zu 05.445 / 07.476 Parlamentarische Initiativen Verfassungsgerichtsbarkeit Bundesverfassung massgebend für rechtsanwendende Behörden Bericht vom 12. August 2011 der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates Stellungnahme des Bundesrates vom 30. September 2011

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Zum Bericht vom 12. August 2011 der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates betreffend die Verfassungsgerichtsbarkeit beziehungsweise die Massgeblichkeit der Bundesverfassung für die rechtsanwendenden Behörden nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 2002 nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

30. September 2011

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Micheline Calmy-Rey Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

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Stellungnahme 1

Vorlage der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats

Gestützt auf die beiden parlamentarischen Initiativen «Verfassungsgerichtsbarkeit» (05.445) und «Bundesverfassung massgebend für rechtsanwendende Behörden» (07.476) der ehemaligen Nationalratsmitglieder Heiner Studer und Vreni MüllerHemmi beantragt die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates (Kommission) die Aufhebung von Artikel 190 der Bundesverfassung (BV; SR 101).

Artikel 190 BV erklärt Bundesgesetze und Völkerrecht für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden als massgebend. Das bedeutet, dass Bundesgesetze und Völkerrecht auch dann angewendet werden müssen, wenn sie der Bundesverfassung widersprechen.

Mit der von der Kommission vorgeschlagenen Aufhebung von Artikel 190 BV soll erreicht werden, dass Bundesgesetze von den mit ihrer Anwendung betrauten Behörden im konkreten Fall vorfrageweise auf ihre Übereinstimmung mit der Bundesverfassung geprüft werden können, so wie die rechtsanwendenden Behörden heute bereits die Vereinbarkeit von bundesrechtlichen Verordnungen mit dem übergeordneten Recht prüfen.

Am Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht bei der Rechtsanwendung will die Kommission mit der Aufhebung von Artikel 190 BV dagegen nichts ändern.

Nach Artikel 5 Absatz 4 BV beachten Bund und Kantone das Völkerrecht. Die Kommission ist der Ansicht, dass durch diese Bestimmung die Massgeblichkeit des Völkerrechts weiterhin gesichert bleiben wird.

Von den Gründen, die die Kommission zugunsten einer Erweiterung der Verfassungsgerichtsbarkeit anführt, stehen zwei im Vordergrund: ­

Inhaltlich geht Artikel 190 BV auf die Bundesverfassung von 1874 zurück.

Seither hat sich das Schwergewicht der Gesetzgebung von den Kantonen zum Bund verlagert. Der Ausschluss der Bundesgesetze von der Verfassungsgerichtsbarkeit schränkt heute den Rechtsschutz der Bürgerinnen und Bürger in einem Masse ein, das nicht gerechtfertigt ist und historisch nicht gewollt war.

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Das Bundesgericht muss heute schon den durch die Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK; SR 0.101) gewährleisteten Menschenrechten Vorrang vor Bundesgesetzen einräumen, um absehbare Verurteilungen der Schweiz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und allfällige anschliessende Revisionsgesuche zu vermeiden. Diese Praxis hat zur Konsequenz, dass die Rechtssuchenden primär mit der EMRK argumentieren müssen statt mit der Bundesverfassung und dass die Durchsetzbarkeit von Grundrechten der Bundesverfassung verschieden ist, je nachdem, ob die Ansprüche auch in der EMRK enthalten sind oder nicht.

Die Minderheit der Kommission (10 Mitglieder) beantragt, auf die Vorlage zur Aufhebung von Artikel 190 BV nicht einzutreten. Sie befürchtet eine zu starke Einflussnahme der Justiz auf die Politik und verweist auf die demokratische Legiti7596

mation der Bundesgesetze, die dem fakultativen Referendum unterstehen. Dieser Argumentation hält die Kommissionsmehrheit entgegen, dass sich das Bundesgericht im Rahmen seiner Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber den Kantonen bei politischen Fragen sehr zurückgehalten habe und dass die Bundesverfassung dank dem obligatorischen Referendum und dem damit verbundenen Erfordernis des Ständemehrs auch punkto Legitimation über den Bundesgesetzen stehe.

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Grundsätzliche Einschätzung einer Ausdehnung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesgesetze

Der Bundesrat hat in seiner Botschaft vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung (BBl 1997 I 1, Beschlussesentwurf C über die Reform der Justiz) eine Ausdehnung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf die Bundesgesetze beantragt.

Er zählte das Fehlen eines Rechtsschutzes gegenüber dem Bundesgesetzgeber bei Eingriffen in verfassungsmässige Rechte zu den Rechtsschutzlücken, die er mit der Justizreform beseitigen wollte. Wie die Kommission argumentierte der Bundesrat auch damit, dass die Bundesverfassung gegenüber der EMRK keinen Bedeutungsverlust erleiden soll.

Die Komplexität der Bundesgesetzgebung und damit die Schwierigkeit, Verfassungswidrigkeiten vorauszusehen, die sich in speziellen Anwendungsfällen ergeben könnten, hat seither noch zugenommen. Der Bundesrat ist deshalb ­ in Übereinstimmung mit der Haltung, die er bereits im Rahmen der Justizreform eingenommen hat ­ mit einer Ausdehnung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesgesetze grundsätzlich einverstanden. Die Modalitäten der erweiterten Verfassungsgerichtsbarkeit und ihre Vor- und Nachteile werden im Rahmen der parlamentarischen Beratung der Kommissionsvorlage eingehend zu erörtern sein.

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Beurteilung der von der Kommission vorgeschlagenen Lösung

3.1

Beschränkung auf die konkrete Normenkontrolle

Der Bundesrat teilt die Auffassung der Kommission (Ziff. 3.4.2 des Kommissionsberichts vom 12. August 2011; BBl 2011 7271), dass für Bundesgesetze nur eine vorfrageweise Überprüfung im Zusammenhang mit einem Anwendungsakt (konkrete Normenkontrolle) eingeführt werden soll. Nach der geltenden Gesetzgebung können Bundeserlasse nicht direkt mit Beschwerde angefochten werden (abstrakte Normenkontrolle). Daran wird auch mit Blick auf die Überprüfung von Bundesgesetzen festzuhalten sein, damit nicht die Gefahr besteht, dass politische Meinungsverschiedenheiten aus dem Gesetzgebungsverfahren des Bundes losgelöst von einem konkreten Einzelfall vor das Bundesgericht getragen werden können.

Mehrere Kantone wünschten im Vernehmlassungsverfahren eine Ausnahme, die es den Kantonen erlauben würde, ein Bundesgesetz wegen Verletzung ihrer verfassungsmässigen Kompetenzen abstrakt anzufechten. Eine solche Ausnahme müsste im Bundesgerichtsgesetz vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) geschaffen werden.

Ihre Vor- und Nachteile müssten gegebenenfalls noch genauer analysiert werden.

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3.2

Zur Normenkontrolle ermächtigte Behörden

Eine Aufhebung von Artikel 190 führt dazu, dass alle rechtsanwendenden Behörden im Rahmen des bestehenden Rechtsmittelsystems vorfrageweise die Vereinbarkeit von Bundesgesetzen mit dem übergeordneten Recht prüfen können (sogenanntes diffuses System). Wollte man ausschliesslich das Bundesgericht zu dieser Kontrolle ermächtigen (konzentriertes System), so müsste dies in der Bundesverfassung ausdrücklich geregelt werden.

Der Bundesrat hat 1996 das konzentrierte System vorgeschlagen. Er begründete seine Wahl vor allem mit der Sorge um die Einheit der Verfassungsrechtsprechung (vgl. BBl 1997 I 512 f.). Demgegenüber gibt die Kommission heute dem diffusen System den Vorzug. Sie stiess mit diesem Systementscheid im Vernehmlassungsverfahren mehrheitlich auf Zustimmung. Insbesondere sprachen sich das Bundesgericht, das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesstrafgericht ausdrücklich für das diffuse System aus.

Das diffuse System hat gewisse Nachteile. Es führt dazu, dass auch erstinstanzliche Gerichte und sogar kantonale Verwaltungsbehörden die Kompetenz hätten, die Verfassungswidrigkeit eines Bundesgesetztes festzustellen und dieses deshalb nicht anzuwenden. Man kann die Auffassung vertreten, diese Möglichkeit solle dem obersten Gericht vorbehalten werden. Zudem könnte das diffuse System die Wahrung der Einheitlichkeit der Verfassungsrechtsprechung erschweren. Anderseits kann geltend gemacht werden, die Möglichkeit der diffusen Nichtanwendung entspreche dem föderalistischen Staatsaufbau und der geltenden Regelung für die Normenkontrolle bei kantonalen Erlassen und bei Verordnungen des Bundes. Ist die Anwendung eines Bundesgesetzes sonst strittig, d.h. nicht wegen eines behaupteten Widerspruchs zur Bundesverfassung, so entscheidet darüber auch jede rechtsanwendende Behörde. Wenn es zur Wahrung der Einheitlichkeit der Verfassungsrechtsprechung angezeigt sein sollte, könnte der Gesetzgeber zudem die Beschwerdemöglichkeiten für den Fall der Nichtanwendung eines Bundesgesetzes erweitern (z.B.

Weiterzug ans Bundesgericht unabhängig vom Streitwert oder Ausnahmekatalog; Erweiterung der Bestimmungen über die Behördenbeschwerde des Bundes).

Das konzentrierte System vermeidet die oben genannten Nachteile des diffusen Systems. Der Bundesrat ist sich jedoch bewusst, dass auch das in der Bundesrechtspflege bisher
unbekannte konzentrierte System nicht nur Vorteile hat. Es müsste ein Vorlageverfahren ­ etwa nach dem Muster des sogenannten Vorabentscheidungsverfahrens beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg ­ geschaffen werden. Dieses würde den Ablauf der Rechtsmittelverfahren erschweren (Sistierung des Hauptverfahrens und Zwischenschaltung des Vorlageverfahrens). Das konzentrierte System brächte sodann Elemente einer abstrakten Normenkontrolle mit sich, die der Bundesrat nicht als opportun erachtet (vgl. oben Ziff. 3.1). Das Bundesgericht könnte im Vorlageverfahren nicht den konkreten Streitfall entscheiden, sondern hätte sich nur dazu zu äussern, ob eine Gesetzesbestimmung unter bestimmten Bedingungen der Bundesverfassung widerspricht. Diese Beurteilung des Bundesgerichts müsste aber über den konkreten Fall hinaus Geltung haben, damit nicht andere Behörden später immer wieder die gleiche Frage vorlegen müssten.

Angesichts der verschiedenen Vor- und Nachteile beider Systeme hat der Bundesrat keine grundsätzlichen Einwände gegen die von der Kommission vorgezogene Lösung.

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3.3

Prüfungsmassstab der Normenkontrolle

Wird Artikel 190 BV aufgehoben, so können Bundesgesetze von den rechtsanwendenden Behörden auf ihre Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung und dem Völkerrecht geprüft werden. Beim Vorliegen eines Normkonflikts kann einem Bundesgesetz für den konkreten Fall die Anwendung versagt werden. Bezieht sich der Widerspruch auf das Völkerrecht, muss aber zunächst geklärt werden, ob dem Völkerrecht im zu beurteilenden Fall tatsächlich Vorrang zukommt (vgl. dazu unten Ziff. 3.4).

Die Vorlage des Bundesrates zur Justizreform ging weniger weit. Sie beschränkte die Prüfung bei Beschwerden Privater auf die Frage der Vereinbarkeit mit verfassungsmässigen Rechten respektive Grundrechten und mit dem Völkerrecht. Die Vereinbarkeit mit den verfassungsmässig gewährleisteten Zuständigkeiten der Kantone hätte bloss auf Begehren eines Kantons geprüft werden können. Die damalige Vorlage war in Bezug auf die Prüfung der Verfassungskonformität von Bundesgesetzen weniger weitreichend.

Eine Beschränkung des Prüfungsmassstabs, zum Beispiel auf die Verletzung von Grundrechten, hätte den Nachteil, dass im Hinblick auf den Rechtsschutz nicht alle Bestimmungen der Bundesverfassung auf der gleichen Stufe stehen würden. Zudem ist fraglich, ob eine solche Beschränkung in der Praxis die Belastung der Rechtsmittelinstanzen wesentlich reduzieren würde. Der Bundesrat kann deshalb der Einschätzung der Kommission folgen, dass der Massstab für die vorfrageweise Überprüfung von Bundesgesetzen durch die rechtsanwendenden Behörden nicht eingeschränkt werden soll.

3.4

Zurückhaltung der Gerichte bei politischen Fragen

Die Konkretisierung der Verfassung obliegt in unserer Rechtsordnung in erster Linie dem Gesetzgeber, der über einen grossen Ermessens- und Gestaltungsspielraum verfügt. Zweck der Erweiterung der Verfassungsgerichtsbarkeit ist nicht die Beschneidung dieses Spielraums. Es geht vielmehr darum, rechtsstaatliche Korrekturen zu ermöglichen, wenn eine gesetzliche Regelung sich in einem konkreten Einzelfall als überholt, verfehlt oder stossend und darum verfassungswidrig erweist.

Der Bundesrat geht davon aus, dass das Bundesgericht bei der Beurteilung der Verfassungsmässigkeit von Erlassen weiterhin Zurückhaltung üben und den Ermessens- und Gestaltungsspielraum der Bundesversammlung beachten wird. Diese Vorstellung kam in der Vorlage des Bundesrates aus dem Jahr 1996 deutlicher zum Ausdruck. Die Vorlage präzisierte, dass das Bundesgericht zu entscheiden habe, inwieweit ein Bundesgesetz anzuwenden sei. Sie eröffnete dem Bundesgericht damit explizit die Möglichkeit, die Suche nach einer verfassungskonformen Lösung ausschliesslich dem Gesetzgeber zu überlassen.

Das Bundesgericht hat, namentlich bei der Prüfung kantonaler Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Rechtsgleichheit, schon verschiedentlich solche Urteile mit einem Appell an den Gesetzgeber erlassen, ohne gleichzeitig den Begehren der beschwerdeführenden Partei voll zu entsprechen. Der Bundesrat kann sich der Auffassung der Kommission anschliessen, dass eine normative Grundlage für derartige Entscheide auf Gesetzesstufe geschaffen werden kann.

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3.5

Keine Änderung im Verhältnis zwischen Landesrecht und Völkerrecht

Nach dem Willen der Kommission soll mit der Aufhebung von Artikel 190 BV am Verhältnis zwischen Landesrecht und Völkerrecht nichts geändert werden (Ziff. 3.1 des Kommissionsberichts). Normkonflikte zwischen der Bundesverfassung oder einem Bundesgesetz und dem Völkerrecht werden nach den bisher geltenden Grundsätzen zu entscheiden sein (vgl. dazu Ziff. 8.6 des Berichts des Bundesrates vom 5. März 2010 über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht, BBl 2010 2263). Auch einer Weiterführung der sogenannten Schubert-Praxis (vgl. Ziff. 8.6.2 des erwähnten Berichts des Bundesrates) steht nach Ansicht der Kommission nichts im Wege (Ziff. 3.3 des Kommissionsberichts).

Der Bundesrat erachtet diese Interpretation der Kommissionsvorlage als richtig. Sie ist für ihn eine wichtige Bedingung für die Zustimmung zur vorgeschlagenen Aufhebung von Artikel 190 BV. Diese betrifft somit weder das Verhältnis zwischen Landesrecht und Völkerrecht im Allgemeinen noch das Verhältnis zwischen der Bundesverfassung und dem Völkerrecht. Bei der allfälligen Umsetzung auf Gesetzesstufe wäre zu prüfen, ob eine entsprechende Klarstellung angezeigt ist.

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Antrag des Bundesrates

Der Bundesrat beantragt, der Aufhebung von Artikel 190 BV gemäss dem Mehrheitsantrag der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates im Sinne des Vorstehenden zuzustimmen.

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