zu 97.417 Parlamentarische Initiative Arbeitsrecht. Erhöhung der Streitwertgrenze für kostenlose Verfahren Bericht vom 8. Mai 2000 der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates Stellungnahme des Bundesrates vom 30. August 2000

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, zum Bericht vom 8. Mai 2000 der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates betreffend die Erhöhung der Streitwertgrenze für unentgeltliche arbeitsrechtliche Verfahren nehmen wir nach Artikel 21quater Absatz 4 des Geschäftsverkehrsgesetzes (GVG) nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

30. August 2000

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Adolf Ogi Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

2000-1744

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

Frau Nationalrätin Thanei hat am 28. April 1997 eine Parlamentarische Initiative eingereicht, die eine Revision von Artikel 343 Absatz 2 des Obligationenrechts (OR, SR 220) verlangt: Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis sollen neu bis zu einem Streitwert von 30 000 Franken - und nicht wie nach geltendem Recht nur bis zu einem solchen von 20 000 Franken - kostenlos sein.

Im Sinne des Antrags der Mehrheit seiner Kommission für Rechtsfragen beschloss der Nationalrat am 16. März 1998 mit 79 zu 78 Stimmen, der Initiative Folge zu geben. Im Anschluss daran arbeitete die Kommission für Rechtsfragen einen Vorentwurf zu einer Gesetzesrevision aus.

Über diesen Vorentwurf führte das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement im Auftrag der Rechtskommission ein Vernehmlassungsverfahren durch, das vom 25. August bis Ende November 1999 dauerte. Der Kreis der Vernehmlassungsteilnehmer wurde auf die Kantone, die Sozialpartner und das Bundesgericht beschränkt, weil die vorgeschlagene Gesetzesänderung bloss eine prozessuale Frage betrifft.

Eingegangen sind 35 Stellungnahmen von offiziell begrüssten Institutionen, und zwar 26 von den Kantonen, acht von den Sozialpartnern und eine vom Bundesgericht.

Die meisten Vernehmlasser - nämlich 18 Kantone und sieben Organisationen (vor allem Gewerkschaften) haben die Erhöhung der Streitwertgrenze von 20 000 auf 30 000 Franken befürwortet. Acht Kantone und drei Organisationen, namentlich der Centre Patronal, der Schweizerische Gewerbeverband und die Vereinigung Schweizerischer Arbeitgeberverbände, haben sich gegen die Lösung des Vorentwurfs ausgesprochen Auf die wichtigsten Argumente, die von Befürwortern und Gegnern der Parlamentarischen Initiative ins Feld geführt wurden, wird unter Ziffer 2 eingegangen.

Die Kommission für Rechtsfragen hat am 8. Mai 2000 von den Vernehmlassungsergebnissen Kenntnis genommen; die Kommissionsmehrheit hat dem Beschlussentwurf zugestimmt, während eine Minderheit die Revision ablehnt und beantragt, auf den Gesetzesentwurf nicht einzutreten.

2

Stellungnahme des Bundesrates

Der Bundesrat unterstützt die von Frau Nationalrätin Thanei vorgeschlagene Gesetzesrevision.

Forderungen aus dem Arbeitsverhältnis, die 20 000 Franken übersteigen, sind keineswegs selten. Man denke beispielsweise an die Klage eines Arbeitnehmers wegen missbräuchlicher Kündigung, mit der eine Entschädigung in Höhe von sechs Monatslöhnen verlangt wird (vgl. Art. 336a Abs. 2 OR), oder an die Klage eines Arbeitgebers wegen Verletzung eines Konkurrenzverbots, mit der eine Konventionalstrafe und der weitere Schaden geltend gemacht wird (vgl. Art. 340b Abs. 2 OR).

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Nun ist aber in der Praxis häufig festzustellen, dass - vor allem auf Arbeitnehmerseite - die an sich höhere Forderung bei der gerichtlichen Geltendmachung auf 20 000 Franken herabgesetzt wird, um in den Genuss des kostenlosen Verfahrens nach Artikel 343 OR zu kommen. Diese Feststellung entkräftet oder relativiert zumindest stark die im Vernehmlassungsverfahren geäusserten Befürchtungen, dass die vorgeschlagene Erhöhung der Streitwertgrenze zu einer Erhöhung der Zahl arbeitsrechtlicher Prozesse und somit zu einer Überlastung der Gerichte führe. Bei den meisten Fällen wird es sich namentlich um Prozesse handeln, die der Kläger sowieso durchführen würde, allerdings bei Geltendmachung einer tieferen Forderung als derjenigen, die ihm nach seiner Meinung tatsächlich zustand.

Aus diesem Grund erweist sich auch die Angst als wenig begründet, dass eine Erhöhung der Streitwertgrenze im Sinne der Parlamentarischen Initiative mehr Kosten für die Gerichte und insbesondere für die Kantone verursache, was in Anbetracht der angespannten finanziellen Verhältnisse kaum zu verkraften sei.

Dem Argument, wonach die unentgeltliche Prozessführung bereits heute Härtefälle zu vermeiden vermöge, kann entgegengehalten werden, dass dieses Institut auf die finanziellen Verhältnisse des Klägers - sowie auf seine Erfolgschancen im Prozess abstellt und daher häufig nicht beansprucht werden kann. Mit der Höhe der geltend gemachten Forderung hat die unentgeltliche Prozessführung zudem nichts zu tun.

Zu erwähnen ist noch, dass Artikel 343 OR paritätisch ausgestaltet ist, so dass die Erhöhung der Streitwertgrenze sowohl den Arbeitnehmern wie auch den Arbeitgebern zugute kommen wird.

Weitere Gründe sprechen für die Initiative. Selbst drei Kantone, die mit Mindereinnahmen an Gerichtsgebühren rechnen (Appenzell A.-Rh., Basel-Stadt und Zürich), stimmen der Initiative zu. Auch ist auf die positiven Erfahrungen der Kantone Wallis und Waadt hinzuweisen, die bereits heute eine höhere Streitwertgrenze für das kostenlose Verfahren bei arbeitsrechtlichen Streitigkeiten kennen, wie auch auf diejenigen des Kantons Genf, der für diese Prozesse in erster Instanz eine kostenlose Rechtshilfe eingeführt hat. Zusätzlich sei hervorgehoben, dass für drei Kantone (Basel-Landschaft, Neuenburg und Zug) und für gewisse Organisationen eine noch höhere
Streitwertgrenze wünschbar wäre.

Schliesslich ist zu bemerken, dass die Kantone Glarus, Obwalden und St. Gallen, die die Initiative grundsätzlich ablehnen, immerhin einer Erhöhung der Streitwertgrenze auf 25 000 Franken zustimmen könnten, um der seit 1988 eingetretenen Teuerung Rechnung zu tragen.

Seitens der Arbeitgeber wurde darauf hingewiesen, dass jede gerichtliche Auseinandersetzung auch interne und externe Kosten generiert, die nicht über das kostenlose Gerichtsverfahren abgegolten werden. Zusammen mit drei Kantonen hat der Bundesrat deshalb ein gewisses Verständnis dafür, dass auch eine blosse Anpassung des Grenzwertes an die zwischenzeitlich eingetretene Teuerung, d.h. eine Festlegung bei 25 000 Franken ins Auge gefasst werden könnte. Andererseits wurde von mehreren Kantonen und Organisationen auch eine Erhöhung über die Schwelle von 30 000 Franken gefordert. In Abwägung der vorgebrachten Argumente ist der Bundesrat zur Auffassung gelangt, dass eine Festlegung auf 30 000 Franken gerechtfertigt ist, zumal der die Teuerung überschreitende Betrag im Sinne einer Vorgabe für die kommenden Jahre aufgefasst werden kann.

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Finanzielle und personelle Auswirkungen für Bund und Kantone

Für die Kantone hat die beantragte Revision von Artikel 343 OR negative finanzielle Folgen im Sinne einer Mindereinnahme von Gerichtsgebühren. Es wird sich dabei aber um sehr bescheidene Auswirkungen handeln. Wie bereits unter Ziffer 2 ausgeführt, wird nämlich die Zahl der arbeitsrechtlichen Prozesse kaum steigen; vielmehr werden bei einer praktisch unverändert bleibenden Zahl von Verfahren höhere Forderungen geltend gemacht werden, was bereits heute geschehen würde, wenn der Streitwert nicht wegen des geltenden Artikels 343 OR auf 20 000 Franken herabgesetzt würde.

Dasselbe gilt für den Bund. Dabei ist noch hinzuzufügen, dass bei einer - im Rahmen der Totalrevision der Bundesrechtspflege möglichen - Festlegung der Streitwertgrenze auf 20 000 Franken das Problem sich nur für die arbeitsrechtlichen Prozesse mit einem Streitwert zwischen 20 001 und 30 000 Franken stellen würde und dass bei einer - ebenso möglichen - Streitwertgrenze von 30 000 Franken die Frage grösstenteils obsolet würde. Unterhalb der Streitwertgrenze wird das Bundesgericht nämlich nur dann angerufen werden können, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt (Art. 191 Abs. 2 BV in der Fassung der Justizreform, BBl 1999 8634).

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Verhältnis zum europäischen Recht

Weder im Europarecht im Allgemeinen noch in den bilateralen Verträgen zwischen der Schweiz und der EG im Besonderen finden sich Bestimmungen über die Streitwertgrenze für kostenlose Gerichtsverfahren. Mangels grundsätzlicher Kompetenz der EU im Bereich des Zivil- und Zivilprozessrechts sind in näherer Zukunft auch keine entsprechenden Harmonisierungsbestrebungen zu erwarten. Auch im Grünbuch der Kommission vom 9. Februar 2000 über die "Prozesskostenhilfe in Zivilsachen: Probleme der Parteien bei grenzüberschreitenden Streitsachen" (KOM(2000)51 endgültig) werden lediglich die bestehenden Hindernisse für einen wirksamen Zugang der Unionsbürgerinnen und -bürger, die in einem anderen Mitgliedstaat einen Rechtsstreit führen, zu Prozesskostenhilfe geprüft und einzelne Reformvorschläge dargelegt.

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Verfassungsmässigkeit

Die Vorgeschlagene Revision kann sich auf Artikel 122 Absatz 1 BV, wonach die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Zivilrechts Sache des Bundes ist, wie auch auf Artikel 110 Absatz 1 Buchstabe a BV (Zuständigkeit des Bundes zum Erlass von Vorschriften über den Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern) stützen.

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