein Pilotprojekt zur Inanspruchnahme von Leistungen eines universitären Kompetenzzentrums für Menschenrechtsfragen zu lancieren, bildet einen zusätzlichen Teil dieser intensiven Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Akteuren.

Auch die Privatwirtschaft ist eine wichtige Akteurin und Partnerin der Schweiz bei der Umsetzung der Menschenrechte. Deshalb werden enge Arbeitsbeziehungen
sowohl zu Schweizer Unternehmen als auch zum ausländischen Privatsektor geknüpft. Schliesslich sind auch die lokalen und internationalen NGO bedeutende Partner für die Schweiz.

Die Menschenrechte sind ein wichtiger Bestandteil der Schweizer Aussenpolitik. Die Prioritäten orientieren sich an den Bedürfnissen und an den grossen Herausforderungen in der Förderung und dem Schutz der Menschenrechte. Die allgemeine Formulierung ermöglicht es dem Bundesrat, rasch auf Veränderungen im internationalen politischen Umfeld zu reagieren und die sich bietenden Gelegenheiten zur Lancierung oder Unterstützung gezielter Initiativen zu nutzen.

1271

Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 2. Internationaler Kontext im Bereich Menschenrechte: Herausforderungen und Perspektiven 2.1 Vorbemerkungen 2.2 Universalität der Menschenrechte und kulturelle Vielfalt 2.3 Umsetzung der Normen 2.4 Meinungsäusserungsfreiheit 2.5 Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vs. bürgerliche und politische Rechte 2.6 Geteilte Verantwortung 2.7 Migration 2.8 Sexuelle Orientierung 2.9 Recht auf Entwicklung und Armutsbekämpfung 2.10 Rassismusbekämpfung

1274 1274

3 Die Prioritäten der Schweiz 1285 3.1 Vorbemerkung 3.2 Schutz und Förderung der grundlegenden Menschenrechte 3.2.1 Das Recht auf Leben 3.2.2 Das Folterverbot 3.3 Verletzliche Gruppen 3.3.1 Die Rechte der Frau 3.3.2 Die Rechte des Kindes 3.3.3 Minderheiten 3.3.4 Rassismus 3.3.5 Migration 3.3.6 Binnenvertriebene (IDP) 3.3.7 Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger 3.3.8 Lesbische, schwule, bisexuelle und transsexuelle Menschen (LGBT) 3.4 Von der Globalisierung betroffene sensible Bereiche 3.4.1 Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 3.4.2 Armutsbekämpfung 3.4.3 Wirtschaft und Menschenrechte 3.5 Institutionelle Stärkung 4 Initiativen der Schweiz 4.1 Private Militär- und Sicherheitsfirmen 4.2 Agenda für die Menschenrechte 4.3 Justiz in Transitionsprozessen 4.4 Menschenrechtsbildung und -schulung 4.5 Das Recht auf Eigentum als Menschenrecht und der Kampf gegen die Ausgrenzung der Armen

1272

1307

5 Effizienz und Kohärenz: das Instrumentarium 5.1 Verwaltungsinterne Mechanismen 5.2 Diplomatische Instrumente

1311

6 Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Akteuren

1313

7 Schlussbemerkungen

1315

1273

Bericht 1

Einleitung

Beim vorliegenden Dokument handelt es sich um den zweiten Bericht, den der Bundesrat dem Parlament in Erfüllung des Postulats der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates vom 14. August 2000 vorlegt. Das Postulat (00.3414 ­ Regelmässige Berichterstattung über die Menschenrechtspolitik der Schweiz) wurde vom Bundesrat am 13. September 2000 entgegengenommen und es verlangt folgendes: «Der Bundesrat wird beauftragt, dem Parlament einmal pro Legislatur in einem Situationsbericht Auskunft zu geben über die getroffenen, eingeleiteten und geplanten Massnahmen und Bemühungen zur Förderung einer wirksamen und kohärenten Menschenrechtspolitik. Dieser Bericht soll insbesondere folgende Punkte berücksichtigen: ­

Übersicht über aktuelle Zielsetzung, Planung und getroffene Massnahmen in der schweizerischen Menschenrechtspolitik und Würdigung ihrer Wirksamkeit;

­

Darstellung, wie menschenrechtliche Kriterien in den verschiedenen Politikbereichen zur Anwendung kommen (insbesondere Entwicklungs-, Aussenwirtschafts-, Migrations- und Friedenspolitik usw.) und Offenlegung der Interessenkonflikte, in denen Werte der Menschenrechte gegen andere Werte abgewogen werden;

­

Aufzeigen, mit welchen Massnahmen Wirksamkeit und Kohärenz von aussenpolitischen und aussenwirtschaftspolitischen Aktivitäten verstärkt werden können und werden;

­

Einbezug von Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft zur Weiterentwicklung der Menschenrechtspolitik.»

Der Bericht enthält ein Kapitel, das die Grundzüge der Menschenrechtspolitik der Schweiz auf internationaler Ebene skizziert (Ziff. 2). Anschliessend stellt er die Schwerpunkte und Massnahmen der Schweiz im Menschenrechtsbereich vor (Ziff. 3). Ein weiteres Kapitel widmet sich den wichtigsten Initiativen der Schweiz seit dem Bericht von 2006 (Ziff. 4). Weiter werden die Instrumente des Bundesrates erklärt (Ziff. 5), die Strategien bei der Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Akteuren vorgestellt (Ziff. 6) und Schlussfolgerungen gezogen (Ziff. 7).

2 2.1

Internationaler Kontext im Bereich Menschenrechte: Herausforderungen und Perspektiven Vorbemerkungen

An der Weltmenschenrechtskonferenz von 1993 in Wien bekräftigte die internationale Gemeinschaft, dass die Menschenrechte allgemeingültig und unteilbar sind und einander bedingen. Die bei dieser Konferenz geweckten Hoffnungen wurden zunächst durch die Erarbeitung und Verabschiedung von Instrumenten zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte konkretisiert. Das Übereinkommen über 1274

die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2006), das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (2007), die beiden Fakultativprotokolle zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes (2000)98 und die Erklärung über die Rechte der indigenen Völker (2007) sind einige Beispiele für nennenswerte Fortschritte, die bei der Stärkung des globalen Rechtsrahmens erzielt wurden. Wichtige Etappen in der weltweiten Förderung und Wahrung der Menschenrechte auf institutioneller Ebene waren die Schaffung des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte 1993 und ­ namentlich auf Initiative der Schweiz ­ des Menschenrechtsrates 2006 in Genf.

Zusätzlich zu diesen rechtlichen Massnahmen wurden die Kontroll- und MonitoringInstrumente gestärkt: Das Fakultativprotokoll zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1999)99, das Fakultativprotokoll zum Übereinkommen gegen Folter (2002)100, das Fakultativprotokoll zum UNO-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (2009)101 und die laufenden Verhandlungen über das Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes konsolidieren und erweitern die Möglichkeiten für Gewaltopfer, sich an eine Kontroll- und Wiedergutmachungsinstanz zu wenden, sei es an ein Gericht, eine aussergerichtliche Instanz oder eine Stelle für Gewaltprävention.

Auf regionaler Ebene leisteten der Europarat und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) einen wichtigen Beitrag zum Aufbau und zur Stärkung menschenrechtskonformer, demokratischer Institutionen auf unserem Kontinent und namentlich in den ost- und mitteleuropäischen Staaten. Die OSZE konzentriert ihre Arbeit im Bereich der menschlichen Dimension auf die Medienfreiheit, die Rassismusbekämpfung und die Religionsfreiheit. Ein weiteres wichtiges Tätigkeitsgebiet der OSZE betrifft die Rechte von Minderheiten. Den Konflikten der 1990er-Jahre in einem Teil Europas lagen häufig ethnische oder ethnisch-religiöse Spannungen zugrunde. Aufgrund dieser Erfahrungen und gestützt auf ihr Know-how im Sicherheitsbereich hat sich die OSZE für einen Ansatz entschieden, bei dem versucht wird, ethnische und ethnisch-religiöse Spannungen möglichst früh zu erkennen und zu lösen, namentlich über die Institution des Hochkommissariats für nationale Minderheiten.
Auf normativer Ebene hat der Europarat wichtige neue Instrumente verabschiedet, etwa das Übereinkommen über Cyberkriminalität (2001)102, das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe (2002)103 und das Protokoll Nr. 14 über die Änderung des Kontrollsystems der Konvention (2004)104.

Die Afrikanische Union schuf 1998 einen regionalen Gerichtshof für Menschenrechte und die Rechte der Völker (African Court on Human and People's Rights).

Die ASEAN (Verband Südostasiatischer Nationen) gründete 2009 eine zwischen98

99 100 101 102

103 104

Die Schweiz ratifizierte das Fakultativprotokoll betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten am 26. Juni 2002 und das Fakultativprotokoll betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie am 19. September 2006.

Von der Schweiz am 29. September 2008 ratifiziert.

Von der Schweiz am 24. September 2009 ratifiziert.

Von der Schweiz nicht ratifiziert.

Die Schweiz unterzeichnete das Übereinkommen über Cyberkriminalität am 23. November 2001; am 13. März 2009 eröffnete der Bundesrat die Vernehmlassung zur Genehmigung und Umsetzung des Übereinkommens.

Von der Schweiz am 3. Mai 2002 ratifiziert.

Von der Schweiz am 25. April 2006 ratifiziert.

1275

staatliche Menschenrechtskommission, aus der möglicherweise ein vollwertiger regionaler Gerichtshof entstehen wird. Die Arabische Liga revidierte 2004 die Arabische Charta der Menschenrechte, wobei sie gewisse Verbesserungen gegenüber der früheren Version anbrachte, aber darauf verzichtete, den Opfern von Menschenrechtsverletzungen die Möglichkeit einer Mitteilung oder Beschwerde an ein unabhängiges supranationales Gericht zu geben. Diese regionalen Initiativen erreichen zwar nicht die Standards, die der Europarat anwendet, sie können aber dazu beitragen, die Grundlage für ein regionales System mit entsprechenden Normen und Institutionen zu legen.

Die auf globaler und regionaler Ebene erzielten normativen und institutionellen Fortschritte wurden jedoch durch verschiedene negative politische und gesellschaftliche Entwicklungen überschattet. Die politische Erstarkung der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) und der Bewegung der Blockfreien Staaten (NAM) seit Ende der 1990er-Jahre geht mit der Hinterfragung der Allgemeingültigkeit der Menschenrechte einher. Unter dem Deckmantel der Wahrung islamischer Werte und des Schutzes vor der Diffamierung von Religionen (das heisst der Islamophobie) werden die Meinungsäusserungsfreiheit und indirekt auch die Religionsfreiheit in Frage gestellt. Die Terrorismusbekämpfung des Westens hat zur Stärkung der Positionen der OIC beigetragen. Die Spannungen zwischen der islamischen und der westlichen Welt, die namentlich durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA ausgelöst wurden, haben diskriminierenden Praktiken gegen Muslime Vorschub geleistet. Dass gewisse westliche Regierungen beim Kampf gegen den Terrorismus die Grundrechte von verhafteten Personen missachteten, hat ihr Engagement für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte ein Stück weit diskreditiert. Man wirft ihnen vor, unterschiedliche Massstäbe anzulegen, die Versäumnisse anderer anzuprangern und gleichzeitig die Rechte von Personen, die ihrer eigenen Gerichtsbarkeit unterstellt sind, darunter vor allem ausländische Staatsangehörige, mit Füssen zu treten. Zudem würden sie die internationale Hilfe vernachlässigen, obwohl diese unabdingbar ist für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung, aber auch für den Aufbau eines Rechtsstaates, die gute Regierungsführung und
die Schaffung der erforderlichen Verwaltungs- und Gerichtsbehörden.

Zu diesen «kulturellen» Aspekten kommt die wirtschaftliche Dimension hinzu. Die Nahrungsmittelkrise 2007/2008 traf vor allem die besonders armen und fragilen Länder und Bevölkerungsgruppen. Die strukturellen Gründe sind komplex und reichen von klimatischen Faktoren über die zunehmende Getreidenachfrage und schwindende Ackerflächen bis zur Produktion von Agrartreibstoffen, die infolge des Preisanstiegs beim Erdöl rentabel wurde. Ein weiterer Faktor war die Finanzkrise, die zu einem Preisanstieg bei den Rohstoffen führte, da diese als Fluchtwerte dienten. Spekulationen bei den Preisen für Grundnahrungsmittel führten in zahlreichen Ländern zu Krisen mit Unruhen und politischer Instabilität. Die Hauptursachen der Unterernährung sind insbesondere die ungleiche Ressourcenverteilung, soziale Ungerechtigkeit, fehlende politische oder wirtschaftliche Partizipation, Diskriminierung, unerschwingliche Nahrungsmittelpreise für die Armen und eine unzureichende Produktion. Die Entwicklungsländer haben den Industrieländern vorschnell vorgeworfen, die dringlichen Probleme einer wachsenden armen Bevölkerung nicht genügend zu berücksichtigen, und machen sie für die wirtschaftliche Unterentwicklung verantwortlich.

1276

Die Nichteinhaltung der internationalen Verpflichtungen im Bereich der öffentlichen Entwicklungshilfe, aber auch die restriktive Migrationspolitik der wirtschaftlich entwickelten Länder tragen dazu bei, dass der Graben zwischen den Staaten, die von der Globalisierung profitieren, und den Ländern, die ihre negativen Folgen zu tragen haben, allgemein immer grösser wird. Im Bereich der Menschenrechte trat 2003 das Internationale Übereinkommen über den Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen in Kraft. Das Übereinkommen wurde zwar erst von rund vierzig Staaten und insbesondere von keinem der Zielländer der Migration, auch nicht von der Schweiz, ratifiziert. Es hat aber trotzdem eine Debatte über die Diskriminierung ausländischer Staatsangehöriger in diesen Einwanderungsländern und über deren restriktive Migrationspolitik ausgelöst. Der legitime Kampf gegen die inakzeptable Praxis des Menschenhandels und -schmuggels erschwert Fortschritte in den Bereichen Migration und Menschenrechtsschutz. Die einschlägigen Instrumente und insbesondere das Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität sowie das Zusatzprotokoll gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität105 anerkennen, dass strukturelle Gründe wie Armut, Unterentwicklung und fehlende Perspektiven dafür verantwortlich sind, dass namentlich Frauen und Kinder leicht Opfer von Menschenhandel und -schmuggel werden. Auf internationaler Ebene wird jedoch die repressive Komponente des Strafrechts stärker gewichtet als die Aspekte Migration und Opferschutz. Deshalb ist es wichtig, Migrationspolitik und Bekämpfung von Menschenhandel nicht zu vermischen. Desgleichen gibt es international sehr unterschiedliche Auffassungen, was die Anwendung der Menschenrechte bei der Bekämpfung der Kriminalität und namentlich in der internationalen Drogenpolitik betrifft. Gewisse Ländergruppen wehren sich dagegen, die Anwendung der Menschenrechte auch in Situationen zu verankern, in denen es um die Bekämpfung von Drogenhandel oder verschiedenen Formen der
Kriminalität im Zusammenhang mit organisiertem Verbrechen geht. Dies behindert die zwischenstaatliche Zusammenarbeit in diesem Bereich.

Diese unterschiedlichen Haltungen führen dazu, dass überwunden geglaubte Mechanismen wieder Einzug halten. Dabei wird mit der Trennung zwischen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten einerseits und bürgerlichen und politischen Rechten andererseits argumentiert, um öffentliche Entwicklungshilfe zu fordern, während gleichzeitig die Einhaltung der Grundrechte in den Hintergrund rückt.

Diese 1993 in Wien beseitigte Trennung gewinnt in multilateralen Gremien wieder an Bedeutung. Dabei wird zwar auf Rhetorik über die Unabhängigkeit der Völker verzichtet, dafür aber Anspruch auf eine angemessene Beteiligung an den Globalisierungsgewinnen erhoben. Die Kombination dieser beiden markanten Trends ­ Stärkung der Rechtsrahmens einerseits, Uneinigkeit bei den Methoden andererseits ­ hat den negativen Effekt, dass die auf internationaler Ebene verabschiedeten Normen nicht konsequent umgesetzt werden. Fehlende Mittel, mangelnder politischer Wille, aber auch das gegenseitige Misstrauen führen dazu, dass zahlreiche Normen eher deklaratorischer als verbindlicher Art sind.

105

Von der Schweiz am 27. Oktober 2006 ratifiziert.

1277

2.2

Universalität der Menschenrechte und kulturelle Vielfalt

Durch ihren umfassenden Charakter bekräftigt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte den Grundsatz, dass die darin erwähnten Rechte unteilbar sind und einander bedingen. Die ideologischen Spannungen der Nachkriegszeit führten jedoch zu unterschiedlichen Entwicklungen der beiden Eckpfeiler der internationalen Menschenrechte: der bürgerlichen und politischen Rechte einerseits und der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte andererseits. Diese Zweiteilung wurde in einer ideologisch bipolaren Welt weitgehend akzeptiert, und erst der Zerfall der Blöcke ermöglichte eine Annäherung der beiden Pfeiler. Die damit einhergehende Hoffnung nährte anfänglich den Glauben, dass Demokratie und Wohlergehen nun für alle Realität würden. Die internationale Gemeinschaft bekräftigte 1993 in Wien, dass alle Menschenrechte allgemeingültig und unteilbar sind und einander bedingen. Die Verknüpfung zwischen den politischen Rechten und den wirtschaftlichen und sozialen Rechten macht Sinn, wenn man sie gesamthaft betrachtet. Die freie Ausübung der bürgerlichen und politischen Rechte ermöglicht die Teilnahme aller an der Festlegung der Wirtschafts- und Sozialpolitik und der Überwachung ihrer Umsetzung. Und sie gibt den Bürgerinnen und Bürgern Gelegenheit, sich zu dieser Politik zu äussern. Die Ausübung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte erlaubt hingegen eine bessere gesellschaftliche Integration des Einzelnen und damit eine bessere Teilhabe am politischen Leben.

Heute sind zwei gegensätzliche Trends festzustellen: Einerseits wird die Welt multipolarer, und das Aufkommen neuer Wirtschaftsmächte hat die Herausbildung neuer Vorstellungen von der Gesellschaft und neuer Weltbilder zur Folge. Dieser Trend kann die Universalität der Menschenrechte in Frage stellen. Andererseits hat die rasante und zunehmend intensive Globalisierung eine gewisse Vereinheitlichung der Lebensformen und des Kleidungs- und Ernährungsstils zur Folge. Dies kann die kulturelle Vielfalt bedrohen. Die Universalität der Menschenrechte und die kulturelle Vielfalt schliessen sich jedoch nicht grundsätzlich aus. An der Wiener Konferenz von 1993 wurde dieses Spannungsfeld umrissen und Folgendes festgehalten: «Zwar ist die Bedeutung nationaler und regionaler Besonderheiten und unterschiedlicher historischer, kultureller und religiöser Voraussetzungen
im Auge zu behalten, aber es ist die Pflicht der Staaten, ohne Rücksicht auf ihr jeweiliges politisches, wirtschaftliches und kulturelles System alle Menschenrechte und Grundfreiheiten zu fördern und zu schützen.»106 Zudem hält die 2001 durch die UNESCO verabschiedete Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt fest: «Niemand darf unter Berufung auf die kulturelle Vielfalt die Menschenrechte und Grundfreiheiten verletzen, wie sie in allgemein anerkannten internationalen Vereinbarungen festgeschrieben sind, noch ihren Umfang einschränken.»107 Unter dem Vorwand des Schutzes und der Förderung der kulturellen Vielfalt gibt es jedoch zunehmend Initiativen in diese Richtung. Befürchtungen der Bevölkerung und/oder der politischen Behörden über eine kulturelle Invasion westlicher Werte im einen Teil der Welt bzw. des Islamismus in anderen Weltregionen führen zu Abwehrreflexen und Abschottung. Die kulturelle Vielfalt wird jedoch gewährleistet durch den freien Austausch von Ideen und somit durch die Ausübung der Meinungs-, der Meinungsäusserungs-, der Religions- und der Gewissensfreiheit.

106 107

Wiener Erklärung und Aktionsprogramm, Art. 5.

Ibidem, Artikel 2.

1278

Die Schweiz wird sich auch künftig für die Wahrung der Universalität der Menschenrechte einsetzen. Diese Rechte betreffen alle Personen in ihrer Menschenwürde. Der Bundesrat ist sich jedoch bewusst, dass die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte falsch interpretiert und als Weg hin zu einer kulturellen Vereinheitlichung aufgefasst werden kann. Die Schweiz stützt sich deshalb auf einen Grundsatz, bei dem die völkerrechtlich verankerten Grundfreiheiten Garant für vielfältige Ideen und Konzepte und somit für Diversität sind. Ein Schwerpunkt bleibt dabei die aktive Beteiligung an der Allianz der Zivilisationen108.

2.3

Umsetzung der Normen

Auf die normativen Errungenschaften der vergangenen Jahre folgten nur zum Teil auch Fortschritte bei der Umsetzung. Benachteiligungen verschiedener Art gegen besonders gefährdete Menschen bestehen weiterhin, und häufig sind die Betroffenen Opfer von Mehrfachdiskriminierungen. In zahlreichen Ländern herrscht nach wie vor eine inakzeptable Lage, was die Einhaltung der Grundrechte betrifft.

Es ist eine tiefe Kluft zwischen den vorhandenen Normen und der effektiven Umsetzung festzustellen. Es gibt heute eine Vielzahl von Normen, die einen Grossteil der Diskriminierungen abdecken, auch wenn zweifellos noch gewisse Lücken bestehen.

Besonders gefährdete Gruppen wie Kinder, Frauen, Minderheiten oder Behinderte sind durch entsprechende Bestimmungen geschützt. Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Rassismus sind verboten und können strafrechtlich verfolgt werden. Die Opfer der neuen Formen von Sklaverei und Zwangsarbeit können sich auf internationale Übereinkommen berufen. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die notwendigen Instrumente existieren, dass sie jedoch nicht richtig eingesetzt und nicht voll ausgeschöpft werden; Korrekturen sind aber sicher möglich. Wenn zum Beispiel alle Organisationen des UNO-Systems ihren Auftrag uneingeschränkt erfüllen könnten, liesse sich eine Entwicklungspolitik umsetzen, die zur Verwirklichung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte beitragen würde. In einer Welt, in der fast eine Milliarde Menschen unterernährt sind, muss die Armutsbekämpfung mehr als ein guter Vorsatz sein. Gewisse Kreise befürworten sogar eine rechtsverbindliche Verankerung dieses Ziels.

Die Schweiz wird ihr Engagement weiter führen und sich dafür einsetzen, dass die internationalen Menschenrechtsnormen sowohl auf innerstaatlicher als auch auf internationaler Ebene zur Anwendung kommen. Auf nationaler Ebene handeln Bund, Kantone und Gemeinden in ihren jeweiligen Kompetenzbereichen. Im Rahmen der allgemeinen regelmässigen Überprüfung (Universal Periodic Review, UPR), die der UNO-Menschenrechtsrat am 8. Mai 2008 in der Schweiz durchführte109, konnte zwischen den Bundesbehörden und den Vertretern der Zivilgesellschaft ein umfassender Dialog zur Umsetzung der Menschenrechte in der Schweiz initiiert werden. Der Dialog mit den Kantonen im Rahmen der UPR blieb hingegen unter den Erwartungen. Obwohl die Kantone für eine Vielzahl von Bereichen 108

Die 2005 auf Initiative der Türkei und Spaniens unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen gegründete Allianz der Zivilisationen will die Ursachen der Polarisierung zwischen Kulturen und Gesellschaften untersuchen, namentlich zwischen westlicher und islamischer Welt, um Barrieren, Vorurteile und Missverständnisse abzubauen (siehe auch 09.052, Aussenpolitischer Bericht 2009 vom 2. September 2009).

109 Siehe UNO-Dokumente A/HRC/WG.6/2/CHE/1, 2 und 3; A/HCR/8/41.

1279

zuständig sind, die direkt mit der Wahrung der Menschenrechte zusammenhängen (Gesundheit, Polizei, Bildung), hat es sich bisher als schwierig erwiesen, einen regelmässigen Austausch mit ihnen aufzubauen. Dies scheint in erster Linie mit einer gewissen Diskrepanz zwischen den Diskussionen in den multilateralen Foren wie der UNO und den konkreten Anliegen der Kantone bei der ­ in der Regel wirksamen ­ Umsetzung ihrer Politik zusammenzuhängen. Der Bund wird seine Bemühungen für einen intensiveren und regelmässigeren Austausch von Informationen mit den Kantonen im Bereich der Menschenrechte fortsetzen.

Auf internationaler Ebene wird die Schweiz die verschiedenen vertraglichen oder institutionellen Überwachungsmechanismen weiterhin unterstützen (UNO, OSZE, Europarat). Über verschiedene bilaterale Mechanismen (Dialoge, Demarchen, Entwicklungszusammenarbeit u.a.) will die Schweiz konkret zur Umsetzung der rechtlichen und politischen Verpflichtungen der Partnerstaaten beitragen.

2.4

Meinungsäusserungsfreiheit

Die Meinungsäusserungsfreiheit ist ein wesentlicher Bestandteil jeder Gesellschaft, die die Grundrechte respektiert. Als ein Eckpfeiler der Demokratie ist die Meinungsäusserungsfreiheit das Grundrecht, das den Austausch von Informationen und Ideen, aber auch Kritik an den staatlichen Behörden ermöglicht. Sowohl das Völkerrecht als auch die nationalen Gesetzgebungen erlauben es, die Ausübung dieses Rechts einzuschränken. Diese Einschränkungen sind gesetzlich festzulegen und nur zulässig, wenn sie für die Achtung der Rechte oder des Rufs anderer oder für den Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der Volksgesundheit oder der öffentlichen Sittlichkeit notwendig sind. So wie sie im Westen gehandhabt wird, kann die Meinungsäusserungsfreiheit die Gefühle anderer Weltregionen verletzen.

In der UNO haben sich die Spannungen zwischen der westlichen und der islamischen Welt wieder verschärft, als die Organisation der Islamischen Konferenz eine Resolution zur Diffamierung von Religionen einbrachte, mit der die Meinungsäusserungsfreiheit eingeschränkt werden soll, um die (islamische) Religion als solche zu schützen. Ausserdem hat diese Resolution Auswirkungen auf die Rassismusbekämpfung, was die zeitgenössischen Formen von Rassismus angeht. Für die Schweiz ist nicht die Religion als solche schützenswert, sondern die diskriminierungsfreie Ausübung der Menschenrechte durch die betroffenen Einzelpersonen oder Gruppen.

Innerhalb der UNO gehört die Schweiz zu den engagiertesten Akteuren im Bereich der Religions- und Meinungsäusserungsfreiheit. Die Schweiz ist überzeugt, dass die Meinungsäusserungsfreiheit zu den wichtigsten Grundrechten gehört, dass aber rassischer oder religiöser Hass durch Gesetz zu verbieten ist (Art. 20 des Pakts II).

Im Rahmen ihrer Zusammenarbeit mit dem Europarat hat die Schweiz die deutsche Übersetzung des Handbuchs zur Frage der Hassrede finanziert. Sie wird diese Frage in den internationalen Gremien und den bilateralen Beziehungen auch künftig immer wieder ansprechen.

1280

2.5

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vs.

bürgerliche und politische Rechte

Wie zu Beginn des Kapitels erwähnt, hat die Anerkennung der Interdependenz aller Menschenrechte erhebliche Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen.

Freihandelsabkommen, Entwicklungszusammenarbeit und Handelsbeziehungen werden heute auch als Instrumente zur Förderung der Menschenrechte wahrgenommen und genutzt. Unterschiedlich weit gehende Klauseln über die Einhaltung der Grundrechte können integraler Bestandteil von Handelsabkommen sein. In der Entwicklungszusammenarbeit gab es im Laufe der Jahre einen Richtungswechsel von der technischen Hilfe hin zu einer Unterstützung in den Bereichen gute Regierungsführung, Aufbau eines Rechtsstaats und Wahrung der Menschenrechte. Die ursprünglich vor allem auf die Förderung der bürgerlichen und politischen Rechte ausgerichteten bilateralen Dialoge berücksichtigen zunehmend auch Fragen, die wirtschaftliche und soziale Rechte betreffen.

Dabei ist allerdings festzustellen, dass der Grundsatz der Interdependenz und Unteilbarkeit der Menschenrechte in den multilateralen Gremien seit einiger Zeit in Frage gestellt wird. Der Graben zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, der nie ganz verschwunden ist, tritt nun in komplexeren Formen wieder vermehrt in Erscheinung, und es entstehen neue Allianzen. Unter der Führung vor allem der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) und der Bewegung der Blockfreien Staaten (NAM) wandelt sich die anti-westliche «Koalition» je nach Situation. Die Gruppe der afrikanischen Staaten, die asiatischen Länder, China, Iran, Pakistan, die Achse Kuba-Venezuela-Bolivien-Nicaragua (die sich zunehmend vom übrigen Lateinamerika entfernt), die aufstrebenden Wirtschaftsmächte Indien und Brasilien: Diese Akteure schliessen sich bei gemeinsamen Themen und Anliegen ad hoc zu Interessengruppen zusammen, ohne dass sie einen institutionalisierten Block bilden, abgesehen von der OIC und bis zu einem gewissen Grad auch der afrikanischen Länder. Immer wieder tauchen altbekannte Reflexe auf, auch wenn die Akteure manchmal nicht mehr dieselben sind. Unter dem Vorwand, die eigene Identität und Werteordnung zu schützen und den Rassismus zu bekämpfen, versuchen verschiedene Länder, die in der Menschenrechtscharta110 verankerten Grundrechte einzuschränken. Ausserdem berufen sich diese Staaten regelmässig auf das Recht auf Entwicklung, da sie
die Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte als prioritär erachten, die ihrer Meinung nach automatisch auch zu Fortschritten bei den bürgerlichen und politischen Rechten führen. Diese Argumentation dient offensichtlich dem Ziel, die bürgerlichen und politischen Rechte einzuschränken. Es besteht jedoch die Gefahr, dass die Industrieländer in ihrem Bestreben, die freie Ausübung der Grundfreiheiten auf globaler Ebene zu gewährleisten, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte nicht ausreichend fördern und schützen und damit de facto ebenfalls zur erneuten Trennung dieser beiden Pfeiler beitragen.

Der Bundesrat setzt sich für die Unteilbarkeit und Interdependenz der Menschenrechte ein. Die Schweiz arbeitet sowohl auf multilateraler als auch auf bilateraler Ebene auf die Wahrung und Förderung aller Menschenrechte hin.

110

Die Menschenrechtscharta umfasst die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie die dazugehörigen Fakultativprotokolle.

1281

2.6

Geteilte Verantwortung

Eine weitere wichtige Herausforderung im Bereich der Menschenrechte besteht darin, die Verantwortlichkeiten der einzelnen Akteure festzulegen. Gemäss den heutigen Menschenrechtsnormen tragen die Staaten die alleinige Verantwortung für die Wahrung, den Schutz und die Umsetzung der Menschenrechte. Die Behörden haben jedoch zahlreiche traditionell staatliche Kompetenzen anderen Akteuren übertragen, insbesondere der Privatwirtschaft. Bildung, Spitäler, öffentlicher Verkehr, Wasser- und Stromversorgung und sogar Sicherheit: Leistungen in diesen Bereichen werden immer häufiger von privaten Akteuren im Auftrag nationaler oder lokaler Behörden erbracht. Grosse Wirtschaftskonglomerate haben so viel Einfluss auf die staatliche Politik wie nie zuvor. Ein wichtiger Anstoss für die Privatwirtschaft, sich über ihre Rolle und ihre Verantwortung im Bereich der Menschenrechte bewusst zu werden, war die Schaffung des Global Compact auf Initiative des früheren UNO-Generalsekretärs Kofi Annan. Die daran beteiligten Unternehmen verpflichten sich, zehn Grundsätze zu respektieren, die im Zusammenhang mit den Menschenrechten, dem Arbeitsrecht, dem Umweltschutz und der Korruptionsbekämpfung stehen. Andere freiwillige Instrumente existieren im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der Welthandelsorganisation. Sie alle haben zum Ziel, die Wirtschaft dafür zu sensibilisieren, dass sie ihre Tätigkeit auch unter dem Blickwinkel der Menschenrechte beurteilen und negative Auswirkungen auf die Ausübung dieser Rechte verhindern sollte.

Seit den Arbeiten des Sonderbeauftragten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte besteht ein Konsens darüber, dass nichtstaatliche Akteure bei ihrer Tätigkeit für die Berücksichtigung der Grundrechte verantwortlich sind. Wird diese Verantwortung nicht wahrgenommen, hat dies moralische, soziale und manchmal auch rechtliche Folgen. Nun gilt es festzulegen, ob deshalb auch von einem rechtsverbindlichen System gesprochen werden kann.

Diese Frage stellt sich auch für die internationalen Organisationen. Die Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen beschäftigt sich deshalb mit der Problematik, inwieweit eine internationale Organisation für eine von ihr begangene unrechtmässige
Handlung haftbar ist. Die Frage stellt sich auch bei Fahrlässigkeit oder Nichteingreifen, da dies zum Beispiel unter gewissen Umständen ein Massaker an Zivilpersonen zur Folge haben kann.

Die Unterstützung der Schweiz für die Arbeiten des Sonderbeauftragten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte und unser Engagement für die Einhaltung des Völkerrechts durch private Militär- und Sicherheitsunternehmen zeigen, dass der Bundesrat der Problematik der Aufteilung der Verantwortlichkeiten eine hohe Bedeutung beimisst. Dieses Engagement wird der Bundesrat sowohl auf konzeptioneller Ebene als auch mit Kontakten zur Wirtschaft fortführen.

2.7

Migration

Die Migration ist zu einem grundlegenden Faktor im Globalisierungsprozess geworden. Heute liegt die Zahl der Migrantinnen und Migranten weltweit bei rund 200 Millionen, was fast 3 Prozent der Weltbevölkerung entspricht. 67 Millionen 1282

davon waren gemäss UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge zur Migration gezwungen, und 16 Millionen dieser Zwangsmigranten waren Flüchtlinge (Stand Ende 2007). Fast alle Länder sind von der Migration betroffen, sei es als Ausgangs-, Transit- oder Aufnahmeland oder eine Kombination davon. Die Zahl der Personen, die ihr Herkunftsland aus Gründen verlassen müssen, die sie rechtlich gesehen nicht zu Flüchtlingen machen, die aber auch nicht als freiwillige Wirtschaftsmigranten bezeichnet werden können, wird voraussichtlich zunehmen. Diese zunehmend auftretenden «neuen» Wanderungsflüsse dürften Personen betreffen, die Schutz benötigen, weil sie vor Umweltkatastrophen, einem gescheiterten Staat oder vor dem Verlust ihrer Existenz fliehen. Die Herausforderung für die Schweiz wird darin bestehen, sich auf mögliche internationale oder regionale Entwicklungen einzustellen, zum Beispiel durch die Schaffung eines multilateralen Rechtsrahmens für den subsidiären Schutz von gefährdeten Gruppen, der auf den Bedürfnissen der Betroffenen und der Wahrung der Grundrechte beruht.

Auf internationaler Ebene ist das Hauptinstrument in diesem Bereich das Internationale Übereinkommen zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen (ICRMW). Es scheint jedoch vorderhand noch eher Teil des Problems als Teil der Lösung zu sein. Es dauerte dreizehn Jahre, bis das 1990 von der UNO-Generalversammlung verabschiedete Übereinkommen schliesslich von den erforderlichen 20 Ländern ratifiziert war und in Kraft treten konnte. Bisher sind lediglich 42 Länder, darunter kein einziges Aufnahmeland, dem Übereinkommen beigetreten (Stand April 2010). Der «Geist» des Abkommens geht in die gewünschte Richtung: Die Grundrechte der Wanderarbeitnehmenden sollen geschützt werden.

Der Hauptgrund dafür, dass Aufnahmeländer wie die Schweiz das Übereinkommen noch nicht unterzeichnet haben, liegt in der fehlenden Unterscheidung zwischen Wanderarbeitnehmenden, die sich legal im Land aufhalten, und illegalen Migrantinnen und Migranten. Ausserdem sieht der Bundesrat in diesem Übereinkommen kein geeignetes Instrument zur Bekämpfung der irregulären Migration und der damit einhergehenden Straftaten wie Menschenhandel.

Die Schweiz will die von ihr mitinitiierten Arbeiten im Rahmen des Global Forum on Migration and Development und des UN High-Level Dialogue on Migration and Development fortführen.

2.8

Sexuelle Orientierung

Die beiden internationalen Menschenrechtspakte verbieten jegliche Form von Diskriminierung. Diese allgemeinen Bestimmungen wurden schrittweise durch Abkommen verfeinert und präzisiert, welche die verschiedenen gefährdeten Gruppen schützen. Die Hauptimpulse für die Weiterentwicklung dieses umfassenden Rechtsrahmens gingen vom kontinuierlichen gesellschaftlichen Wandel aus. So konnte der Kritik der verschiedenen sozialen Gruppen Rechnung getragen und die gesellschaftliche Anerkennung ihrer Anliegen auch gesetzlich verankert werden. Zu den wichtigsten gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen zwei Jahrzehnte gehörte zumindest in der westlichen Welt die Freiheit, die eigene Sexualität offen zu zeigen und zu leben, ohne diskriminiert zu werden. Auch wenn noch kein internationales Abkommen zum Schutz von lesbischen, schwulen, bisexuellen und transsexuellen Menschen (LGBT) existiert, ist die Debatte über die Diskriminierung dieser Bevölkerungsgruppen und über ihre Rechte in den vergangenen Jahren doch 1283

deutlich intensiver geworden. Der Kampf gegen Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität ist denn auch immer häufiger Thema in internationalen Foren. Ziel ist ein wirksamerer Schutz von Personen, die von einer solchen Diskriminierung betroffen sind. Weil ein geeigneter rechtlicher Rahmen fehlte, erarbeitete 2006 eine Expertengruppe aus Personen mit unterschiedlichem beruflichem und kulturellem Hintergrund aufgrund von Forschungsarbeiten, Konsultationen und Diskussionen Grundsätze zur Anwendung der internationalen Menschenrechte im Bereich der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität (sog. Yogyakarta-Prinzipien). Bei diesen Grundsätzen geht es um die Anwendung der internationalen Menschenrechtsgesetze im Bereich der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität mit dem Ziel, lesbische, schwule, bisexuelle und transsexuelle Menschen (LGBT) zu schützen und Diskriminierungen konsequent zu verbieten. Ein weiterer Fortschritt ist innerhalb der UNO auszumachen, wo im Rahmen der Generalversammlung vom Dezember 2008 mehr als ein Drittel der Mitgliedsländer, darunter die Schweiz, die Erklärung zu den Menschenrechten, der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität (Statement on Human Rights, Sexual Orientation and Gender Identity) unterstützten. Sie ruft die Unterzeichnerstaaten dazu auf, sich für den Schutz der Menschenrechte aller Personen einzusetzen, ungeachtet ihrer sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität. Das Ministerkomitee des Europarates verabschiedete im Frühling 2010 zudem die Empfehlungen betreffend Massnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität. Dieser Text ist das erste Instrument, das vom Ministerkomitee spezifisch für diese Art von Diskriminierung ausgearbeitet wurde. Klar ablehnend stehen diesem Ansatz die Organisation der Islamischen Konferenz, zahlreiche afrikanische Länder sowie europäische Länder wie die Russische Föderation oder die baltischen Staaten gegenüber. Sie bekämpfen die Einführung von Begriffen, für die ihres Erachtens die rechtlichen Grundlagen fehlen, und die Schaffung von Sondergruppen aufgrund von sexuellen Interessen und Verhaltensweisen. Wer sich für eine andere Orientierung als die Heterosexualität entscheidet, trifft ihres
Erachtens freiwillig eine über die Grundrechte hinausgehende Wahl für einen bestimmten Lebensstil. Zahlreiche Länder sind ausserdem der Ansicht, dass homosexuelle Beziehungen eine strafbare Handlung darstellen.

Der Bundesrat will sein Engagement im Bereich der Förderung und des Schutzes der LGBT auf internationaler Ebene verstärken.

2.9

Recht auf Entwicklung und Armutsbekämpfung

Die von der UNO-Generalversammlung 1986 verabschiedete Erklärung über das Recht auf Entwicklung anerkennt als einziges Abkommen ein individuelles und kollektives Recht auf Entwicklung, ist aber nicht rechtsverbindlich. An der Konferenz von Wien 1993 wurde diese individuelle Dimension bekräftigt. Die Entwicklungsländer streben die Erarbeitung eines international verbindlichen Instruments für diesen Bereich an. Es soll die Industrieländer verpflichten, einen gewissen Prozentsatz ihres Bruttoinlandprodukts für die Entwicklungszusammenarbeit aufzuwenden, ohne dass dies an die Förderung und den Schutz der Menschenrechte geknüpft würde. Die Industrieländer lehnen jedoch Verhandlungen zu einem solchen verbindlichen Instrument ab. Einverstanden sind sie bisher mit der Unterstützung politischer Engagements im Rahmen von Richtlinien zur Umsetzung des Rechts auf Entwick1284

lung. Falls es doch noch zu Verhandlungen kommt, wird die Schweiz sich dafür einsetzen, dass die individuelle Geltung des Rechts auf Entwicklung gewahrt und mit der Achtung aller Menschenrechte ­ bürgerliche, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ­ verknüpft wird.

Die Linderung von Not und Armut gehört zu den aussenpolitischen Zielen, die in der Bundesverfassung festgelegt ist. Der Bundesrat ist mit dem UNO-Generalsekretär überzeugt, «dass wir ohne Entwicklung keine Sicherheit geniessen können, dass wir ohne Sicherheit nicht in den Genuss der Entwicklung kommen und dass wir beides nicht geniessen können, wenn nicht die Menschenrechte geachtet werden.»111 Deshalb wird er sich auch künftig für die Ärmsten einsetzen.

2.10

Rassismusbekämpfung

Das Thema der Rassismusbekämpfung wird seit der Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban vom Jahr 2001 zunehmend politisiert. Nicht alle westlichen Länder haben die Erklärung und das Aktionsprogramm von Durban und das in Genf 2009 verabschiedete Folgedokument unterzeichnet, obwohl dieses als gutes Ergebnis zu werten ist. Verschiedene Entwicklungsländer instrumentalisieren die Rassismusbekämpfung als Waffe, die sich ausschliesslich gegen die Industrieländer richtet. Die internationale Gemeinschaft bleibt deshalb gespalten. Rassismus lässt sich aber nur erfolgreich bekämpfen, wenn sich alle engagieren. Heute beschränkt sich die Rassismusbekämpfung nicht mehr nur darauf, allen Einzelpersonen dieselben Freiheiten und Rechte einzuräumen, unabhängig von Rasse, Hautfarbe, Abstammung sowie nationaler und ethnischer Herkunft. Zu den klassischen Diskriminierungen kommen Mehrfachdiskriminierungen und die Frage der Aufstachelung zum Hass hinzu, die jüngst mit Versuchen zur Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit beantwortet wurde. Die internationale Gemeinschaft sieht sich heute mit einer zunehmend komplexen Aufgabe konfrontiert. Mit dem Aspekt der Mehrfachdiskriminierung versuchen namentlich die westlichen und die lateinamerikanischen Länder, den Begriff der Nichtdiskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität neben den bestehenden Diskriminierungsverboten aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Abstammung sowie nationaler und ethnischer Herkunft zu verankern. Umgekehrt instrumentalisieren verschiedene Länder unter der Führung der Organisation der Islamischen Konferenz den legitimen Kampf gegen Rassen- und Religionshass als politisches Mittel zur Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit.

3 3.1

Die Prioritäten der Schweiz Vorbemerkung

Die Achtung der Menschenrechte gehört zu den fünf Zielen der schweizerischen Aussenpolitik, wie sie in Artikel 54 Absatz 2 der Bundesverfassung definiert sind.

Daraus folgt, dass die Achtung der Menschenrechte grundsätzlich für alle Aktivitäten der Schweiz im Ausland gilt. Die Bundesverfassung enthält einen Menschen111

Bericht des UNO-Generalsekretärs: In grösserer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle, 2005.

1285

rechtskatalog und präzisiert zudem, dass Bund und Kantone das Völkerrecht, d.h.

auch die menschenrechtlichen Verpflichtungen, beachten müssen (Art. 5 Abs. 4 BV).

Die Menschenrechtsaussenpolitik der Schweiz wurde im Laufe der letzten Jahre definiert112 und hat drei Prioritäten: Schutz und Förderung der grundlegenden Menschenrechte, die auch im Ausnahmezustand nicht eingeschränkt werden dürfen; Schutz von besonders verletzlichen Gruppen; Beiträge zur besseren Regelung von Spannungsfeldern, die in direktem Zusammenhang mit der Globalisierung stehen.

Innerhalb dieser drei Schwerpunkte werden eine Reihe spezifischer Themen behandelt. Zum ersten Schwerpunkt gehören das Recht auf Leben und das Folterverbot; zum zweiten Schwerpunkt gehören der Schutz der Rechte von Frauen, Kindern, Minderheiten, Binnenvertriebenen, Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern, lesbischen, schwulen, bisexuellen und transsexuellen Menschen (LGBT). Der dritte Schwerpunkt entwickelt sich parallel zur Globalisierung und umfasst mehrere Themen: das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Menschenrechten, die soziale Verantwortung von Unternehmen, die Zusammenhänge zwischen Armut, Stigmatisierung, Ausgrenzung und Verstössen gegen die Menschenrechte.

Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die drei genannten Prioritäten nach wie vor relevant sind, und zwar sowohl im Hinblick auf die Förderung und den Schutz der Menschenrechte als auch im Hinblick auf die bisherigen Tätigkeiten der Schweiz, in deren Rahmen sie Kompetenz und Glaubwürdigkeit erworben hat. Der Bundesrat hat die Absicht, die Flexibilität zu bewahren, die zur Anpassung an Veränderungen im internationalen Umfeld und an neu auftretende Fragestellungen notwendig ist, doch er will zugleich die Bereiche präzisieren, in denen sich die Schweiz engagieren will, insbesondere hinsichtlich der Beiträge zur besseren Regelung von Spannungsfeldern, die in direktem Zusammenhang mit der Globalisierung stehen.

3.2

Schutz und Förderung der grundlegenden Menschenrechte

Die grundlegenden Menschenrechte gehören in Anbetracht ihres absoluten Charakters zu den Prioritäten der Schweiz (siehe auch Art. 4 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte113). Sie stellen eine Schwelle dar, welche die Staatengemeinschaft nicht unterschreiten darf, ohne die Menschenrechte grundsätzlich in Frage zu stellen. Aus diesem Grund hat sich die Schweiz in der Vergangenheit für die Förderung und den Schutz dieser Rechte eingesetzt und wird dies auch in Zukunft tun.

112

Bericht vom 2. Juni 1982 über die schweizerische Menschenrechtspolitik (BBl 1982 II 729).

Bericht vom 16. Februar 2000 über die Menschenrechtspolitik der Schweiz (BBl 2000 2586).

Bericht vom 31. Mai 2006 über die Menschenrechtsaussenpolitik der Schweiz 2003­2007 (BBl 2006 6071).

Botschaft vom 15. Juni 2007 über die Weiterführung von Massnahmen zur zivilen Friedensförderung und Stärkung der Menschenrechte (BBl 2007 4733).

113 Die Schweiz trat dem Pakt am 18. Juni 1992 bei.

1286

3.2.1

Das Recht auf Leben

Das Recht auf Leben ist das erste und grundlegendste aller Menschenrechte. Die Schweiz verurteilt alle Formen von willkürlichen, summarischen oder aussergerichtlichen Hinrichtungen und leistet einen Beitrag an die Bemühungen um die weltweite Abschaffung der Todesstrafe.

Das Engagement für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe ist eine der Prioritäten unserer Menschenrechtsaussenpolitik. In diesem Sinne unterstützte die Schweiz die Organisation des 4. Weltkongresses gegen die Todesstrafe, der vom 24.­26. Februar 2010 in Genf stattfand und an dem mehr als 1500 Personen teilnahmen, darunter Vertreterinnen und Vertreter von Regierungen und Zivilgesellschaft, Journalistinnen und Journalisten, Richterinnen und Richter sowie Anwältinnen und Anwälte. Ziel des Kongresses war es, wirksame Strategien für die Abschaffung der Todesstrafe auszuarbeiten.

Auf bilateraler Ebene wird die Abschaffung der Todesstrafe im Rahmen von Menschenrechtsdialogen mit China, Kuba, Vietnam und Iran thematisiert. Bilaterale Demarchen zu Einzelfällen werden ad hoc unternommen, sobald die Schweizer Behörden Kenntnis von einer geplanten Hinrichtung erhalten. Solche Demarchen werden nicht nur gegenüber den obgenannten Ländern unternommen, sondern auch gegenüber den USA, Thailand, Belarus und anderen Staaten. Die Schweiz will mit allen Ländern im Gespräch bleiben, welche die Todesstrafe noch praktizieren. Mit dem Ersuchen um Begnadigung eines Verurteilten und einem erneuten Aufruf zu einem weltweiten Moratorium gilt es sicherzustellen, dass die völkerrechtlichen Mindestnormen, darunter das Verbot der Hinrichtung von Minderjährigen und Schwangeren, eingehalten werden. Im Rahmen des Schweizer Vorsitzes im Europarat führte die Schweiz Gespräche mit dem einzigen europäischen Land, das die Abschaffung der Todesstrafe ablehnt und das aus diesem Grund nicht Mitglied des Europarates ist, nämlich Belarus.

Die Schweiz wirkt auch in mehreren internationalen Initiativen mit. So beteiligt sie sich etwa an der von Spanien lancierten Initiative für die Einsetzung einer Internationalen Kommission für die Abschaffung der Todesstrafe, die ein weltweites Moratorium ab 2015 als ersten Schritt zu einer vollständigen Abschaffung der Todesstrafe anstrebt. Sie beteiligt sich zudem an der Initiative, die eine universelle Ratifikation des Zweiten
Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe114 fördern will. Und schliesslich unterstützt die Schweiz in der Generalversammlung der UNO eine Resolution über ein Hinrichtungsmoratorium.

Das Recht auf Leben ist jedoch nicht nur im Zusammenhang mit dem Strafrecht von Bedeutung. Auch bewaffnete Konflikte, innerstaatliche Gewalt und Unruhen, Armut und Ausgrenzung sind Faktoren, die das Überleben von Millionen Menschen gefährden. Durch humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit bemüht sich die Schweiz, zunächst die Grundbedürfnisse der betroffenen Bevölkerung zu decken und sodann langfristig deren wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu fördern.

Die Unterstützung der Schweiz für Initiativen, die sich für das Recht auf Wasser und das Recht auf Nahrung einsetzen, ist in eine Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik einzubetten, die über den Schutz der individuellen Freiheitsrechte hinausgeht und 114

Die Schweiz trat dem Zweiten Protokoll am 16. Juni 1994 bei.

1287

deren Massstab ein globaler und inklusiver Menschenrechtsbegriff ist. Dieser inklusive Ansatz macht die Menschenrechte zu einem langfristigen Programm, das unmittelbare Schutzmassnahmen wie die zuvor erwähnten Demarchen und Nothilfeaktionen, aber auch Elemente zugunsten individueller sozialer und wirtschaftlicher Entfaltung umfasst, die sich positiv auf die ganze Gemeinschaft auswirken werden.

Eine besonders gravierende Form der Verletzung des Rechts auf Leben ist der Völkermord. Die Schweiz beteiligt sich an den Aktivitäten des Internationalen Holocaust-Forums; sie unterstützt den Sonderbeauftragten des UNO-Generalsekretärs für die Verhütung des Völkermordes und beteiligt sich an der Entwicklung von Instrumenten zur Früherkennung und Prävention von Genozidtendenzen. Im Bereich der Genozidprävention und der Verhütung anderer Gräueltaten hat die Schweiz einen multilateralen Prozess lanciert, in dessen Rahmen gemeinsam mit Argentinien und Tansania regionale Gremien zur Genozidprävention organisiert werden. Eines seiner Ziele ist es, in den Regierungen Anlaufstellen zu schaffen und einen Mechanismus der nachbarschaftlichen Prävention zu entwickeln. Zudem haben Vertreterinnen und Vertreter von mehr als 80 Regierungen am Intensivkurs teilgenommen, den die Schweiz im Rahmen des Programms Engaging Governments in Genocide Prevention unterstützt, das von der George Mason University geleitet wird.

3.2.2

Das Folterverbot

Das Verbot der Folter lässt keine Ausnahme zu. Jeder Mensch hat das unveräusserliche Recht, nicht der Folter oder anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen zu werden. Auch im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung gilt das Folterverbot ohne Einschränkung.

Die Schweiz legt besonderen Wert auf die Prävention: Bei ihren bilateralen Kontakten spricht sie die Frage der Prävention an, um dazu beizutragen, dass immer mehr Länder dem bestehenden Rechtsrahmen beitreten, insbesondere dem Fakultativprotokoll zum Übereinkommen gegen Folter. Dieses Instrument wurde im September 2009 von der Schweiz ratifiziert. Es sieht einen internationalen und einen innerstaatlichen Kontrollmechanismus vor. Dem internationalen Engagement der Schweiz für die Bekämpfung der Folter entspricht innerstaatlich die Einsetzung der Kommission zur Verhütung von Folter, die ihre Tätigkeit Anfang 2010 aufgenommen hat. Die Schweiz setzt sich auch für eine transparente Information über die Haftanstalten (?)

ein. Sie unterstützt den Sonderberichterstatter über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe des Menschenrechtsrats, indem sie eine Person zur Verfügung stellt, die bei Nachforschungen mitarbeitet und an Besuchen vor Ort teilnimmt. Die Vertreterinnen und Vertreter der Schweiz in den besuchten Ländern engagieren sich dafür, dass die Empfehlungen des Sonderberichterstatters nach dem Besuch umgesetzt werden. Auch die Schweizer Delegationen im Menschenrechtsrat und in der Generalversammlung handeln bei Resolutionen der beiden Organe in diesem Sinne.

Auf internationaler Ebene setzt sich die Schweiz dafür ein, dass die Folterer strafrechtlich verfolgt werden und die Opfer Anspruch auf Wiedergutmachung und Entschädigung haben. Das EDA trägt dazu bei, den Verantwortlichen die konkrete Tragweite des Folterverbots bewusst zu machen, indem es Handbücher für Strafuntersuchungs- und Strafvollzugsbehörden publiziert und übersetzt, Schulungen orga1288

nisiert und aktiv an Informationstagungen für Vertreterinnen und Vertreter ausländischer Regierungen oder Parlamente teilnimmt.

In den letzten Jahren war die Bekämpfung der Folter mit ausserordentlich grossen Herausforderungen konfrontiert. Waren Folterungen und andere unmenschliche oder erniedrigende Strafen oder Behandlungen früher ein Merkmal von Diktaturen, so sind sie heute leider auch in modernen Demokratien festgestellt worden. Im Zusammenhang mit der Bekämpfung des Terrorismus wurden auch auf höchster politischer Ebene erhebliche Abweichungen von den Grundsätzen der körperlichen und geistigen Unversehrtheit von Gefangenen in Kauf genommen. Neben der Intensivierung der Bekämpfung solcher Praktiken hat dies auch zu einem massiven Glaubwürdigkeitsverlust der westlichen Welt geführt, was die Förderung und den Schutz der Menschenrechte betrifft. Die Schweiz unterstützt die einschlägigen Resolutionen der UNO und nutzt bilaterale Instrumente, um ihre Besorgnis wegen der Anwendung von Folter zum Ausdruck zu bringen.

Was die Zivilgesellschaft anbetrifft, so erlaubt die Zusammenarbeit mit zwei in Genf ansässigen NGO, der Weltorganisation gegen Folter (OMCT) und der Association pour la prévention de la torture (APT), die Förderung der weltweiten Bekämpfung der Folter unter verschiedenen Gesichtspunkten. Die OMCT konzentriert ihre Bemühungen auf die rechtliche und soziale Betreuung von Opfern sowie auf den Schutz von Frauen und Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern. Die APT ist in den Bereichen Bildung, Rechtshilfe, Entwicklung praktischer Instrumente und Präventionsmechanismen tätig. Diese beiden komplementären Ansätze ergänzen die diplomatischen und politischen Aktivitäten der Schweiz sowohl in multilateralen Gremien als auch anlässlich bilateraler Kontakte.

3.3

Verletzliche Gruppen

Eine besondere Aufmerksamkeit der Staatengemeinschaft bei der Entwicklung der internationalen Menschenrechtsnormen gilt verletzlichen Gruppen. Sowohl auf globaler als auch auf regionaler Ebene richtet sich das Augenmerk der internationalen Gemeinschaft hierbei auf Kinder, nationale, ethnische, religiöse und sprachliche Minderheiten sowie auf Frauen. Der Schutz und die Förderung ihrer Rechte ergeben sich aus dem Schutz der zwingenden Rechte. Nur so ist eine gerechte Entwicklung der Gesellschaft möglich. Die Rechte von Kindern, Frauen und Minderheiten werden auch weiterhin zu den prioritären Themen gehören. Darüber hinaus wird der Bundesrat sich verstärkt für den Schutz von Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern, den Schutz von Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten und die Bekämpfung von Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und der geschlechtlichen Identität einsetzen.

3.3.1

Die Rechte der Frau

Auf der normativen Ebene ratifizierte die Schweiz im September 2008 das Fakultativprotokoll zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau. Dieses Protokoll bietet Personen, die aussagen, Opfer einer Verletzung eines im Übereinkommen niedergelegten Rechts zu sein, die Möglichkeit, beim Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau eine Individualbe1289

schwerde einzulegen. Dieser Ausschuss ist befugt, in schweren Fällen von Diskriminierung Ermittlungen aufzunehmen. Die Ratifikation stärkt die innerstaatlichen Instrumente für die Beseitigung geschlechtsbezogener Diskriminierung.

Die Resolution 1325 des UNO-Sicherheitsrats über Frauen, Frieden und Sicherheit (im Folgenden: Resolution 1325) wurde am 31. Oktober 2000 einstimmig angenommen. Dies ist die erste Resolution des UNO-Sicherheitsrats, die die Auswirkungen bewaffneter Konflikte auf Frauen und Mädchen ausdrücklich erwähnt und die unterstreicht, wie wichtig die Mitwirkung von Frauen in Friedensprozessen ist. Im Juni 2008 stellte der Sicherheitsrat in seiner Resolution 1820 (bei der die Schweiz als Koautorin mitwirkte) fest, dass sexuelle Gewalt, die als Kriegstaktik gegen Zivilpersonen gerichtet ist, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit gefährden kann. In der Resolution 1888 (Koautorin Schweiz) vom September 2009 setzte er eine Sonderbeauftragte des Generalsekretärs für sexuelle Gewalt in Konflikten ein.

Das bilaterale und multilaterale Engagement der Schweiz im Rahmen der Resolution 1325 konkretisiert sich in Aktivitäten zur Gleichberechtigung der Geschlechter und durch die Unterstützung für Projekte und Aktivitäten, die speziell auf die Umsetzung der Resolution 1325 ausgerichtet sind. Zudem findet es Ausdruck in der Entsendung von Expertinnen und Experten und in internen Massnahmen im Hinblick auf die Einstellung von Personal, die Weiterbildung und die Förderung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Um dieses Engagement zu intensivieren und die verschiedenen Aspekte besser zu koordinieren, stellte die Schweiz den Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Resolution 1325 (im Folgenden: Aktionsplan 1325) auf, der der Friedensförderungspolitik der Schweiz als Grundlage dient. Der Aktionsplan 1325 legt die Zielsetzungen und Richtlinien sowie einen Massnahmenkatalog für die Jahre 2007­2009 fest; eine revidierte Fassung wird Ende 2010 vorliegen.

Der Aktionsplan 1325 soll dazu beitragen, dass die Genderdimension in allen Bereichen der Friedenspolitik und bei jeder konkreten Massnahme zugunsten der Friedensförderung berücksichtigt wird. Dies bedeutet, dass die unterschiedliche Art und Weise, wie Frauen und Männer von bewaffneten Konflikten betroffen sind, und die unterschiedlichen
Rollen, die sie in solchen Konflikten und bei ihrer Beilegung spielen, beachtet wird. Der integrierte Gleichstellungsansatz (gender mainstreaming) bezeichnet hier also die Berücksichtigung der Genderdimension in jeder Phase der Friedensförderung, von der Analyse der Situation über die Formulierung der Politik bis hin zur Umsetzung der konkreten Massnahmen.

Auf regionaler Ebene arbeiten die Mitgliedstaaten des Europarats zurzeit am Entwurf eines Übereinkommens über die Verhütung und Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen und der häuslichen Gewalt. In diesem Rahmen setzt sich die Schweiz dafür ein, dass das Übereinkommen die Aspekte Prävention, Schutz und Strafverfolgung abdeckt, und sie plädiert für eine weit gefasste Bestimmung des Begriffs der Frau, die auch Mädchen einschliesst.

3.3.2

Die Rechte des Kindes

Kinder gehören zu den verletzlichsten Gruppen. Sie bedürfen besonderer Aufmerksamkeit, denn es gibt die unterschiedlichsten Formen von Missbrauch. Zudem können Kinder ihre Rechte nur in begrenztem Umfang durchsetzen. Die Schweiz ist vor allem im Bereich der Rechte des Kindes in bewaffneten Konflikten aktiv. Kon1290

kretes Ergebnis dieses Engagements war die 2005 verabschiedete Resolution 1612 des Sicherheitsrats, die ein Berichterstattungsverfahren und einen Kontrollmechanismus einführte und eine Arbeitsgruppe zum Thema Kinder in bewaffneten Konflikten einsetzte. Im Rahmen einer Verstärkung des Überwachungsmechanismus erweiterte die Resolution 1882 das Verzeichnis der an einem bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien, die Kinder einziehen oder einsetzen, um Parteien, die unter Verstoss gegen das anwendbare Völkerrecht systematisch Kinder töten und verstümmeln und/oder Vergewaltigungen und andere sexuelle Gewalthandlungen an ihnen begehen. Zwar muss dieser verstärkte Schutz nun auch und vor allem im Feld verwirklicht werden, doch seine rechtliche und politische Anerkennung ist schon ein Schritt in die richtige Richtung.

Die Schweiz unterstützt das Büro der Sonderbeauftragten des UNO-Generalsekretärs für Kinder und bewaffnete Konflikte sowohl auf diplomatischer Ebene als auch durch die Entsendung einer Kommunikationsbeauftragten. Diese personelle Unterstützung ermöglicht noch engere Kontakte zum Büro der Sonderbeauftragten. Das Büro soll dafür sorgen, dass der Schutz, die Rechte und das Wohl von Kindern, die durch bewaffnete Konflikte in Mitleidenschaft gezogen werden, Priorität auf der internationalen Tagesordnung erhalten. Um dies zu erreichen, ist eine weltweite Mobilisierung der politischen Verantwortlichen und der Öffentlichkeit erforderlich.

Die Schweiz betrachtet das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) im UNO-System als wichtigsten Partner für die weltweite Förderung und den Schutz der Rechte des Kindes, namentlich auch in bewaffneten Konflikten und bei Naturkatastrophen, und stellt UNICEF jährlich einen allgemeinen Beitrag zur Verfügung.

Besondere Bedeutung misst sie den Bemühungen von UNICEF zu, sowohl auf internationaler Ebene als auch vor Ort dafür Sorge zu tragen, dass die Rechte von Mädchen und Jungen in bewaffneten Konflikten geachtet und geschützt werden. In diesem Sinne wurden die Voraussetzungen für einen systematischen Dialog mit UNICEF in diesem Bereich geschaffen. Dies sollte der Schweiz erlauben, die Arbeit dieser Organisation sowohl politisch als auch operativ noch gezielter zu unterstützen. Finanzielles Engagement ist mit aktiver Mitarbeit im Verwaltungsrat der Organisation
verbunden, und daher hat die Schweiz Gelegenheit, zur Formulierung der Prioritäten, Politiken und Strategien von UNICEF beizutragen. Darüber hinaus unterstützt die Schweiz einzelne UNICEF-Programme in mehreren Ländern, so beispielsweise in Pakistan Projekte für den Schutz von Kindern vor Gewalt, Missbrauch und Ausbeutung oder in Tadschikistan und in Bosnien und Herzegowina Projekte im Bereich Jugendstrafrecht.

Die Schweiz unterstützt das Internationale Institut der Rechte des Kindes (IRK) in Sitten und arbeitet mit ihm zusammen. Das Institut führt verschiedene Bildungs- und Aufklärungsprogramme über die Rechte des Kindes durch. Darüber hinaus erhalten mehrere Schweizer Hilfswerke finanzielle Unterstützung vom Bund, der auch operativ eng mit ihnen zusammenarbeitet: zum Beispiel Terre des hommes und Enfants du monde, die in vielen Teilen der Welt Programme zugunsten von Kindern durchführen, oder auch die Stiftung Kinderschutz Schweiz, die sich seit Jahren erfolgreich für die Rechte des Kindes und für die Bekämpfung aller Formen von Gewalt gegen Kinder einsetzt, sowie ECPAT Switzerland (End Child Prostitution, Child Pornography and Trafficking of Children for Sexual Purposes), die zwei Projekte für das Verbot sexueller Ausbeutung von Kindern durch Touristen im Ausland lanciert hat. Das erste Projekt ist ein Verhaltenskodex, der Reiseveranstalter motivieren soll, Touristen und Geschäftspartner wie Hotels und lokale Veranstalter für diese Fragen 1291

zu sensibilisieren und so zur Verhütung des Sextourismus beizutragen. Das zweite Projekt ist ein Meldeformular, das auf der Website des Bundesamts für Polizei bei Verdacht auf Kindersextourismus ausgefüllt werden kann. Auf diesem Formular können Beobachtungen im Zusammenhang mit einer vermuteten sexuellen Ausbeutung von Kindern im Ausland mitgeteilt werden.

In Ergänzung zu den genannten Aktivitäten unterstützt die Schweiz eine neue Initiative der Nichtregierungsorganisation Geneva Call, die sich den Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten zur Aufgabe gemacht hat. Diese Initiative will sicherstellen, dass nichtstaatliche bewaffnete Gruppen die Normen des humanitären Völkerrechts einhalten und die Menschenrechte achten. Durch Unterzeichnung einer Erklärung verpflichten sich diese Gruppen, keine Kinder als Soldaten zu rekrutieren.

Dieses neue Projekt ist in zweifacher Hinsicht interessant: Erstens bietet es nichtstaatlichen Akteuren Zugang, die in zwischenstaatlichen Gremien oft kein Gehör finden, und zweitens arbeitet es präventiv auf der Ebene der «Nachfrage» nach Kindersoldaten und ergänzt damit andere Initiativen, die sich auf ihr Ausscheiden aus militärischen Gruppen und ihre Wiedereingliederung in das Zivilleben konzentrieren.

In normativer Hinsicht unterstützte die Schweiz Brasilien bei seinen Bemühungen, die UNO zu veranlassen, die Leitlinien für alternative Formen der Betreuung von Kindern zu berücksichtigen. Diese Leitlinien sollen sicherstellen, dass Kinder nicht der Obhut ihrer Angehörigen entzogen werden, sofern dies nicht dringend erforderlich ist, und dass nichtelterliche Betreuung angemessen ist und den Bedürfnissen und dem Interesse des Kindes entspricht.

Auf Anregung verschiedener NGO und auf Ersuchen Sloweniens und der Slowakei prüft die UNO die Möglichkeit eines Fakultativprotokolls zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes, das nach dem Vorbild der wichtigsten internationalen Menschenrechtsübereinkommen ein Verfahren für Individualbeschwerden vorsieht. Die Schweiz nimmt an diesen Verhandlungen teil. Grundsatzfragen wie zum Beispiel die Frage, wer im Namen von Kindern tätig werden kann, deren Rechte verletzt wurden, müssen geklärt werden, bevor definitiv Stellung genommen werden kann.

3.3.3

Minderheiten

Die internationalen Bemühungen unseres Landes im Bereich des Minderheitenschutzes beruhen auf der Überzeugung, dass die Achtung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung und der Gleichberechtigung, der Schutz und die Förderung der kulturellen, religiösen und sprachlichen Identität der Personen, die nationalen Minderheiten angehören, sowie deren Beteiligung am politischen und gesellschaftlichen Leben der Stabilität und dem Wohlstand eines Landes förderlich sind und erheblich zur Konfliktprävention beitragen. Der Bund unterstützt auf politisch-diplomatischer sowie auf zivilgesellschaftlicher Ebene Prozesse der Konflikttransformation, indem er Sach- und Methodenwissen sowie finanzielle Hilfen bereitstellt.

Der Schutz und die Entwicklung der Gruppenidentität von Minderheiten und der individuellen Identität ihrer Mitglieder müssen gewahrt und gefördert werden. Die Identität kann verschiedene Aspekte wie etwa die Sprache, die Religion oder die kulturelle Praxis umfassen. Sprache und Religion sind Unterscheidungskriterien, die durch zahlreiche Verträge geschützt werden, denen die Schweiz beigetreten ist, so zum Beispiel durch den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, 1292

der nicht nur Diskriminierungen verbietet, sondern die Staaten auch verpflichtet, wirksame Massnahmen zu treffen, um Minderheitensprachen und -religionen zu erhalten.

Das Recht auf Nichtdiskriminierung ist im Völkerrecht verankert. Dennoch besteht Diskriminierung fort. In manchen Fällen wurzeln diskriminierende Verhaltensweisen so tief in unseren sozialen und kulturellen Normen, dass sie nicht einmal in Frage gestellt werden. In diesem Zusammenhang trägt der Bund durch die Programme der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) dazu bei, dass der Zugang von Romakindern zum regulären Schulsystem erleichtert wird und dass Minderheiten Zugang zu Vorschuleinrichtungen sowie zu Sekundar- und Hochschulen haben. Auf dem Balkan fördert die DEZA die Vertretung von Roma in den Medien. In den Balkanländern sind in den letzten Jahren neue Rundfunk- und Fernsehsender entstanden, die der Minderheit der Roma eine Stimme geben und zudem auch ein wichtiges Instrument zur Bestätigung ihrer Identität darstellen. Schutz von Minderheiten bedeutet, ihre Rechte geltend zu machen und ihre Rolle als aktive Bürgerinnen und Bürger zu stärken. In diesem Sinne fördert die Schweiz mehrere Initiativen, die gewährleisten sollen, dass die Behörden die Rechte von Minderheitengruppen achten und schützen, und zwar in erster Linie das Recht auf Teilhabe an der demokratischen Entscheidungsfindung. Sie unterstützt dort auch mehrere Programme für gute Regierungsführung, Demokratisierung und soziale Integration von Minderheiten. Auch Konfliktprävention ist Bestandteil unserer Aktivitäten in der Region. Unsere Expertinnen und Experten begleiteten mehrere Rundtischgespräche in verschiedenen Ländern der Region. Ihr Ziel war es, konkrete Fragen des Miteinanderlebens und der Diskriminierung zu debattieren. Nach wie vor sind zu viele Minderheiten von den politischen Prozessen ausgeschlossen. Daher muss eine Stärkung des rechtlichen Rahmens für den Schutz der Minderheiten unbedingt Teil unserer Bemühungen sein.

Die Schweiz engagiert sich zudem für eine Stärkung der bestehenden internationalen Normen des Minderheitenschutzes. Sie verfolgt dieses Ziel in den Gremien, in denen die einschlägigen Debatten stattfinden, namentlich im Europarat und in der OSZE.

3.3.4

Rassismus

Die Bekämpfung des Rassismus gehört zu den Prioritäten der Schweiz. An der Durban-Überprüfungskonferenz, die vom 20.­24. April 2009 in Genf stattfand, nahmen 182 Staaten im Konsens ein Schlussdokument über die Umsetzung der Erklärung und des Aktionsprogramms von Durban 2001 an. Die Schweiz hatte aktiv an den Vorbereitungsarbeiten teilgenommen, um ihre Vorstellungen von der Bekämpfung des Rassismus einzubringen. In ihrer Eigenschaft als Mitglied der Gruppe «Freunde des Vorsitzenden» unterstützte sie dessen Bemühungen während der Verhandlungen, die zur Annahme des Schlussdokuments führten. Die Schweiz ist der Auffassung, dass das Ergebnis der Konferenz positiv ist. Die Schlusserklärung entspricht den Vorgaben des Bundesrats vom Mai 2008. Es handelt sich um ein ausgewogenes Dokument, das heikle Fragen anspricht und dennoch im Konsens verabschiedet wurde. Die Erklärung unterstreicht die zentrale Rolle des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung115 115

Die Schweiz ist dem Übereinkommen am 29. November 1994 beigetreten.

1293

und konzentriert sich auf die Massnahmen zur Umsetzung der bestehenden Normen.

Dabei wird unter anderem die Meinungsäusserungsfreiheit, die eine Vielfalt an Ideen und Gedanken zulässt, als wesentliches Mittel im Kampf gegen Diskriminierung bezeichnet. Die Erklärung weist auch darauf hin, dass in etlichen Bereichen wirksamere Massnahmen notwendig sind: Diskriminierung von Frauen und Kindern, Mehrfachdiskriminierung und verschärfte Formen der Diskriminierung, Rassismus gegenüber Migrantinnen und Migranten, Asylsuchenden und Flüchtlingen.

Die Schweiz setzt ihr Engagement im Kampf gegen den Rassismus fort. Ein Adhoc-Ausschuss des UNO-Menschenrechtsrats wurde beauftragt, ergänzende Normen zum Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung auszuarbeiten. Die internationale Gemeinschaft ist sich zwar darüber einig, dass die Bekämpfung des Rassismus zusätzlicher Anstrengungen bedarf, doch die hierfür erforderlichen Mittel sind sehr umstritten. Obwohl an der DurbanÜberprüfungskonferenz vom April 2009 in Genf erneut bekräftigt wurde, dass die Meinungsäusserungsfreiheit ein wesentliches Mittel im Kampf gegen Diskriminierung ist, versuchen viele Delegationen immer noch, dieses Grundrecht einzuschränken, indem sie im Rahmen des Ad-hoc-Ausschusses auf dem Konzept der «Diffamierung von Religionen» bestehen.

3.3.5

Migration

Infolge der Globalisierung haben sowohl der Umfang als auch die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung der Migration zugenommen. Die Staaten sind sich der Tatsache bewusst geworden, dass eine neue, partnerschaftlich orientierte Migrationspolitik die Möglichkeit bieten würde, das positive Potential der Migration zu nutzen und ihre negativen Aspekte einzudämmen.

Migration stellt Staaten und Gesellschaften vor immense Herausforderungen: Millionen Menschen werden jedes Jahr Opfer von Menschenhändlern und Schleppern.

Hinzu kommt, dass die Wanderungsbewegungen höchst komplex geworden sind. So mischen sich beispielsweise Menschen, die vor bewaffneter Gewalt fliehen, unter Menschen, die Armut und Hunger zu entkommen suchen. Nicht nur auf Industriestaaten erhöht sich der Migrationsdruck, sondern auch auf Entwicklungsländer, die weder die Kapazitäten noch die Mittel haben, alle diese Menschen aufzunehmen.

Viele Entwicklungsländer leiden unter der Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte. Mehreren Industriestaaten fällt es schwer, Ausländerinnen und Ausländer zu integrieren.

In unserer globalisierten Welt sind völkerrechtliche Instrumente sowie Dialog und Zusammenarbeit unerlässlich. Im Rahmen des internationalen Migrationsdialogs engagiert sich die Schweiz als Mitglied des Steuerungsausschusses des Globalen Forums über Migration und Entwicklung (GFMD), einer informellen internationalen Plattform, die den Austausch und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten und den anderen Akteuren im Bereich der Migration und der Entwicklung fördert. Das erste Globale Forum fand im Juli 2007 in Brüssel statt, das zweite im Oktober 2008 auf den Philippinen, das dritte 2009 in Athen und das vierte 2010 in Mexiko. Darüber hinaus leistete die Schweiz einen erheblichen Beitrag zum ersten Dialog auf hoher Ebene über internationale Migration und Entwicklung im Rahmen der UNOGeneralversammlung und trat dafür ein, das Thema Migration auf die Tagesordnung der UNO zu setzen. Zudem ist es under anderem dem Engagement der Schweiz zu 1294

verdanken, dass im Rahmen der Generalversammlung 2011 ein informeller Dialog und 2013 ein weiterer hochrangiger Dialog (auf Ministerebene) über Migrationsund Entwicklungsfragen stattfinden wird.

Mit dem neuen Konzept der Migrationspartnerschaften hat die Schweiz ein innovatives und flexibles Instrument geschaffen. Die Migrationspartnerschaft ist auf die speziellen Interessen der jeweiligen Partner zugeschnitten. Daher ist ihr Inhalt flexibel und variiert je nach Land. Die Schweiz geht Migrationspartnerschaften ein, um ihre Migrationspolitik kohärent zu gestalten und um sicherzustellen, dass die Interessen aller Partner berücksichtigt werden, die positiven Auswirkungen der Migration gefördert und Lösungen für die mit der Migration verbundenen Herausforderungen erarbeitet werden. Mit Bosnien und Herzegowina, Serbien und Kosovo wurden Vereinbarungen geschlossen, die die formelle Grundlage einer Migrationspartnerschaft darstellen. Mit Nigeria wird zurzeit über eine solche Vereinbarung verhandelt.

Die Bekämpfung des Menschenhandels ist ein erklärtes Ziel des Bundesrates. Die Schweiz verurteilt den Menschenhandel als gravierenden Verstoss gegen die Menschenrechte. Das Zusatzprotokoll zum UNO-Übereinkommen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität (Palermo-Protokoll), das die Schweiz am 27. Oktober 2006 ratifizierte, bildet den internationalen normativen Rahmen. Die Schweiz engagiert sich ausserdem für die bessere Vernetzung der Schweizer Behörden mit relevanten Akteuren aus Drittstaaten, die aus innenpolitischer Sicht wichtig sind. Auf internationaler Ebene unterstützt die Schweiz mehrere Projekte in Herkunfts- und Transitländern der Opfer von Menschenhandel, von denen die Schweiz Kenntnis hat (insbesondere Rumänien, Brasilien und Nigeria). Zum Schutz der Opfer setzt sich die Schweiz namentlich mit Regierungen und Akteuren in den Herkunftsländern der Opfer in Verbindung. Sie hat zudem begonnen, diesen Aspekt auch im Rahmen der Menschenrechtsdialoge anzusprechen.

Drei Viertel der weltweit mehr als zehn Millionen Flüchtlinge halten sich in Afrika, Lateinamerika, Asien und im Nahen und Mittleren Osten auf ­ häufig in Entwicklungsländern, die nicht über genügend Kapazitäten verfügen, um eine grosse Anzahl Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen einen wirksamen Schutz zu gewähren. Deshalb hat die
Schweiz kürzlich eine Strategie zur Verbesserung des Schutzes von Flüchtlingen in den Herkunftsregionen («Protection in the Region») beschlossen. Mit dem entsprechenden Programm trägt die Schweiz dazu bei, dass die Flüchtlinge möglichst schnell einen wirksamen Schutz in ihren Herkunftsregionen finden, und unterstützt die Erstaufnahmeländer bei ihren Bemühungen, den Flüchtlingen den notwendigen Schutz zu gewähren. In Jemen, einem wichtigen Aufnahme- und Transitland von Flüchtlingen und Migranten aus dem Horn von Afrika, wurde mit der konkreten Umsetzung dieses Programms bereits begonnen. Ein Programm für Irak-Flüchtlinge in Syrien wird gegenwärtig ausgearbeitet.

3.3.6

Binnenvertriebene

Vertreibung, Vergewaltigung, Folter, aussergerichtliche Hinrichtungen und Massaker fordern in Gewaltsituationen und Kriegen Millionen von zivilen Opfern. Der Grundsatz der Unterscheidung zwischen Zivilpersonen und Kombattanten sowie zwischen zivilen und militärischen Objekten wird häufig ausser Acht gelassen, und dies hat verheerende Folgen für die Zivilbevölkerung. Hinzu kommt, dass Praktiken, 1295

die gegen das Völkerrecht verstossen, wie beispielsweise gezielte Angriffe auf die Zivilbevölkerung, häufig zur Strategie der militärisch Schwächeren gehören. Angesichts dessen ist der Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten für die internationale Gemeinschaft Gegenstand wachsender Besorgnis. Sie muss zum einen dafür sorgen, dass die Staaten und die nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen während eines Konflikts das Völkerrecht einhalten, und sie muss zum anderen vor Ort eine operative Hilfe bereitstellen, die auf die Rechte und die Bedürfnisse der Zivilpersonen zugeschnitten ist.

Im Dialog mit Regierungen sowie internationalen und regionalen Organisationen hat die Schweiz die Tätigkeit des Beauftragten des Generalsekretärs für die Menschenrechte Binnenvertriebener von Anfang an unterstützt, um die Umsetzung der Leitlinien betreffend Binnenvertreibungen zu fördern. Die Schweiz stellt dem Beauftragten zwei Experten zur Verfügung und unterstützt ihn bei der Realisierung konkreter Projekte in Kolumbien und der Region der Grossen Seen. Schwerpunkt dieser Projekte ist die Entwicklung dauerhafter Lösungen für das Problem der Binnenvertreibung und der Schutz der Vertriebenen.

Die Initiative Binnenvertriebene und Friedensförderung befasst sich mit den Zusammenhängen zwischen dem Problem der Vertriebenen und der Friedenskonsolidierung. Solange das Problem der Vertreibungen nicht geregelt ist, kann es destabilisierend wirken und damit sowohl Friedensprozesse als auch Bemühungen um Friedenskonsolidierung erschweren. Andererseits ist eine dauerhafte Lösung des Vertriebenenproblems und insbesondere die Rückkehr der Vertriebenen nicht möglich, solange Fragen wie Sicherheit, Zugang zur Grundversorgung, Rückgabe von Eigentum, Wiederaufbau, Versöhnung und die Einhaltung der rechtsstaatlichen Prinzipien nicht geklärt sind. In diesem Sinne sind Binnenvertriebene nicht mehr ein «humanitäres Problem», sondern Akteure der Friedenskonsolidierung. Kolumbien war das erste Land, in dem die Schweiz ein Pilotprojekt unterstützte, das konkrete Massnahmen entwickelte: Es förderte zum Beispiel die Einbindung von Binnenvertriebenen in die Aufarbeitung von Unrecht und die Verbreitung von Vorschlägen der Vertriebenen zur Friedenskonsolidierung. In Afrika unterstützt die Schweiz das Sekretariat der Internationalen
Konferenz über die Region der Grossen Seen (CIRGL) durch ein Projekt, dessen Hauptziel es ist, ihre Strukturen und Kapazitäten zu konsolidieren. Mit der Verabschiedung eines Protokolls über die Unterstützung und den Schutz von Binnenvertriebenen haben die an der Konferenz teilnehmenden Staaten erstmals Rechtsvorschriften angenommen, welche die Unterzeichnerstaaten verpflichten, die Leitlinien zum Schutz von Binnenvertriebenen einzuhalten. Das Protokoll der CIRGL ist ein Beitrag an einen von der Afrikanischen Union eingeleiteten umfassenden Prozess, in dessen Rahmen die Problematik der Vertreibungen auf dem ganzen Kontinent untersucht wurde und der im Oktober 2009 zur Annahme des Übereinkommens der Afrikanischen Union über die Binnenvertriebenen führte.

Die Umsetzung des Protokolls und die Übernahme in die innerstaatlichen Gesetzgebungen gehen jedoch nur langsam vonstatten, und die Schweiz beteiligt sich gemeinsam mit der UNO und anderen Geberländern durch die Unterstützung von regionalen Tagungen und technischen Workshops an den diesbezüglichen Bemühungen.

Darüber hinaus unterstützte das EDA die Ausarbeitung eines Handbuchs zur Integration Binnenvertriebener in Friedensprozessen, das von einer Gruppe verfasst wurde, der Expertinnen und Experten für Vermittlung, Menschenrechte und humanitäre Fragen angehörten. Das Handbuch zeigt, wie Personen, die in der Mediation 1296

tätig sind, die für Binnenvertriebene wichtigen Fragen in einen Friedensprozess einbinden können.

Der Bund und insbesondere das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten haben 2009 eine Strategie für den Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten (2009­2012) verabschiedet. Diese Strategie wurde parallel zu den diesbezüglichen Bemühungen der Schweiz im Sicherheitsrat entwickelt. Die Schweiz bekräftigt mit dieser Strategie ihren Willen, Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten besser zu schützen und zugleich die Wirksamkeit ihrer multilateralen und bilateralen Aktivitäten zu erhöhen, ihre internationale Positionierung in dieser Frage zu stärken und vor allem im Rahmen der UNO mehr Einfluss auf die Debatte zu nehmen. Die Umsetzung der Strategie begann 2009 mit mehreren konkreten Projekten in prioritären Bereichen (Zugang zu humanitärer Hilfe, verletzliche Gruppen, Ausbildung usw.) und in zwei Pilotländern (Sudan und Kolumbien).

3.3.7

Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger

Die Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger spielen eine wichtige Rolle beim Schutz der Menschenrechte, der friedlichen Beilegung von Konflikten und der Stärkung des Rechtsstaats. In vielen Ländern wird ihre Tätigkeit durch Einschränkungen der Vereinigungs-, der Versammlungs- und der Meinungsfreiheit behindert.

In manchen Fällen wird sogar ihr Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit bedroht, und ihre Aktivitäten werden unter Strafe gestellt.

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete 1998 die Erklärung über das Recht und die Verpflichtung von Einzelpersonen, Gruppen und Organen der Gesellschaft, die allgemein anerkannten Menschenrechte und Grundfreiheiten zu fördern und zu schützen. Diese Erklärung ist zwar nicht zwingend, bleibt aber nach wie vor die allgemeine Referenznorm für den Schutz der Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger. In letzter Zeit gibt es in der UNO und insbesondere im Menschenrechtsrat Versuche, die Tragweite dieser Erklärung dadurch zu verringern, dass der Begriff der Menschenrechtsverteidigerin bzw. des Menschenrechtsverteidigers eng ausgelegt wird. Die Schweiz tritt dem entgegen, denn eine enge Auslegung würde die Menschenrechtsaktivitäten von Personen einschränken, die nicht mehr von dieser Definition erfasst würden. Die Schweiz plädiert dafür, dass Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger durch ihre Tätigkeit definiert werden: Es kann sich also um jede Person oder Personengruppe handeln, die sich der Förderung der Menschenrechte widmet. Da die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankerten Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit leider in vielen Fällen nicht gewährleistet sind, ist es heute mehr denn je notwendig, durch Massnahmen und Anstrengungen in den internationalen Gremien auf die Notwendigkeit des Schutzes der Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger hinzuweisen und diesen Schutz zu verstärken.

Im Europarat wurde durch die Erklärung des Ministerkomitees über die Massnahmen des Europarates für die Stärkung des Schutzes der Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger und die Förderung ihrer Tätigkeit die Rolle des Menschenrechtskommissars gestärkt. Die Annahme dieser Erklärung im Februar 2008 unterstreicht den festen Willen der Mitgliedstaaten des Europarates,
Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern und ihrer Arbeit vor allem in Gefahrensituationen wirksamen Schutz zu bieten. Die Erklärung rief die Organe und Institu1297

tionen des Europarates auf, Fragen im Zusammenhang mit Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern und ihrer Arbeit grösste Aufmerksamkeit entgegenzubringen.

In der Schweiz wird der Bundesrat mit der Erarbeitung von Leitlinien für Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger fortfahren, in denen Ziele festgelegt und die Mittel bestimmt werden, mit denen sie zu erreichen sind. Die Schweiz setzt sich für Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger ein, indem sie bei Ländern, deren Behörden Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger schikanieren, politisch interveniert, indem sie während bilateralen Besuchen die Lage dieser Personen zur Sprache bringt und indem sie die Übernahme von Patenschaften durch Schweizer Persönlichkeiten anregt. In diesem Zusammenhang lancierte das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten 2007 gemeinsam mit der Weltorganisation gegen Folter (OMCT) das Projekt «Die Verteidiger verteidigen». Es organisiert mit Schweizer Persönlichkeiten, die als Patinnen bzw. Paten fungieren, Kampagnen für den Schutz von Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern. Auf diese Weise wird die Öffentlichkeit auf deren Arbeit und Aktivitäten aufmerksam gemacht, und zugleich geniessen sie durch den zunehmenden Bekanntheitsgrad mehr Schutz vor Verfolgung. Persönlichkeiten aus Kultur, Sport, Politik und Wirtschaft haben sich bereit erklärt, Patenschaften zu übernehmen. Die OMCT, die enge Kontakte zu den Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern unterhält, kann die Patinnen und Paten bitten, konkret für «ihre» Menschenrechtsverteidigerinnen oder -verteidiger zu intervenieren, vor allem dann, wenn deren Leben oder deren körperliche oder geistige Unversehrtheit bedroht ist. Im Rahmen der Patenschaften wurden etwa ein Dutzend konkreter Aktionen organisiert, die letzte war im März 2010 die Mission zweier Paten im Osten der Demokratischen Republik Kongo. Ziel der Mission war es, die Gefahren zu dokumentieren, denen sich die dortigen, vorwiegend weiblichen Menschenrechtsaktivisten bei ihrem Einsatz für die Opfer von sexueller Gewalt aussetzen.

Des Weiteren finanziert die Schweiz Lehrgänge des Service international des droits de l'homme (NGO mit Sitz in Genf), an denen Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger aus aller Welt teilnehmen. Es ist für sie von grossem Nutzen, die multilateralen Mechanismen, insbesondere jene der UNO, zu kennen und zu verstehen, wenn sie sich Gehör verschaffen wollen.

3.3.8

Lesbische, schwule, bisexuelle und transsexuelle Menschen (LGBT)

Noch immer sind lesbische, schwule, bisexuelle und transsexuelle Menschen in allen Teilen der Welt verschiedenen Arten von Diskriminierung ausgesetzt. In manchen Ländern ist ihnen jede Form von Zusammenleben verboten, geniessen sie nicht das Recht auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit und werden am Arbeitsplatz und im Bildungswesen diskriminiert. Es kommt immer wieder vor, dass sie verhaftet, gefoltert und sogar hingerichtet werden. Auf internationaler Ebene sind in diesem Bereich erfreuliche Fortschritte zu verzeichnen, doch es bleibt noch viel zu tun.

Der Bundesrat will lesbische, schwule, bisexuelle und transsexuelle Menschen auf internationaler Ebene vor Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen schützen und ihre Grundrechte verteidigen.

1298

Insbesondere will die Schweiz durch ihre Interventionen und Empfehlungen zur Aufklärung und zur Debatte beitragen, die es braucht, um Brücken zwischen den unterschiedlichen Auffassungen zu schlagen. Die Schweiz wird bei ihren Kontakten mit bestimmten Ländern auch weiterhin Fragen der sexuellen Orientierung und der geschlechtlichen Identität ansprechen. Unsere Vertreterinnen und Vertreter in den Botschaften beobachten die Situation und die aktuellen Entwicklungen im Gastland, und die Schweiz macht ihre Gesprächspartner im Rahmen der Menschenrechtsdialoge und der diplomatischen Demarchen auf Fragen der Diskriminierung von lesbischen, schwulen, bisexuellen und transsexuellen Menschen aufmerksam.

Diese Fragen können verbunden werden mit neuen gesetzlichen Vorschriften, mit Demonstrationsverboten oder Einschränkungen der Meinungsäusserungsfreiheit, sie können aber unter anderem auch verbunden werden mit Problemen im Zusammenhang mit der Kriminalisierung der Homosexualität oder mit hassmotivierten Verbrechen, die in manchen Kontexten verbreitet sind. In den multilateralen Einrichtungen wird sich die Schweiz auch weiterhin dafür einsetzen, dass die Massnahmen, die zum Abbau der Diskriminierung von lesbischen, schwulen, bisexuellen und transsexuellen Menschen dienen sollen, in das geltende Recht übernommen werden, und zwar sowohl weltweit als auch in Europa, wo diese Art der Diskriminierung noch sehr präsent ist. Die Schweiz ist zusammen mit mehr als sechzig anderen Staaten Koautorin von zwei interregionalen Erklärungen zum Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung, die im Plenum der Generalversammlung und des Menschenrechtsrates abgegeben wurden. Zudem unterstützt sie die Anträge der Schweizer oder in der Schweiz ansässigen LGBT-Organisationen auf Konsultativstatus (Anwesenheit und Teilnahme an den Arbeiten) beim NGO Akkreditierungskommitee der UNO in New York.

3.4

Von der Globalisierung betroffene sensible Bereiche

Die wachsende Globalisierung erfordert ein stetes Augenmerk auf die Entwicklung von Normen, die mit diesem Prozess Schritt halten müssen. Aus diesem Grund erachtet der Bundesrat das Ziel, zur Gestaltung der Normen und ihrer Umsetzung in den sensiblen Bereichen der Globalisierung beizutragen, als aktuell und relevant.

Die allgemein gehaltene Formulierung lässt genügend Handlungsspielraum, um einerseits politische Chancen wahrzunehmen und spezifische Initiativen zu ergreifen und andererseits die Mittelallokation rasch anzupassen.

Die im Jahr 2000 von den Staats- und Regierungschefs verabschiedete Millenniumserklärung geht davon aus, «dass die zentrale Herausforderung, vor der wir heute stehen, darin besteht sicherzustellen, dass die Globalisierung zu einer positiven Kraft für alle Menschen der Welt wird»116. Die zunehmenden Verflechtungen zwischen Staaten, politischen Tätigkeiten und Systemen verlangen nach einem angemessenen normativen Rahmen. Die Regulierung des Handels, des geistigen Eigentums, die Normen im Umweltbereich, die Regulierung und Aufsicht über die Finanzmärkte sind zum Beispiel lediglich Facetten der Notwendigkeit, die Globalisierung in geordnete Bahnen zu lenken, damit der daraus resultierende Nutzen möglichst breit gestreut wird. Die Menschenrechte sind Teil dieser Entwicklung. Die Globalisierung bewirkt eine schnellere Verbreitung von Ideen, Konzepten und Werthaltungen, einschliesslich der Menschenrechte, und geht mit wachsenden Forderungen nach 116

Art. 5

1299

individuellen Freiheiten und dem Schutz der Grundrechte einher. Diese sozialen Entwicklungen haben, wie bereits erwähnt, den Ausbau der normativen Grundlagen im Menschenrechtsbereich ermöglicht. Noch fehlt es jedoch am politischen Willen, diese in ihrer Gesamtheit voll umzusetzen.

Um den politischen Willen zur Umsetzung der Menschenrechte zu stärken, gilt es, die einzelnen Probleme klar zu umreissen. Die Schweiz engagiert sich u.a. in Bereichen wie jenem der privaten Sicherheits- und Militärunternehmen, der Justiz in Transitionsprozessen und der Menschenrechtsbildung. Diese verschiedenen Initiativen gestatteten es im Einzelfall, spezifische Probleme mit Auswirkungen auf die Geltendmachung der Grundrechte zu thematisieren, ein Bewusstsein für diese Rechte zu wecken, die direkt betroffenen Schlüsselakteure zu involvieren, gemeinsam Arbeitsprogramme zu erstellen oder flexible normative Instrumente zu erarbeiten. Aufgrund der Erfahrungen und der Glaubwürdigkeit, welche die Schweiz im Laufe der Jahre erworben hat, will der Bundesrat sein Engagement namentlich in folgenden Schwerpunktbereichen fortführen: Wirtschaft und Menschenrechte, private Sicherheits- und Militärunternehmen sowie Förderung der sehr dynamischen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ­ mit Fokus auf Armutsbekämpfung, Recht auf Nahrung, Recht auf Wasser und Recht auf Gesundheit.

Die Schweiz hat in den vergangenen Jahren erhebliche Anstrengungen zur Klärung des Begriffs und des Geltungsbereichs des in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankerten «Rechts auf Eigentum» unternommen. Ziel war es sicherzustellen, dass Personen, die in Armut und Informalität leben, Zugang zu Gütern und Grundeigentum erhalten, und damit willkürliche Enteignungen zu verhindern. Es erwies sich als nicht sinnvoll, eine diplomatische Initiative zur Anerkennung der Eigentumsrechte als Menschenrechte auf internationaler Ebene zu starten; es schien nutzbringender, diese Diskussion in Verbindung mit anderen Menschenrechten ­ beispielsweise dem Recht auf Nahrung ­ zu fördern, das sich ohne Zugang zu Land und eine effiziente und transparente Regelung des Bodenrechts nicht verwirklichen lässt. Angesichts der Bedeutung des Rechts auf Eigentum und seiner Relevanz für die Verwirklichung zahlreicher Menschenrechte rechtfertigt es sich, dessen Förderung als Querschnittaufgabe zu begreifen und im Kontext all dieser Rechte fortzusetzen.

3.4.1

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Das Bundesgesetz über Massnahmen zur zivilen Friedensförderung und Stärkung der Menschenrechte vom 19. Dezember 2003 hält in Artikel 2 fest, dass der Bund «zur Stärkung der Menschenrechte beitragen» will, «indem er die bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen sozialen und kulturellen Rechte von Personen oder Personengruppen fördert». Die Schweiz anerkennt damit implizit die Unteilbarkeit der Menschenrechte, wie sie an der Konferenz von Wien von 1993 bestätigt wurde.

Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte gehören zu den entwicklungsfähigsten Menschenrechten. Wie der Bundesrat in seiner Antwort auf das Postulat Förderung der Menschenrechte und der Demokratie in Abkommen mit Drittstaaten117 festhält, ist er entschlossen, das Entwicklungspotenzial dieser Rechte 117

06.3617 ­ Postulat: Förderung der Menschenrechte und der Demokratie in Abkommen mit Drittstaaten.

1300

bestmöglich zu erschliessen, sei es im Rahmen seiner bilateralen Programme der Armutsbekämpfung, Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit oder der Friedensförderung, sei es im Rahmen multilateraler Aktivitäten.

Die Schweiz trägt zwar im Rahmen ihrer Aussenpolitik ­ unter anderem durch ihre Entwicklungsprogramme ­ zur Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte bei, nimmt aber bei der normativen Ausgestaltung dieser Rechte weiterhin eine zurückhaltende Position ein. Der Bundesrat ist der Meinung, dass die völkerrechtlichen Verpflichtungen aus dem Internationalen Pakt der UNO über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Pakt I)118, abgesehen von wenigen Ausnahmen wie z.B. Artikel 8 mit dem Recht zur Bildung von Gewerkschaften, allein programmatischen Charakter haben und so allgemein gehalten sind, dass sie über innerstaatliche gesetzgeberische Massnahmen umgesetzt werden müssen. Eine Bestätigung dafür findet sich in Artikel 41 der schweizerischen Bundesverfassung, der Sozialziele und nicht Grundrechte enthält, und indirekt in der Position des schweizerischen Parlaments, das bisher einer Ratifikation von Übereinkommen zu ähnlichen Fragen sehr zurückhaltend gegenüberstand, wie die Ablehnung des Beitritts zur Europäischen Sozialcharta im Dezember 2004 gezeigt hat. In diesem Zusammenhang sei immerhin darauf hingewiesen, dass sich der Bundesrat am 24. Februar 2010 bereit erklärt hat, das Postulat der Aussenpolitischen Kommission des Ständerates anzunehmen, in dem er ersucht wird, «einen Bericht vorzulegen über die Vereinbarkeit der revidierten Europäischen Sozialcharta mit der schweizerischen Rechtsordnung und über die Zweckmässigkeit einer möglichst raschen Unterzeichnung und Ratifizierung»119. Auf globaler Ebene hat die UNO-Generalversammlung im Dezember 2008 das Fakultativprotokoll zum UNO-Pakt I verabschiedet. Dieses Instrument erlaubt es Einzelpersonen, die aussagen, Opfer einer Verletzung eines in dem Pakt niedergelegten Rechts zu sein, eine Mitteilung an den Ausschuss für wirtschaftliche und soziale Menschenrechte zu richten. Angesichts der in der Arbeitsgruppe vertretenen Extremforderungen (völlige Ablehnung des Instruments einerseits gegenüber einer umfassenden Einklagbarkeit aller Rechte des UNO-Paktes I andererseits) vertrat die Schweiz während den Verhandlungen
­ unter Berücksichtigung der schweizerischen Rechtslage ­ eine Kompromisshaltung, indem sie eine Beschränkung des Anwendungsbereichs des Fakultativprotokolls bzw. der Zuständigkeit des entsprechenden Kontrollorgans im Sinne eines «OptingOut Approach» vertrat. Dieser Ansatz hätte es den Vertragsstaaten des Protokolls erlaubt zu bestimmen, welche Rechte des UNO-Pakts I dem neuen Beschwerdeverfahren unterliegen würden. Gegen den Widerstand einer grossen Staatengruppe setzte sich in der letzten Verhandlungsrunde im Jahre 2008 jedoch ein umfassender Geltungsbereich des Fakultativprotokolls durch.

3.4.2

Armutsbekämpfung

Entwicklungszusammenarbeit und Achtung der Menschenrechte sind eng vernetzt.

Armut bedeutet, keinen Zugang zur Grundversorgung zu haben, wie sie in den internationalen Abkommen festgelegt ist und von den meisten Staaten gewährleistet wird. Armut bedeutet somit eine Verletzung der Menschenrechte. Angesichts dieser 118 119

Die Schweiz ist dem Pakt I am 18. Juni 1992 beigetreten.

10.3004 ­ Postulat: Vereinbarkeit der revidierten Europäischen Sozialcharta mit der schweizerischen Rechtsordnung.

1301

Realität haben die Stärkung der Menschenrechte der Ärmsten und der Schutz der Menschenrechte in der internationalen Zusammenarbeit einen hohen Stellenwert.

Die Bedeutung und der Nutzen des Menschenrechtsschutzes in der Entwicklungszusammenarbeit sind heute anerkannt. Dieser bietet einen Ansatzpunkt für die Armutsbekämpfung, d.h. den Kampf gegen soziale, politische und wirtschaftliche Ausgrenzung und die Förderung sozialer Gerechtigkeit. Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und das Staatsekretariat für Wirtschaft (SECO) tragen dem Rechnung, indem sie den Menschenrechtsansatz in die Zusammenarbeit in ihren Bereichen integrieren. Dies bedeutet, dass sie Menschenrechtsprinzipien in die Planung, die Umsetzung und die Analyse von Entwicklungsprogrammen und -projekten einbeziehen. Sie verfolgen dabei sowohl einen sektoriellen Ansatz, indem sie spezifische Aktivitäten zur Förderung der guten Regierungsführung in Partnerländern unterstützt, als auch einen transversalen Ansatz, indem sie die Menschenrechte in Planung, Umsetzung und Monitoring ihrer politischen Leitlinien und ihrer Strategien integriert, im Falle des SECO insbesondere durch gezielte Projekte im Bereich der Handelsförderung.

Unterentwicklung und Armut haben viele Gesichter: Hunger, Krankheiten, Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Unsicherheit, fehlender Zugang zu Trinkwasser und Bildung. Aber auch Benachteiligungen aufgrund von Geschlecht, Alter, Sprache, ethnischer Herkunft oder Religion sind häufig. Die Folgen sind Ausgrenzung, Demütigung und Machtlosigkeit sowie Unsicherheit und Angst vor körperlicher Gewalt. Der Kampf gegen die Armut muss daher in jedem Fall von zwei Seiten aus geführt werden: Einerseits müssen die Rechte der Ärmsten geltend gemacht und ihre Rolle als aktive Bürgerinnen und Bürger gestärkt werden; andererseits gilt es, die staatlichen Behörden bei der Einhaltung und beim Schutz der Menschenrechte zu unterstützen, und zwar in so vielfältigen Bereichen wie Schulbildung, Gesundheitswesen, Teilnahme an demokratischen Debatten oder Trinkwasserversorgung.

Die Schweizer Politik zur Verringerung der Armut setzt auf drei Pfeiler: Hilfe für Menschen in Konflikten und Krisen, Wachstum, das die Zahl der Armen verringert, und eine sozial und ökologisch nachhaltige Globalisierung. Im Bereich des ersten Pfeilers
engagiert sich die Schweiz einerseits in der Katastrophenhilfe und -prävention, so etwa in Bolivien oder Bangladesch, wo die humanitäre Hilfe in enger Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden erfolgt, andererseits auch in Konfliktsituationen, wie in Nepal und in der Region der Grossen Seen. Der zweite Pfeiler mit dem Fokus auf armutsreduzierendem Wachstum entspricht dem eigentlichen Kern der Entwicklungspolitik der Schweiz. Je nach Kontext ­ Instabilität wie in Niger oder Stabilität wie in Tansania, Rohstoffreichtum wie in der Demokratischen Republik Kongo oder Rohstoffarmut wie in Burkina Faso ­ werden die Instrumente und die Partner entsprechend angepasst. Regierungsbehörden, NGO, Privatwirtschaft und internationale Organisationen sind Akteure, mit denen die Schweiz bei der Umsetzung ihrer Politik regelmässig zusammenarbeitet. Der dritte und letzte Pfeiler gründet in der Überzeugung, dass eine vertretbare Politik zur Armutsreduktion sozial und ökologisch nachhaltig sein muss. Die Globalisierung bietet Chancen, die ergriffen werden müssen. Das SECO ist diesbezüglich besonders engagiert mit substanziellen Programmen, die in Zusammenarbeit mit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) durchgeführt werden. Ziel dieser Programme ist die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und in der Folge die Umsetzung der Kernarbeitsnormen der ILO in kleinen und mittleren Unternehmen. Diese Programme werden in Peru, Südafrika, Ghana, Indonesien, Vietnam, Laos, Indien und China durchgeführt.

1302

In Zusammenarbeit mit der Weltbank unterstützt das SECO ein weltweites Forschungs- und Analyseprogramm zur Förderung des Arbeitsmarktes.

Neben der systematischen Berücksichtigung der Menschenrechte bei ihrer üblichen Tätigkeit im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit integriert die DEZA spezifische Menschenrechtskomponenten in gewisse Länderprogrammen. Die DEZA unterstützt Projekte und Programme zur Förderung der zivilen und politischen Rechte vor Ort, namentlich indem sie den Zugang zum Rechtssystem, die Demokratisierung und die Öffnung der Medien erleichtert. Sie engagiert sich für diese Fragen in so unterschiedlichen Ländern wie Peru, Bolivien, Ruanda, Niger, Bangladesch und Vietnam sowie in sensiblen Regionen wie Südosteuropa, Südafrika, Zentralasien und Naher Osten. Ziel dieser Komponenten ist es, das im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit aufgebaute Kontaktnetz zu nutzen, um Menschenrechtsanliegen zu formulieren, die Aktivitäten im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit in menschenrechtlicher Hinsicht abzustützen (z.B. durch Verweise auf Empfehlungen im Rahmen internationaler Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte) oder Elemente des Menschenrechtsschutzes in die Programme der Entwicklungszusammenarbeit zu integrieren.

Im Bereich der Normenentwicklung will sich die Schweiz prioritär in den Bereichen Recht auf Nahrung, Recht auf Wasserversorgung und Recht auf Gesundheit engagieren.

Nach aktuellen Schätzungen leiden mehr als eine Milliarde Menschen auf der Welt unter chronischem Hunger, praktisch alle davon leben in Entwicklungsländern. Dies ist umso stossender, als Hunger kein Schicksal ist. Schätzungen der UNOOrganisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) gehen davon aus, dass mit den weltweit produzierten Nahrungsmitteln 12 Milliarden Menschen problemlos ernährt werden könnten. Das Recht auf Nahrung zählt zu den grundlegendsten Menschenrechten: Wer hungert, kann viele andere Menschenrechte nicht sinnvoll in Anspruch nehmen. Das Recht auf Nahrung ist in verschiedenen von der Schweiz ratifizierten Übereinkommen verankert, so insbesondere im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Dieser nennt das Recht auf Nahrung im Rahmen des Rechts auf einen angemessenen Lebensstandard, das auch das Recht auf angemessene Unterkunft und Bekleidung umfasst. Die
Schweiz engagiert sich in diesem Bereich sowohl mit praktischen Massnahmen vor Ort als auch in internationalen Organisationen, insbesondere im Menschenrechtsrat. Die Schweiz unterstützt dort das Mandat des Sonderberichterstatters für das Recht auf Nahrung, der in seinen Arbeiten auf die Menschenrechtsdimension der jüngsten Nahrungsmittel- und Finanzkrisen verweist. Die Schweiz setzt sich für die Stärkung der Institutionen ein, die diesem Recht Priorität einräumen, namentlich der FAO. In diesem Zusammenhang zeigt sich immer deutlicher, dass der Schlüssel zum Erfolg in Investitionen in eine leistungsfähige Agrarforschung in sämtlichen Weltregionen liegt, vor allem dort, wo die Bevölkerung mangels Zugang zu angemessener Nahrung an Unterernährung leidet. Diese Problematik steht im Zusammenhang mit der Armut und dem Bevölkerungswachstum in diesen Regionen und erfordert erhebliche Investitionen und einen Wissenstransfer zugunsten der Agrarproduktion.

Die Schweiz unterstützte die Schaffung des Mandates der unabhängigen Expertin des Menschenrechtsrates für den Zugang zu einwandfreiem Trinkwasser und Sanitärversorgung. Dieses Mandat soll zur Klärung der rechtlichen Verpflichtungen im Zusammenhang mit den Menschenrechten auf Zugang zu Trinkwasser und Sanitärversorgung beitragen. Die Schweiz anerkennt das Recht auf Zugang zu Wasser und 1303

Sanitärversorgung als Bestandteil des UNO-Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Als Wasserschloss Europas setzt sie sich für eine integrierte Wasserbewirtschaftung und den diskriminierungsfreien Zugang zu dieser lebenswichtigen Ressource ein, insbesondere für Menschen, die in Armut leben. Zudem ist der Zugang zu Wasser und Sanitärversorgung eine Grundvoraussetzung für die Wahrnehmung des Rechts auf Gesundheit und des Rechts auf Nahrung. Die Anerkennung des Rechts auf Wasser und Sanitärversorgung zählt zu den Prioritäten der Schweiz. Sie wird sich insbesondere im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit weiter für dessen Umsetzung engagieren.

Das Recht auf Gesundheit ist ein ebenso politisches wie praktisches Anliegen. Für Millionen Menschen weltweit, insbesondere die Ärmsten unter ihnen, ist dieses Recht noch längst nicht verwirklicht. Die Kosten der Gesundheitsversorgung sind weiterhin zu hoch, selbst in den Industrieländern, und dies trotz der Verabschiedung von politischen Leitlinien und Programmen für eine allgemein zugängliche Gesundheitsversorgung. Gesundheit, verstanden als das «Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmass an körperlicher und geistiger Gesundheit»120, ist ein grundlegendes Menschenrecht und unerlässlich für die Wahrnehmung weiterer Menschenrechte. Es umfasst ein breites Spektrum an sozioökonomischen Faktoren, die die Voraussetzungen für ein Leben in Gesundheit schaffen, und erstreckt sich auf grundlegende gesundheitsrelevante Faktoren, wie Ernährung, Zugang zu Trinkwasser und Sanitärversorgung, hygienische und ungefährliche Arbeitsbedingungen sowie eine gesunde Umwelt. Das Recht auf Gesundheit setzt voraus, dass die öffentliche Hand Bedingungen schafft, damit alle ein Höchstmass an Gesundheit geniessen können.

Mit einer unter der Ägide des EDA erstellten umfangreichen Publikation zum Recht auf Gesundheit121 wurde die Komplexität dieses Rechts erfasst. Diskriminierungsfreier Zugang zu Medikamenten und medizinischer Grundversorgung, Bekämpfung von HIV/Aids, Handel und Gesundheit, Malaria, die Rolle der Regierungen und der nichtstaatlichen Akteure sind einige der darin behandelten Themen. Der Bund will seine Anstrengungen im Bereich des Rechts auf Gesundheit gestützt auf die Überlegungen und Schlussfolgerungen dieser Publikation fortsetzen. Die
verschiedenen Komponenten des Rechts decken sich teilweise mit anderen prioritären Rechten wie dem Zugang zu Wasser, was thematische Synergien und eine effizienteren Ressourceneinsatz begünstigt.

3.4.3

Wirtschaft und Menschenrechte

Wirtschaft und Unternehmen tragen durch ihre Dynamik zu Wachstum und Wohlstand bei. Zahlreiche private Akteure engagieren sich in Bereichen, die zur Verwirklichung der Menschenrechte beitragen, beispielsweise die Presse, die elektronischen Medien, die freien Berufe wie Medizin und Recht oder das Verkehrs- und Transportwesen. Unter anderem aufgrund der Globalisierung der Wirtschaft setzen sich immer mehr Staaten und transnationale Unternehmen mit den gesellschaftlichen Auswirkungen ihrer Präsenz in den Ländern auseinander, in denen sie tätig sind.

Dies betrifft insbesondere die Entwicklungs- und Transitionsländer, deren staatliche Strukturen schwach sind oder in denen Unruhen herrschen. Staaten müssen die Einhaltung der Menschenrechte garantieren. Obwohl sich die Allgemeine Erklärung 120 121

Art. 12 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.

Swiss Human Rights Books; Realizing the Right to Health, 2009.

1304

der Menschenrechte an Staaten richtet, hält sie fest, dass alle Organe der Gesellschaft verpflichtet sind, die Menschenrechte zu fördern und anzuerkennen. Unternehmen sind also mitverantwortlich für die Menschenrechtsförderung. Sie sind zunehmend mit sozialen und ökologischen Erwartungen der Öffentlichkeit konfrontiert, deren Verletzung zu Image- und Rufschäden führen kann (beispielsweise Kinderarbeit). Zudem investieren Unternehmen öfter in Länder mit einer besorgniserregenden Menschenrechtssituation oder in Konfliktregionen. Der Einsatz von Unternehmen für die Menschenrechte kann zu politischer Stabilität, zu einem soliden Risikomanagement und zu idealen Produktions- und Investitionsbedingungen beitragen.

Für ein Land wie die Schweiz, das auf einen regen weltweiten wirtschaftlichen Austausch angewiesen ist, sind stabile Verhältnisse und gute Rahmenbedingungen für die Wirtschaft von grosser Bedeutung. Es liegt also im eigenen Interesse, wenn sie sich weltweit für eine nachhaltige Entwicklung, für Frieden und Stabilität, eine gute Regierungsführung und die Achtung der Menschenrechte einsetzt. Dazu fördert die Schweiz den Dialog zwischen Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft, unter anderem durch Diskussions- und Lernplattformen; sie spricht das Thema Menschenrechte und Wirtschaft mit anderen Ländern an; sie fördert und unterstützt die Entwicklung von Instrumenten zur Integration der Menschenrechte in die Geschäftsabläufe; sie berät Unternehmen und analysiert die politischen Risiken.

Die Schweiz setzt sich auf internationaler Ebene für die Neu- und Weiterentwicklung von Initiativen, beispielsweise für den Global Compact der UNO oder die Leitsätze für multinationale Unternehmen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ein. Sie unterstützt ferner die Arbeiten des Sonderbeauftragten des UNO-Generalsekretärs für Wirtschaft und Menschenrechte in politischer und finanzieller Hinsicht, indem sie ihm einen Berater zur Verfügung stellt. Sie hat sich insbesondere für eine breite Anerkennung seines Referenzrahmens für die Unternehmensverantwortung eingesetzt. Seine von der Staatengemeinschaft, den Unternehmen und der Zivilgesellschaft anerkannte Arbeit zeigt auf, dass die Klärung der Sorgfaltspflicht der Unternehmen (due diligence) bei der Einhaltung der Menschenrechte
immer häufiger zu einer Vorbedingung für deren Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung wird (social licence to operate). Er definiert folgende drei Prinzipien: Die Staaten haben ihre Bevölkerung gegen Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen zu schützen; die Unternehmen wiederum haben die Verantwortung für die Einhaltung der Menschenrechte; wo diese verletzt werden, ist für Abhilfe und Kompensation zu sorgen. Die Schweiz wird sich weiterhin für die Weiterentwicklung dieses Rechtsrahmens einsetzen, wo eine ausreichend breite internationale Unterstützung dafür zu erkennen ist.

Die Teilnahme der Schweiz an den «Voluntary Principles on Security and Human Rights», einer internationalen Initiative, an der rund ein halbes Dutzend Länder, etwa 15 Unternehmen aus dem Erdöl- und Bergbausektor und rund ein Dutzend bedeutende NGO beteiligt sind, wird neue Synergien fördern. Ein Schwerpunkt wird die Prävention potenzieller Konflikte im Rohstoffsektor sein.

Die Schweiz engagiert sich zudem weiter für die Verbesserung von Managementpraktiken zur Förderung der Einhaltung der Menschenrechte und für die Anerkennung der spezifischen Verantwortung von Unternehmen in Konfliktgebieten. Private Akteure können in diesen Regionen eine bedeutende Rolle spielen und die Friedensförderung - bewusst oder unbewusst - begünstigen oder behindern. Das EDA erarbeitet deshalb zusammen mit Vertretern der Privatwirtschaft und weiteren wis1305

senschaftlichen Partnern Methoden und Instrumente zur Verringerung der nachteiligen Auswirkungen wirtschaftlicher Tätigkeiten auf Konflikte, damit der private Sektor gegebenenfalls eine konstruktive Rolle wahrnehmen kann.

3.5

Institutionelle Stärkung

Ergänzt werden diese thematischen Schwerpunkte durch die Stärkung der internationalen Institutionen zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte.

Die namentlich auf Initiative der Schweiz lancierte Schaffung des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen in Genf stellt eine wichtige Etappe in der Stärkung der internationalen Instrumente dar. Der Menschenrechtsrat hat im System der Vereinten Nationen eine höhere hierarchische Stellung als die frühere Menschenrechtskommission. Er tagt praktisch das ganze Jahr über. Mit der Einführung der universellen regelmässigen Überprüfung verpflichtet der Rat alle Staaten, sich einer Überprüfung der Menschenrechtssituation auf ihrem Gebiet zu unterziehen. Dadurch trägt er zu einer stärkeren Berücksichtigung von Menschenrechtsfragen seitens der verschiedenen nationalstaatlichen Behörden und weiterer Organe der Gesellschaft bei. Trotz dieser Fortschritte steht der Menschenrechtsrat in der Kritik. Seine Arbeit ist immer noch geprägt von Blockdenken, bei dem sich die westlichen Länder auf der einen Seite und die Entwicklungsländer ­ insbesondere afrikanische und islamische Länder ­ auf der anderen Seite gegenüberstehen. Diese Spannungen kommen bei der Behandlung der länderbezogenen Mandate besonders stark zum Ausdruck: Die Zahl der geografischen Sonderverfahren geht zurück, die kurzfristige Einberufung einer Sondersession erfordert bisweilen enorme diplomatische Anstrengungen, und der Rat neigt dazu, seine Aufmerksamkeit auf die Lage im Nahen Osten zu fokussieren, dies zum Nachteil anderer Situationen von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen. Die Arbeitsbelastung des Rates, der verteilt auf ordentliche Sessionen, Sondersessionen und verschiedene Arbeitsgruppen rund 40 Wochen pro Jahr tagt, und die Tatsache, dass zahlreiche Themen in jeder Session wieder behandelt werden, erschweren inhaltliche Debatten auf der Basis eines offenen Dialogs und Austauschs. Der Menschenrechtsrat hat den Auftrag, seine Tätigkeit und seine Arbeitsweise bis 2011 zu überprüfen. Im gleichen Jahr überprüft die Generalversammlung dessen Status und Zusammensetzung. Die Schweiz engagiert sich dabei einerseits als Fazilitatorin, indem sie beispielsweise am 20. April 2010 ein Seminar in Montreux organisierte, und andererseits in inhaltlicher Hinsicht, indem sie Vorschläge für ein flexibles
Verfahren bei den Ländersituationen und für die Verstärkung des Büros des Ratspräsidenten macht und den regionenübergreifenden Dialog anregt und fördert. Ihre Unterstützung für das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte, für das System der Sonderverfahren des Menschenrechtsrates sowie für dessen Präsidium und Beratenden Ausschuss sind Teil der Bestrebungen der Schweiz zur Stärkung der Institutionen.

Auf regionaler Ebene setzt sich die Schweiz für eine Stärkung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg ein. Das Inkrafttreten des 14. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention dürfte direkt auf die Einberufung der Ministerkonferenz in Interlaken (vom 18. und 19. Februar 2010) durch die Schweiz während ihrer Präsidentschaft des Ministerkomitees des Europarates zurückzuführen sein. Die Russische Föderation hat das 14. Zusatzprotokoll als letztes Land des Europarates im Januar 2010, kurz vor der Ministerkonferenz, ratifi1306

ziert. Dieser Entscheid der russischen Duma ist auch ein Ergebnis der schweizerischen Demarchen im Rahmen der Menschenrechtskonsultationen mit Russland. Die Konferenz hat eine Politische Erklärung verabschiedet, die einen ehrgeizigen Aktionsplan umfasst. Das Dokument sieht insbesondere vor, dass ein Gleichgewicht zwischen eingehenden und erledigten Fällen erzielt werden soll und dass die Zahl der beim Gericht pendenten Fälle abgebaut werden soll. Weiter soll die innerstaatliche Umsetzung der Urteile des Gerichtshofs verbessert und, damit zusammenhängend, die effiziente Überwachung dieser Umsetzung durch das Ministerkomitee sichergestellt werden. Daneben unterstützt die Schweiz die Bestrebungen zur Reform des Europarates, damit sich dieser wieder mehr auf sein Kerngeschäft konzentrieren kann: Schutz der Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie.

In der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unterstützt die Schweiz die Unabhängigkeit des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte (Office for Democratic Institutions and Human Rights, ODIHR) des Hochkommissars für Nationale Minderheiten, des OSZE-Beauftragten für die Freiheit der Medien und der Sonderbeauftragten für die Bekämpfung des Menschenhandels. Ferner engagiert sich die Schweiz dafür, dass sich die OSZE und ihre in der «menschlichen Dimension» tätigen Organe in ihren Kompetenzbereichen profilieren.

4 4.1

Initiativen der Schweiz Private Militär- und Sicherheitsfirmen

Zunehmend kommen in Konflikten jüngeren Datums private Militär- und Sicherheitsfirmen (Private Military and Security Companies, PMSC) zum Einsatz. Der Einsatz privater Firmen in bewaffneten Konflikten ist umstritten. Die Genfer Konventionen und ihre Zusatzprotokolle, in denen die im bewaffneten Konflikt geltenden völkerrechtlichen Regeln kodifiziert sind, sehen für solche Firmen keine massgebende Rolle vor. Aufgrund der rechtlichen Fragen, die Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte durch Angestellte solcher privaten Firmen aufwerfen, hat die Schweiz eine Initiative lanciert, die zur Erarbeitung eines Verhaltenskodexes für die Branche führte.

Seit 2005 setzt sich das EDA (Direktion für Völkerrecht) dafür ein, dass das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte von privaten Militär- und Sicherheitsfirmen in Konfliktgebieten besser beachtet werden. Gemeinsam mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat das EDA eine intergouvernementale Initiative hierzu lanciert. Nach intensiven Bemühungen und vorgängigen Konsultationen auch mit der Zivilgesellschaft und der betroffenen Branche fand im September 2008 in Montreux das abschliessende Treffen der Initiative unter 17 hauptsächlich betroffenen Staaten statt, wobei das Montreux-Dokument über private Militärund Sicherheitsfirmen verabschiedet wurde. Das Dokument klärt und bekräftigt die von den Staaten zu beachtenden völkerrechtlichen Verpflichtungen beim Einsatz privater Militär- und Sicherheitsfirmen in bewaffneten Konflikten. Nach dem geltenden Völkerrecht können sich Staaten ihren Verpflichtungen nicht entziehen, indem sie private Militär- und Sicherheitsfirmen einsetzen. Sie müssen geeignete Massnahmen treffen, um Verstösse solcher Firmen gegen das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte zu verhindern, und die notwendigen Instrumente zur Ahndung von Rechtsverletzungen bereitstellen. Sie sind direkt verantwortlich für 1307

das Verhalten solcher Unternehmen, wenn diese im Auftrag der Regierung tätig sind.

In der Folge lud das EDA in Zusammenarbeit mit der Akademie für humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte in Genf (ADH) und dem Genfer Zentrum für die demokratische Kontrolle der Streitkräfte (DCAF) die betroffenen Unternehmen und Verbände zu einem Dialog ein, der zur Verabschiedung eines internationalen Verhaltenskodexes der Branche führen sollte. Nach einer Reihe von Workshops und einer internationalen Konferenz in Nyon (Juni 2009) wurde ein Entwurf eines Verhaltenskodexes erarbeitet und den betroffenen Unternehmen anfangs 2010 zur Vernehmlassung unterbreitet. Der Verhaltenskodex liefert den PMSC, ihren Kunden, den Staaten, der Zivilgesellschaft und weiteren betroffenen Akteuren Richtlinien für die Leistungserbringung im Einklang mit den internationalen Normen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte. Hohe Anforderungen an die PMSC in Bezug auf die Rekrutierung und Ausbildung des Personals wie auch in Bezug auf die Leistungserbringung sollen dazu beitragen, möglichen Verstössen gegen das Völkerrecht vorzubeugen. Da solche Verstösse aber nicht von vornherein auszuschliessen sind, umfasst der Verhaltenskodex auch Rechtsschutzinstrumente. Bei den laufenden Verhandlungen ist zudem die Schaffung eines Aufsichtsorgans zur Überprüfung der Umsetzung des Verhaltenskodexes vorgesehen. Anschliessend wird es darum gehen, die direkt betroffenen Unternehmen und Regierungen freiwillig auf den Kodex zu verpflichten, damit dieser umgesetzt werden kann.

4.2

Agenda für die Menschenrechte

Angesichts der Kluft zwischen Rechtsanspruch und Rechtswirklichkeit war es der Schweiz ein Anliegen, einen zukunftsorientierten Beitrag zum 60. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu leisten. Die Schweiz lancierte daher die Initiative zur Erarbeitung einer Agenda für Menschenrechte für das nächste Jahrzehnt. Ein Panel bestehend aus eminenten Persönlichkeiten hatte den Auftrag, spezifische Themen aus dem Bereich der Menschenrechte zu identifizieren, zu untersuchen und zu präzisieren und eine Agenda für das kommende Jahrzehnt vorzuschlagen. Im Dokument Protecting Dignity: an Agenda für Human Rights legt das Panel konkrete Vorschläge vor, die zusammen mit weiterführenden Forschungsprojekten den Menschenrechten weltweit mehr Achtung verschaffen sollen. Die Expertengruppe war in ihrer Arbeit völlig frei. Die intellektuelle Unabhängigkeit war die beste Garantie für eine Agenda der Menschenrechte, die nicht landesspezifische Interessen reflektierte, sondern eine Vision für einen verstärkten Schutz der Menschenrechte bieten würde. Als wichtigste Herausforderungen bezeichnete das Panel: die Kluft zwischen der Anerkennung der menschlichen Würde und der konkreten Verwirklichung der Menschenrechte, die Bekämpfung der Armut, der Zugang zur Justiz und die Achtung der Rechtsstaatlichkeit, die Anerkennung einer gemeinsamen Verantwortung für die Menschenrechte, die Schaffung eines globalen Fonds für nationale Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte und schliesslich die Schaffung eines Internationalen Gerichtshofs für Menschenrechte. Obschon das Panel seine Arbeit in völliger Unabhängigkeit verrichtete, entsprechen seine Schlussfolgerungen und Forschungsprojekte weitgehend den Analysen und Schwerpunkten der Schweiz im Bereich der Förderung und des Schutzes der Menschenrechte in den nächsten Jahren.

1308

4.3

Justiz in Transitionsprozessen

Die Aufarbeitung der bei Gewaltkonflikten begangenen Menschenrechtsverletzungen ist eine zentrale Voraussetzung für die Schaffung eines nachhaltigen Friedens, der auf der Beendigung der Straflosigkeit, der Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit und der Rehabilitierung der Opfer beruhen muss. Die Schweiz setzt sich dafür ein, dass die Menschenrechte, insbesondere Aspekte im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Straflosigkeit, bei der Aushandlung und der Umsetzung von Friedensabkommen gebührend berücksichtigt werden. Schweizer Experten begleiten und beraten die verschiedenen Interessengruppen bei der Umsetzung von Friedensverträgen, wie beispielsweise in Nepal, oder bei der Festlegung von Wiedergutmachungsmassnahmen, wie in Guatemala. In Burundi und Kolumbien haben nationale Akteure die Schweiz um Unterstützung bei der Entwicklung einer Strategie zur Vergangenheitsarbeit angefragt. In Kolumbien begleitet die Schweiz die «Nationale Kommission für Wiedergutmachung und Versöhnung», insbesondere die Arbeitsgruppe, die mit der historischen Aufarbeitung des Konflikts befasst ist, in Form von Wissensvermittlung und Unterstützung bei der Formulierung und Implementierung von Strategien zur Bekämpfung der Straflosigkeit.

In Nepal unterstützt das EDA ein Projekt zur Unterstützung von Menschen mit seelischen und körperlichen Verletzungen bei der Auseinandersetzung mit ihren traumatischen Erlebnissen. In Ex-Jugoslawien unterstützt die Schweiz drei unabhängige Menschenrechtszentren (Belgrad, Sarajevo und Zagreb) beim Erstellen einer Datenbank mit dem Ziel, die genaue Anzahl Kriegsopfer auf dem Territorium von Ex-Jugoslawien zu identifizieren. In Guatemala arbeiten Schweizer in der Internationalen Kommission gegen Straflosigkeit mit. Im Rahmen des Dialogs zwischen Armenien und der Türkei hat die Schweiz die Parteien auf deren Wunsch bezüglich Vergangenheitsarbeit beraten und dabei Erfahrungen und Fachwissen im Zusammenhang mit der Einsetzung und der Arbeit von Wahrheitskommissionen und Historikerkommissionen einfliessen lassen. Die Schweiz gab ferner den Hauptanstoss dafür, dass in der vom UNO-Sonderbeauftragten Martti Ahtisaari vorgelegten Regelung für den künftigen Status des Kosovo von März 2007 eine Bestimmung aufgenommen wurde, die die Schaffung eines Mechanismus zur Vergangenheitsbewältigung im Kosovo
sowie Initiativen im Bereich der Justiz in Transitionsprozessen vorsieht. Die Schweiz verfolgt die Umsetzung dieser Bestimmung aktiv.

Auf multilateraler Ebene brachte die Schweiz im September 2008 im Menschenrechtsrat eine Resolution mit dem Titel Menschenrechte und Justiz in Transitionsprozessen ein. Sie beauftragt das Hochkommissariat, einen Bericht zum Thema Menschenrechte und Justiz in Transitionsprozessen auszuarbeiten, der unter anderem eine Auflistung der menschenrechtsrelevanten Aspekte in neueren Friedensabkommen enthalten soll. Die Veröffentlichung des Berichts lieferte die Grundlage für eine zweite Resolution, die u.a. festhält, dass von der UNO verabschiedete Friedensabkommen keinesfalls Amnestien für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und schwere Menschenrechtsverletzungen versprechen dürfen.

1309

4.4

Menschenrechtsbildung und -schulung

Zur Konkretisierung der in der Resolution 60/251 der Generalversammlung zur Gründung des Menschenrechtsrats festgeschriebenen Aufgabe des Rates, «die Menschenrechtsbildung und -erziehung entsprechend der Definition in der Resolution zu fördern», haben die Schweiz und das Königreich Marokko im September 2007 im Rahmen der 6. Session eine Resolution eingebracht, die die Ausarbeitung einer Erklärung der UNO über Bildung und Schulung im Menschenrechtsbereich verlangt. Zu den zwei Initianten kamen im Laufe der Zeit fünf weitere Delegationen aus sämtlichen Regionalgruppen hinzu (Costa Rica, Italien, Philippinen, Senegal und Slowenien), die zusammen die Plattform für Menschenrechtsbildung und -schulung im Menschenrechtsrat bilden. Diese regionenübergreifende Dimension der Initiative ist durchaus von Belang, da sie zum Aufbau eines Vertrauensklimas im Menschenrechtsrat beiträgt, der häufig im Zeichen der Blockbildung steht, die den Dialog und die Suche nach nachhaltigen und breit abgestützten Lösungen unterminiert.

Die Initiative bezweckt die Verbreitung der Menschenrechte im schulischen Unterricht und in verschiedenen Berufsausbildungen (insbesondere Polizei-, Gerichts-, Strafvollzugs-, Spital- und Lehrpersonal) und unterstreicht damit, wie wichtig es ist, die Menschenrechte bekannt zu machen, damit sie respektiert werden.

Der Beratende Ausschuss des Menschenrechtsrats legte dem Rat im März 2010 den Entwurf einer Erklärung vor. Der Entwurf versteht sich als Ergänzung zu den verschiedenen bereits bestehenden Texten und Programmen, insbesondere zum Weltprogramm für Menschenrechtsbildung der UNESCO und des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte. Obschon mehrere völkerrechtliche Übereinkommen auf die Bedeutung der Menschenrechtsbildung verweisen, weist keines dieser Instrumente auf das ganze Ausmass, die Relevanz und die Reichweite dieses Bereichs hin.

Der Erklärungsentwurf ist ein Aufruf an die Staaten und ein Leitfaden für sämtliche gesellschaftlichen Organe. Die Menschenrechte sollen durch langfristig angelegte Massnahmen verbreitet, verstanden und verinnerlicht werden. Eine zentrale Herausforderung für die Erklärung besteht darin, Menschenrechtsbildung allen zugänglich zu machen und alle zu befähigen, sich über Menschenrechte zu informieren, denn erst das Wissen um diese Rechte befähigt die Menschen, ihnen im Alltag zur Durchbruch zu verhelfen.

4.5

Das Recht auf Eigentum als Menschenrecht und der Kampf gegen die Ausgrenzung der Armen

Die Schweiz unterstützte die Tätigkeit der Kommission für die Stärkung der Rechtsstellung der Armen (Commission on Legal Empowerment of the Poor, CLEP). In seinem 2008 veröffentlichten Bericht hält die Kommission fest, dass 4 Milliarden Menschen ausserhalb jedes Rechtssystems in der Informalität leben. Die Folge davon sind Ausgrenzung und prekäre Lebensverhältnisse. Die Kommission bekräftigt, dass sich die Situation der Ärmsten nur verbessern kann, wenn deren Zugang zu Justiz und wirtschaftlicher Tätigkeit gewährleistet ist. Zur rechtlichen Stärkung der Armen braucht es nach Meinung der Kommission einen Systemwechsel mit dem Ziel, das gesellschaftliche und wirtschaftliche Potenzial der Armen zu erschliessen.

Dieser Prozess basiert auf vier Pfeilern: Zugang zu Justiz und Rechtsstaatlichkeit, Eigentumsrechte, Recht auf Arbeit und Gewerbefreiheit. Die Schweiz und Guatemala führten die Arbeit der CLEP im Rahmen der UNO weiter, indem sie 2008 und 1310

2009 in der Generalversammlung je eine Resolution zum Thema Stärkung der Rechtsstellung der Armen einbrachten. Die Resolutionen wurden von zahlreichen Ländern des Südens und des Nordens unterstützt.

Hingegen verzichtete die Schweiz auf eine diplomatische Initiative, die nur dem Thema Eigentumsrechte gewidmet ist. In der Überzeugung, dass wirtschaftlicher, sozialer und politischer Fortschritt unter anderem auf einem gut funktionierenden, transparenten und diskriminierungsfreien Eigentumssystem beruht, schliesst die Schweiz jedoch nicht aus, dass sie in den nächsten Jahren die Möglichkeit einer Wiederbelebung dieser Initiative prüfen wird. Der Schutz des Eigentums ist eng mit anderen politischen Fragen verknüpft, z.B. mit der Lösung eigentumsrechtlicher Probleme bei der Rückkehr von intern vertriebenen Personen oder Flüchtlingen, mit der Wiederherstellung von Gerechtigkeit und Frieden nach zwischenstaatlichen oder internen Konflikten sowie mit der Bekämpfung der Diskriminierung der Frauen, die die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, denen aber weltweit nur 10 Prozent der Besitztümer gehören.

5 5.1

Effizienz und Kohärenz: das Instrumentarium Verwaltungsinterne Mechanismen

Damit die Menschenrechtsperspektive systematisch in alle aussenpolitischen Entscheidungsprozesse integriert wird, will der Bundesrat die verwaltungsinternen Informations-, Konsultations- und Entscheidungsmechanismen transparenter ausgestalten und sicherstellen, dass die Bundesangestellten in Hinsicht auf den internationalen Menschenrechtsschutz gut ausgebildet, informiert und sensibilisiert sind.

Ausserdem hat der Bundesrat die Kohärenz seiner Wirtschafts-, Sozial-, Umweltund Menschenrechtspolitik sicherzustellen. Dabei kann es zu Interessenkonflikten kommen. In solchen Situationen nimmt der Bundesrat von Fall zu Fall eine Interessenabwägung vor. Überdies sorgt der Bundesrat bei der Revision von Erlassen dafür, dass die Einhaltung der Menschenrechte in sämtlichen Bereichen der schweizerischen Politik explizit bekräftigt und entsprechende Kontrollverfahren vorgesehen werden. So konnten mit der Revision und anschliessenden Inkraftsetzung der Kriegsmaterialverordnung im Dezember 2008 die Bewilligungskriterien für Auslandgeschäfte präzisiert werden. Die Bewilligung wird demnach u.a. verweigert «wenn das Bestimmungsland Menschenrechte systematisch und schwerwiegend verletzt». Gestützt darauf hat der Bundesrat am 25. März 2009 entschieden, Kriegsmaterialverkäufe nach Saudi-Arabien, Ägypten und Pakistan abzulehnen. Bei bilateralen Abkommen mit Partnerländern wendet der Bundesrat den seit April 2003 gelockerten Grundsatz der «Konditionalität in der Aussenpolitik» an, wobei der Dialog zur Einhaltung und zum Schutz der Menschenrechte sowie gezielte Programme zur Förderung der Menschenrechte und der Gouvernanz in den Partnerländern in den Vordergrund rücken. Diese dynamische und flexible Anwendung der Konditionalität erfordert eine verstärkte Koordination zwischen den Bundesstellen, vor, während und nach der Aushandlung von Abkommen mit Drittstaaten.

Eine Reihe von internen Konsultations- und Entscheidungsmechanismen dient dazu, die Kohärenz zwischen den menschenrechtspolitischen und den übrigen Aktivitäten zu erhöhen. Hervorzuheben ist die Kerngruppe Internationale Menschenrechtspolitik (KIM), in der alle interessierten Departemente vertreten sind. Die Kerngruppe ist für die operative Koordination konkreter Aktionen und für den Informationsaus1311

tausch zuständig. Ferner soll die schrittweise Integration der Menschenrechtsdimension bei der Definition und Umsetzung der Politiken des Bundes (mainstreaming) dazu beitragen, die Kohärenz der schweizerischen Aussenpolitik zu erhöhen. Artikel 35 Absatz 2 der Bundesverfassung (SR 101) hält diesbezüglich fest, dass Bundesangestellte an die Grundrechte gebunden und verpflichtet sind, zu ihrer Verwirklichung beizutragen. Das EDA ist bestrebt, mit seiner Koordinationsfunktion die Kohärenz in der schweizerischen Aussenpolitik in Zusammenarbeit mit den betroffenen Bundesstellen sowohl auf innerstaatlicher als auch auf bilateraler Ebene und in den multilateralen Organisationen zu stärken.

Hingegen ist eine politische Güterabwägung überall dort ausgeschlossen, wo zwingende völkerrechtliche Schranken bestehen. Das Völkerrecht ­ insbesondere die Menschenrechtsübereinkommen und das Völkergewohnheitsrecht ­ auferlegt den Staaten nicht nur Verpflichtungen hinsichtlich Menschenrechtsverletzungen, die auf ihrem Hoheitsgebiet geschehen. Wenn ein Staat Aktivitäten im Wissen unterstützt, dass sie Menschenrechtsverletzungen durch einen anderen Staat Vorschub leisten, steht er in der Mitverantwortung. Aus diesem Grund trifft der Bundesrat alle möglichen Vorkehrungen, damit seine aussenpolitischen Aktivitäten keine Menschenrechtsverletzungen in einem anderen Staat zur Folge haben. Auch dort, wo solche Schranken nicht bestehen, entscheidet sich der Bundesrat nach Möglichkeit für jene Optionen, die mit völkerrechtlichen und menschenrechtlichen Zielen am besten in Einklang stehen.

5.2

Diplomatische Instrumente

Der Bundesrat verfügt über verschiedene Instrumente zur Koordination seiner Aussenpolitik, auf die in den verschiedenen oben erwähnten Berichten näher eingegangen wird. Zur Erinnerung: Das Instrumentarium beinhaltet diplomatische Instrumente wie den Menschenrechtsdialog, bilaterale und multilaterale politische Interventionen und Demarchen, Erklärungen des Bundesrats oder protokollarische bzw. diplomatische Massnahmen von symbolischer Bedeutung. Diese Instrumente werden durch weitere direktere Massnahmen wie Unterstützungsprogramme, Projekte oder die Entsendung von Experten ergänzt. Ferner stehen dem Bundesrat rechtliche Instrumente zur Verfügung wie etwa Beiträge zur Kodifizierung und Weiterentwicklung der Menschenrechte, Beitritt und Ratifizierung von Menschenrechtsübereinkommen oder die zwischenstaatlichen und individuellen Beschwerdeverfahren, die in den jeweiligen Übereinkommen vorgesehen sind. Auch wenn sich das verfügbare Instrumentarium nicht wesentlich verändert hat, wurden doch einzelne Instrumente konzeptionell weiterentwickelt.

Die Menschenrechtsdialoge nehmen in der Menschenrechtsaussenpolitik eine besondere Stellung ein. Dabei handelt es sich um offizielle Gespräche mit bestimmten Ländern über Menschenrechtsfragen. Es sind langfristige Projekte, welche die betroffenen Staaten in ihrem Reformprozess unterstützen sollen. Konkret geht es darum, auf Regierungsebene Menschenrechtsthemen wie Todesstrafe, Folter, Religionsfreiheit usw. zu diskutieren. Grundlage für einen solchen Dialog ist die Erkenntnis beider Staaten, dass die Umsetzung von Menschenrechten eine entscheidende Voraussetzung für das Funktionieren von Staat und Gesellschaft ist. Ein Menschenrechtsdialog soll die Menschenrechtssituation in den Partnerländern mittel- und langfristig verbessern. Überdies werden für jeden Dialog spezifische, auf 1312

den jeweilige Kontext zugeschnittene Zielvorgaben festgelegt, wie z.B. die Freilassung gewaltloser politischer Gefangener, die Förderung der Zusammenarbeit innerhalb und mit der UNO, die Stärkung der Zivilgesellschaft, die Ratifizierung internationaler Menschenrechtsübereinkommen und die Erfüllung der eingegangenen Verpflichtungen. Sie müssen auf den Einzelfall ausgerichtet sein, vorgängig definierten Prioritäten entsprechen und, wenn möglich, nicht nur äusserst relevant, sondern auch messbar sein. Wichtig ist, dass die Dialogpartner die Menschenrechte als gemeinsames Anliegen definieren, das konkret umzusetzen ist. Die Dialoge werden einer regelmässigen Evaluation unterzogen, die sich u.a. auf Folgendes stützt: die Entwicklung der Menschenrechtslage, die Bereitschaft des Partnerlandes, über alle Themen zu sprechen, den breiten Zugang zu Ministerien und relevanten Kreisen (ein Zugang, der ohne den Dialog nicht gewährleistet wäre) sowie Kontakte zu Persönlichkeiten, die den Reformprozess beeinflussen können. Als Instrument der Menschenrechtspolitik dient der Dialog im Wesentlichen dazu, die Einhaltung der Menschenrechte in den Partnerländern zu verbessern. Aus Sicht der Gesamtaussenpolitik wird erwartet, dass der Menschenrechtsdialog einen Mehrwert in den bilateralen Beziehungen mit den Partnerländern erbringt und die Position der Schweiz als Akteurin auf der politischen Weltbühne stärkt. In der Regel werden die politischen Gespräche durch konkrete, gemeinsame Projekte und/oder Expertenaustausch ergänzt. Diese Projekte stehen im Einklang mit den thematischen Schwerpunktbereichen des Dialogs und verhelfen dem Prozess zu einem erheblichen Mehrwert.

Zurzeit (April 2010) führt die Schweiz Menschenrechtsdialoge mit Iran, China, Tadschikistan und Vietnam. Mit Kuba und Russland sind Menschenrechtsgespräche und politische Konsultationen mit einem Menschenrechtsbezug im Gange. Lokale Menschenrechtsgespräche werden mit Indonesien geführt. Derzeit (Frühjahr 2010) finden Sondierungsgespräche statt, um das Einsatzspektrum auf den afrikanischen Kontinent (Ghana, Nigeria oder Senegal) auszudehnen. Das Instrument des Menschenrechtsdialogs wird seit den Neunzigerjahren eingesetzt und ist aufgrund von Erfahrungen und Evaluationen laufend verfeinert und ergänzt worden. Das Eidgenössische Departement für auswärtige
Angelegenheiten konnte auf diese Weise mittelfristige Vierjahreskonzepte erarbeiten (2004­2007) und (2009­2012). Ziel ist es, Richtlinien für den Einsatz des Menschenrechtsdialogs bereitzustellen und eine klare Definition dieses Instruments zu geben.

Das Instrument der Demarchen wurde ebenfalls überprüft und evaluiert. Als Ergebnis davon wurde der Prozess systematisiert, wodurch eine erhöhte Kohärenz und Effizienz gewährleistet wird. Die Überprüfung der verschiedenen Handlungsfelder erlaubt es der Schweiz, die Menschenrechtsunterstützung wirksamer zu gestalten, indem die Prozesse systematisiert und die verfügbaren Ressourcen optimaler eingesetzt werden.

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Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Akteuren

Die Umsetzung der menschenrechtlichen Verpflichtungen aus dem Völkerrecht ist Sache der Staaten, die für die Einhaltung, die Förderung und die Umsetzung der Menschenrechte verantwortlich sind. Es besteht jedoch heute generell Einigkeit dahingehend, dass sich die übrigen Organe der Gesellschaft nach diesen Bestimmungen zu richten und für ihre Einhaltung zu sorgen haben. Die Globalisierung, die Macht und die zunehmenden Kompetenzen der Privatwirtschaft, der unmittelbare 1313

und breite Informationsaustausch sowie die Mobilisationsfähigkeit der Zivilgesellschaft sind allesamt Faktoren, die im Menschenrechtsbereich neben den Staaten weitere Akteure auf den Plan gebracht haben. Der Bundesrat stützt sich bei seinem Engagement zur Erarbeitung und Durchsetzung von Normen auf ein breites Netz von nichtstaatlichen Akteuren.

Die Fachkompetenz der Forschungszentren und die innovativen Ideen, die aus ihnen hervorgehen, erlauben es der Schweiz, ihren Einfluss auf die internationale Förderung der Menschenrechte zu erhöhen. Die Schweiz hat dazu namentlich strategische Partnerschaften mit verschiedenen Hochschulinstituten und think tanks im In- und Ausland gebildet. Die Akademie für humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte in Genf (ADH) und das Genfer Zentrum für die demokratische Kontrolle der Streitkräfte (DCAF), die Universität Bern, die Brookings Institution in Washington, das «Program on Humanitarian Policy and Conflict Research» in Harvard oder das Dänische Institut für Menschenrechte (Kopenhagen) zeigen, welche Bedeutung der Zusammenarbeit mit den Forschungsinstitutionen zugemessen wird. Der Beschluss des Bundesrats von Juli 2009, das Pilotprojekt «Einkauf von Leistungen bei einem universitären Kompetenzzentrum im Bereich der Menschenrechte» zu lancieren, bildet eine weitere Dimension dieser breit gefächerten Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Akteuren. Mit der Schaffung eines solchen Kompetenzzentrums werden die für Bund, Kantone, Gemeinden aber auch den Privatsektor verfügbaren Analyseund Beratungskapazitäten erweitert.

Die wirtschaftlichen Akteure, insbesondere jene mit einem gewissen internationalen Prestige, werden sich ihrer sozialen Verantwortung bei grenzüberschreitenden Investitionen immer stärker bewusst. Der private Sektor ist ein wichtiger Akteur und Partner der Schweiz im Bereich der Umsetzung der Menschenrechte. Sowohl mit schweizerischen Unternehmen als auch mit dem ausländischen Privatsektor bestehen enge Arbeitsbeziehungen. Die Initiative über die privaten Militär- und Sicherheitsfirmen basiert auf der Zusammenarbeit und dem Engagement eben dieser Unternehmen, ohne das eine Realisierung nicht möglich wäre.

Die nationalen und internationalen NGO sind ebenfalls wichtige Partner der Schweiz. Es bestehen verschiedene Kooperationsformen, von der finanziellen
Unterstützung bis zu Programmen, die als prioritär erachtet werden. Der Bund unterstützt zahlreiche NGO, die entweder im Jugendbildungsbereich im Inland (Stiftung Bildung und Entwicklung, Bern), für die Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger in aller Welt (Service international des droits de l'homme, Geneva for Human Rights, beide in Genf), im Bereich der Schweizer Öffentlichkeitsarbeit (Menschenrechte Schweiz, Bern) oder der Anwaltschaft (Commission internationale des juristes, Genf, OMCT und APT, Genf, die sich mit Folterbekämpfung befassen) tätig sind. Neben den Nichtregierungsorganisationen spielen bei der Verwirklichung der Menschenrechte, der öffentlichen Meinungsbildung, der Information der Bevölkerung und der Opferhilfe auch Medien, Anwaltsverbände, Gewerkschaften und religiöse Autoritäten eine wichtige Rolle. In den Ländern des Südens und Ostens sind diese Organisationen häufig wichtige Partner der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit. Der Bundesrat gewährt ihnen im Rahmen seiner budgetären Möglichkeiten finanzielle Unterstützung und steht mit den in der Schweiz niedergelassenen oder vertretenen nationalen und internationalen NGO in einem regelmässigen Dialog. Ferner unterstützt die Schweiz die Anträge schweizerischer oder in der Schweiz ansässiger NGO auf beratenden Status, die beim NGO-Ausschuss der UNO in New York eingereicht werden.

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Schliesslich finanziert die Schweiz verschiedene Programme, Fonds und Projekte internationaler Organisationen, die mit den Schwerpunkten der schweizerischen Menschenrechtsaussenpolitik im Einklang stehen. Die Unterstützung kann in Form von Finanzierungsbeiträgen oder der Entsendung von Experten erfolgen. Zu den wichtigsten Partnern gehören das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte, der Menschenrechtskommissar des Europarats, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, UNICEF und der UNO-Menschenrechtsrat. Die Schweiz unterstützt zudem die Mandate der Sonderverfahren des Rates durch Entsendung von Experten, die entweder direkt dem Mandatsträger unterstellt oder dem Hochkommissariat in Genf oder New York angegliedert sind.

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Schlussbemerkungen

Das Engagement der Schweiz im Menschenrechtsbereich gründet auf der Überzeugung, dass die Achtung der Grundrechte aller Menschen den Interessen der Schweiz entspricht. Aufgrund der in der Bundesverfassung festgeschriebenen Werte wie Solidarität mit den Schwächsten, gegenseitige Rücksichtnahme und Respekt, Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen und das Gebot, wonach «frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht», setzt sich der Bundesrat mit Überzeugung für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte ein. Die Menschenrechte sind ein wichtiger Pfeiler der schweizerischen Aussenpolitik. Bei seinem kontinuierlichen Streben nach einem Ausgleich mit den übrigen aussenpolitischen Zielen stützt sich der Bundesrat auf Mechanismen ab, dank denen er in Kenntnis der Sachlage und stets im allgemeinen Interesse des Landes (oft schwierige) politische Entscheide treffen kann.

Die in der Vergangenheit festgelegten und im Bericht erörterten Schwerpunkte sind nach wie vor aktuell. Sie sind eine sachdienliche Antwort auf die Bedürfnisse und die enormen Herausforderungen im Bereich der Förderung und des Schutzes der Menschenrechte. Ihr allgemein gehaltener Wortlaut erlaubt es dem Bundesrat, sein Handeln rasch an Veränderungen im internationalen politischen Umfeld anzupassen und gegebenenfalls gezielte Initiativen zu lancieren oder zu unterstützen.

Der Bundesrat hält es für notwendig, die verfügbaren Mittel auf bestimmte Schwerpunktbereiche zu konzentrieren. Diese Schwerpunkte sind im Wesentlichen das Ergebnis der Erfahrungen der letzten Jahre. Die Schweiz hat sich in einigen spezifischen innovativen Themenbereichen profiliert und will ihre Tätigkeit im Menschenrechtsbereich auf dieser Basis fortführen. Diese Fokussierung steht einem umfassenden Engagement zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte in keiner Weise entgegen.

Die Schweiz verfügt über eine solide Reputation auf dem Gebiet. Mit ihren Stellungnahmen im Menschenrechtsrat und in der UNO-Generalversammlung zählt sie nach Ansicht zahlreicher Länder und NGO zu den kohärentesten Staaten in diesem Bereich. Die kürzlich erfolgte Wiederwahl in den Rat ist ein konkretes Zeichen dieser Anerkennung. Die Kohärenz der schweizerischen Politik und die darin gründende Glaubwürdigkeit sind zentrale Elemente des schweizerischen Engagements zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte.

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