11.062 Botschaft zur Volksinitiative «Ja zur Hausarztmedizin» vom 16. September 2011

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Wir unterbreiten Ihnen hiermit die Botschaft zur Volksinitiative «Ja zur Hausarztmedizin» und beantragen Ihnen, die Initiative Volk und Ständen mit der Empfehlung auf Ablehnung vorzulegen. Gleichzeitig unterbreiten wir Ihnen einen direkten Gegenentwurf mit dem Antrag, diesem Gegenentwurf zuzustimmen und ihn Volk und Ständen gleichzeitig mit der Volksinitiative mit der Empfehlung zu unterbreiten, dem Gegenentwurf zuzustimmen.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

16. September 2011

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Micheline Calmy-Rey Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2011-1236

7553

Übersicht Mit dem direkten Gegenentwurf zur Volksinitiative «Ja zur Hausarztmedizin» werden die berechtigten Anliegen der Initiative aufgenommen, ohne einer einzelnen Berufsgruppe in der Verfassung eine Sonderstellung einzuräumen.

Die vom Bundesrat vorgeschlagene Verfassungsnorm stellt die koordinierte, multiprofessionelle medizinische Grundversorgung von hoher Qualität, in welcher der Hausarztmedizin eine zentrale Rolle zukommt, in den Mittelpunkt. Der direkte Gegenentwurf wird zudem von einem Massnahmenpaket begleitet, um kurz- und mittelfristig auf die Schwierigkeiten in der Hausarztmedizin zu reagieren.

Am 1. April 2010 wurde die Volksinitiative «Ja zur Hausarztmedizin» mit gut 200 000 Unterschriften eingereicht. Die Initiative will die Existenz der Hausarztmedizin in der ganzen Schweiz für die Zukunft sicherstellen, der Hausarztmedizin optimale Abklärungs- und Behandlungsmöglichkeiten garantieren und den Hausärztenachwuchs sichern. Kernpunkt der Initiative ist die Forderung, die Hausärztinnen und Hausärzte seien «als in der Regel erste Anlaufstelle für die Behandlung von Krankheiten und Unfällen sowie für Fragen der Gesundheitserziehung und Gesundheitsvorsorge (einschliesslich der Prävention)» zu positionieren.

Die Initiative sieht dazu die Ergänzung der Bundesverfassung um einen neuen Artikel 118b vor, der in fünf Absätzen sowohl programmatische als auch konkrete Vorgaben zur Anerkennung, zur Förderung sowie zur beruflichen und finanziellen Besserstellung der Hausärztinnen und Hausärzte vorsieht.

Der Bundesrat hat sich am 13. Oktober 2010 gegen die Volksinitiative und für einen direkten Gegenentwurf entschieden. In der mit der Initiative vorgeschlagenen, ausschliesslich auf die Berufsgruppe der Hausärztinnen und Hausärzte ausgerichteten Stossrichtung sieht er keine nachhaltige Lösung, um eine adäquate, allen zugängliche medizinische Grundversorgung von hoher Qualität sicherzustellen.

Gleichzeitig anerkennt er aber, dass die Initiative in einzelnen Bereichen berechtigte Anliegen enthält. Vor diesem Hintergrund stellt der direkte Gegenentwurf eine vernetzte, koordinierte und multiprofessionell erbrachte medizinische Grundversorgung ins Zentrum, bei der die Generalistinnen und Generalisten ­ also die Hausärztinnen und -ärzte ­ weiterhin eine wesentliche Rolle spielen. Der direkte Gegenentwurf
sieht denn auch vor, dass sich Bund und Kantone für eine allen zugängliche medizinische Grundversorgung von hoher Qualität einsetzen und die Hausarztmedizin als wesentlichen Bestandteil dieser Grundversorgung anerkennen und fördern.

Die bestehenden Zuständigkeiten von Bund und Kantonen werden dabei grundsätzlich gewahrt; der Bund erhält lediglich umfassendere Gesetzgebungskompetenzen bezüglich der Aus- und Weiterbildung sowie der Berufsausübung. Der Bund soll sich zusätzlich an der Erarbeitung von Grundlagen zur Weiterentwicklung und Koordination der medizinischen Grundversorgung und des Aus- und Weiterbildungsangebots beteiligen können. Zur Gewährleistung der Qualität der Leistungen soll der Bund selber Massnahmen treffen können.

7554

Um kurz- und mittelfristig auf die Schwierigkeiten in der Hausarztmedizin zu reagieren, wird der direkte Gegenentwurf von einem Massnahmenpaket begleitet, das Verbesserungen in der Aus- und Weiterbildung, der Forschung und der Berufsausübung der Hausärztinnen und -ärzte bezweckt.

7555

Inhaltsverzeichnis Übersicht

7554

1 Formelle Aspekte und Gültigkeit der Initiative 1.1 Wortlaut der Initiative 1.2 Zustandekommen und Behandlungsfristen 1.3 Gültigkeit

7558 7558 7559 7559

2 Ausgangslage für die Entstehung der Initiative 2.1 Ausgangslage und Anlass 2.2 Träger der Initiative 2.3 Zielsetzung und Kernforderungen

7559 7560 7560 7560

3 Erläuterung der Initiative und Forderungskatalog

7561

4 Würdigung der Initiative 4.1 Anliegen der Initiative 4.2 Auswirkungen der Initiative bei einer Annahme 4.2.1 Auswirkungen bei der Festlegung der Facharzttitel 4.2.2 Auswirkungen auf die Kompetenz- und Aufgabenverteilung 4.2.3 Auswirkungen auf das Versorgungssystem 4.3 Vorzüge und Mängel der Initiative 4.3.1 Im Allgemeinen 4.3.2 Situation der Hausärztinnen und -ärzte heute 4.3.3 Zu weit gehende Ziele und Forderungen der Initiative

7564 7564 7564 7564 7565 7566 7567 7567 7568 7570

5 Schlussfolgerungen

7571

6 Direkter Gegenentwurf: Grundzüge der Vorlage 6.1 Einleitung 6.2 Ergebnisse der Vernehmlassung 6.3 Wortlaut 6.4 Systematische Einordnung

7573 7573 7574 7575 7576

7 Erläuterungen zum direkten Gegenentwurf

7576

8 Bereits erfüllte oder sich in Umsetzung befindende Massnahmen

7581

9 Verhältnis zu anderen Verfassungsbestimmungen 9.1 Art. 117 BV (Kranken- und Unfallversicherung) 9.2 Art. 118-119a BV (Schutz der Gesundheit, Komplementärmedizin, Forschung am Menschen, Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie im Humanbereich, Transplantation) 9.3 Art. 63, 63a und 64a BV (Bildung) 9.4 Art. 64 BV (Forschung) 9.5 Art. 95 Abs. 1 BV (privatwirtschaftliche Erwerbstätigkeit) 9.6 Weitere Verfassungsbestimmungen

7584 7584

7556

7585 7585 7586 7587 7588

10

Auswirkungen des direkten Gegenentwurfs

7588

11

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen

7589

Bundesbeschluss über die medizinische Grundversorgung (Gegenentwurf zur Volksinitiative «Ja zur Hausarztmedizin») (Entwurf)

7591

7557

Botschaft 1

Formelle Aspekte und Gültigkeit der Initiative

1.1

Wortlaut der Initiative

Die Eidgenössische Volksinitiative «Ja zur Hausarztmedizin» lautet: Die Bundesverfassung1 wird wie folgt geändert: Art. 118b (neu)

Hausarztmedizin

Bund und Kantone sorgen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für eine ausreichende, allen zugängliche, fachlich umfassende und qualitativ hochstehende medizinische Versorgung der Bevölkerung durch Fachärztinnen und Fachärzte der Hausarztmedizin.

1

Sie erhalten und fördern die Hausarztmedizin als wesentlichen Bestandteil der Grundversorgung und als in der Regel erste Anlaufstelle für die Behandlung von Krankheiten und Unfällen sowie für Fragen der Gesundheitserziehung und der Gesundheitsvorsorge.

2

Sie streben eine ausgewogene regionale Verteilung an, schaffen günstige Voraussetzungen für die Ausübung der Hausarztmedizin und fördern die Zusammenarbeit mit den übrigen Leistungserbringern und Institutionen des Gesundheits- und Sozialwesens.

3

4

Der Bund erlässt Vorschriften über: a.

die universitäre Ausbildung, die berufliche Weiterbildung zur Fachärztin oder zum Facharzt sowie die klinische Forschung auf dem Gebiet der Hausarztmedizin;

b.

den gesicherten Zugang zum Beruf und die Erleichterung der Berufsausübung;

c.

die Erweiterung und die angemessene Abgeltung der diagnostischen, therapeutischen und präventiven Leistungen der Hausarztmedizin;

d.

die Anerkennung und die Aufwertung der besonderen beratenden und koordinierenden Tätigkeiten für Patientinnen und Patienten;

e.

administrative Vereinfachungen und zeitgemässe Formen der Berufsausübung.

Der Bund trägt in seiner Gesundheitspolitik den Anstrengungen der Kantone und Gemeinden sowie der Wirtschaft auf dem Gebiet der Hausarztmedizin Rechnung. Er unterstützt sie in ihren Bestrebungen für einen wirtschaftlichen Einsatz der Mittel und die Sicherung der Qualität der Leistungen.

5

1

SR 101

7558

1.2

Zustandekommen und Behandlungsfristen

Die Volksinitiative «Ja zur Hausarztmedizin» wurde am 1. April 2010 mit den nötigen Unterschriften eingereicht. Mit Verfügung vom 27. April 2010 stellte die Bundeskanzlei fest, dass die Initiative mit 200 210 gültigen Unterschriften zustande gekommen ist.2 Die Initiative hat die Form eines ausgearbeiteten Entwurfs. Der Bundesrat unterbreitet dazu einen Gegenentwurf. Nach Artikel 97 Absatz 2 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 20023 (ParlG) hat der Bundesrat somit spätestens bis zum 1. Oktober 2011 einen Beschlussentwurf und eine Botschaft zu unterbreiten. Die Bundesversammlung hat bis zum 1. Oktober 2012 über die Volksinitiative zu beschliessen; sie kann diese Frist um ein Jahr verlängern, wenn mindestens ein Rat über einen Gegenentwurf oder einen mit der Volksinitiative eng zusammenhängenden Erlassentwurf Beschluss gefasst hat (Art. 100 und 105 Abs. 1 ParlG).

1.3

Gültigkeit

Die Initiative erfüllt die Anforderungen an die Gültigkeit nach Artikel 139 Absatz 3 BV: a.

Sie ist als vollständig ausgearbeiteter Entwurf formuliert und erfüllt die Anforderungen an die Einheit der Form.

b.

Zwischen den einzelnen Teilen der Initiative besteht ein sachlicher Zusammenhang. Die Initiative erfüllt somit die Anforderungen an die Einheit der Materie.

c.

Die Initiative verletzt keine zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts.

Sie erfüllt somit die Anforderungen an die Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht.

Die Initiative ist deshalb als gültig zu erklären.

2

Ausgangslage für die Entstehung der Initiative

Die folgenden Ausführungen zu Ausgangslage, Zielsetzung und konkreten Forderungen der Initiative stützen sich auf die ausführlichen Unterlagen zur Initiative (Erläuterungen, Materialien und Forderungskatalog), wie sie zum Zeitpunkt der Erarbeitung dieser Botschaft auf der Website des Initiativkomitees publiziert waren.4

2 3 4

BBl 2010 2939 SR 171.10 www.jzh.ch >Initiative; die Unterlagen zur Initiative wurden seit deren Lancierung und insbesondere im Rahmen der Vernehmlassung zum direkten Gegenentwurf geändert und ergänzt. Die vorliegenden Ausführungen beziehen sich auf die am 30. Mai 2011 vorliegenden Unterlagen.

7559

2.1

Ausgangslage und Anlass

Ausgangspunkt der Initiative ist die Sorge der Hausärztinnen und -ärzte um die Zukunft und die Bedeutung der Hausarztmedizin. Seit einigen Jahren weisen diese darauf hin, dass die Hausarztmedizin in der Schweiz stetig an Ansehen und Bedeutung verliere und die Hausärztinnen und Hausärzte ihr wirtschaftliches Auskommen immer schwieriger finden, sodass dieses Gebiet für die nachkommenden Ärztegenerationen immer weniger attraktiv sei. Aus diesen Gründen seien junge Ärztinnen und Ärzte zunehmend weniger interessiert, im Fachgebiet Hausarztmedizin tätig zu werden und beispielsweise bestehende Hausarztpraxen zu übernehmen.

In Kombination mit der prognostizierten Zunahme der Nachfrage nach ambulanten medizinischen Leistungen aufgrund der demografischen Entwicklung (Alterung der Bevölkerung, Zunahme chronischer Krankheiten, Multimorbidität usw.)5 führe dies bis in 10­15 Jahren zu einem gravierenden Mangel an Hausärztinnen und Hausärzten, der die medizinische Grundversorgung insgesamt gefährde.

Der Bedeutungsverlust der Hausarztmedizin ist laut dem Initiativkomitee nicht zuletzt durch die seit Jahren ungünstige Gesundheitspolitik, insbesondere des Bundes, verschuldet.

So habe «Bundesbern jahrzehntelang die Berufsgruppe der Haus- und Kinderärzte bewusst und gezielt geschwächt, benachteiligt, abgebaut, demontiert, vernachlässigt und damit an den Rand des Aussterbens gebracht.»6 Vor diesem Hintergrund fordern die Hausärztinnen und -ärzte die Berücksichtigung ihrer Anliegen, auf die die Politik bisher nicht adäquat reagiert habe.

2.2

Träger der Initiative

Träger der Initiative ist der Berufsverband der Haus- und Kinderärzte «Hausärzte Schweiz». Dieser wurde am 17. September 2009 von den drei Fachgesellschaften Schweizerische Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SGAM), Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGIM) und Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie (SGP) gegründet, um ihre gemeinsamen berufspolitischen Ziele anzugehen. Bereits am 1. Oktober 2009 hat der Verband die Volksinitiative «Ja zur Hausarztmedizin» lanciert.7 Das Initiativkomitee besteht aus 26 Fachärztinnen und -ärzten für Allgemeinmedizin, Innere Medizin sowie Kinder- und Jugendmedizin.

2.3

Zielsetzung und Kernforderungen

Ziel der Initiative ist die ausreichende, allen zugängliche, flächendeckende, fachlich umfassende und qualitativ hochstehende ambulante medizinische Grundversorgung der schweizerischen Bevölkerung durch Hausärztinnen und Hausärzte. Dazu brau5 6 7

Schweiz. Gesundheitsobservatorium Obsan: Offre et recours aux soins ambulatoires en Suisse ­ Projections à l'horizon 2030. Neuenburg, 2008 P. Tschudi, Pressekonferenz zum Start der Hausärztekampagne, 31. März 2011 vgl. www.hausaerzteschweiz.ch

7560

che der Bund nicht neue Kompetenzen; notwendig seien aber entsprechende Korrekturen zugunsten der Hausarztmedizin.

Als wichtigste Forderungen mit Blick auf diese Zielsetzung werden deklariert: ­

Top-Aus- und -Weiterbildung

­

erleichterte Berufsausübung;

­

zweckmässige Praxisinfrastruktur;

­

hausarztfreundliches Tarifsystem.

3

Erläuterung der Initiative und Forderungskatalog

Nach den Erläuterungen8 des Initiativkomitees gliedern sich die fünf Absätze des vorgeschlagenen Verfassungsartikels 118b in eine Zielbestimmung (Abs. 1), eine Programm- bzw. Grundsatzbestimmung (Abs. 2), die Vorgaben für das Handeln von Bund und Kantonen (Abs. 3), die Zuständigkeiten des Bundes (Abs. 4) sowie die Grundsätze für das Handeln des Bundes (Abs. 5). Im Forderungskatalog9 sind jedem Absatz konkrete Forderungen zugeordnet, mit den folgenden Ausführungen: Abs. 1 Zum einleitenden Absatz wird ausgeführt, dass konkret eine allen zugängliche Hausarztmedizin in der ganzen Schweiz, die Schaffung gesundheitspolitisch stabiler Rahmenbedingungen für die Hausärztinnen und -ärzte und ihre Vertretung in allen gesundheitspolitisch relevanten Gremien verlangt wird.

Abs. 2 Gemäss den Erläuterungen bringt Absatz 2 zum Ausdruck, dass das Kernanliegen der Initiative die Erhaltung und Stärkung der Hausarztmedizin als grundlegende Voraussetzung einer hinreichenden und intakten medizinischen Grundversorgung der Bevölkerung ist.

Im Forderungskatalog wird zu diesem Absatz festgehalten, dass eine «Neuorganisation und -konzeption der medizinischen Grundversorgung durch die Neupositionierung der Hausarztmedizin im Zentrum der ambulanten Medizin» verlangt wird.

Abs. 3 Absatz 3 zählt einige Grundsätze auf, die von Bund und Kantonen bei der Stärkung der Hausarztmedizin generell zu beachten sind und die Zielerreichung erleichtern sollen. Konkrete Forderungen sind:

8 9

­

eine ausgewogene regionale Abdeckung mit Hausarztpraxen; namentlich soll der Bund «die Voraussetzungen schaffen, dass Leistungen allenfalls nach Regionen und Landesgegenden differieren können (z.B. Anreizsysteme mit erhöhter Abgeltung in Gebieten mit Unterdeckung)»;

­

die Unterstützung gemeinschaftlicher Formen der Hausarztmedizin (z.B.

Gruppen- und Gemeinschaftspraxen, Ärztehäuser, Kliniken und andere Forvgl. www.jzh.ch > Initiative > Erläuterungen vgl. www.jzh.ch > Initiative > Unsere Forderungen

7561

men eines integrierten Dienstleistungsangebots) und erleichterter Zugang dazu, einschliesslich finanzieller Anreize und administrativer Entlastungen.

Abs. 4 Nach Absatz 4 hat der Bund in mehreren Handlungsfeldern Vorschriften zu erlassen, um die Ziele der Initiative zu erreichen. Wie in den Erläuterungen festgehalten ist, sind die meisten dieser Bereiche bereits heute in der Zuständigkeit des Bundes.

Durch die Präzisierungen im Initiativtext seien jedoch auch Zuständigkeiten der Kantone tangiert. Konkret wird der Bund zur Intervention in den folgenden fünf Bereichen verpflichtet: Aus- und Weiterbildung sowie klinische Forschung auf dem Gebiet der Hausarztmedizin (Bst.a): Im Bereich Ausbildung werden folgende konkreten Forderungen aufgestellt: ­

Schaffung universitärer Institute für Hausarztmedizin und je ein strukturelles, voll ausgerüstetes Ordinariat für Hausarztmedizin an allen fünf medizinischen Fakultäten der Universitäten;

­

Ausbau der universitären Lehre in Hausarztmedizin, mit Pflichtmodulen in Hausarztmedizin und Einzeltutoriat in der Hausarztpraxis für alle Studierenden, während eines Jahres ein Halbtag pro Woche.

Im Bereich Weiterbildung wird ein Curriculum «Hausarzt» im Rahmen der Facharztweiterbildung Allgemeine Innere Medizin (AIM) gefordert und im Forderungskatalog detailliert beschrieben.10 Konkret gefordert ist hier die Zusicherung von Weiterbildungsstellen für dieses Curriculum «Hausarzt».

Im Bereich der Forschung lauten die Forderungen an den Bund: ­

Förderung und Ausbau der klinischen, patientenzentrierten Forschung in Hausarztmedizin;

­

Schaffung eines Nationalen Forschungsprogramms Hausarztmedizin mit finanziellen Mitteln von 5­10 Millionen Franken.

Zugang zum Beruf und Erleichterung der Berufsausübung (Bst. b): Mit Blick auf den Zugang zum Beruf und die Berufsausübung werden die folgenden konkreten Forderungen erhoben:

10

­

keine Zulassungsbeschränkungen mehr für Hausärztinnen und -ärzte;

­

kein neuer Bedürfnisnachweis oder Zulassungsstopp;

­

Erwerb aller Zertifikate während der Weiterbildung;

­

Erleichterung und Unterstützung in Notfall-, Wochenend- und Nachtdiensten;

­

Schaffung von Anreizsystemen für unattraktive Gebiete (geografisch, sozialpolitisch);

­

logistische und finanzielle Unterstützung bei Bedarf; www.jzh.ch/de >Initiative > Unsere Forderungen

7562

­

Möglichkeit der Praxisführung als AG (gute Übergangsregelung für Praxisnachfolge);

­

Förderung von Tagesstrukturen (KITA usw., Teilzeitarbeit).

Erweiterung und angemessene Abgeltung der diagnostischen, therapeutischen und präventiven Leistungen der Hausarztmedizin (Bst. c): Der Bund soll mit geeigneten Vorschriften dafür sorgen, dass die Ausübung der Hausarztmedizin durch die Erweiterung und angemessene Abgeltung ihrer diagnostischen, therapeutischen und präventiven Möglichkeiten attraktiver und interessanter wird.

Absatz 4 Buchstabe c ist mit den folgenden konkreten Forderungen hinterlegt: ­

Praxisinfrastruktur (Arbeitsinstrumente wie Labor, EKG, Spirometrie, Röntgen, Ultraschall usw. damit die Hausärztin oder der Hausarzt in der Lage ist, die Diagnosen zu stellen und Therapieentscheide zu treffen; Medikamentenabgabe in der Hausarztpraxis; Sicherstellung der Ausbildung und Aufwertung der Aufgaben der Medizinischen Praxisassistentin oder des Medizinischen Praxisassistenten MPA; Zulassung der MPA als Leistungserbringer/innen oder Vergütung ihrer Arbeit im Tarif);

­

Abgeltung der Leistungen: Eigener Hausärzte-Tarif (Berücksichtigung versorgungstechnisch sinnvoller Vorhalteleistungen, Umsetzung des vereinbarten Referenzeinkommens von 207 000 Franken für ein Vollzeitpensum, Abbildung der spezifischen Funktionen wie Familienberatung, Prävention, Gesundheitsförderung, Koordination usw. sowie Abbildung der delegierten Leistungen der MPA);

­

betriebswirtschaftliche Betrachtung auf der Ebene der Arztpraxis als ganzer (medizinische Leistungen im engeren Sinn, inkl. Notfalldienst, Bildgebung, Labor, Medikamentenabgabe usw.);

­

Koordination von Änderungen in der Spezialitäten- und Analyseliste mit Änderungen von Tarifstruktur und Taxpunktwert;

­

gesamtwirtschaftliche Betrachtung der Gesundheitskosten (Sozialkosten, Arbeitsunfähigkeit usw.).

Hinzu kommt gemäss den Erläuterungen die Forderung, auf die Anwendung verkappter Formen der Bedürfnisklausel durch die Versicherer und auf unnötige Erschwerungen bei der Berufsausübung (administrativer, rechtlicher und steuerlicher Natur) zu verzichten.

Anerkennung und Aufwertung der besonderen beratenden und koordinierenden Tätigkeiten für Patientinnen und Patienten (Bst. d): Unter Absatz 4 Buchstabe d wird angeknüpft an die Forderung von Buchstabe c nach einem eigenen Hausärztetarif, in dem die spezifischen Funktionen und die an die oder den MPA delegierten Leistungen abzubilden sind.

7563

Administrative Vereinfachungen und zeitgemässe Formen der Berufsausübung (Bst. e): Auch Absatz 4 Buchstabe e enthält weitgehend dieselben Forderungen, wie sie bereits unter Buchstabe b zur Erleichterung der Berufsausübung formuliert sind. Neu hinzu kommen zwei Forderungen betreffend die Administration: ­

Erlass von Vorschriften über administrative Vereinfachungen und Entlastungen der selbstständig praktizierenden Hausärztinnen und -ärzte;

­

korrekte Abgeltung der administrativen Arbeiten nach effektivem Zeitaufwand.

Abs. 5 Mit dieser Grundsatzbestimmung will die Initiative gemäss den Erläuterungen dem Subsidiaritätsprinzip und der geltenden Zuständigkeitsordnung Rechnung tragen.

Der Bund werde zur Rücksichtnahme und Respektierung der föderalen Ordnung gezwungen. Mit der Forderung, der Bund habe den wirtschaftlichen Einsatz der Mittel und Massnahmen zur Qualitätssicherung zu unterstützen, belege die Initiative zudem, dass es ihr nicht einseitig um eine finanzielle Besserstellung der Hausärztinnen und -ärzte gehe.

4

Würdigung der Initiative

4.1

Anliegen der Initiative

Die Initiative will die Existenz der Hausarztmedizin in der ganzen Schweiz für die Zukunft sicherstellen, der Hausarztmedizin optimale Abklärungs- und Behandlungsmöglichkeiten garantieren und den Hausärztenachwuchs sichern. Die Initiative enthält damit im Grundsatz berechtigte Anliegen, die auch vom Bundesrat unterstützt werden. Demgegenüber räumt die Initiative den Hausärztinnen und Hausärzte auf Verfassungsstufe eine Sonderstellung ein, was zulasten anderer in der medizinischen Grundversorgung tätigen Berufsgruppen geht und keine nachhaltige Lösung darstellt, um angesichts der künftigen Herausforderungen eine adäquate, allen zugängliche medizinische Grundversorgung von hoher Qualität sicherzustellen. Der vorgeschlagene direkte Gegenentwurf stellt demgegenüber eine vernetzte, koordinierte und multiprofessionell erbrachte medizinische Grundversorgung ins Zentrum, bei der die Generalistinnen und Generalisten ­ also die Hausärztinnen und -ärzte ­ weiterhin eine wesentliche Rolle spielen.

4.2

Auswirkungen der Initiative bei einer Annahme

4.2.1

Auswirkungen bei der Festlegung der Facharzttitel

Zentraler Gegenstand der Initiative ist die Hausarztmedizin. Dieser Begriff ist im Volksmund zwar geläufig. In der Fachwelt hingegen ist der Begriff, wie auch die Initiantinnen und Initianten eingestehen11, nicht klar definiert: Es gibt verschiedene Weiterbildungsgänge und -titel von unterschiedlicher Weiterbildungsdauer, die je 11

Vgl. www.jzh.ch > Initiative > Erläuterungen zur Volksinitiative, Ziff. 3.1

7564

nach Perspektive der Hausarztmedizin zugerechnet werden oder auch nicht. Bereits die Umschreibung, welche Titel zur Hausarztmedizin zu rechnen sind, wäre namentlich auch mit Blick auf die internationalen Verpflichtungen der Schweiz (vgl.

Ziff. 11) mit grossen Schwierigkeiten verbunden.

Zunehmend ist man in der Fachwelt der Überzeugung, dass eine mindestens fünfjährige Weiterbildung (mit Facharzttitel) notwendig sei, um die erforderliche Qualität in der Grundversorgung zu gewährleisten. Mit dieser nun im Erläuterungstext zur Initiative ausdrücklich verlangten Weiterbildungsdauer wären aber die praktischen Ärztinnen und Ärzte, die lediglich über eine dreijährige Weiterbildung verfügen und heute auch zu den ärztlichen Grundversorgerinnen und -versorgern gezählt werden, von der Gruppe der zur Hausarztmedizin gehörenden Fachgebiete ausgeschlossen.

Die Weiterbildung zur praktischen Ärztin oder zum praktischen Arzt führt gemäss Anhang 1 der Medizinalberufeverordnung vom 27. Juni 200712 (MedBV) aber zu einem eidgenössischen Weiterbildungstitel. Zudem ist dieser Weiterbildungstitel als anerkennbarer Weiterbildungstitel im Anhang III zum Abkommen vom 21. Juni 199913 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (Freizügigkeitsabkommen) enthalten. Ein entsprechender Ausschluss der praktischen Ärztinnen und Ärzte wäre somit nicht kompatibel mit den internationalen Verpflichtungen der Schweiz sowie dem einschlägigen EU-Recht.

Im Rahmen der Revision von Artikel 55a des Bundesgesetzes vom 18. März 199414 über die Krankenversicherung (KVG) wurde am 12. Juni 200915 beschlossen, die ärztlichen Grundversorgerinnen und -versorger von der Zulassungsbeschränkung auszunehmen. Der Gesetzgeber hat in der Folge den Begriff anhand der im KVG genannten Weiterbildungstitel umschrieben. Darunter fallen neben den Fachärztinnen und -ärzten für Kinder- und Jugendmedizin, Innere Medizin und Allgemeinmedizin auch die praktische Ärztin und der praktische Arzt.

Somit wird klar, dass bereits mit der Klärung des Begriffs der Hausarztmedizin im Sinne der von den Initiantinnen und Initianten erhobenen Forderungen erhebliche Schwierigkeiten verbunden wären.

4.2.2

Auswirkungen auf die Kompetenz- und Aufgabenverteilung

Die Initiative verpflichtet den Bund, Vorschriften in verschiedenen Bereichen zu erlassen (Aus- und Weiterbildung sowie klinische Forschung, gesicherter Zugang zum Beruf und Erleichterung der Berufsausübung, Erweiterung und angemessene Abgeltung der Leistungen der Hausarztmedizin, Anerkennung und Aufwertung der besonderen beratenden und koordinierenden Tätigkeiten für Patientinnen und Patienten sowie administrative Vereinfachungen und zeitgemässe Formen der Berufsausübung). Dabei ist primär an Revisionen bestehender gesetzlicher Regelungen, namentlich der Krankenversicherungs- und Unfallgesetzgebung sowie der Medizinalberufegesetzgebung, zu denken. Es sind damit aber auch einzelne Verän12 13 14 15

SR 811.112.0 SR 0.142.112.681 SR 832.10 AS 2009 5265

7565

derungen in der bisherigen Aufgaben- und Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen verbunden, namentlich bei den geforderten Vorschriften bezüglich der Hochschulinstitute und der universitären Lehre der Hausarztmedizin, im Bereich des gesicherten Zugangs zum Beruf sowie bei der Erleichterung der Berufsausübung.

Ebenso wären Veränderungen der bestehenden Aufgabenteilung zwischen Staat und privaten Akteuren die Folge, so etwa im Bereich der Leistungsabgeltung, wo der Bund in die Tarifautonomie eingreifen und allenfalls einzelne für die Hausärztinnen und -ärzte relevante neue Abrechnungspositionen im Einzelleistungskatalog Tarmed schaffen müsste (z.B. für einzelne neue diagnostische, therapeutische und präventive Leistungen sowie für beratende und koordinierende Tätigkeiten).

4.2.3

Auswirkungen auf das Versorgungssystem

Der von der Initiative vorgeschlagene Verfassungsartikel würde Bund und Kantone künftig in ihrer Flexibilität bei der Suche nach geeigneten zeitgemässen Versorgungsmodellen einschränken, weil der Zugang zum Gesundheitsversorgungssystem in der Regel über die Hausärztinnen und Hausärzte erfolgen müsste.

Die Annahme der Initiative hätte weiter einschneidende Auswirkungen auf die Möglichkeiten von Bund und Kantonen, den Bereich der Hausarztmedizin qualitativ oder quantitativ zu steuern. Sämtliche Formen der Zulassungsbeschränkung für Hausärztinnen und -ärzte wären dauerhaft unmöglich. Auch aus qualitativen, wirtschaftlichen und Effizienzgründen zweckmässige staatliche Eingriffe, die den Zugang oder die Berufsausübung der Hausärztinnen und -ärzte direkt oder mittelbar tangieren könnten, wären unzulässig. Bund und Kantonen würden in diesem Fall beispielsweise auch in Regionen, in denen eher ein Über- als ein Unterangebot an ärztlicher Grundversorgung vorherrscht, von Verfassung wegen sämtliche Steuerungsinstrumente genommen. Eine daraus allenfalls resultierende Mengenausweitung wäre mit entsprechenden dauerhaften finanziellen Auswirkungen verbunden.

Ebenso hätte die Erweiterung und die angemessene Abgeltung der Leistungen der Hausarztmedizin einschneidende dauerhafte finanzielle Folgen. Sofern diese Leistungen nicht kostenneutral (Umlagerung von anderen Leistungserbringern) abgegolten werden können, müssten die Mehrkosten entweder über Prämiengelder der Sozialversicherungen oder über Steuermittel von Bund und Kantonen gedeckt werden.

Die Erläuterungen zur Initiative verlangen die Förderung der Forschung im Bereich Hausarztmedizin im Rahmen eines Nationalen Forschungsprogrammes im Umfang von 5­10 Millionen Franken. Diese Mittel wären zusätzlich zu beschaffen, oder ein anderes Forschungsvorhaben in ähnlichem Umfang könnte dadurch nicht realisiert werden.

Aktuell verfügen zwar alle medizinischen Fakultäten über Institute für Hausarztmedizin, doch sind diese gemäss den Initiantinnen und Initianten zu schwach dotiert.

Zudem gibt es zwischen den Universitäten grosse Unterschiede. Deshalb hätten die Kantone, oder der Bund, da er nach Absatz 3 der Initiative entsprechende Vorschriften zu erlassen hätte, die Kosten für volle Ordinariate oder Lehrstühle für Hausarztmedizin an den Universitäten zu tragen.

Neben dem erwähnten Wegfall der Steuerungsmöglichkeiten der Versorgung würde sich die grundsätzliche Positionierung der Hausärztinnen und -ärzte als primäre 7566

«Gatekeeper» auf das gesamte Versorgungssystem, primär in der ambulanten Medizin, auswirken: Den Hausärztinnen und -ärzten würde sowohl gegenüber anderen Facharztgruppen (z.B. Kardiologinnen und Kardiologen, Orthopädinnen und Orthopäden, Psychiaterinnen und Psychiatern) als auch gegenüber anderen Fachpersonen der medizinischen Grundversorgung (z.B. Pflegefachpersonen, Apothekerinnen und Apothekern, Physiotherapeutinnen und -therapeuten, klinische Psychologinnen und Psychologen) eine bevorzugte Position eingeräumt.

In ländlichen wie in städtischen Regionen, in denen die Dichte der (Einzel-)Hausarztpraxen punktuell abnimmt, wäre die Sicherstellung des Zugangs zur medizinischen Grundversorgung ohne andere Fachpersonen in Zukunft kaum möglich.

Abgesehen davon würde durch diese Forderung der Initiative in gewisser Hinsicht die freie Arztwahl eingeschränkt. Die parlamentarischen Debatten der letzten Jahre (z.B. zur Vorlage Managed Care) haben indessen gezeigt, dass der freien Arztwahl allgemein hohe Bedeutung zugemessen wird.

Verschiedene Akteure (wie die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH)) gehen davon aus, dass die Erweiterung und die angemessene Abgeltung der Leistungen der Hausarztmedizin nicht kostenneutral erfolgen können. Somit wird das Versorgungssystem finanziell stärker belastet. Bezüglich der Leistungsabgeltung ist gemäss den Erläuterungen zur Initiative eine Verbesserung der Einkommenssituation zu erreichen (Tarifautonomie und Einzelleistungstarif für Hausarztmedizin). Dies hätte je nach Konkretisierung entsprechend hohe Kostenfolgen. Die Mehrkosten müssten namentlich durch Prämien- oder Steuererhöhungen an die Bevölkerung weitergegeben werden.

4.3

Vorzüge und Mängel der Initiative

4.3.1

Im Allgemeinen

Obwohl einige der Anliegen der Initiative, insbesondere im Zusammenhang mit dem sich abzeichnenden Strukturwandel in der medizinischen Grundversorgung (namentlich bei der Nachfolgesuche für Einzelpraxen), durchaus berechtigt erscheinen, ist die vorgeschlagene Verfassungsbestimmung nicht sinnvoll. Die Bestimmung ist inhaltlich sehr detailliert, teilweise aber trotzdem unklar (z.B. bezüglich Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen sowie in terminologischer Hinsicht) und redundant. Diese Umstände könnten zu einer laufenden Ausweitung des Forderungskataloges führen.

Weiter erscheint auf Verfassungsstufe die ausschliessliche Fokussierung auf die Hausärztinnen und -ärzte sehr problematisch. Dies stellt eine unerwünschte Ungleichbehandlung, beispielsweise gegenüber anderen Fachärztinnen und -ärzten sowie anderen Fachpersonen der medizinischen Grundversorgung dar, bei denen sich im Übrigen teilweise ebenfalls ein Mangel abzuzeichnen beginnt. Zudem sind die Forderungen der Initiative, wonach gleichzeitig eine fachlich umfassende und qualitativ hochstehende medizinische Versorgung durch Hausärztinnen und Hausärzte erfolgen soll (vgl. Abs. 1), in sich widersprüchlich: die Hausarztmedizin vermag nicht sämtliche Erkrankungen und Fragen (z.B. psychische Erkrankungen, Gesundheitserziehung und Prävention, Zahnmedizin) adäquat zu behandeln. Eine Einschränkung auf ein einzelnes Versorgungsmodell ­ nämlich das Hausarztmodell ­ würde weder den unterschiedlichen regionalen Bedingungen noch den vielfältigen 7567

Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten gerecht werden. Deshalb sollte in Zukunft verstärkt auf eine integrierte Versorgung hingearbeitet werden, in der zur Beratung, Triage und Behandlung der Patientinnen und Patienten auch andere Fachpersonen der medizinischen Grundversorgung einbezogen werden. Zu denken ist dabei an Apothekerinnen und Apotheker, Chiropraktorinnen und Chiropraktoren, weitere ärztliche Fachpersonen (z.B. in der telemedizinischen Beratung), Pflegefachpersonen oder Personen weiterer therapeutischer Berufe. Ebenso ist die in den Initiativunterlagen wiederholt hervorgehobene wichtige Rolle der Medizinischen Praxisassistentinnen und -assistenten (MPA) unbestritten. Gleichzeitig können ihnen nicht sämtliche Aufgaben übertragen werden, vor allem bei Patientinnen und Patienten mit komplexen Mehrfacherkrankungen. Hierfür sind andere, spezifisch ausgebildete Fachpersonen (z.B. der Pflege) beizuziehen.

4.3.2

Situation der Hausärztinnen und -ärzte heute

Gestützt auf den Bericht vom 16. September 2011 in Erfüllung der Motion 08.3608 Fehr Jacqueline vom 2. Oktober 2008 («Strategie gegen den Ärztemangel und zur Förderung der Hausarztmedizin») können folgende Aussagen gemacht werden: Einleitend ist festzustellen, dass die Schweiz im OECD-Ländervergleich eine der höchsten Ärztedichten aufweist. Die Zahl der Ärztinnen und Ärzte nimmt vor allem aufgrund der Zuwanderung aus den umliegenden Ländern seit Jahren stetig zu.

Diese Aussage trifft auch auf die ärztlichen Grundversorgerinnen und -versorger zu, deren Zahl von Jahr zu Jahr gestiegen ist. Dieser Befund widerspricht der heute weit verbreiteten Meinung, wonach schon heute ein Mangel an Hausärztinnen und -ärzten bestehe. Problematisch ist hingegen die unterschiedliche Verteilung, die in einigen Regionen zu einer angespannteren Situation geführt hat.

Im Jahr 2010 weist die Ärztestatistik der FMH16 insgesamt 30 273 Ärztinnen und Ärzte auf: 16 087 davon sind Ärztinnen und Ärzte mit Praxistätigkeit. Darunter werden 7693 oder 48 Prozent aufgrund ihres Fachgebietes der ärztlichen Grundversorgung17 zugerechnet. Der Anteil der ärztlichen Grundversorgerinnen und -versorger mit Praxistätigkeit ist damit weitgehend stabil geblieben. Ungünstig ist dagegen die Altersverteilung der ärztlichen Grundversorgerinnen und -versorger, die in den kommenden fünf bis zehn Jahren zu einem vorübergehenden Mehrbedarf führen wird. Bei den Männern, die mit 70 Prozent (noch) deutlich in der Mehrzahl sind, ist die Einzelpraxis mit 67 Prozent noch immer die am häufigsten vorherrschende Praxisform (im Vergleich dazu arbeiten rund 53 % der Frauen in Einzelpraxen).

Deshalb wird die Aufgabe der Berufstätigkeit vor allem Einzelpraxen betreffen.

Ein stabiles Bild in Bezug auf den Anteil der ärztlichen Grundversorgung ergibt sich auch dann, wenn man die Zahl der neu erteilten eidgenössischen Weiterbildungstitel betrachtet. Werden aber zusätzlich diejenigen Ärztinnen und Ärzte hinzugerechnet, die mit bereits abgeschlossener Weiterbildung in die Schweiz kommen und ihren Weiterbildungstitel anerkennen lassen, dann nimmt der prozentuale Anteil der ärzt16

17

Die FMH verfügt nicht über eine vollständige Erfassung der stationär tätigen Ärztinnen und Ärzte, weshalb die tatsächliche Zahl der in der Schweiz beschäftigten Ärztinnen und Ärzte deutlich höher liegen dürfte.

Diese Ärztinnen und Ärzte verfügen entweder über einen Weiterbildungstitel in Allgemeinmedizin, Innerer Medizin, Kinder- und Jugendmedizin, praktische Ärztin/praktischer Arzt, weiter wurden 659 Ärztinnen und Ärzte ohne Hauptfachgebiet dazu gerechnet.

7568

lichen Grundversorgerinnen und -versorger ab. In absoluten Zahlen ist die Gruppe der ärztlichen Grundversorgerinnen und -versorger18 aber trotzdem stetig gewachsen. Noch ausgeprägter ist das Wachstum jedoch bei den Spezialistinnen und Spezialisten. Möglich ist dies, weil inzwischen über die Hälfte der verfügbaren Ärztinnen und Ärzten ihre Ausbildung im Ausland absolviert hat. Es erstaunt deshalb nicht, dass 44 Prozent der 2010 von den Kantonen erteilten Berufsausübungsbewilligungen an Ärztinnen und Ärzte gingen, die im Ausland ausgebildet wurden.

2010 erhielten 405 ärztliche Grundversorgerinnen und -versorger neu eine Berufsausübungsbewilligung. Dies bedeutet eine Steigerung um 39 Prozent gegenüber 2009.19 Der Anteil der im Ausland Ausgebildeten liegt bei den ärztlichen Grundversorgerinnen und -versorgern leicht tiefer als bei den Spezialistinnen und Spezialisten. Einschränkend muss hier erwähnt werden, dass Bewilligungserteilungen allein keine abschliessenden Aussagen darüber erlauben, wie viele dieser Ärztinnen und Ärzte tatsächlich als «Hausärztinnen und -ärzte» aktiv sind oder aktiv werden, und in welchem Umfang. Trotz der eingeschränkten Aussagekraft dieser Zahlen weisen sie auf ein deutliches Wachstum hin.

Die ärztliche Grundversorgung kann also aufgrund der aktuellen Ausbildungskapazitäten nur dank hoher Zuwanderung ausländischer Ärztinnen und Ärzte gesichert werden. In noch stärkerem Ausmass trifft diese Aussage auf die Spezialistinnen und Spezialisten zu.

Die verfügbaren Zahlen zeigen, dass die (punktuellen) Nachfolgeprobleme bei Hausarztpraxen nicht durch einen quantitativen Mangel an angehenden Hausärztinnen und -ärzten verursacht werden. Aufgrund der neu erteilten eidgenössischen Weiterbildungstitel lässt sich kein grundsätzlicher Attraktivitätsverlust dieser Fachgebiete feststellen. Vielmehr haben sich die Berufsvorstellungen generell verändert.

Diese passen immer weniger zum traditionellen Berufsmodell der Hausarztmedizin (Einzelpraxis). Es ist daher fraglich, ob allein mit einer finanziellen Besserstellung auch in dezentralen Regionen sachgerechte, nachhaltige Lösungen gefunden werden können. Bereits heute verdienen Hausärztinnen und -ärzte in ländlichen Regionen deutlich mehr als in Zentrumsregionen.20 Das Nachfolgeproblem der Einzelpraxis, insbesondere in abgelegenen Gebieten,
dürfte somit auch bei Annahme der Initiative nicht einfach zu lösen sein.

Der für die nächsten Jahre prognostizierte Nachfrageüberhang nach medizinischen Leistungen aufgrund der ungünstigen Altersverteilung der ärztlichen Grundversorgerinnen und Grundversorger einerseits sowie aufgrund der Alterung der Gesellschaft andererseits betrifft nicht nur die Hausärztinnen und Hausärzte, sondern wirkt sich auch auf andere Bereiche der medizinischen Grundversorgung aus. Namentlich im Bereich der Pflege (spitalintern wie -extern) ist die Personalsituation bereits heute angespannt und für die nächsten zehn Jahre wird ein erheblicher Mangel an qualifiziertem Personal prognostiziert.21 18 19

20 21

Die verfügbaren Ärztinnen und Ärzte wurden exemplarisch gemessen an den zwischen 2005­2010 erteilten eidgenössischen und anerkannten Weiterbildungstiteln.

Dieser Anstieg dürfte zumindest teilweise auf die per 1.1.2010 erfolgte Aufhebung des Zulassungsstopps für die Grundversorgerinnen und Grundversorger gemäss Artikel 55a KVG zurückzuführen ist.

Hasler, N.; Reichert, M. (2008): Einkommensverhältnisse der freien Ärzteschaft der Schweiz in den Jahren 2005 (neu) und 2004 (Re-Evaluation).

Schweiz. Gesundheitsobservatorium: Personnel de santé en Suisse ­ Etat des lieux et perspectives jusqu'en 2020. Neuenburg 2009.

7569

Das Grundproblem besteht somit darin, dass die Schweiz generell zu wenige Gesundheitsfachpersonen ausbildet, um das bestehende Angebot mit hier ausgebildeten Fachkräften aufrechtzuerhalten. Die Abhängigkeit von im Ausland ausgebildeten Fachkräften sollte vor allem aus Gründen der Fairness gegenüber anderen Ländern, aber auch aus der Perspektive der Versorgungssicherheit reduziert werden.

Indirekt trägt die Schweiz mit ihrer Rekrutierungspolitik in den umliegenden Ländern dazu bei, dass sich die Situation in Ländern mit bereits heute prekärer Gesundheitsversorgung weiter verschlechtert («Dominoeffekt», «Brain Drain»).

Diese Ausführungen zeigen, dass die Initiative insgesamt keine adäquaten Antworten auf die aktuellen Problembereiche bereithält und namentlich zu einseitig auf die Besserstellung ausschliesslich der Hausärztinnen und Hausärzte ausgerichtet ist.

Notwendig ist hingegen eine Flexibilität bei der nachhaltigen Weiterentwicklung des heutigen Leistungsangebots hin zu einer besser koordinierten medizinischen Grundversorgung, die bedarfsgerecht, von hoher Qualität und gleichzeitig kosteneffizient ist. Eine solche kann nur unter Einbezug aller in der medizinischen Grundversorgung tätigen Fachpersonen zum Nutzen der Patientinnen und Patienten sichergestellt werden.

4.3.3

Zu weit gehende Ziele und Forderungen der Initiative

Die Forderungen der Initiative gehen in folgenden Bereichen zu weit: Aus- und Weiterbildung Die Forderung nach universitären Instituten und voll ausgerüsteten Ordinariaten für Hausarztmedizin greift viel zu sehr in die kantonalen Kompetenzen und die Hochschulautonomie ein. Eine die kantonalen Kompetenzen überlagernde, lediglich auf eine Berufsausrichtung beschränkte Bundeskompetenz ist daher zu vermeiden.

Im Bereich der Weiterbildung ist es die Berufsorganisation der Humanmedizin (FMH bzw. Schweizerisches Institut für Weiter- und Fortbildung), die im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben die einzelnen Inhalte der Weiterbildungsgänge definiert und sie dem Eidgenössischen Departement des Innern (EDI) zur Akkreditierung vorlegt. Mit der Initiative könnte gefordert werden, dass das angestrebte Curriculum «Hausarzt» für den Fall, dass es nicht in der gewünschten Form (vgl. Ziff. 3.4) vorgelegt wird, detailliert vom Bund vorgegeben wird. Es besteht jedoch kein Anlass, hier solche Vorschriften zu erlassen und von der bewährten Aufgabenteilung zwischen Bund und privaten Akteuren in der Weiterbildung abzuweichen.

Forschung Im Rahmen der Nationalen Forschungsprogramme können sich die hausarztmedizinischen Institute unter den gleichen Voraussetzungen, wie sie für alle anderen Disziplinen gelten, bewerben. Dem Bund kommt heute bewusst keine direkte Einflussmöglichkeit auf die Vergabe dieser Forschungsprogramme zu. Es wäre vor dem Hintergrund des Gleichbehandlungsgebots und der Forschungsfreiheit vielmehr hoch problematisch, wenn der Bund einseitig Vorschriften oder Vorgaben zugunsten der Hausarztmedizin erlassen würde.

7570

Gesicherter Zugang zum Beruf Einerseits wäre es unter Berücksichtigung der Wirtschaftsfreiheit und des Gleichbehandlungsgebotes stossend, wenn der Bund einzig die Hausärztinnen und -ärzte im geforderten Sinne begünstigen würde. Andererseits ist es nicht ersichtlich, wie der Bund ganz allgemein den Berufszugang einer Berufsgattung umfassend sicherstellen könnte. Die offene Formulierung dieser Forderung könnte auch Schwierigkeiten bei der Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen aufwerfen.

Zudem würden Bund und Kantone jeglicher Steuerungsmöglichkeit enthoben. So wären sämtliche Formen der Zulassungsbeschränkung für Hausärztinnen und -ärzte dauerhaft unmöglich, auch wenn eher ein Über- als ein Unterangebot an ärztlicher Grundversorgung gegeben ist. Eine daraus allenfalls resultierende Mengenausweitung wäre mit entsprechenden dauerhaften finanziellen Auswirkungen verbunden.

Administrative Vereinfachungen und zeitgemässe Formen der Berufsausübung Die Suche nach Vereinfachungen in der Administration und deren Einführung ist eine ständige Aufgabe; gerade im Bereich der Wirtschaftlichkeitsprüfungen sollen die beteiligten Parteien gemeinsam nach entsprechenden Lösungen suchen (vgl.

parlamentarische Initiativen Heim (07.483), Meyer-Kälin (07.484) und Cassis (07.485) («Stärkung der Hausarztmedizin») sowie Ziff. 8). Grundsätzlich ist die sachgerechte Dokumentation der ärztlichen Tätigkeit mit Blick auf die Koordination der Leistungsabrechnung durch die Sozialversicherungen aber notwendig und zu akzeptieren, soweit der damit verbundene Anteil der Administration mit demjenigen für andere kleine Betriebe anderer Branchen vergleichbar ist. Gerade der von der Initiative geforderte staatliche Eingriff in die privatwirtschaftliche Gestaltungsfreiheit bei der Schaffung zeitgemässer Formen der Berufsausübung birgt jedoch die Gefahr der Überregulierung und mithin eines Anstiegs des administrativen Aufwands. Dies würde zu einem Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit führen und die Eigeninitiative womöglich behindern.

5

Schlussfolgerungen

Die Hausarztmedizin ist auch nach Auffassung des Bundesrates ein wichtiger Pfeiler der medizinischen Grundversorgung. Verschiedene auch aus der Sicht des Bundesrates berechtigte Forderungen der Initiative wurden deshalb auf Gesetzes- und Verordnungsebene bereits eingelöst; zu anderen Forderungen wurden Massnahmen eingeleitet oder sind vorgesehen (vgl. Ziff. 8). Zudem sind die Hausärztinnen und -ärzte bereits heute in diversen Arbeitsgruppen und Plattformen von Bund und Kantonen integriert. So wurde im Rahmen des Dialogs Nationale Gesundheitspolitik zwischen Bund und Kantonen 2006 einerseits die Arbeitsgruppe «Neue Versorgungsmodelle für die medizinische Grundversorgung», andererseits das «Forum Ärztliche Grundversorgung» geschaffen. Zudem sind die Hausärztinnen und -ärzte auch zur Teilnahme in der Arbeitsgruppe «Interprofessionalität» im Rahmen der Plattform «Zukunft ärztliche Bildung» eingeladen. In derselben Plattform, aber im Rahmen der Arbeitsgruppe «Finanzierung der ärztlichen Weiterbildung», wird unter anderem eine Lösung für die Finanzierung der Praxisassistenz (Weiterbildung in der Arztpraxis) gesucht. Schliesslich finden mehrmals jährlich Treffen zwischen dem 7571

Direktor des Bundesamts für Gesundheit (BAG) und Vertreterinnen und Vertretern der Hausarztmedizin statt. Die Hausärztinnen und -ärzte werden zudem regelmässig einbezogen, wenn sie von Aktivitäten des Bundes inhaltlich betroffen sind (z.B.

Grippeimpfungen, Präventionsprogramme).

Der Bundesrat geht aber mit den Initiantinnen und Initianten einig, dass weitere Anstrengungen zur Gewährleistung einer allen zugänglichen medizinischen Grundversorgung von hoher Qualität notwendig sind. Die Initiative ist jedoch, wie dargestellt, in verschiedener Hinsicht ungeeignet, die anstehenden Probleme zielführend zu lösen.

So würde mit der Initiative die Hausarztmedizin ins Zentrum gestellt und als einzige Berufsgruppe der Grundversorgung in der Verfassung erwähnt. Dies ist nicht nur aus dem Blickwinkel des Gleichbehandlungsgebotes bedenklich. Auch weisen die Entwicklungstendenzen klar in Richtung einer koordinierten medizinischen Grundversorgung, worin die Hausarztmedizin sicherlich eine zentrale Stellung hat, die aber heute schon von verschiedenen anderen ärztlichen und auch von nicht ärztlichen Fachpersonen sichergestellt wird. Die Nachwuchsproblematik, insbesondere in Randregionen, besteht zudem nicht nur bei den Hausärztinnen und -ärzten. Tatsächlich werden heute in der Schweiz nicht nur zu wenig Hausärztinnen und -ärzte, sondern auch nicht genügend Ärztinnen und Ärzte anderer Fachrichtungen sowie Gesundheitsfachpersonen anderer Berufsgruppen, zum Beispiel Pflegepersonal, ausgebildet (vgl. Ziff. 4.3.2).

Des Weiteren sind der hohe Detaillierungsgrad der Initiative und die gleichzeitige Unklarheit der Formulierungen problematisch. So werden im Verfassungstext verschiedene Begriffe im Kontext mit der Hausarztmedizin verwendet, ohne dass sie klar definiert werden. Wie dargestellt (vgl. Ziff. 4.2.1) und auch von den Initiantinnen und Initianten eingeräumt22, ist etwa bereits der Begriff der Hausarztmedizin unklar. Eine unpräzise Terminologie ist auch in den Absätzen 1 und 2 ersichtlich: es ist unklar, ob die gesamte «medizinische Versorgung» durch die Hausarztmedizin erbracht werden soll (Abs. 1) oder letztere nur ein «wesentlicher Bestandteil der Grundversorgung» darstellt (Abs. 2). Daneben werden mehrere unbestimmte Rechtsbegriffe benutzt, zum Beispiel «in der Regel erste Anlaufstelle», oder «gesicherter Zugang
zum Beruf». Die Befürchtung, dass sich daraus immer wieder neue Forderungen ableiten lassen, manifestiert sich bereits im parallel zur Initiative ausgearbeiteten und während der Vernehmlassung zum direkten Gegenentwurf angepassten Forderungskatalog der Initiantinnen und Initianten. Gewisse verfassungsmässige Verpflichtungen, die sich aus dem Initiativtext für den Bund ergeben, sind sowohl aus rechtlichen als auch aus staatspolitischen Gründen problematisch (z.B.

der gesicherte Zugang zum Beruf). Schliesslich ergeben sich aus der unklaren oder unbestimmten Terminologie Schwierigkeiten bei der Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Kantonen: so bleibt letztlich unklar, welche Kompetenzen dem Bund nach Absatz 4 von Verfassung wegen zukommen (z.B. bezüglich der gestellten Forderungen bei der Schaffung und Ausstattung universitärer Institute der Hausarztmedizin, oder bei der Neuorganisation der Notfalldienste). Im Rahmen der Vernehmlassung zum direkten Gegenentwurf hat sich überdies gezeigt, dass sich die Kantone vehement gegen Kompetenzverschiebungen hin zum Bund aussprechen, insbesondere wenn damit nicht auch die Übernahme der finanziellen Belastungen einhergeht (vgl. Ziff. 6.2).

22

Vgl. www.jzh.ch > Initiative > Erläuterungen zur Volksinitiative, Ziff. 3

7572

Die Kostenfolgen bei einer Annahme der Initiative sind schwer abschätzbar: Es hängt davon ab, ob die Erweiterung der Leistungen der Hausarztmedizin und deren angemessene Abgeltung durch Umlagerung zu Lasten der Spezialistinnen und Spezialisten finanziert würden oder ob sie durch Prämien- oder Steuererhöhungen kompensiert werden müssen. Hinzu kommen die Mittel, die für die spezifische Forschungsförderung zugunsten der Hausarztmedizin sowie die Finanzierung der geforderten universitären Infrastrukturen bereitzustellen wären.

Mit dem gesicherten Zugang zum Beruf, der in den Erläuterungen zur Initiative als dauerhafte Aufhebung sämtlicher Zulassungsbeschränkungen im Sinne von Artikel 55a KVG (Zulassungsstopp) und den Verzicht auf jegliche Bedürfnisklauseln verstanden wird, wären sämtliche Steuerungsmöglichkeiten im Falle einer generellen oder auf einzelne Regionen beschränkten Überversorgung ausgeschlossen. Eine solche verfassungsrechtliche Vorgabe geht aus Sicht des Bundesrates zu weit beziehungsweise ist nicht zielführend. Auch andere Forderungen der Initiative sind ­ wie oben dargestellt ­ mit unabsehbaren Folgen verbunden.

Umgekehrt wurden verschiedene berechtigte Anliegen bereits erfüllt oder werden aktuell umgesetzt: Im Entwurf zur Revision des Medizinalberufegesetz vom 23. Juni 200623 (MedBG) wurde auf die Wichtigkeit einer qualifizierten Generalistenweiterbildung, wie sie heute schon durch den neuen Weiterbildungstitel «Allgemeine Innere Medizin» sichergestellt ist, eingegangen. Zudem befassen sich Bund und Kantone, wie oben erwähnt, bereits seit 2006 im Rahmen gemeinsamer Arbeitsgruppen intensiv mit den Problemen und Perspektiven der Hausarztmedizin. Der Bund hat ausserdem verschiedene Projekte der Hausärztinnen und -ärzte im Rahmen der Ressortforschung unterstützt und die Vernetzung mit anderen Bundes- und kantonalen Stellen ermöglicht. Auch im Bereich der Abgeltung werden die Auswirkungen von Massnahmen spezifisch auf die Grundversorgerinnen und Grundversorger beobachtet und evaluiert (vgl. Monitoring Analysenliste, Ziff. 8).

Aus all diesen Gründen lehnt der Bundesrat die Initiative ab.

6

Direkter Gegenentwurf: Grundzüge der Vorlage

6.1

Einleitung

Mit dem direkten Gegenentwurf soll zukunftsgerichtet die medizinische Grundversorgung, innerhalb deren der Hausarztmedizin eine wichtige Rolle zukommt, verfassungsrechtlich verankert werden. Er stellt im Gegensatz zur Initiative eine für alle zugängliche medizinische Grundversorgung von hoher Qualität in den Mittelpunkt.

Bund und Kantone werden entsprechend in die Pflicht genommen, sich für diese Grundversorgung einzusetzen. Der direkte Gegenentwurf gibt damit eine umfassendere und gezieltere Antwort auf die bestehende und sich abzeichnende Problemlage.

Er verzichtet demgegenüber aber weitgehend auf eine Neuordnung der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen in der Gesundheitsversorgung und auf interventionistische Massnahmen. Bestehende Bundeskompetenzen werden lediglich im Bereich der Aus- und Weiterbildung sowie der Berufsausübung vervollständigt.

Zudem sollen Massnahmen des Bundes zur Gewährleistung der Qualität der Leistungen möglich werden (vgl. Abs 3, Bst. b).

23

SR 811.11

7573

6.2

Ergebnisse der Vernehmlassung

Im Rahmen der Vernehmlassung sind 115 Stellungnahmen eingegangen. Eine ausführliche Darstellung der Stellungnahmen findet sich im Vernehmlassungsbericht.24 Es haben 25 Kantone, die GDK, 7 der 13 angeschriebenen Parteien, 2 gesamtschweizerische Dachverbände der Gemeinden, Städte und Berggebiete Stellung genommen und von den 8 angeschriebenen gesamtschweizerischen Dachverbänden der Wirtschaft 5 geantwortet. Von den 10 interkantonalen Organisationen, die begrüsst wurden, haben 7 Stellung genommen. Seitens der Ärzteschaft gingen insgesamt 26 Stellungnahmen ein, davon 11 der Haus- und Kinderärzteschaft.

Rückmeldungen erfolgten auch seitens der Verbände und Vereinigungen anderer Gesundheitsberufe (11 Stellungnahmen) sowie von Vertreterinnen und Vertretern sowie Institutionen aus dem Bildungsbereich (13 Stellungnahmen). Zudem sind 11 Stellungnahmen aus den Bereichen Patienten- und Konsumentenschutz, Gesundheitsförderung, Seniorenverbände eingegangen. Stellung genommen haben zudem die Spitalverbände, die Pharmaindustrie sowie die Versicherungen und deren Verbände (7 Stellungnahmen).

22 Stellungnahmen waren klar zustimmend, während 46 Stellungnahmen einen direkten Gegenentwurf befürworteten, aber grundlegende Anpassungen verlangten.

47 Stellungnahmen lehnten einen direkten Gegenentwurf ab. 5 Stellungnahmen sprachen sich für eine Lösung mit Massnahmen aus, die durch eine Anpassung des geltenden Rechts erfolgen soll (indirekter Gegenvorschlag).

Bei den Kantonen sprachen sich 17 für einen angepassten direkten Gegenentwurf aus. Dabei lehnten sich diese mehrheitlich an die Musterstellungnahme der GDK an.

Diese kritisiert den in die Vernehmlassung geschickten direkten Gegenentwurf, weil er sich nicht nur auf die ambulante Grundversorgung beschränke und die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen zum Teil neu regle. Zudem sei der Begriff der Grundversorgung zu wenig klar definiert, die Interventionsvoraussetzungen des Bundes seien nicht genügend beschrieben und die Frage der fiskalischen Äquivalenz (Übereinstimmung der Steuerungskompetenz mit der Finanzierung) sei nicht geklärt. 8 Kantone sprachen sich für eine klare Ablehnung aus und 2 Kantone bevorzugten einen indirekten Gegenvorschlag.

Seitens der Ärzteschaft würdigt die FMH den Entscheid des Bundesrates, der Initiative einen direkten Gegenentwurf
gegenüberzustellen und damit ein Zeichen für die Verbesserung der Hausarztmedizin zu setzen. Auch zeigt die FMH ein gewisses Verständnis für die vorgeschlagene Ausweitung der Verfassungsbestimmung auf die medizinische Grundversorgung, erachtet aber den Vernehmlassungsentwurf inhaltlich insgesamt als nicht zielführend. In ähnlicher Weise äussert sich auch die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW).

Demgegenüber lehnten die verschiedenen nationalen und kantonalen Vereinigungen der Haus- und Kinderärztinnen und -ärzte den Vernehmlassungsentwurf entschieden ab. Ebenso nahmen die meisten kantonalen Ärztegesellschaften wie auch die Konferenz der kantonalen Ärztegesellschaft eine ablehnende Haltung ein. Abgelehnt wurde der Entwurf mit dem Argument, dass die Forderungen der Initiative zur Lösung der Probleme der Hausärztinnen und Hausärzte ungenügend aufgenommen 24

www.admin.ch/ch/d/gg/pc/ind2011.html#EDI

7574

wurden. Insbesondere monierten die Hausärzte Schweiz, dass der Bundesrat die Volksinitiative zum Anlass genommen habe, einen Grundlagenartikel über die medizinische Grundversorgung zu verankern, ohne damit zu einer Lösung der anstehenden Probleme in der Hausarztmedizin beizutragen. Der Vernehmlassungsentwurf wurde von verschiedener Seite als etatistisch und dirigistisch bezeichnet.

Abgelehnt wurde der direkte Gegenentwurf auch von der Christlichen Volkspartei (CVP), der Grünen Partei, der Christlich-sozialen Partei (CSP) und der Sozialdemokratischen Partei (SP). Die Schweizerische Volkspartei (SVP) und die FDP-Die Liberalen (FDP) lehnten sowohl die Initiative als auch den direkten Gegenentwurf ab. Einzig die Grünliberale Partei (GLP) sprach dem direkten Gegenentwurf das Potenzial einer Alternative zur Volksinitiative zu.

Diejenigen Vernehmlassungsteilnehmenden, die dem direkten Gegenentwurf zustimmten (z.B. nicht ärztliche Berufsgruppen, Spitäler, die Mehrheit der Versicherer, Teile der Bildungsinstitutionen), begrüssten vor allem, dass der direkte Gegenentwurf die Zielsetzung verfolge, eine umfassende, vernetzte, allen zugängliche, interdisziplinär erbrachte medizinische Grundversorgung von hoher Qualität sicherzustellen. Diese Stossrichtung wurde als innovativ und ganzheitlich begrüsst. Sie stelle das Interesse der Patientinnen und Patienten ins Zentrum und befürworte eine vernetzte medizinische Grundversorgung, die über die Grenzen der ambulanten Medizin hinaus gehe. Es wurde namentlich klar abgelehnt, einer einzelnen Berufsgruppe ­ den Hausärztinnen und Hausärzte ­ auf Verfassungsebene eine Sonderstellung einzuräumen.

Angesichts der Kritik an bestimmten Elementen des Vernehmlassungsentwurfs wird den eidgenössischen Räten ein Gegenentwurf vorgelegt, der keine subsidiären Kompetenzen zugunsten des Bundes mehr enthält. Nach wie vor wird jedoch an der grundsätzlichen Stossrichtung zugunsten einer nicht ausschliesslich von einer ärztlichen Berufsgruppe ­ den Hausärztinnen und -ärzten ­ erbrachten Grundversorgung festgehalten, wie dies von der Mehrheit der Kantone sowie zahlreichen weiteren Vernehmlassungsteilnehmenden begrüsst wurde. Der nachfolgende Entwurf beschränkt sich somit auf die aus Versorgungssicht notwendigen Massnahmen in Ergänzung der bestehenden Regelungen und Zuständigkeiten.

6.3

Wortlaut

Der direkte Gegenentwurf zur Volksinitiative «Ja zur Hausarztmedizin» lautet wie folgt: Art. 117a BV

Medizinische Grundversorgung

Bund und Kantone setzen sich im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für eine allen zugängliche medizinische Grundversorgung von hoher Qualität ein. Sie anerkennen und fördern die Hausarztmedizin als einen wesentlichen Bestandteil dieser Grundversorgung.

1

Der Bund erlässt Vorschriften über die Aus- und Weiterbildung für Berufe der medizinischen Grundversorgung und über die Anforderungen zur Ausübung dieser Berufe.

2

7575

3

Er kann: a.

sich an der Erarbeitung von Grundlagen zur Weiterentwicklung und Koordination der medizinischen Grundversorgung beteiligen;

b.

Massnahmen zur Gewährleistung der Qualität der Leistungen treffen.

6.4

Systematische Einordnung

Eine Eingliederung der hier vorgeschlagenen Verfassungsbestimmung zur medizinischen Grundversorgung innerhalb der den Schutz von Gesundheit und Persönlichkeit des Menschen bezweckenden Kompetenznormen (Art. 118­119a BV25) erscheint nicht sinnvoll.26 Die neue Verfassungsbestimmung soll diesen Bestimmungen deshalb als Artikel 117a BV vorangestellt werden. Damit wird auch die Verbindung von Artikel 117 BV zu den anderen Bestimmungen der sozialen Sicherheit gewahrt.

7

Erläuterungen zum direkten Gegenentwurf

Der direkte Gegenentwurf soll eine für alle zugängliche medizinische Grundversorgung von hoher Qualität gewährleisten. Angesichts der demografischen Veränderungen und der damit verbundenen Herausforderungen für das Gesundheitssystem (mehr chronisch oder mehrfach Erkrankte) muss in Zukunft eine Weiterentwicklung des Gesundheitswesens in Richtung neue integrierte und interprofessionelle Versorgungsformen stattfinden. Ein wesentliches Element dazu ist die enge Zusammenarbeit der verschiedenen Gesundheitsberufe. Deswegen ist eine gut aufeinander abgestimmte Reglementierung der Aus- und Weiterbildung aller Gesundheitsberufe der medizinischen Grundversorgung wichtig. Schliesslich führen gesamtschweizerische Anforderungen für die Berufsausübung zu einer sinnvollen Vereinheitlichung im Sinne des Binnenmarktgesetzes vom 6. Oktober 199527 und damit zur Erleichterung der kantonalen Aufsichts- und Vollzugsaufgaben im Bereich der Gesundheitsberufe.

Der Bund soll die verschiedenen Akteure auch bei der Weiterentwicklung und Koordination der medizinischen Grundversorgung unterstützen können. Zusätzlich kann der Bund geeignete Massnahmen zur Qualitätssicherung der Leistungen treffen.

Abs. 1 Die Verfassungsnorm wird mit einer programmatischen Bestimmung eingeleitet, die an der Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen zu keinerlei Änderungen führt. Absatz 1 enthält einen allgemeinen Handlungsauftrag an die staatlichen Akteure, verpflichtet diese aber nicht auf ein Ergebnis, aus dem einzelne Berufsgruppen einen direkten Anspruch auf staatliches Handeln ableiten können. Im Gegensatz zur Initiative stellt die Bestimmung nicht die Interessen einer Berufs25 26

27

Einzig Art. 118a (Komplementärmedizin) bezweckt primär nicht den Gesundheits- und Persönlichkeitsschutz.

Die Volksinitiative verlangt die Einführung der Bestimmung als 118b in die Bundesverfassung. Am 7. März 2010 ist an dieser Stelle Art. 118b (Forschung am Menschen) in Kraft getreten.

SR 943.02

7576

gruppe, sondern die Bedürfnisse der Bevölkerung im Bereich der medizinischen Grundversorgung ins Zentrum, für die sich die jeweiligen Gemeinwesen im Rahmen ihrer Aufgaben einzusetzen haben. Die Umschreibung der medizinischen Grundversorgung orientiert sich am üblichen Bedarf der Bevölkerung an grundlegenden präventiven, kurativen, rehabilitativen und palliativen medizinischen Gütern und Dienstleistungen. Die Leistungen der medizinischen Grundversorgung werden nicht von einer einzelnen Berufsgruppe, sondern von verschiedenen Fachpersonen und Institutionen erbracht. Für die Umschreibung der Grundversorgung ist massgebend, dass deren grundlegende Leistungen erfahrungsgemäss regelmässig von der breiten Bevölkerung oder den einzelnen Bevölkerungsgruppen potenziell oder effektiv beansprucht werden und dies auch zukünftig der Fall sein wird. Die Verwendung und Umschreibung des Begriffs Grundversorgung erfolgt denn auch in Anlehnung an dessen bisherigen Gebrauch in der BV28 und in Bundesgesetzen.29 Er lässt sich zudem einerseits abgrenzen von der Versorgung im Rahmen des Rechts auf Nothilfe (Art. 12 BV): Leistungen der medizinischen Grundversorgung gehen über die jeder Person aufgrund einer Notlage, nur auf die konkreten Umstände des Einzelfalls zugeschnittene minimale Hilfe in medizinischer Hinsicht hinaus. Umgekehrt umfasst die medizinische Grundversorgung nicht sämtliche Leistungen der Gesundheitsversorgung. So gehören insbesondere nur vereinzelt beanspruchte Leistungen (z.B.

Behandlung von sehr selten auftretenden Krankheiten) oder Leistungen, die aus anderen Gründen (z.B. Verfügbarkeit von auf einzelne Krankheitsbilder gerichtetem Spezialwissen der Leistungserbringer, Qualitätserfordernisse, hohe technische Anforderungen oder finanzielle Auswirkungen) lediglich in konzentrierter Form angeboten werden können, nicht zu den Leistungen der medizinischen Grundversorgung. Dieses spezialisierte Angebot ist für die Gesundheitspflege notwendig, wird aber auf Basis von Artikel 41 BV angestrebt (vgl. auch Ziff. 9.6). Dadurch dass im vorliegenden Artikel einzig die medizinische Grundversorgung angesprochen wird, wird die Bedeutung der Gesundheitsversorgung als ganzer nicht gemindert.

Allen zugänglich ist die Grundversorgung dann, wenn die entsprechenden Leistungen der gesamten Bevölkerung in allen Landesgegenden
innert nützlicher Frist erreichbar angeboten werden können. Die Vorgabe schliesst somit sowohl die geografische als auch die finanzielle und die soziale Dimension ein: sie hat Auswirkungen etwa in Bezug auf zentrumsferne Regionen oder aber auch auf Bevölkerungsgruppen, die aufgrund altersbedingter oder gesundheitlicher Einschränkungen auf ein grundlegendes Angebot von Versorgungsleistungen vor Ort angewiesen sind.

Auch muss die Finanzierbarkeit namentlich für die Patientinnen und Patienten gewährleistet sein, ansonsten sind die Leistungen de facto nicht mehr zugänglich.

Auf diesen Aspekten basierende Konkretisierungen und gegebenenfalls Differenzierungen in der Zugänglichkeit einzelner Leistungskategorien sind wiederum den zuständigen Organen von Bund und Kantonen überlassen.

Das Erfordernis, dass die Grundversorgung von hoher Qualität sein muss, bedingt unter anderem, dass die Gesundheitsfachpersonen über eine gut aufeinander abgestimmte Aus- und Weiterbildung verfügen und dass die Leistungen in gegenseitiger Abstimmung und Vernetzung erfolgen. Ebenso ist die Versorgung nur dann von hoher Qualität, wenn die Leistungen im notwendigen Ausmass angeboten werden.

28 29

Art. 43a Abs. 4 und Art. 92 Abs. 2 BV; vgl. auch den Vorentwurf vom 27. August 2010 zu einem Art. 41a BV (BBl 2010 5713) Art. 1 Abs. 2 des Fernmeldegesetzes vom 30. April 1997 (SR 784.10); 2. Kapitel 1. Abschnitt des Stromversorgungsgesetzes vom 23. März 2007 (SR 734.7)

7577

Dabei gilt es, sowohl eine Unter- als auch eine Über- oder Fehlversorgung zu vermeiden. Schliesslich ist der Qualitätssicherung bei der Leistungserbringung Beachtung zu schenken. Leistungen von hoher Qualität tragen zur Vermeidung von Komplikationen bei und wirken sich somit ebenfalls positiv auf die Kosten aus. Welche Vorgaben und Massnahmen von Seiten der Behörden und in der Praxis im Einzelnen erfolgen beziehungsweise umgesetzt werden, lässt die Verfassungsbestimmung offen. An dieser Stelle sei aber auf die Qualitätsstrategie des Bundesrates verwiesen.

Im Rahmen der medizinischen Grundversorgung wird die Hausarztmedizin als wesentlicher Bestandteil ausdrücklich genannt. Dies vor dem Hintergrund, dass die Hausarztmedizin ­ wenn auch nicht in exklusiver Weise ­ das Rückgrat der ärztlichen Grundversorgung darstellt und für die umfassende Betreuung der Patientinnen und Patienten eine wichtige Aufgabe übernimmt oder übernehmen kann. Umgekehrt wird klar festgehalten, dass die medizinische Grundversorgung weder durch die Hausärztinnen und -ärzte noch durch andere ärztliche oder nicht ärztliche Berufsgruppen monopolisiert wird. Dies wäre angesichts der zunehmend interdisziplinär geprägten Grundversorgung wenig zukunftsgerichtet und könnte bei einem entsprechenden Mangel an Hausärztinnen und Hausärzten sogar versorgungsgefährdend sein. Wie in den Initiativunterlagen dargestellt, ist der Begriff der Hausarztmedizin (französisch: «médecine de famille») umgangssprachlich geläufig, gibt aber in der Fachwelt immer wieder zu Diskussionen Anlass.

Im Rahmen der vorgeschlagenen Bestimmung wird die Hausarztmedizin als ein schwergewichtig auf die Primärversorgung ausgerichtetes ärztliches Tätigkeitsgebiet verstanden (vgl. franz. Terminologie: «soins de premier recours»), an dem sich unter anderem auch die Anforderungen an die Aus- und Weiterbildung auszurichten haben. Welche ärztlichen Weiterbildungsabschlüsse etwa im Einzelnen der Hausarztmedizin zugerechnet werden, ist aber dem Gesetzgeber30 überlassen.

Der vorliegende Entwurf gibt somit in Anlehnung an vergleichbare Verfassungsbestimmungen31 die Stossrichtung vor, die für die jeweiligen Gemeinwesen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten Gültigkeit hat. Die rechtsetzenden und rechtsanwendenden Organe von Bund und Kantonen (und mit ihnen die Gemeinden) haben stets dann,
wenn sie im Bereich der medizinischen Grundversorgung tätig werden, diese Ziele zu verfolgen. Bereits aufgrund des Subsidiaritätsgrundsatzes (Art. 5a BV) gilt hingegen ­ und wird deswegen vorliegend nicht mehr wiederholt ­, dass staatliches Tätigwerden auch in der medizinischen Grundversorgung stets in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative erfolgen muss.

Abs. 2 Eine die Bedürfnisse der Versorgung berücksichtigende Aus- und Weiterbildung aller beteiligten Fachpersonen ist essenziell, um die in dieser Bestimmung vorgegebenen Ziele einer allen zugänglichen medizinischen Grundversorgung von hoher Qualität zu erreichen.

Unter Aus- und Weiterbildung wird dabei ein Kontinuum verstanden, das die berufliche Grundbildung, die Ausbildung an höheren Fachschulen, Fachhochschulen und Universitäten, die berufsorientierte Weiterbildung und die postgraduale akademische Weiterbildung umfasst. Die Weiterbildung dient dazu, die in der Ausbildung erwor30 31

Vgl. für die geltende Gesetzgebung: Art. 55a KVG, Anhang 1 MedBV Art. 61a Abs. 3 und Art. 89 Abs. 1 BV

7578

benen Kompetenzen zu vertiefen und zu erweitern beziehungsweise sich in einem bestimmten Fachgebiet oder Tätigkeitsfeld zu spezialisieren. Auf Verfassungsebene wird damit nicht allgemein definiert, welche Teile der Ausbildung beziehungsweise der Weiterbildung zugerechnet werden. Es wird vielmehr am Gesetzgeber sein, die Zuordnung abgestimmt auf die in den entsprechenden Fachgebieten übliche Terminologie festzulegen.

Absatz 2 gibt dem Bund vor diesem Hintergrund die Kompetenz, die Aus- und Weiterbildung der Berufe in der medizinischen Grundversorgung umfassend zu regeln und schafft die Legitimation, gesundheits- und versorgungspolitische Aspekte in deren Aus- und Weiterbildungsregelung einzubringen. Dazu gehört beispielsweise die bessere Abstimmung der unterschiedlichen Kompetenzprofile mit dem Ziel einer effizienteren und besser koordinierten Zusammenarbeit. Zusätzlich können mittels Zielvorgaben besondere Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten betreffend die interdisziplinäre und interprofessionelle Zusammenarbeit mit Angehörigen anderer Berufe, das schweizerische System der sozialen Sicherung oder die Beurteilung der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit der Leistungen gesetzlich verankert werden. Überdies könnte der Bund auch Zulassungsvoraussetzungen zu Aus- und Weiterbildungen festlegen.

Des weiteren hat der Bund die Möglichkeit, sich an Grundlagenprojekten der Kantone beispielsweise über den Stand und den Entwicklungsbedarf des Aus- und Weiterbildungsangebots zu beteiligen, ohne dass er Vorschriften erlässt. Durch eine solche Beteiligung könnten Rückschlüsse auf die Qualität und Quantität dieses Angebots gemacht werden, massgeblich sind für die genügende Verfügbarkeit kompetenter Fachpersonen und somit für die Sicherstellung der medizinischen Grundversorgung.

Mit Absatz 2 wird es überdies möglich, einheitliche Bestimmungen betreffend die Anforderungen zur Ausübung dieser Berufe auf Bundesebene zu erlassen. Gesamtschweizerisch einheitliche Anforderungen für die Berufsausübung in eigener fachlicher Verantwortung sind bereits mit Blick auf das Binnenmarktgesetz sinnvoll. Der Bund klärt damit auch gesamtschweizerisch die Frage, welche Kompetenzen für die Berufsausübung in der jeweiligen Funktion und Verantwortung qualifizierend sind.

Dies ermöglicht die Weiterentwicklung in
Richtung erweiterter Kompetenzen der Berufsgruppen und damit in Richtung neuer, integrierter und interprofessioneller Versorgungsmodelle. Der Bundesgesetzgeber wird den Bedarf allfälliger Vorgaben aufgrund der verschiedenen Tätigkeitsfelder, die den einzelnen Berufen offen stehen, spezifisch auf die einzelnen Berufe auszurichten haben.

Die in der medizinischen Grundversorgung tätigen Fachpersonen umfassen nicht nur die gemeinhin als ärztliche Grundversorgerinnen und Grundversorger (z.B. Fachärztinnen und Fachärzte der Allgemeinen Inneren Medizin oder der Pädiatrie, praktische Ärztinnen und Ärzte) bzw. als Hausärztinnen oder -ärzte bezeichnete Ärzteschaft.32 Insbesondere leisten auch weitere ärztliche (z.B. in den Bereichen Psychiatrie, Kardiologie, Gynäkologie) sowie die nicht ärztlichen Gesundheitsfachpersonen (namentlich im zahnmedizinischen, pharmazeutischen und pflegerischen Bereich, aber auch z.B. in der medizinischen Praxisassistenz, Ernährungsberatung, Ergo- und Physiotherapie, medizinisch-technischen Radiologie und Rettungssanität) wesentliche Beiträge zur medizinischen Grundversorgung. Der Bund wird Aus- und Weiter32

Vgl. Art. 55a Abs. 1 KVG

7579

bildungsregelungen für Berufe auf verschiedenen Bildungsstufen zu erlassen haben: zur Bildung an universitären Hochschulen (z.B. Ärztin und Arzt, Apothekerin und Apotheker) oder Fachhochschulen (Tertiärstufe A, z.B. Pflegewissenschaft, Ernährungsberatung) und zur höheren Berufsbildung (Tertiärstufe B, z.B. Pflegefachperson im Gesundheitswesen). Es wird am Gesetzgeber sein, den Kreis der in der medizinischen Grundversorgung tätigen Fachpersonen im Einzelnen festzulegen.

Die vorliegende Bestimmung gibt dem Bund damit eine weiter gehende Kompetenz als die bereits bestehenden einschlägigen Verfassungsbestimmungen (vgl. Ziff. 9.3 und 9.4), indem er gesundheits- und versorgungspolitische Zielsetzungen in der Aus- und Weiterbildung sowie in der Berufsausübung festlegen kann. Der Bund kann neben den bereits geregelten Berufen (z.B. universitäre Medizinalberufe gemäss dem MedBG) auch Regelungen betreffend Aus- und Weiterbildung weiterer Berufe der medizinischen Grundversorgung namentlich auf Fachhochschulebene erlassen. Auch auf dieser Stufe kann er die Berufsausübung regeln, sofern dies sinnvoll und angemessen erscheint. Die Gesundheitsberufe auf Berufsbildungsebene sind schon umfassend im Berufsbildungsgesetz vom 13. Dezember 200233 (BBG) geregelt. In diesem Bereich geht es nicht darum, parallel zu legiferieren, sondern lediglich auf die Notwendigkeit der inhaltlichen Abstimmung hinzuwirken. Auch hier hätte der Gesetzgeber allenfalls die Möglichkeit über die Regelung der Berufsausübung zu entscheiden.

Diese Kompetenz tangiert jedoch weder die im Rahmen der Bildungsverfassung vorgesehenen Finanzierungsmodalitäten noch die aus diesen Bestimmungen hervorgehenden Bildungsstrukturen. Gemäss dem Universitätsförderungsgesetz vom 8. Oktober 199934 (UFG) und dem Fachhochschulgesetz vom 6. Oktober 199535 ­ in Zukunft gemäss dem Hochschulförderungs- und Koordinationsgesetz36 ­ finanziert der Bund schon heute durch Grund-, Investitions- und projektgebundene Beiträge die Ausbildung auf Hochschulstufe massgeblich mit.

Abs. 3 Mit Absatz 3 Buchstabe a kann der Bund sich an der Erarbeitung von Grundlagen zur Weiterentwicklung und Koordination der medizinischen Grundversorgung beteiligen.

Diese Bestimmung weist dem Bund damit keine neuen Rechtsetzungskompetenzen zu; vielmehr bleibt die medizinische Grundversorgung eine
Aufgabe der Kantone.

Hingegen soll die Möglichkeit der Beteiligung des Bundes an der Erarbeitung von Grundlagen die Koordination und Weiterentwicklung der Gestaltung der Grundversorgung fördern.

Die Beteiligung des Bundes kann nicht nur durch personelle beziehungsweise fachliche Unterstützung erfolgen; die Bestimmung dient gegebenenfalls auch als Basis für eine adäquate finanzielle Beteiligung.

Diese fachliche oder finanzielle Mitwirkung des Bundes beschränkt sich auf Grundlagenprojekte. Darunter fallen beispielsweise Koordinationsaktivitäten, die Mitwirkung und Unterstützung bei der Erarbeitung von Konzepten, die Erhebung von 33 34 35 36

SR 412.10 SR 414.20 SR 414.71 BBl 2009 4561

7580

Datengrundlagen oder die Durchführung von Forschungs- und Pilotprojekten sowie von Evaluationen. Dabei handelt es sich um von den Kantonen mitgetragene und in der Regel zeitlich befristete Projekte. Umgekehrt ist ein dauerhaftes finanzielles Engagement des Bundes, etwa im Bereich der Angebotsinfrastruktur, ausgeschlossen. Die «Beteiligung» durch den Bund bedeutet, dass er nicht federführend ist, sondern nur dann tätig wird, wenn die Initiative primär von den Kantonen ausgeht und die Realisierung in ihrer Verantwortung liegt.

Mögliche Themenfelder einer allfälligen Beteiligung des Bundes bilden kantonale Projekte zur Entwicklung von Versorgungsstrukturen in peripheren Regionen oder zur Evaluation innovativer Versorgungsmodelle.

Nach Buchstabe b kann der Bund aus eigener Initiative Massnahmen ergreifen, wenn diese zur Gewährleistung der Qualität der Leistungen als notwendig erscheinen. Entsprechende Massnahmen wie gegebenenfalls auch deren Finanzierung werden auf Gesetzesebene festzulegen sein.

Dem Bund kann zur Gewährleistung der Qualität der in der medizinischen Grundversorgung erbrachten Leistungen Massnahmen treffen, mit denen beispielsweise das «Disease Management» entlang der ganzen Behandlungskette verbessert werden kann. Betroffen können sowohl präventive und kurative als auch rehabilitative und palliative Leistungen sein. Einheitliche Vorgaben können weiter im Zusammenhang mit der Erarbeitung von Qualitätsindikatoren oder der Anwendung von Qualitätssicherungsvorgaben sinnvoll sein. Ebenso kann der Bund zur verstärkten Anwendung anerkannter Richtlinien bei der Behandlung chronisch Kranker beitragen (z.B.

Diabetes, Herzinsuffizienz).

8

Bereits erfüllte oder sich in Umsetzung befindende Massnahmen

Folgende Anliegen der Initiative sind entweder bereits erfüllt oder befinden sich in Umsetzung37: Aus- und Weiterbildung Mit der geplanten Revision des MedBG wird eine Anpassung der Aus- und Weiterbildungsziele betreffend die medizinische Grundversorgung vorgenommen.38 Darin sind selbstverständlich Kompetenzen in Hausarztmedizin eingeschlossen.

Mit der Schaffung des eidgenössischen Weiterbildungstitels «Allgemeine Innere Medizin»39 in enger Zusammenarbeit mit Vertreterinnen und Vertretern der Hausarztmedizin wurde wesentlichen Bedürfnissen sowohl der Hausärztinnen und Hausärzte als auch der ärztlichen Grundversorgerinnen und -versorger im stationären Bereich entsprochen.

37

38 39

Ein detaillierter Beschrieb der nachfolgend genannten Massnahmen sowie weiterer Bestrebungen im erweiterten Kontext findet sich im Bericht des Bundesrates zur Erfüllung der Motion Fehr Jacqueline 08.3608 «Strategie gegen den Ärztemangel und zur Förderung der Hausarztmedizin» vom 2. Oktober 2008. Der Bericht enthält darüber hinaus verschiedene Empfehlungen für die weitere Unterstützung der ärztlichen Grundversorgung sowie für die Weiterentwicklung hin zu adäquaten Versorgungsformen.

Vgl. Vernehmlassungsvorlage vom 29. Juni 2011 Vgl. Anhang 1 MedBV

7581

Praxisassistenz Da die Weiterbildung heute praktisch ausschliesslich im Rahmen der bestehenden, überwiegend auf die Akutversorgung ausgerichteten, stationären Versorgungsstruktur stattfindet, wurde die Forderung der ärztlichen Grundversorgerinnen und -versorger nach einer praxisnahen Weiterbildung von den Kantonen unterstützt: Mit der Einführung der Praxisassistenz (Weiterbildung in ambulanten Grundversorgerpraxen, Gesundheitszentren) wurde diese Forderung in den meisten Kantonen in Form von Pilotprojekten umgesetzt. Diese Lösung wurde im Rahmen einer Arbeitsgruppe «Ärztliche Grundversorgung» der Konferenz der Kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) und des BAG im Auftrag des Dialogs Nationale Gesundheitspolitik erarbeitet und von dieser weiter begleitet.40 Stärkung von Lehre und Forschung Um die hausarztmedizinischen Institute als Kompetenzzentren der Lehre und Forschung an den Universitäten zu unterstützen und ihre Bemühungen schweizweit besser zu koordinieren, wurden diese Institute vom Staatsekretariat für Bildung und Forschung (SBF) auf Veranlassung des BAG eingeladen und am 24. Februar 2011 über die Möglichkeit und das Verfahren, projektgebundene Beiträge nach dem UFG zu erhalten, instruiert. Ganz generell ist eine systematische Förderung von grundlagenorientierten Projekten zur Versorgungsforschung anzustreben. In deren Rahmen sollen auch Themen der Hausarztmedizin als Forschungsgegenstand berücksichtigt werden.

Gesicherter Zugang zum Beruf Im Kontext mit den Revisionsarbeiten zum Krankenversicherungsgesetz wurden Ausnahmen von der Einschränkung der Zulassung der Tätigkeit zulasten der Krankenversicherung für Personen mit bestimmten eidgenössischen Weiterbildungstiteln vorgesehen (Allgemeinmedizin, praktische Ärztin und praktischer Arzt, Innere Medizin, Kinder- und Jugendmedizin).41 Reorganisation der Notfalldienste Zur Entlastung der ärztlichen Grundversorgerinnen und -versorger vom Notfalldienst wurden im Rahmen der gemeinsamen Arbeitsgruppe «Ärztliche Grundversorgung» der GDK und des BAG zahlreiche Lösungsvorschläge erarbeitet.42 Die Arbeitsgruppe hat unter anderem eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Dienstärztinnen und -ärzten und Spitälern beziehungsweise anderen ärztlich geleiteten Zentren (Ambulatorien, Callcenter) empfohlen. Viele dieser konkreten Handlungsempfehlungen
wurden aufgenommen, sodass die Notfallversorgung in vielen Regionen entsprechend der jeweiligen Ausgangslage und Präferenzen erfolgreich reorganisiert wurde.

40

41 42

Bericht im Auftrag der Arbeitsgruppe «Ärztliche Grundversorgung» von GDK und EDI: Grundanforderungen für die Praxisweiterbildung angehender HausärztInnen (Praxisassistenz), Oktober 2007.

Parlamentarische Initiative 09.400 «Krankenversicherung. Übergangslösung zum Zulassungsstopp für Leistungserbringer» Bericht im Auftrag der Arbeitsgruppe «Ärztliche Grundversorgung» von GDK und EDI: Schlussbericht. Notfalldienst: Massnahmen und Empfehlungen, 2006.

7582

Erweiterung und angemessene Abgeltung der Leistungen der Hausarztmedizin Zur Revision der Analysenliste wird im Auftrag des BAG ein Monitoring durchgeführt. Der Schlussbericht ist für November 2011 vorgesehen. Unter Bezugnahme auf die Resultate eines zweiten Zwischenberichts ist zu prüfen, ob der Übergangszuschlag befristet für alle Laboratorien oder nur für die Praxislaboratorien weitergeführt oder in eine Folgeregelung überführt wird. Eine allfällige Anpassung der Analysenliste könnte bereits 2012 in Kraft treten.

Mit Bezug zum Tarmed bzw. zur bemängelten Tarifstruktur ist im Parlament die parlamentarische Initiative der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 24. März 2011 (11.429 «Tarmed. Subsidiäre Kompetenz des Bundesrates») hängig, die eine subsidiäre Kompetenz des Bundesrates zur Anpassung der Tarifstruktur vorsieht (Art. 43 Abs. 5bis KVG): Der Bundesrat soll Anpassungen an der Tarifstruktur festsetzen können, wenn sich diese als nicht mehr sachgerecht erweist und sich die Parteien nicht auf eine Revision einigen können. Anlass für diese parlamentarische Initiative ist die Blockade der Tarifweiterentwicklung zwischen den Tarifpartnern. Der Vorsteher des EDI hat die Tarifpartner im Mai 2011 zum Stand der Tarifverhandlungen angehört. Im Rahmen dieses Gesprächs wurden Eckwerte der Revision und eine Frist bis Herbst 2011 für ein Revisionskonzept der Tarifpartner vereinbart. Für den Antrag auf Revision des Tarmed an den Bundesrat wurde ein Termin bis Ende 2012 ins Auge gefasst. Zielsetzungen der Revision sind unter anderem die Aufwertung der intellektuellen gegenüber den technischen Leistungen und eine Vereinfachung der Tarifstruktur. Die Aufwertung der intellektuellen Leistungen soll vor allem den Grundversorgerinnen und Grundversorgern zugutekommen, die Vereinfachung der Tarifstruktur dient der administrativen Entlastung.

Im Parlament sind drei weitere parlamentarische Initiativen (07.483, 07.484, 07.485) zur Stärkung der Hausarztmedizin hängig, unter anderem zum Thema Wirtschaftlichkeitsprüfung und administrative Vereinfachungen. Der Nationalrat hat gestützt auf diese eine Ergänzung von Artikel 56 KVG mit einem Absatz 6 vorgeschlagen.

Danach legen Versicherer und Leistungserbringer gemeinsam die Methode für die Wirtschaftlichkeitsprüfung fest. Die Vorlage
soll somit generell der Stärkung der Hausarztmedizin und konkret der Optimierung des Verfahrens zur Überprüfung der Wirtschaftlichkeit dienen. Nach den Übergangsbestimmungen soll der Bundesrat die Methode zur Kontrolle der Wirtschaftlichkeit festlegen, wenn sich die Leistungserbringer und Versicherer nicht innert 12 Monaten vertraglich auf eine Methode einigen. Mit der Optimierung des Verfahrens wird auch die Verringerung des administrativen Aufwandes angestrebt. Dieser ist heute insofern hoch, als die Versicherer bei sehr vielen Leistungserbringern vorstellig werden und somit der Aufwand auch dann anfällt, wenn dem betreffenden Leistungserbringer gegenüber letztlich keine Beanstandungen erfolgen.

Der Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-N) vom 21. Januar 201143 zu den drei parlamentarischen Initiativen stellt eingehend dar, dass der Kritik der Ärzteschaft Rechnung getragen werden soll. Die SGK-N stellt im Zusammenhang mit der politischen Forderung nach Besserstellung der ärztlichen Grundversorgerinnen und Grundversorger fest, die Ärzteschaft moniere, dass vor allem jenen Ärztinnen und Ärzten, die viele Patientinnen und 43

BBl 2011 2519

7583

Patienten mit schweren, chronischen und komplexen Krankheiten behandeln, aus der von den Versicherern verwendeten Methode zur Überprüfung der Wirtschaftlichkeit ein Nachteil erwächst. Zudem sei die verwendete Methode nicht transparent. Die SGK-N stellt denn auch fest, dass der Druck auf die Leistungserbringer zu einer Verschlechterung der Versorgungsqualität führen kann, nämlich dann, wenn Ärztinnen und Ärzte nicht mehr alle Kranken annehmen, sondern die Patientinnen und Patienten, für die aufwendige Behandlungen notwendig sind, weiterverweisen.

9

Verhältnis zu anderen Verfassungsbestimmungen

9.1

Art. 117 BV (Kranken- und Unfallversicherung)

Mit Artikel 117 Absatz 1 BV verfügt der Bund über eine umfassende Kompetenz zur Regelung der Kranken- und Unfallversicherung. Nach Absatz 2 kann die Versicherung allgemein oder für einzelne Bevölkerungsgruppen obligatorisch erklärt werden. Materielle Vorgaben auf Verfassungsebene finden sich nicht.

Der Bund hat mit Erlass der Krankenversicherungs- und der Unfallversicherungsgesetzgebung von dieser Kompetenz Gebrauch gemacht. Diese Gesetzgebungen haben wesentlichen Einfluss auf die Ausgestaltung der Gesundheitsversorgung und mithin auf die medizinische Grundversorgung in der Schweiz ausgeübt. Insbesondere in der Krankenversicherungsgesetzgebung finden sich einige Vorgaben, die mit den Anliegen von Artikel 117a BV übereinstimmen (z.B. Koordination der Versorgung durch interkantonale Spitalplanung, Qualität der Leistungen, Versorgung von hoher Qualität). Insofern zielen sowohl Artikel 117 BV (bzw. dessen Umsetzung in der Gesetzgebung) als auch der vorgeschlagene Artikel 117a BV teilweise auf gleiche Regelungsaspekte.

Grundsätzlich verschieden ist hingegen das Regelungsziel: Auf Basis von Artikel 117 BV lassen sich verfassungsrechtlich nur ­ aber immerhin ­ die Rahmenbedingungen für die Kostenrückerstattung von Leistungen im Rahmen der Krankenund Unfallversicherung regeln; auf die Gestaltung der Gesundheitsversorgung sich auswirkende Regelungen müssen letztlich immer den Anliegen der betreffenden Sozialversicherungen dienen. Dem gegenüber zielt der vorgeschlagene Artikel 117a BV direkt und ausschliesslich auf die Verfügbarkeit einer allen zugänglichen und qualitativ hochstehenden medizinischen Grundversorgung ab. Der vorliegende Entwurf einer Verfassungsbestimmung nimmt somit eine im Vergleich zu Artikel 117 BV grundsätzlich andere Perspektive ein. Kommt hinzu, dass sich die hier vorgeschlagene Verfassungsnorm auf die medizinische Grundversorgung beschränkt, wohingegen die Krankenversicherung nach Artikel 117 BV ­ entgegen dem umgangssprachlich teilweise verwendeten Begriff «Grundversicherung» ­ keine solche Einschränkung kennt und prinzipiell die Kostenrückerstattung für Leistungen der gesamten Gesundheitsversorgung nach sozialversicherungsrechtlichen Kriterien regelt.

7584

9.2

Art. 118­119a BV (Schutz der Gesundheit, Komplementärmedizin, Forschung am Menschen, Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie im Humanbereich, Transplantation)

Die Artikel 118 BV (Schutz der Gesundheit), 118b BV (Forschung am Menschen), 119 BV (Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie im Humanbereich) sowie 119a BV (Transplantation) weisen dem Bund in den jeweiligen Sachbereichen eine umfassende Regelungskompetenz zu. Im Zentrum der Verfassungsbestimmungen und der sich darauf abstützenden Bundesgesetzgebung steht der Schutz der Gesundheit sowie der Würde und Persönlichkeit des Menschen. Gemeinsamkeiten oder Berührungspunkte mit dem vorliegenden Entwurf bestehen lediglich dort, wo Qualitäts- und Versorgungsaspekte (z.B. Impfungen bei übertragbaren Krankheiten) sowohl Teil der medizinischen Grundversorgung als auch der sektoriellen Regelungen sind. Diese Berührungspunkte bieten jedoch keine Probleme.

Artikel 118a BV hat zur Folge, dass Bund und Kantone die Komplementärmedizin ­ auch im Rahmen der medizinischen Grundversorgung ­ zu berücksichtigen haben.

Dabei besteht ein grosser Spielraum für die rechtsetzenden und rechtsanwendenden Stellen. Die Verpflichtung zur Berücksichtigung der Komplementärmedizin wird auch bei Artikel 117a BV zu beachten sein, wobei im Vergleich zur heutigen Situation keine wesentlich neuen Auswirkungen zu erwarten sind.

9.3

Art. 63, 63a und 64a BV (Bildung)

Der Bund verfügt im Bereich des Bildungswesens bereits über verschiedene Kompetenzen: Gemäss Artikel 63 BV ist der Bund ermächtigt, Vorschriften über die Berufsbildung zu erlassen. Zur Berufsbildung gehören die berufliche Grundbildung, die darauf aufbauenden Berufsmaturitätsschulen, die Bildungsgänge der höheren Berufsbildung sowie die berufsorientierte Weiterbildung. Nicht mehr von Artikel 63 BV erfasst sind die Fachhochschulen44 und die universitäre Bildung.

Artikel 63a BV enthält die Kompetenzregelung im Rahmen des Konzepts einer koordinierten Gesamtsteuerung des schweizerischen Hochschulwesens. Er enthält vorwiegend Zuständigkeits-, Organisations- und Verfahrensbestimmungen, welche die Hochschulen (Universitäten, technische Hochschulen und Fachhochschulen sowie pädagogische Hochschulen) betreffen. Darüber hinaus haben Bund und Kantone die Aufgabe, gemeinsam für die Koordination und für die Gewährleistung der Qualitätssicherung im schweizerischen Hochschulwesen zu sorgen. Der Bund hat gestützt auf Absatz 5 eine beschränkte subsidiäre Regelungskompetenz im Rahmen der dort erwähnten Sachbereiche.

Da Fachpersonen mit universitärer (z.B. Ärztinnen und Ärzte) und Fachhochschulbildung (insbesondere Pflegefachpersonen) in der medizinischen Grundversorgung eine zentrale Rolle spielen, soll der Bund die Kompetenz erhalten, Aus- und Weiterbildungsregelungen auch für die universitären und Fachhochschulberufe zu 44

Vgl. G. Schmid und M. Schott, Art. 63 BV, in: B. Ehrenzeller et al. (Hrsg), St. Galler Kommentar zur Schweizerischen Bundesverfassung, 2. Auflage, Zürich usw. 2008 (St. Galler Kommentar BV), Rz. 8.http://www.hausaerzteschweiz.ch/

7585

erlassen, die weiter geht als die Rechtsetzungskompetenz des Bundes gestützt auf Artikel 63a Absatz 5 BV.

Die hier vorgeschlagene neue Regelungskompetenz des Bundes ist unabhängig davon, ob Bund und Kantone auf dem Weg der Koordination die gemeinsamen Ziele erreichen und kann sich auf sämtliche Aspekte der Ausbildung beziehen (im Gegensatz zu Art. 63a Abs. 5 BV). Klar ist, dass sich die Gesetzgebung betreffend die Aus- und Weiterbildung der in der medizinischen Grundversorgung tätigen Fachpersonen in die bestehenden bzw. entstehenden Bildungsstrukturen eingliedern wird.

Gestützt auf Artikel 64a BV hat der Bund bereits heute gewisse Kompetenzen zur Regelung der Weiterbildung. Es handelt sich um eine Rahmengesetzgebungskompetenz, indem der Bund verpflichtet wird, Grundsätze über die Weiterbildung festzulegen. Der Artikel 64a BV zugrunde liegende Begriff der Weiterbildung ist zudem relativ offen. Artikel 64a BV geht von einem breit zu verstehenden Weiterbildungsbegriff aus, der sowohl die berufsorientierte als auch die allgemeinbildende Weiterbildung umfasst.45 Im Mittelpunkt steht die sogenannte «learning-to-learn competence».46

9.4

Art. 64 BV (Forschung)

Gemäss Artikel 64 BV fördert der Bund die wissenschaftliche Forschung und die Innovation. Er kann die Förderung von der Sicherstellung der Qualität und der Koordination abhängig machen (Abs. 2). Zudem erhält der Bund in Absatz 3 die Kompetenz, Forschungsstätten zu errichten, zu übernehmen oder zu betreiben. Der Gegenentwurf enthält ­ im Gegensatz zum Initiativtext ­ keine entsprechende Bestimmung, weil Artikel 64 BV auch auf die Forschung in der medizinischen Grundversorgung anwendbar ist.

Der Bundesrat kann den Schweizerischen Nationalfonds (SNF) beauftragen, Nationale Forschungsprogramme (NFP) von gesamtschweizerischer Bedeutung durchzuführen. Die Bundesstellen sowie jede natürliche oder juristische Person können dem Staatssekretariat für Bildung und Forschung (SBF) Vorschläge für NFP einreichen.

Gemäss Verordnung zum Forschungs- und Innovationsförderungsgesetz vom 10. Juni 198547 muss in den NFP-Vorschlägen dargelegt werden, dass ihr Forschungsgegenstand den Zweckbestimmungen von NFP entspricht (z.B. gesamtschweizerische Bedeutung, Einbezug mehrerer Disziplinen, keine ausschliessliche Grundlagen- oder industrienahe Forschung usw.). Die eingereichten Vorschläge können nur dann berücksichtigt werden, wenn die NFP-Kriterien erfüllt sind. Nach entsprechenden Priorisierungen und Machbarkeitsprüfungen beantragt das EDI dem Bundesrat periodisch die Durchführung von ein bis drei NFP.

Forschungsförderung mittels projektgebundener Beiträge ist auch im Rahmen des UFG möglich. Voraussetzung ist aber, dass entsprechende Projekteingaben über die Universitäten erfolgen und die Projekte die erforderlichen Kriterien erfüllen. Der Entscheid über eine allfällige Unterstützung liegt in diesem Fall bei der Schweizerischen Universitätskonferenz (SUK). Damit gelten für Forschungsbegehren der 45 46 47

Vgl. B. Ehrenzeller und K. Sahlfeld, Art. 64a, in: St. Galler Kommentar BV, Rz. 11.

www.jzh.ch/de/initiative/erlaeuterungen/ Vgl. Mitteilung «Europäischer Raum des lebenslangen Lernens», EU-Kommission, 2001.

SR 420.11

7586

medizinischen Grundversorgung die gleichen Bedingungen wie für alle anderen Disziplinen.

9.5

Art. 95 Abs. 1 BV (privatwirtschaftliche Erwerbstätigkeit)

Artikel 95 Absatz 1 BV48 gibt dem Bund die Kompetenz, über die Ausübung der privatwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit Vorschriften zu erlassen. Gestützt auf diese Bestimmung verfügt der Bund über eine weitreichende Kompetenz für den Erlass von Vorschriften im Bereich der privatwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit.49 Er kann Vorschriften über die Ausübung einer Tätigkeit erlassen und somit auch über die Voraussetzungen für den Zugang zu einer privatwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit und die Art der Ausübung dieser Tätigkeit.

Eine wirtschaftliche Tätigkeit gilt nicht mehr als privat im Sinne der Artikel 27 und 95 BV, wenn es sich um eine öffentliche Aufgabe oder eine öffentliche Dienstleistung handelt, die als solche dem öffentlichen Recht untersteht.50 Artikel 95 Absatz 1 BV erlaubt es dem Bund nicht, für wirtschaftliche Tätigkeiten, die als öffentliche Aufgaben gelten, Vorschriften zu erlassen. Das bedeutet, dass der Bund die Ausübung eines Medizinalberufs nicht gestützt auf Artikel 95 Absatz 1 BV regeln kann, wenn und soweit es sich bei der Ausübung um eine öffentliche Aufgabe handelt.

Nach Ansicht eines Teils der Lehre übt der Staat, wenn er eine eigentliche Erwerbstätigkeit ausübt, beispielsweise wenn er marktfähige Dienstleistungen vertreibt, eine privatwirtschaftliche Tätigkeit aus. Gemäss der Rechtsprechung gilt die Behandlung von Kranken in einem Spital als öffentliche Aufgabe, wenn es sich um ein öffentliches Spital (z.B. ein öffentliches Kantonsspital) handelt, die Behandlung von Personen vorgenommen wird, die in diesem Spital angestellt sind, und die Behandlung im Rahmen der Aufgaben dieser Personen erfolgt.51 Die Ausübung eines Medizinalberufs in einem öffentlichen Spital im Rahmen der durch dieses Spital zugeteilten Aufgaben gilt nicht als privatwirtschaftliche Erwerbstätigkeit im Sinne von Artikel 95 Absatz 1 BV. Es ist jedoch nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass die «private» Tätigkeit von Chefärzten und Chefärztinnen in öffentlichen Spitälern in gewissen Fällen als privatwirtschaftliche Erwerbstätigkeit im Sinne von Artikel 95 BV einzustufen ist; alles hängt davon ab, wie diese Tätigkeit im kantonalen Recht geregelt ist.

Manche Berufe der medizinischen Grundversorgung werden aber in der Regel im Angestelltenverhältnis häufig an öffentlich-rechtlichen Institutionen (z.B. Kantonsspitälern)
ausgeübt. Die Frage, ob diese Tätigkeit noch als privatwirtschaftlich im Sinne des Artikels 95 Absatz 1 BV gilt, kann künftig offen bleiben. Denn die vorgeschlagene Verfassungsbestimmung in Absatz 2 gibt dem Bund insbesondere die 48 49 50 51

Vgl. hierzu auch das Gutachten «Medizinalberufegesetz: unselbstständige und selbstständige Berufsausübung» des BJ vom 9. Juni 2008.

Vgl. A. Auer et al., Droit constitutionnel suisse, vol. II, 2006, no 958; G. Biaggini, BV-Kommentar, Art. 95, Rz. 3.

A. Auer et al., Droit constitutionnel suisse, vol. II, 2006, no 940; P. Richli, Grundriss des schweizerischen Wirtschaftsverfassungsrechts, Bern, 2007, Nr. 170.

BGE 133 III 462 465 Erwägung 2.1.

7587

Kompetenz, Aus- und Weiterbildungsbestimmungen sowie Regelungen betreffend die Anforderungen zur Berufsausübung für die in der medizinischen Grundversorgung tätigen Personen zu erlassen. Dies unabhängig davon, ob sie einst selbstständig bzw. privatwirtschaftlich oder als Angestellte in einer privat- oder öffentlichrechtlich geregelten Institution tätig sein werden.

9.6

Weitere Verfassungsbestimmungen

Artikel 12 BV vermittelt einen grundrechtlichen Anspruch auf ein Minimum von Mitteln, die für ein menschenwürdiges Dasein notwendig sind. Die Grundversorgung nach dem vorliegenden Artikel 117a BV geht im medizinischen Bereich über dieses Leistungsniveau hinaus, vermittelt hingegen keine einklagbare Rechtsposition.

Als Sozialziel gibt Artikel 41 Absatz 1 Buchstabe b BV vor, dass sich Bund und Kantone in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative dafür einsetzen, dass jede Person die für ihre Gesundheit notwendige Pflege erhält. Die hier vorgeschlagene Verfassungsbestimmung zielt in Absatz 1 in die gleiche Richtung, fokussiert jedoch auf die medizinische Grundversorgung als ganzer und präzisiert diese.

Im Rahmen der Bestimmung über die Zuweisung und Erfüllung staatlicher Aufgaben gibt Artikel 43a Absatz 4 BV vor, dass die Leistungen der Grundversorgung allen Personen in vergleichbarer Weise offenstehen müssen. Diese Vorgabe ist auch Teil der hier vorgeschlagenen Verfassungsbestimmung, die aber auf die medizinische Grundversorgung fokussiert ist. Von der Zielrichtung her besteht somit zwischen den beiden Normen Übereinstimmung.

10

Auswirkungen des direkten Gegenentwurfs

Die Verfassungsnorm hält grundsätzlich an der bestehenden Zuständigkeitsordnung im Gesundheitsbereich fest (vgl. Art. 117a Abs. 1 BV). Der Bund erhält lediglich neue Kompetenzen in Artikel 117a Absatz 2 und punktuell gemäss Absatz 3 Buchstabe b.

Gestützt auf Absatz 2 sollen primär qualitative Aspekte geregelt werden, die abgesehen vom gesetzgeberischen Aufwand und der allfälligen Erweiterung von Registern zu keinen neuen Kostenfolgen für den Bund führen. Eine qualitative Steigerung der Aus- und Weiterbildung der verschiedenen Fachpersonen der medizinischen Grundversorgung sowie die bessere Abstimmung von deren Kompetenzen könnte mittel- bis langfristig zu verbesserten medizinischen Leistungen führen und somit zu einer effektiveren und effizienteren medizinischen Grundversorgung beitragen.

Gemäss Absatz 3 Buchstabe a kann sich der Bund an der Erarbeitung einzig von Grundlagen zur Weiterentwicklung und Koordination der medizinischen Grundversorgung beteiligen. Ein dauerhaftes finanzielles Engagement des Bundes im Aufgabenbereich der Kantone ist dadurch ausgeschlossen. Zulässig sind nur personelle und finanzielle Unterstützungsleistungen von in aller Regel zeitlich befristeten Projekten. Diese müssen jedoch von den Kantonen angesichts deren Aufgabenver-

7588

antwortung in den betreffenden Bereichen auch in finanzieller Hinsicht zu wesentlichen Teilen mitgetragen werden.

Gemäss Absatz 3 Buchstabe b kann der Bund Massnahmen im Bereich der Qualität treffen. Werden diese nicht direkt mit den entsprechend qualitätsgesicherten Leistungen abgegolten, so sind verschiedene von den konkreten Massnahmen und beteiligten Partnern abhängige Finanzierungslösungen denkbar. Sollten Bundesmittel vorgesehen werden, müssten diese im Rahmen der entsprechenden Gesetzgebungsvorlage beantragt und überprüft werden. Das Engagement des Bundes wird sich aber primär auf die Vorbereitung und Koordination der entsprechenden Massnahmen beschränken und im Rahmen der üblichen Verwaltungstätigkeit zu erbringen sein.

Allfällige finanzielle Leistungen zugunsten der Qualitätssicherungsmassnahmen werden für den Bund voraussichtlich nur vorübergehend (d.h. in der Entwicklungsund Einführungsphase) erhöhte Kostenfolgen haben. Die Kostenfolgen für eine allfällige Einführung solcher Massnahmen (z.B. Qualitätszirkel, Zertifizierungen) für die Leistungserbringer sind schwer abzuschätzen.

Für die zur Sicherstellung der medizinischen Grundversorgung im Sinne von Absatz 1 allgemein notwendigen Koordinationstätigkeiten von Bund und Kantonen sind die bereits bestehenden Plattformen und Koordinationsgefässe vorgesehen (z.B.

Dialog Nationale Gesundheitspolitik, Plattform Zukunft Ärztliche Bildung).

Dadurch werden für Bund und Kantone voraussichtlich kaum namhafte neue Kosten anfallen. Da die neue Verfassungsnorm letztlich zu einer effizienteren und besser koordinierten medizinischen Grundversorgung beitragen soll, dürfte sie sich mittelfristig dämpfend auf das Kostenwachstum im Gesundheitswesen auswirken.

11

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen

Die Schweiz hat sich mit Abschluss des Freizügigkeitsabkommens verpflichtet, die Regeln über den freien Personenverkehr anzuwenden, wie sie innerhalb der EU gelten. Zur Erleichterung der Personenfreizügigkeit sieht das Europarecht insbesondere Regeln zur Anerkennung von beruflichen Fähigkeitsnachweisen vor. Die neue einschlägige Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 200552 über die Anerkennung der Berufsqualifikationen, die für die Schweiz demnächst in Kraft tritt, findet auf alle reglementierten Berufe Anwendung und übernimmt die geltenden Grundsätze (insbesondere die Regelungen der sektoriellen Richtlinien und die allgemeine Anerkennungsregelung), vereinheitlicht diese, ordnet sie neu und strafft sie.

Bei der Umsetzung der vorgeschlagenen Verfassungsbestimmung werden diese völkerrechtlichen Regelungen, insbesondere bei der Definition der Hausarztmedizin (vgl. Ziff. 4.2.1), zu berücksichtigen sein.

52

ABl. L 255 vom 30.9.2005, S. 22

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