02.033 Bericht der Aussenpolitischen Kommission des Ständerates über die Optionen der schweizerischen Integrationspolitik vom 18. März 2002

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, Die Aussenpolitische Kommission des Ständerates unterbreitet Ihnen ihren Bericht über die Optionen der schweizerischen Integrationspolitik. Sie beantragt, vom Bericht Kenntnis zu nehmen und seine Empfehlungen anzunehmen.

18. März 2002

Im Namen der Aussenpolitischen Kommission des Ständerates Der Präsident: Maximilian Reimann

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2002-1905

Bericht 1

Einführung

Die Aussenpolitische Kommission des Ständerates hat im Verlauf des Jahres 2001 eine Reihe von Anhörungen zur Europapolitik der Schweiz durchgeführt. Sie wollte sich damit einen Überblick verschaffen über die Optionen, die der Schweiz für die nächsten Integrationsschritte zur Verfügung stehen, und über ihre Auswirkungen in einzelnen Politikbereichen. Die Kommission strebte damit auch eine Versachlichung der teilweise emotional geführten Diskussion an. Weiter bezweckte sie, die internen Reformen zu überblicken, die in einzelnen Politikbereichen für die weitere Annäherung an die Europäische Union bei den zur Verfügung stehenden Varianten nötig werden.

Die Kommission führte an vier ihrer Sitzungen Anhörungen durch, zu den insgesamt sechs Themen «Wirtschaft» (11. und 12. Januar), «Föderalismus», «Volksrechte und direkte Demokratie» (17. und 18. Mai), «Aussen- und Sicherheitspolitik», «Innere Sicherheit» (20. und 21. August), «Sozialpolitik» und «Staatsleitung» (18. und 19. Oktober). Die eingeladenen Experten sind in der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Bundesverwaltung tätig. Zusätzlich hörte die Kommission weitere Experten aus dem In- und Ausland an, die sich in themenübergreifenden Referaten zu einzelnen Fragestellungen äusserten.1 Zu jedem Thema wurden die drei Optionen «Bilateraler Weg», «Beitritt zum EWR» und «Beitritt zur Europäischen Union» geprüft. Eine weitere Möglichkeit wäre eine «Assoziation». Diese Variante wurde erst im Verlaufe der Kommissionsarbeit in die Überlegungen einbezogen, nachdem die Befürworter dieses Modells die Kommission darum gebeten hatten.

Der vorliegende Bericht beschreibt zunächst diese Optionen (Ziff. 2) und gibt anschliessend, gestützt auf die Diskussionen in der Kommission, eine gesamthafte Bewertung der Chancen und Risiken der einzelnen Optionen (Ziff. 3). In nachfolgender Ziffer werden einzelne Politikbereiche, insbesondere auf Grund der Anhörungen, zusammenfassend dargestellt (Ziff. 4). Schliesslich legt die Kommission ihre Schlussfolgerungen und Empfehlungen für das weitere Vorgehen vor (Ziff. 5).

Der so genannte Alleingang ist in der Kommission nicht diskutiert worden. Es gibt jedoch durchaus auch Argumente, die für diese Option sprechen würden. Die Schweiz ist Mitglied zahlreicher internationaler Organisationen, die gerade für Kleinstaaten eine grosse
Rechtssicherheit geschaffen haben. Diese Weltstaatlichkeit, die etwa durch das Internationale Arbeitsamt, die Welthandelsorganisation, die UNO-Entwicklungsagenturen, durch spezialisierte Organisationen wie die Internationale Fernmeldeunion oder durch technische Standards und Abkommen getragen wird, erlaubt auch kleineren Ländern in einzelnen Bereichen den differenzierten und sachbezogenen Verkehr mit anderen Staaten, ohne dass sie sich einer kontinentalen Grossgruppe anschliessen müssen. Dem stehen als Nachteile die fehlenden Mitsprachemöglichkeiten gegenüber starken Staatengruppen und der schlechte Ruf des Abseitsstehens entgegen, was sich als aussenpolitische Schwäche auswirken kann.

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Eine vollständige Liste der Experten und ihrer Referate findet sich im Anhang.

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Die Kommission dankt den zuständigen Verwaltungsstellen, insbesondere dem Integrationsbüro EDA/EVD, für die Unterstützung der Arbeiten. Als besonders wertvoll erwiesen sich dabei synoptische Zusammenfassungen, die ihr für die verschiedenen Themenbereiche zur Verfügung gestellt wurden.

2

Beschreibung der Optionen

2.1

Der bilaterale Weg

Der bilaterale Weg entspricht der im Moment durchgeführten Politik des Bundesrates. Die Schweiz sucht die weitere Annäherung an die europäische Union über eine Reihe von sektoriellen Abkommen. Sieben von ihnen sollen demnächst in Kraft treten, in den Bereichen Forschung, Personenfreizügigkeit, öffentliches Beschaffungswesen, technische Handelshemmnisse, Landwirtschaft, Luftverkehr und Landverkehr. Die sektoriellen Verträge schaffen einen gegenseitigen Marktzugang, jedoch nicht, wie der EWR, binnenmarktähnliche Verhältnisse. Mit Ausnahme des Luftverkehrsabkommens handelt es sich um statische Verträge, das heisst, es besteht kein zwingender Mechanismus zur Übernahme der Rechtsfortentwicklung innerhalb der EU ins Verhältnis Schweiz-EU.

Die bilateralen Abkommen haben auch Auswirkungen auf die Kantone, soweit die erfassten Bereiche in deren Kompetenz fallen. Dies ist beispielsweise beim öffentlichen Beschaffungswesen der Fall, welches übrigens auch die Gemeinden betrifft.

Das Personenfreizügigkeitsabkommen berührt die Zuständigkeit der EU als Ganzes und die Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten. Es musste daher auch von allen 15 EU-Mitgliedern ratifiziert werden. Die sieben sektoriellen Abkommen sind juristisch miteinander verknüpft. Aus diesem Grund können auch die anderen sechs Verträge dieses ersten Pakets erst in Kraft treten, wenn der Ratifizierungsprozess des Personenfreizügigkeitsabkommens endgültig abgeschlossen ist. Dies wird voraussichtlich in der ersten Hälfte des Jahres 2002 der Fall sein.

Weitere Verhandlungen oder Gespräche wurden auf den folgenden Gebieten eingeleitet: Verarbeitete Landwirtschaftsprodukte, Statistik, Umwelt, Dienstleistungen, Bildung und Jugend, Medien, fiskalische Behandlung der Pensionen von EUBeamten in der Schweiz, Betrugsbekämpfung, Zinsbesteuerung, Innere Sicherheit («Schengen» und «Dublin»). Es besteht keine juristische Verknüpfung zwischen den einzelnen Verhandlungsdossiers.

Die Verhandlungen über die Themen «Verarbeitete Landwirtschaftsprodukte», «Statistik», «Umwelt», «Dienstleistungen», «Bildung und Jugend», «Medien», und «Pensionen von EU-Beamten in der Schweiz» wurden bereits bei Abschluss der vorhergehenden Verhandlungen beschlossen und in einer gemeinsamen Erklärung festgehalten. Die Bereiche «Betrugsbekämpfung» und «Zinsbesteuerung» entsprechen
einem Anliegen der Union, während die Frage der Beteiligung der Schweiz an den Abkommen von Schengen und Dublin ein Wunsch der Schweiz war.

Von den neuen Abkommen hätten namentlich die Teilnahme an Schengen und das Dienstleistungsabkommen Integrationscharakter, was eine fortlaufende Übernahme des neuen Acquis bedeutete.

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2.2

Beitritt zum EWR

Der EWR, der 1994 in Kraft trat, hatte das Ziel, denjenigen Staaten eine Teilnahme am Europäischen Binnenmarkt zu ermöglichen, die noch nicht bereit waren, die politischen Verpflichtungen eines Vollbeitritts zu den Europäischen Gemeinschaften einzugehen. Er war zwischen den EFTA-Staaten Schweden, Norwegen, Finnland, Island, Österreich, Liechtenstein und der Schweiz einerseits und der damals zwölf Mitglieder umfassenden EG ausgehandelt worden. Die Schweiz lehnte eine Teilnahme am EWR am 6. Dezember 1992 ab.

Charakteristisch für den EWR ist, dass neue EG-Regelungen laufend in den EWR einfliessen. Die Nicht-EU-Mitglieder nehmen an der eigentlichen Beschlussfassung über neue Regelungen nicht teil, haben aber ein gestaltendes Mitspracherecht bei der Entscheidvorbereitung: Sie nehmen am «decision shaping» teil, welches in Arbeitsgruppen und Ausschüssen auf Beamten- und Expertenebene geschieht. Der EWR schafft somit für die beteiligten Nicht-EU-Mitglieder binnenmarktähnliche Verhältnisse.

Der EWR besteht aus einem EFTA-Pfeiler und einem EU-Pfeiler. Die EFTA hat sich eine Überwachungsbehörde und einen Gerichtshof gegeben, um die entsprechenden Institutionen auf EU-Seite zu spiegeln. 1995 sind mit Schweden, Finnland und Österreich drei EWR-Mitglieder der EU beigetreten. Dadurch ergab sich eine Gewichtsverschiebung zwischen den zwei Pfeilern. Der EFTA-Pfeiler besteht noch aus den drei Ländern Norwegen, Island und Liechtenstein, die sich jetzt 15 EUMitglieder gegenübersehen. Mit der bevorstehenden EU-Erweiterung wird sich dieses Ungleichgewicht noch verstärken.

Seit der Aushandlung des EWR-Abkommens ist der EG-Vertrag mehrmals revidiert worden. Er deckt jetzt auch Bereiche ab, welche im EWR nicht berücksichtigt werden, etwa sozialpolitische Bestimmungen, Aspekte der Umweltgesetzgebung oder die Zusammenarbeit bei der inneren Sicherheit. Auch kommen in der EU-internen Zusammenarbeit vermehrt «Soft-law»-Instrumente zur Anwendung, das heisst flexible und informelle Regelsysteme, die sich an Zielvorgaben orientieren und auf Koordination basieren. Es besteht jedoch keine juristische Basis und keine Rechtspflicht für die Teilnahme von EFTA/EWR-Staaten an diesen Zusammenarbeitsformen.

Der EWR funktioniert nach wie vor gut, ist jedoch durch seine asymmetrische Struktur geprägt, die dazu führt, dass der relative
Einfluss der EFTA/EWR-Länder geringer geworden ist. Dennoch zeigen sich Norwegen, Island und Liechtenstein im Allgemeinen befriedigt.

Gemäss dem EWR-Vertrag hat die Schweiz das ausdrücklich erwähnte Recht, ein Beitrittsgesuch für den EWR zu stellen. Die Frage ist jedoch seit der Ablehnung durch Volk und Stände 1992 von der Schweiz und der EU nicht wieder aufgegriffen worden. Beitrittsverhandlungen wären dennoch nötig, speziell in denjenigen Bereichen, in denen sich das Recht unterschiedlich entwickelt hat. Dies gilt auch für die finanziellen Leistungen der Schweiz im EWR.

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2.3

Beitritt zur EU

Die Europäische Union in ihrer heutigen Form ist ein während Jahrzehnten gewachsenes und äusserst komplexes Gebilde. Von ursprünglich 6 auf heute 15 Mitgliedstaaten angewachsen, hat sie sich in mehreren Vertragsänderungen neue Aufgabenbereiche und Strukturen gegeben.

Die EU basiert auf drei Pfeilern. Zum ersten Pfeiler gehören die drei Europäischen Gemeinschaften, die ehemalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG, später EG («Binnenmarkt»/«Wirtschafts- und Währungsunion»), die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGKS und die Europäische Atomgemeinschaft Euratom.

Diese drei supranationalen Gemeinschaften haben eine eigene Rechtspersönlichkeit.

Beim zweiten und dritten Pfeiler hingegen handelt es sich um eine rein intergouvernementale Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten auf den Gebieten «Aussen- und Sicherheitspolitik» und «Justiz und Inneres». Teile der Zusammenarbeit im Bereich «Justiz und Inneres» sind mit der Vertragsrevision von Amsterdam, die seit 1999 in Kraft ist, in den ersten Pfeiler übergeführt worden und fallen jetzt in die Zuständigkeit der Gemeinschaft.

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EG: Binnenmarkt/WWU EGKS

Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik

Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen

Gemeinsame Strategien Gemeinsame Aktionen Gemeinsame Standpunkte

Kriminalitätsbekämpfung Europol

Euratom

Gemeinsame Politiken: Landwirtschaft Wettbewerb Aussenhandel Währung Asyl Migration Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen u.a.

SIS Rechtshilfe in Strafsachen

4 Freiheiten: Warenverkehr Personenverkehr Kapitalverkehr Dienstleistungen

Seit 1998 führt die EU Beitrittsverhandlungen mit Ungarn, Polen, Tschechien, Slowenien, Estland und Zypern; seit Februar 2000 auch mit Lettland, Litauen, der Slowakei, Bulgarien, Rumänien und Malta. Eine Erweiterung um zehn neue Mitglieder könnte bereits 2004 erfolgen.

Die nächste Erweiterung wird die Union verändern. Wegen der immer grösseren Gesamtzahl der Mitgliedstaaten und der zunehmenden Unterschiede unter ihnen hat sich die EU die Möglichkeit gegeben, dass einzelne Mitglieder in einzelnen Bereichen enger zusammenarbeiten. Trotzdem wird sie vermehrt den Anspruch erheben können, die Interessen ganz Europas zu vertreten, und ihre rein westeuropäische 6331

Ausrichtung verlieren. Dadurch wird ihr weltpolitisch gesehen eine andere Rolle zukommen.

Seit der Regierungskonferenz von Nizza im Dezember 2000 befasst sich die EU zudem mit bedeutenden institutionellen und inhaltlichen Reformfragen. Dazu gehörten die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten gemäss dem Subsidiaritätsprinzip, der rechtliche Status der Charta der Grundrechte, die Vereinfachung der Verträge mit dem Ziel, diese klarer und verständlicher zu machen, und die Rolle des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente. An den Regierungsgipfeln von Göteborg (Juni 2001) und Laeken (Dezember 2001) wurden diese Bemühungen weiter vorangetrieben.

Angesichts der laufenden Erweiterungspläne und Reformbestrebungen wäre es unzutreffend, die EU als gefestigte institutionelle Konstruktion zu beschreiben. Vielmehr muss sie als Prozess der ständigen Integration verstanden werden.

Im Fall der Schweiz wären die Beitrittsverhandlungen nach Einschätzung des Bundesrates von relativ kurzer Dauer, da zunächst mit dem Freihandelsabkommen von 1972 und neu vor allem mit den demnächst in Kraft tretenden sektoriellen Abkommen bereits eine deutliche Annäherung stattgefunden hat. Die Schweiz müsste jedoch noch eine Anzahl innerer Reformen durchführen. Sie würde die bestehende Gesetzgebung der Union übernehmen. Dies beinhaltet unter anderem die Teilnahme an der Währungsunion, die Integration in den Binnenmarkt und in die Zollunion, die Mitarbeit im europäischen Raum der Sicherheit und des Rechts und die Teilnahme an der gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik.

Bei einem Beitritt würde sich die Schweiz vollständig in die Europäische Union integrieren, in eine Gemeinschaft von Staaten, mit denen sie durch gemeinsame Sprachen, Kulturen und Wertvorstellungen verbunden ist. Sie könnte die weitere Entwicklung der EU als vollberechtigtes Mitglied mitgestalten und teilte umgekehrt einen Teil ihrer Entscheidungsbefugnisse mit der Gemeinschaft.

Der EU-Beitritt stellte ohne Zweifel eine tief greifende Veränderung in der Geschichte unseres Landes dar. Die Schweiz müsste sich in weiten Bereichen neu organisieren, so beispielsweise im Steuersystem und bei der Staatsleitung. Dazu müssten Werte wie «Souveränität», «Unabhängigkeit» und «direkte Demokratie» neu definiert werden, da sie mit dem Beitritt zu einer supranationalen Organisation eine veränderte Ausgestaltung erhielten.

2.4

«Assoziation»/Rahmenabkommen

Mit «Assoziation» ist eine institutionelle Lösung gemeint, welche es erlaubt, alle bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU unter dem Dach eines Rahmenabkommens zu bündeln. Dieses Rahmenabkommen soll ein schrittweises Vorgehen ermöglichen, welches die bereits bestehenden bilateralen Verträge zum Ausgangspunkt nimmt und alle weiteren Verhandlungen in diese Handlungslinie eingliedert. Auch ein EWR-Beitritt könnte in diesen Rahmen gestellt werden. Ziel ist es, die Beziehungen der Schweiz zu EU so eng und ausgewogen wie möglich zu gestalten und es der Schweiz zu erlauben, einen konkreten und steten Beitrag an den Aufbau Europas zu leisten. Dabei käme der Schweiz ein Mitgestaltungsrecht zu.

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Die Befürworter dieses Ansatzes sind der Ansicht, dass ein solches Vorgehen es ermöglichen würde, von der ihres Erachtens unfruchtbaren Fixierung auf einzelne Optionen wegzukommen und die Annäherung an die EU weiter voranzutreiben, ohne dass bereits jetzt eine definitive Entscheidung gefällt werden muss.

Offen ist, ob die EU an einem Assoziationsabkommen mit der Schweiz interessiert wäre. Dies ist von der Schweiz bisher nicht eingebracht und mit der EU nie diskutiert worden. Das Charakteristische an Assoziationsabkommen gemäss EU-Recht ist, dass sich beide Seiten gemeinsame Verfahren und Institutionen geben. Der Inhalt dieser Abkommen kann auf spezifische Bereiche begrenzt werden (beispielsweise eine Schengen-Assoziation). Sie können aber auch als Rahmen für die Gesamtheit der Beziehungen zwischen der EU und einem Drittland dienen. In diesem Sinn wäre es vorstellbar, die bestehenden und künftigen Abkommen Schweiz-EU unter das Dach eines Assoziationsvertrages im Sinn eines Rahmenabkommens zu stellen.

3

Bewertung der Chancen und Risiken

3.1

Vorbemerkung: Optionsunabhängiger Reformdruck

Bei der Bewertung der Chancen und Risiken der geprüften europapolitischen Optionen müssen die aktuellen Reformdiskussionen, welche innenpolitische Institutionen betreffen, ebenfalls berücksichtigt werden. Weiter gilt es, in bestimmten Bereichen den von aussen entstehenden Reformdruck einzubeziehen. Diese Faktoren werden die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der nächsten Jahre beeinflussen, und zwar unabhängig davon, welche Integrationspolitik die Schweiz letztlich verfolgen wird.

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Die Staatsleitungsreform ist unumgänglich. Der zunehmende Koordinationsbedarf zwischen den Departementen und der steigende Zeitdruck, unter dem die Entscheidungen gefällt werden müssen, stellen eine grosse Belastung dar. Sie wirkt sich nicht nur auf die Institutionen ­ Bundesrat, Verwaltung und Parlament ­ aus, sondern auch unmittelbar auf die Entscheidungsträger selbst, insbesondere auf die Mitglieder des Bundesrates. Der Koordinationsbedarf wird angesichts der steigenden Komplexität der Politik weiter zunehmen, nicht zuletzt deshalb, weil es im Licht der Globalisierung nicht immer möglich ist, Innen- und Aussenpolitik klar voneinander zu trennen. Wie die Schweiz ihre Beziehung zur Europäischen Union ausgestaltet, spielt dabei keine wesentliche Rolle.

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Der Prozess der Globalisierung führt dazu, dass aussenpolitischen Themen zunehmend eine innenpolitische Relevanz zukommt ­ und umgekehrt. Davon sind auch die Kantone betroffen. Die Mitwirkung der Kantone in der Aussenpolitik funktionierte bisher noch nicht befriedigend. Verfeinerungen, insbesondere ein frühzeitiger Einbezug der Kantone, sind bei der Umsetzung des Gesetzes über die Mitwirkung der Kantone in der Aussenpolitik notwendig, wenn die Kantone ihre Mitwirkungsrechte in der Aussenpolitik im Allgemeinen und in der Integrationspolitik im Speziellen angemessen wahrnehmen wollen.

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Der ausländische Druck auf das Bankkundengeheimnis nimmt aus verschiedenen Gründen zu. Neben Anliegen im Zusammenhang mit der Vergangenheitsbewältigung geht es vor allem um die Konkurrenz zwischen den Finanzplätzen und um fiskalische Überlegungen. Im Vordergrund steht dabei die Forderung nach Aufhebung des Bankkundengeheimnisses auch in Fiskalbelangen. Dieser Druck wird unabhängig von der schweizerischen Europapolitik weiter bestehen.

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Die fortschreitende Globalisierung führt zu einem Anpassungsbedarf zahlreicher Wirtschaftsbereiche. Herausragendes Beispiel ist die schweizerische Landwirtschaft, welche in den letzten Jahren bereits tief greifende Veränderungen durchgemacht hat. Der Anpassungsdruck besteht jedoch weiterhin.

Massgebend in diesem Zusammenhang sind vor allem die Bestimmungen der WTO.

3.2

Bilateraler Ansatz

3.2.1

Chancen

Innenpolitisch gesehen ist der bilaterale Weg ist zur Zeit die einzige mehrheitsfähige Option.

Die erste Verhandlungsrunde hat zu massgeschneiderten Lösungen geführt, die der speziellen Situation der Schweiz Rechnung tragen. Das Resultat ist insofern ausgewogen, als beide Seiten Zugeständnisse gemacht haben und gleichzeitig wichtige eigene Forderungen durchsetzen konnten.

Die Abkommen bringen in allen Verhandlungsbereichen eine deutliche Annäherung an die EU und haben für die Schweiz grosse Vorteile. Zentrale Elemente, die das schweizerische Selbstverständnis ausmachen, werden dabei nicht angetastet: Die direkte Demokratie kann in ihrer bisherigen Form weiter wahrgenommen werden, unser Land behält die eigene Währung und kann weiterhin eine unabhängige Währungs- und Konjunkturpolitik betreiben, das Steuersystem bleibt erhalten. Die formelle Autonomie unseres Landes wird somit nicht tangiert.

Die Schweiz hat eine gute Ausgangslage für die nächste Verhandlungsrunde: Da sowohl Themen, welche auf Wunsch der EU einbezogen wurden, als auch schweizerische Anliegen verhandelt werden, ist ein ausgewogenes Ergebnis auch diesmal ein durchaus realistisches Ziel. Voraussetzung dafür ist, dass beide Seiten ein Interesse an einem positiven Resultat haben und dass beide Verhandlungspartner zu Konzessionen bereit sind.

3.2.2

Risiken

Die bisher aus bilateralen Verhandlungen hervorgehenden Abkommen sind mehrheitlich statisch, das heisst, sie können nicht automatisch an die Weiterentwicklung des Rechts ­ sei es in der Schweiz oder in der EU ­ angepasst werden. Das rasche Fortschreiten des EU-Integrationsprozesses führt jedoch dazu, dass bestehende Abkommen rasch überholt werden. Eine Ausnahme im ersten Paket stellt allerdings das Luftverkehrsabkommen dar, das die laufende Anpassung an das EU-Recht vor6334

sieht. Andere Abkommen enthalten Bestimmungen, die Anpassungen in Einzelbereichen ermöglichen.

Im weiteren wird die EU von der Schweiz verlangen müssen, dass der Geltungsbereich aller bilateralen Abkommen im Zuge ihrer Osterweiterung auf die neuen Mitgliedstaaten ausgedehnt wird. Das Gleichbehandlungsgebot aller Mitglieder innerhalb der EU verpflichtet sie, dies spätestens nach einer Übergangsfrist zu verlangen. Die Schweiz ihrerseits könnte sich dem nur durch Verzicht auf alle sieben Abkommen entziehen.

Die juristische Verknüpfung der ersten sieben Abkommen erschwert zudem ihre Überarbeitung. So wäre die Kündigung eines Abkommens nicht möglich, ohne die anderen sechs ebenfalls in Frage zu stellen. Dies beschränkt die Flexibilität der Verhandlungspartner auf beiden Seiten.

Die bevorstehende Osterweiterung der EU impliziert, dass die Schweiz das bestehende Personenfreizügigkeitsabkommen mit zusätzlichen Verträgen auch auf die neuen Mitgliedstaaten ausweiten muss. Die Genehmigung der Zusatzverträge durch das Parlament ist referendumsfähig. Bei einer Ablehnung durch die Stimmenden wäre das bestehende Freizügigkeitsabkommen und damit automatisch alle Verträge des ersten Pakets in Frage gestellt. In diesem Sinn enthalten die «statischen» Abkommen des ersten Pakets ebenfalls eine dynamische Komponente, der sich die Schweiz nicht ohne schwerwiegende Konsequenzen entziehen könnte.

Die Themen der neuen Verhandlungen mit der EU betreffen teilweise Bereiche, in denen die weiteren Entwicklungen innerhalb der EU noch nicht abschätzbar sind.

Das gilt insbesondere für die Bereiche des Schengener- und des DublinerAbkommens. Sie sollen im Unterschied zu den bisherigen, statisch ausgeprägten bilateralen Abkommen dynamisch weiter entwickelt werden, zumal auch die Rechtsentwicklung innerhalb der EU erst am Anfang steht. Ein angemessenes Mitspracherecht der Schweiz bei der Weiterentwicklung des EU-Rechts müsste daher sichergestellt werden. Bilaterale Abkommen, welche die automatische Übernahme des EU-Rechts vorsähen, wären in der Schweiz kaum mehrheitsfähig.

Ein weiteres Risiko besteht darin, dass die bisherigen Erfolge in der Schweiz als beliebig wiederholbar wahrgenommen werden könnten. Die Tatsache, dass es bisher gelungen ist, Kernbereiche des schweizerischen Selbstverständnisses zu erhalten, garantiert jedoch
in keiner Weise, dass dies auch zukünftig möglich sein wird. Auf einzelnen Gebieten, etwa beim Bankkundengeheimnis, ist der Druck von aussen beträchtlich angestiegen. Das Festhalten am bilateralen Ansatz stellt keinen Schutz mehr dar vor den hohen Erwartungen der Verhandlungspartner.

Bilaterale Verhandlungen sind ein ausgesprochen langwieriger Prozess. Zwischen dem 6. Dezember 1992, an welchem mit dem Nein zum EWR der bilaterale Prozess eingeleitet wurde, und dem voraussichtlichen Inkrafttreten der Abkommen Mitte 2002 liegt eine Zeitspanne von annähernd einem Jahrzehnt. Die Europäischen Gemeinschaften, mit denen damals die ersten Gespräche geführt wurden, waren eine völlig andere Institution als die EU, der sich die Schweiz jetzt gegenüber sieht.

Auch wenn die Schweiz mit der EU wirtschaftlich eng verflochten ist und politisch und kulturell zahlreiche Gemeinsamkeiten mit den EU-Mitgliedstaaten aufweist, bleibt ihr Einfluss auf die Entscheidungsprozesse der Union verschwindend klein, während die von der EU gefällten Entscheide das politische und wirtschaftliche Geschehen in unserem Land oft entscheidend mitprägen. Während die Autonomie 6335

der Schweiz formell erhalten bleibt, ist sie materiell dennoch eingeschränkt. Die Intensivierung der bilateralen Beziehungen im Rahmen der bestehenden Abkommen und durch die neuen Verhandlungen ändert nichts an diesem Ungleichgewicht.

3.3

Beitritt zum EWR

3.3.1

Chancen

Ein Beitritt zum EWR ermöglichte der Schweiz eine volle Teilnahme am Europäischen Binnenmarkt. Sie würde die wirtschaftlichen, nicht aber alle politischen Verpflichtungen übernehmen, die eine EU-Mitgliedschaft mit sich bringt. Die Beteiligung an den vier Freiheiten des Binnenmarktes hätte ein messbares Wirtschaftswachstum zur Folge.

Der EWR-Vertrag ist dynamisch. Die neue den EWR betreffende Gesetzgebung würde fortlaufend in das schweizerische Recht übernommen. Bei ihrer Ausgestaltung hätte die Schweiz im Rahmen des «decision-shaping» ein gestaltendes Mitwirkungsrecht: Sie wäre bei den Arbeiten auf Expertenebene beteiligt.

Das Mitspracherecht im Rahmen des decision shaping hat sich im Allgemeinen bewährt: Vertreter der EFTA/EWR-Staaten äussern sich übereinstimmend dahingehend, dass sie sich bisher nie gezwungen gesehen hätten, eine für sie völlig unakzeptable Bestimmung übernehmen zu müssen.

Der interne Reformbedarf in der Schweiz wäre gering: Die politischen Rechte blieben, soweit sie nicht direkt den Anwendungsbereich des EWR betreffen, erhalten.

Institutionen wie beispielsweise das Steuersystem könnten beibehalten werden. Die Schweiz könnte weiterhin eine «Nischenpolitik» betreiben und die Vorteile ihrer wirtschaftspolitischen Unabhängigkeit ausnützen. Die Eingriffe in die Kompetenzen der Kantone wären weniger einschneidend als bei einem Beitritt.

Ein Beitritt der Schweiz würde den EFTA-Pfeiler des EWR zahlenmässig verstärken. Die drei jetzigen EFTA/EWR-Mitglieder haben insgesamt eine Bevölkerung von unter fünf Millionen. Mit der Schweiz stiege die Einwohnerzahl auf annähernd zwölf Millionen. Auch die internen Abläufe und die Arbeitsteilung innerhalb des EFTA/EWR würden durch eine Erhöhung der Mitgliedstaaten von drei auf vier vereinfacht.

Der EWR-Vertrag enthält in Artikel 128 eine Bestimmung, in der das Recht der Schweiz, sich für die EWR-Mitgliedschaft zu bewerben, ausdrücklich festgehalten wird. Über das Prinzip müsste also nicht verhandelt werden.

3.3.2

Risiken

Der EWR ist asymmetrisch, da sich erstens die unter fünf Millionen Einwohner (mit der Schweiz: 12 Millionen) einer Gesamtbevölkerung der EU von 370 Millionen gegenübersehen. Mit der kommenden Osterweiterung würde sich diese Asymmetrie verstärken, da die EU bis 100 Millionen zusätzliche Einwohner erhalten könnte.

Zweitens kann das Mitwirkungsrecht beim decision-shaping das fehlende Stimmrecht nur teilweise kompensieren. Umgekehrt wahrt das Mitwirkungsrecht die Inter-

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essen der Schweiz ohne Zweifel besser als der heute weitgehend praktizierte, autonome Nachvollzug.

Nachdem vom Mitwirkungsrecht Gebrauch gemacht worden ist, muss die Überführung neuen EWR-relevanten EU-Rechts in die Gesetzgebung der EFTA/EWRStaaten als zwingend angesehen werden, ausser ein EWR/EFTA-Staat würde von seinem Veto-Recht Gebrauch machen. Das Veto ist ein stärkeres Mittel als die Mitbestimmung, hätte jedoch zur Folge, dass der von der Richtlinie betroffene Bereich aus dem EWR gestrichen wird. Als Gegenmassnahme kann die EU indessen Teile des Vertrags oder den ganzen Vertrag künden. Die Androhung des Vetos dürfte allerdings die Verhandlungswilligkeit der EU anspornen und einer pragmatischen Lösung Vorschub leisten. Bisher ist es noch nie vorgekommen, dass eine Richtlinie nicht übernommen worden wäre.

Die knappen personellen Ressourcen der vergleichsweise kleinen EFTA/EWRMitglieder erschweren eine durchgehende Beteiligung am decision-shaping-Prozess.

Dieser ist zudem sehr kompliziert und nicht immer transparent, was die Durchführung der einzelnen Sitzungen betrifft. Die EFTA/EWR-Staaten können daher von ihrem Mitwirkungsrecht nicht immer vollständig Gebrauch machen, was als unbefriedigend empfunden wird.

Die EFTA/EWR-Länder sind gehalten, gegenüber der EU mit einer Stimme zu sprechen. Neben vielen Gemeinsamkeiten bestehen innerhalb des EFTA/EWR jedoch auch Unterschiede bei den wirtschaftspolitischen Prioritäten, was sich in einzelnen Verhandlungen belastend auswirken kann.

Der EWR deckt nur den Binnenmarkt ab. Bereits bestehende bilateral ausgehandelte Sonderregelungen (Landverkehr, Personenverkehr) müssten auf der Basis des Acquis neu verhandelt werden. Weitere Bereiche, in denen die Schweiz oder die EU eine engere Zusammenarbeit anstreben, etwa die Gebiete «Justiz und Inneres», Betrugsbeträmpfung oder Zinsbesteuerung, sind ebenfalls nicht abgedeckt. Sie müssten weiterhin in aufwändigen bilateralen Verhandlungen diskutiert werden.

Seit Anfang der 90er Jahre, als der EWR-Vertrag entstand, hat sich die EU stark weiterentwickelt und sich zahlreiche neue Zusammenarbeitsbereiche gegeben. Diese werden oft in informelleren Strukturen behandelt, welche keine Rechtsgrundlage für eine Mitwirkung der EFTA/EWR-Länder bieten, sogar wenn sie binnenmarktrelevant sind. Die Möglichkeiten für eine Revision des EWR-Vertrags werden gegenwärtig geprüft.

3.4

Beitritt zur EU

3.4.1

Chancen

Durch ihre zentrale Lage in Europa ist die Schweiz mit der EU eng verbunden, durch übereinstimmende Wertvorstellungen, durch gemeinsame Kulturen und Sprachen, durch die enge wirtschaftliche Verflechtung. Mit dem Beitritt würde sie sich offiziell einer Wirtschafts-, Rechts- und Wertegemeinschaft anschliessen, der sie bereits jetzt sehr nahe steht.

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Als EU-Mitglied könnte die Schweiz die Politik der Union als vollberechtigtes Partnerland mitgestalten. Je nach Interessenbereich könnte sie wechselnde Koalitionen mit anderen Mitgliedern eingehen. Bereits jetzt wird die Schweiz durch die Politik der EU deutlich beeinflusst, ohne jedoch selbst mitentscheiden zu können.

Dies wird am Beispiel der Diskussionen um das Bankkundengeheimnis besonders deutlich. Als EU-Mitglied hätte die Schweiz den Entscheid von Feira mitgestalten und ­ auf Grund des Einstimmigkeitsprinzips ­ gar verhindern können. Ein Beitritt kann daher in diesem Sinn als materieller Souveränitätsgewinn beschrieben werden.

Bei einem Beitritt wird langfristig mit wirtschaftlichen Vorteilen gerechnet, welche die in den ersten Jahren auftretenden Nachteile kompensieren könnten.

Die Neutralität im Sinn des Völkerrechts würde durch den Beitritt nicht tangiert. Die EU-Bestimmungen, welche die Entscheidungsprozesse in neutralitätsrechtlich relevanten Bereichen regeln, sehen das Einstimmigkeitsprizip vor. Dies bedeutet, dass jeder Mitgliedstaat ein Veto-Recht hat.

Die EU hat sich zum Ziel gesetzt, bürgernäher und «benutzerfreundlicher» zu werden und ihre demokratische Verankerung zu stärken. Bei dieser Arbeit könnte die Schweiz ihre eigenen Anliegen einbringen und dank ihren Erfahrungen in den Bereichen Föderalismus und direkte Demokratie einen substanziellen Beitrag leisten.

3.4.2

Risiken

Angesichts des deutlichen Neins zur Initiative «Ja zu Europa» wäre die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen gegenwärtig nicht demokratisch legitimiert. Es ist schwierig abzuschätzen, wann das Thema wieder aufgegriffen werden kann und wie die EU zu diesem Zeitpunkt aussehen wird.

Ein Beitritt brächte einen formellen Souveränitätsverlust, da die Schweiz ihre materiellen Kompetenzen in den gemeinschaftlich geregelten Bereichen mit den anderen Mitgliedstaaten teilen würde. Dieser Souveränitätsverlust könnte durch das Mitentscheidungsrecht der Schweizer Vertreter in den EU-Gremien nur teilweise kompensiert werden. Weiter ist nicht auszuschliessen, dass die Verstärkung der Sicherheitsund Verteidigungspolitik der EU längerfristig eine Neudefinition der Neutralität erfordern würde.

Ein Beitritt bedingte einen «Umbau» der Schweiz in wesentlichen Politikbereichen.

Betroffen wären unter anderem die direkte Demokratie, der Föderalismus, die Staatsleitung, das Steuersystem und die Aussenwirtschaftspolitik.

In den der Gemeinschaftskompetenz unterliegenden Bereichen könnte die direkte Demokratie nur mehr eingeschränkt wahrgenommen werden. Es bestünde noch ein beschränkter Handlungsspielraum, die Schweiz könnte sich jedoch keine dem Gemeinschaftsrecht zuwiderlaufenden Gesetze geben.

Die Arbeitsteilung zwischen Bund und Kantonen müsste umgestaltet werden. Als Folge der Kompetenzteilung mit der EU würde auch die Kompetenz der Kantone entsprechend eingeschränkt. Dennoch würde ein Beitritt die Kantone nicht entlasten, da sie zusätzliche Vollzugsaufgaben übernehmen müssten.

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Ein Beitritt zur EU bedingte eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 15 %. Die daraus resultierende Mehrbelastung könnte nur durch einen völligen Umbau des Steuersystems kompensiert werden.

Die Schweiz gehörte in der EU zu den Nettozahlern, welche mehr Beiträge an die Union leisten, als sie an Unterstützung beziehen. Im Jahr würde die Schweiz derzeit rund vier Milliarden Franken an die EU zahlen.

Die Schweiz würde die Wettbewerbsvorteile einbüssen, die sie auf Grund ihrer wirtschaftspolitischen Unabhängigkeit geniesst.

Bilateral ausgehandelte Sondervereinbarungen, die den spezifischen Bedürfnissen der Schweiz Rechnung tragen, wären nur noch im Rahmen von befristeten Übergangsregelungen möglich. Denn aufgrund des Gleichbehandlungsgebotes aller Mitglieder müsste die EU verschiedene Vorteile aufheben, welche die Schweiz bilateral ausgehandelt hat. Davon betroffen wären beispielsweise die im Vergleich zur EUGesetzgebung umweltgerechteren Bestimmungen im Landverkehrsabkommen und verschiedene Vorteile der Schweiz im Rahmen der Personenfreizügigkeit.

Mit dem Beitritt zu EU ginge auch ein Beitritt zur Währungsunion einher. Die Übernahme des Euro an sich ist nicht zwingend als Nachteil zu werten, das Risiko bestünde jedoch darin, dass die Schweiz keine unabhängige Währungs- und Konjunkturpolitik mehr betreiben könnte. Ebenfalls betroffen wären die Zinsen, die angeglichen würden. Der existierende Zinsbonus ginge dadurch weit gehend verloren.

3.5

Assoziation

Die Assoziation stellt zum einen eine Variante des bilateralen Weges dar, in welcher die bisher bestehenden Abkommen in einen institutionellen Gesamtrahmen gestellt werden sollen, in welchen auch die laufenden Verhandlungen integriert werden könnten. Sollte ein EWR-Beitritt ebenfalls in diesen Gesamtrahmen gestellt werden, wäre die Assoziation eine Variante der Option Beitritt zum EWR.

Die Chancen und Risiken decken sich grundsätzlich mit denjenigen des bilateralen Weges bzw. des Beitritts zum EWR. Allerdings hätte die Institutionalisierung den Vorteil, dass sie die beiden Seiten zu einer kontinuierlichen Annäherung verpflichtete. Es ist schwer abzuschätzen, ob dies lediglich als eine symbolische Bedeutung hätte oder ob dadurch der Schweiz eine verstärkte Mitwirkung ermöglicht würde.

Die Möglichkeit einer Assoziation ist mit der EU nie diskutiert worden.

3.6

Zusammenfassung und Bewertung

Der bilaterale Weg wahrt die formelle Souveränität und Entscheidungsfreiheit der Schweiz am Besten. Zumindest gilt dies, soweit es sich um statische bilaterale Verträge handelt, welche sich nicht automatisch den Entwicklungen des EU-Rechtes anpassen. Indessen entstehen durch die Dynamik des Rechts und der Politiken innerhalb der EU häufig Sachzwänge, denen sich die Schweiz nachträglich fügt, welche sie aber nicht mitgestalten konnte. Der bilaterale Weg hat zudem seinen Preis: Einzelne bilaterale Vereinbarungen können bisweilen nur durch Gegenleistungen 6339

erzielt werden, welche im Rahmen der EWR- oder EU-Mitgliedschaft nicht erbracht werden müssten.

Die Ereignisse im Vorfeld der zweiten bilateralen Verhandlungen machen deutlich, dass dieser Weg an Grenzen stösst: Während die ersten bilateralen Verträge «statische» Rechtsbereiche betrafen, welche innerhalb der EU bereits ziemlich gefestigt sind, umfasst die zweite Etappe namentlich mit der Zinsbesteuerung und dem Bankgeheimnis sowie mit dem Schengener und Dubliner Abkommen politische Bereiche, welche sich mitten in einer dynamischen Entwicklung befinden. Bilaterale Verträge sind in diesen Bereichen politisch nur möglich, wenn entweder vor Abschluss eines künftigen Vertrages die Entwicklung innerhalb der EU mehrheitlich abgeschlossen ist oder sich die Schweiz ein Mitentscheidungs- oder zumindest ein Mitwirkungsrecht in der Meinungsbildung sichern kann. Nachteilig in den ersten bilateralen Verträgen wirkt sich zudem aus, dass sie auf Verlangen der EU zu einem Paket verknüpft sind, so dass die Kündigung eines einzelnen Vertrages alle sechs anderen aufhebt. Anpassungen einzelner Verträge werden dadurch erschwert.

Diesen Nachteilen stehen zwei bedeutsame Vorteile gegenüber: Die Schweiz muss ­ anders als bei einem EU-Beitritt ­ ihre politischen Rechte und Institutionen nicht umbauen, noch muss sie in ihrer Fortentwicklung die Vorgaben der EU befolgen.

Namentlich betrifft dies das Regierungssystem, die politischen Rechte mit der direkten Demokratie und das Steuersystem. Sodann kann die Schweiz in verschiedenen Bereichen ihre eigene Politik () weiterführen, was ihr bei einem EU-Beitritt nach heutiger Beurteilung kaum mehr möglich wäre (Wirtschafts- und Geldpolitik, Landwirtschaftspolitik, Verkehrspolitik).

Eine Art eigener Assoziation mit der EU könnte der Schweiz gegenüber dem bilateralen Weg eventuell den wichtigen Vorteil der Mitentscheidungs- oder Mitgestaltung in einzelnen Bereichen verschaffen. Es ist allerdings noch nicht klar, wie diese Assoziation ausgestaltet werden könnte und ob die EU zu einem derartigen Vorgehen Hand bieten würde.

Gegenüber dem bilateralen Weg weist der EWR die Vorteile auf, dass die Schweiz an den Weiterentwicklungen des EWR-Rechtes teilnehmen und im Rahmen der Meinungsbildung (Decision-Shaping) an seiner Ausgestaltung mitwirken kann. Der EWR-Vertrag deckt
die vier Freiheiten vollständig ab. Er wahrt zudem die beiden grossen Vorteile des bilateralen Weges, indem kein Zwang zum politischen Umbau der Schweiz besteht und sie ihre ohne Einschränkung weiterführen kann. Hingegen ist nicht zu verkennen, dass das Verhältnis der EFTA- zu den EUStaaten innerhalb des EWR selbst bei einer Beteiligung der Schweiz sehr asymmetrisch bleibt (ca. 12 zu 370 Millionen Einwohnern), und dass die EFTA-Staaten verpflichtet sind, mit einer einzigen Stimme zu sprechen. In wirtschaftlicher und politischer Hinsicht hat der EWR, der noch nach den Verhältnissen des kalten Krieges konzipiert war, für die EU nach dem Übertritt von Schweden, Finnland und Österreich an Bedeutung verloren.

Eine EU-Mitgliedschaft der Schweiz verschafft ihr die vollen Mitgestaltungs- und Mitentscheidungsrechte bis hin zu einem teilweisen Veto-Recht. Sie bedingt allerdings die Teilung ihrer Souveränität mit den EU-Staaten. Die Schweiz nimmt umfassend Teil an der Weiterentwicklung der EU, ihrer Institutionen, ihrer Politiken und ihres Rechts. Der Beitritt beseitigt zudem die weiteren Nachteile, welche für den bilateralen Weg und den EWR-Betritt angeführt sind: Wegfall von Gegenleistungen

6340

für den Abschluss von einzelnen Verträgen, Asymmetrie der EFTA Staaten, Zwang zu einzigen Stimme. Hingegen zwingt ein EU-Beitritt die Schweiz ­ wie oben dargelegt wurde ­ zum internen Umbau und hindert sie, ihre in verschiedenen Bereichen weiterzuführen.

Der bilaterale Weg ist bis anhin die einzige der untersuchten Optionen, über die konkrete Verhandlungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union stattfinden. Dies bedeutet nicht, dass die EU andere Möglichkeiten ablehnt. In den Hearings, vor allem im Gespräch mit dem Vertreter der Europäischen Kommission, hat sich gezeigt, dass die EU-Vertreter auch anderen Formen der Zusammenarbeit positiv gegenüber stehen, und dass sie gewillt wären, neue Vorschläge der Schweiz pragmatisch anzugehen.

4

Anhörungen: Zusammenfassende Darstellung einzelner Themen

4.1

Einleitung

Die folgenden Zusammenfassungen geben stark gekürzt die wichtigsten politischen Bereiche wieder, die im Rahmen der einzelnen Anhörungen diskutiert wurden. Die Kommission hat sich damit einen Überblick über die wichtigsten offenen Fragen verschafft, die die europapolitischen Diskussionen in der Schweiz während der nächsten Jahre prägen werden.

4.2

Wirtschaft

4.2.1

Volkswirtschaftliche Auswirkungen

EU-Beitritt

Die Anpassungskosten sind, vor allem wegen des Nettobeitrags, den die Schweiz entrichten muss, hoch. Kurzfristig ergibt sich eine Verlangsamung des Wirtschaftswachstums, längerfristig eine Beschleunigung durch andere Vorteile.

EWR

Der EWR ermöglicht den ungehinderten Zugang zum Binnenmarkt und wirkt sich positiv aus.

Bilaterale Verträge

Das erste Paket erfüllt die Hauptanliegen der Wirtschaft und wird bei Inkrafttreten positive Auswirkungen haben. Mit der nächsten Verhandlungsrunde werden weitere Verbesserungen angestrebt.

Zu den volkswirtschaftlich relevanten Konsequenzen eines Beitritts der Schweiz zur EU gehören der zu entrichtende Nettobeitrag von gegen 4 Milliarden, die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 15 %, der Verzicht auf eine unabhängige Währungspolitik sowie die Übernahme der gemeinschaftlichen Aussenwirtschafts-, Landwirtschaftsund Sozialpolitik. Diese Elemente würden kurzfristig zu Nachteilen für den Wirtschaftsstandort Schweiz und zu einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums führen.

6341

Diese Nachteile würden unter anderem kompensiert durch die Vorteile der Übernahme des Unternehmenssteuerrechts der EU, namentlich der Mutter-TochterRichtlinie, durch eine tiefere Einkommensbesteuerung und höhere Kapitalerträge, ein grösseres Arbeitsangebot, eine erhöhte Kompetitivität dank mehr Wettbewerb sowie im Warenverkehr durch den Wegfall aller Grenzkontrollen und -formalitäten.

Es kann jedoch nicht mit Sicherheit gesagt werden, zu welchem Zeitpunkt diese positiven Auswirkungen die anfänglichen Kosten ausgleichen und wie gross die Vorteile letztlich sein werden, da verschiedene Berechnungen zu unterschiedlichen Resultaten kommen.

Im Fall eines Beitritts muss der Finanzplatz Schweiz, der einen bedeutenden Anteil der schweizerischen Volkswirtschaft ausmacht, mit Nachteilen rechnen. Unabhängig vom gewählten Szenario steht er gegenwärtig wegen des Bankkundengeheimnisses unter Druck der EU und anderer Wirtschaftspartner. Langfristige Prognosen sind auch deshalb nicht möglich.

Aus Sicht der exportorientierten Wirtschaft besteht zwischen den drei Optionen insofern kein wesentlicher Unterschied, als sie ohnehin auf das Wachstumspotenzial im Ausland angewiesen ist. Sie würde jedoch einen raschen Abschluss der zweiten bilateralen Verhandlungsrunde begrüssen.

4.2.2

Mehrwertsteuer

EU-Beitritt

Bei einem EU-Beitritt muss der Mehrwertsteuersatz auf 15 % angehoben werden. Die ermässigten Steuersätze müssen mindestens 5 % betragen.

EWR

Das Steuersystem ist durch den EWR nicht betroffen.

Bilaterale Verträge

Die bilateralen Abkommen mit der EU haben keine Auswirkungen auf die Mehrwertsteuer. Auch bei einer weiteren Annäherung an die EU zeichnen sich vorläufig keine Auswirkungen ab.

Heute beträgt die Mehrwertsteuer in der Schweiz 7,6 %, die ermässigten Steuersätze liegen bei 2,3 % (Güter des täglichen Bedarfs) und 3,5 % (Beherbergung). Die Anhebung der Mehrwertsteuer würde einen grundlegenden Umbau des Steuersystems der Schweiz mit sich bringen.

Zwar zeichnet sich bereits jetzt ab, dass zur Sicherung der Finanzierung der Sozialwerke mittelfristig eine Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes ins Auge gefasst werden könnte. Der Beitrag der Schweiz an das EU-Budget im Fall eines Beitritts könnte ebenfalls über die Mehrwertsteuer finanziert werden. Trotzdem würde die Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes dem Bund deutliche Mehreinnahmen bringen, die in irgendeiner Form kompensiert werden müssten. Möglich wäre eine Senkung der direkten Steuern, sowohl auf Stufe Bund wie auch bei den Kantonen. Es wäre daher eine Umverteilung des gesamten Steueraufkommens nötig.

Die Verlagerung der Steuerlast von direkten auf indirekte Steuern hätte sozialpolitische Auswirkungen, da die Mehrwertsteuer als Konsumsteuer eine einkommensunabhängige Steuer ist, während bei den direkten Steuern die höheren Einkommen durch die Progression stärker belastet werden als die tieferen.

6342

4.2.3

Währungspolitik

EU-Beitritt

Die Schweiz tritt der Europäischen Währungsunion bei und führt den Euro als Währung ein. Der Schweizer Franken wird aufgegeben.

EWR

Der Franken bleibt erhalten. Der EWR ist durch die Beteiligung am Binnenmarkt insofern betroffen, als der Euro im Binnenmarkt die wichtigste Währung darstellt.

Bilaterale Verträge

Der Franken bleibt erhalten. Die enge wirtschaftliche Verknüpfung der Schweiz mit der EU wird zu einer zunehmenden Bedeutung des Euro als inoffizielle Zweitbzw. Parallelwährung führen.

Die Einführung des Euro hätte den Vorteil, dass währungsbedingte Preisschwankungen wegfallen würden. Eine Währungsunion führt zudem zu intensivierten Handelsbeziehungen zwischen den Partnern, was sich volkswirtschaftlich positiv auswirken würde. Der Effekt kann nicht genau beziffert werden. Gemäss Schätzungen der Nationalbank könnte er etwa 0,25 % des Bruttoinlandprodukts betragen.

Mit der Teilnahme an der Europäischen Währungsunion würde die Schweiz ihre unabhängige Währungspolitik aufgeben. Der Wechselkurs als stabilisierendes Instrument stünde nicht mehr zur Verfügung.

Der Wechselkurs Franken-Euro ist generell stabil, ohne dass der Franken an den Euro gebunden ist. Er profitiert nach wie vor von seiner Position als unabhängige Währung. In der Schweiz erbringt der Finanzsektor daher einen im Vergleich zu anderen Ländern hohen Anteil der Wertschöpfung.

Der Schweizer Franken hat sich in den vergangenen Jahren als insgesamt stabiler erwiesen als die Währungen der Euro-Zone. Mit der EU-Osterweiterung stossen in den nächsten Jahren wirtschaftlich schwächere Länder zur EU ­ allerdings mit teilweise sehr langen Übergangsfristen, was den Beitritt zur Währungsunion betrifft.

Dies dürfte den Franken als unabhängige Währung weiter stärken. Sollte sich der Franken allerdings zu einer Fluchtwährung entwickeln, könnte der Aufwertungsdruck problematisch werden und negative Auswirkungen auf die Exportwirtschaft haben.

Nicht alle EU-Mitgliedstaaten beteiligen sich zum jetzigen Zeitpunkt am Euro. Die Frage, ob es auch für die Schweiz möglich wäre, zwar der EU, nicht jedoch der Währungsunion beizutreten, wurde von den befragten Experten verneint, da die EU bei neuen Mitgliedern kaum bereit sein dürfte, Ausnahmen zu gestatten.

6343

4.2.4

Bankgeheimnis

EU-Beitritt

Das Bankgeheimnis muss den Bestimmungen in der EU angepasst werden, was eine Schwächung zur Folge hat.

Insbesondere muss der Anwendungsbereich der Rechts- und Amtshilfe ausgeweitet werden.

EWR

Der EWR kennt keine das Bankgeheimnis betreffende Regelungen. Auf Grund der Bemühungen der EU zur Unterbindung der Steuerflucht steht die Schweiz dennoch unter Druck.

Bilaterale Verträge

Der Druck auf die Schweiz von Seiten der EU ist beträchtlich.

Das Bankgeheimnis ist im ersten Paket nicht betroffen und bleibt im Prinzip nicht verhandelbar. Gewisse Anpassungen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit dürften jedoch unumgänglich sein.

Mit den Beschlüssen von Feira im Juni 2000 hat die EU den politischen Willen formuliert, nach einer Übergangszeit von acht Jahren das Bankkundengeheimnis gegenüber den Fiskalbehörden aufzuheben und einen umfassenden Informationsaustausch einzuführen. Damit soll verhindert werden, dass Spargelder durch Anlagen im Ausland der einheimischen Besteuerung entzogen werden. Finanzplätze ausserhalb der EU sollen dabei einbezogen werden. Die Schweiz ist somit direkt betroffen.

Es bleibt abzuwarten, ob sich die EU mit der von der Schweiz angebotenen Einführung «gleichwertiger» Massnahmen ­ der Erhebung einer Quellensteuer und der Rückerstattung der entsprechenden Erträge an die Mitgliedstaaten ­ einverstanden erklären wird, oder ob sie darauf beharren wird, auch mit der Schweiz einen Informationsaustausch zu pflegen.

Etwa die Hälfte der durch schweizerische Finanzinstitute getätigten Vermögensverwaltung betrifft Guthaben ausländischer Anleger. Die Gründe für die Attraktivität des Finanzplatzes Schweiz sind die Stabilität des Schweizer Frankens, die Performance und der Service der Finanzdienstleistungen sowie das Bankkundengeheimnis.

Der Anteil des Bankkundengeheimnisses bei diesen Vorteilen ist nicht genau abzuschätzen, er dürfte jedoch bedeutend sein. Dementsprechend hätte eine Verminderung der Differenz gegenüber dem Ausland bei der Ausgestaltung des Diskretionsschutzes zur Folge, dass der Finanzplatz Schweiz für bestimmte Gruppen von Anlegern an Bedeutung verlieren würde. Dies hätte Auswirkungen auf die gesamte Volkswirtschaft, deren Grössenordnung allerdings nicht bezifferbar ist.

Noch ist offen, ob die EU bis zum Zeitpunkt eines möglichen Beitritts der Schweiz zum Informationsaustausch übergegangen sein wird. Als Mitglied könnte die Schweiz diesen Schritt auf Grund des Einstimmigkeitsprinzips verhindern.

Im Rahmen der Verhandlungen über weitere bilaterale Abkommen ist das Bankkundengeheimnis im Zusammenhang mit den Dossiers «Zinsbesteuerung», «Schengen» und «Dienstleitungen» betroffen. Auch bei allfälligen Beitrittsverhandlungen der Schweiz zum EWR geriete es unter Druck. Die verschiedenen Optionen wirken sich daher weniger unterschiedlich aus, als vor dem Beschluss von Feira vermutet werden konnte.

6344

4.2.5

Zinssystem

EU-Beitritt

Die Zinsen steigen auf EU-Niveau an.

EWR

Der gegenwärtig bestehende Zinsbonus von etwa 1,5 % dürfte erhalten bleiben.

Bilaterale Verträge

Der gegenwärtig bestehende Zinsbonus von etwa 1,5 % dürfte erhalten bleiben.

Die Zinskonvergenz in der EU ist eine Folge der Währungsunion. Sollte die Schweiz der Währungsunion beitreten, würde die Aufwertungserwartung an den Franken wegfallen, die bisher zu den tieferen Zinsen beigetragen hat. Nicht schlüssig wurde in den Anhörungen, ob ein Teil des Zinsbonus dennoch bestehen bleiben würde. Ein Teil der Experten vertrat jedoch die Ansicht, dass auch nach einem Beitritt zur Europäischen Währungsunion eine Differenz von etwa 0,25 % erhalten bliebe, da in der Schweiz eine grosse politische und soziale Stabilität herrscht und das Teuerungsrisiko gering ist. Das Bankkundengeheimnis spielt dabei ebenfalls eine Rolle.

4.2.6

Zollkontrollen

EU-Beitritt

Wegen der Integration in die Zollunion fallen die Zölle und die Kontrollen gegenüber EU-Mitgliedern weg.

EWR

Der EWR ist keine Zollunion, Zoll- und Grenzkontrollen bleiben im bisherigen Umfang erhalten.

Bilaterale Verträge

Die Warenkontrollen bleiben in bisherigem Umfang erhalten.

Ein Beitritt führt zum Wegfallen der noch bestehenden Einfuhrzölle in die EU, was für die Exportindustrie Vorteile bringen würde. Umgekehrt ergeben sich Einbussen bei den Einnahmen bei Einfuhren aus der EU. Zölle zwischen der Schweiz und der EU bestehen praktisch nur noch im Landwirtschaftsbereich. Der Wegfall der Grenzformalitäten hätte Einsparungen zur Folge.

Der gemeinsame Zolltarif der EU ist nur unwesentlich höher als der der Schweiz.

Seine Übernahme hätte entsprechend geringe Auswirkungen auf den Handel mit Drittländern. Die Schweiz würde von den Freihandelsabkommen profitieren können, die die EU mit zahlreichen Ländern abgeschlossen hat und noch abschliessen wird ­ sofern sie nicht selbst schon Freihandelsabkommen mit diesen Drittstaaten abgeschlossen hat.

4.2.7

Landwirtschaftspolitik

EU-Beitritt

Die gemeinschaftliche Landwirtschaftspolitik wird vollumfänglich übernommen.

EWR

Im Rahmen des Binnenmarktes erfolgt eine laufende Anpassung der Bestimmungen.

6345

Bilaterale Verträge

Das erste Paket enthält ein Landwirtschaftsabkommen.

Verarbeitete Landwirtschaftsprodukte sind Gegenstand der nächsten Verhandlungsrunde.

Bei einem Beitritt zur EU sinken die Preise von Agrarprodukten deutlich, sowohl was die Erlöse der Produzenten als auch die Preise für die Konsumenten betrifft. Die Subventionen müssten gekürzt respektive durch andere Instrumente der Gemeinsamen Agrarpolitik ersetzt werden. Direktzahlungen sind, gestützt auf ökologische Auflagen, weiterhin möglich, könnten aber die Ausfälle nicht vollständig ausgleichen. Für Berggebiete oder periphere Regionen sind Sonderlösungen auch innerhalb der EU denkbar und möglich (vgl. Österreich, Skandinavien).

Die vollständige Marktöffnung würde für die Schweizer Landwirtschaft sowie die nachgelagerte verarbeitende Industrie auch Chancen für ihre qualitativ hoch stehenden (Nischen-) Erzeugnisse eröffnen. Nichttarifäre Hindernisse wie Grenzkontrollen, Veterinärkontrollen etc. würden wegfallen. Der Schutz der geographischen Herkunftsbezeichnungen ist auch in der EU eine Priorität.

Im Landwirtschaftsbereich kommen zunehmend die Regeln der WTO zum Tragen, welche für die Schweiz unabhängig von ihrer Europapolitik Gültigkeit haben. Entsprechend wird der Anpassungsdruck für den Agrarsektor ohnehin zunehmen, zumal auch das bilaterale Landwirtschaftsabkommen eine Entwicklungsklausel enthält.

4.3

Föderalismus

Zur Frage, wie sich ein EU-Beitritt auf die Kantone auswirken würde, hat die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) einen umfassenden Bericht vorgelegt: «Die Kantone vor der Herausforderung eines EU-Beitritts. Bericht der Arbeitsgruppe ».

Aus methodischen Gründen wird in diesem Abschnitt zuerst die föderalistische Struktur der Schweiz als solche behandelt und anschliessend auf die Arbeitsteilung zwischen Bund und Kantonen eingegangen.

4.3.1

Föderalistische Struktur

EU-Beitritt

Es gibt keine direkten Auswirkungen, Gliedstaaten sind im Vertrag von Nizza ausdrücklich anerkannt.

EWR

Es gibt keine direkten Auswirkungen.

Bilaterale Verträge

Es gibt keine direkten Auswirkungen.

Die föderalistische Struktur der Schweiz wird bei keiner der geprüften Optionen formell in Frage gestellt. Unabhängig vom gewählten Vorgehen in der Integrationspolitik muss jedoch der Tatsache Rechnung getragen werden, dass zusätzlich zu den bisherigen drei Ebenen Bund, Kantone und Gemeinden mit der EU eine vierte Entscheidungsstufe ins Spiel kommt. Es muss sichergestellt werden, dass die Mitwirkung der Kantone in der Aussenpolitik weiterhin gewährleistet ist. Allerdings müssen die Kantone ihre Entscheidungsabläufe teilweise straffen und vereinfachen.

6346

In den Anhörungen kam zum Ausdruck, dass überprüft werden sollte, ob zusätzlich zur Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) weitere Institutionen geschaffen werden sollten. Der Ständerat vertritt im Parlament zwar das föderative Element, nicht jedoch die Kantone. Eventuell könnte das mit dem Gesetz über die Mitwirkung der Kantone zur Verfügung stehende Instrumentarium verfeinert werden. In der Vergangenheit war nicht immer klar, in welchem Verhältnis Stellungnahmen kantonaler Direktorenkonferenzen zu Stellungnahmen der KdK standen, da manchmal unterschiedliche Haltungen existierten. Die Plenarversammlung der KdK hat im Dezember 2001 eine Rahmenordnung über die Arbeitsweise der Kantone und der Fachdirektorenkonferenzen bezüglich der Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen verabschiedet.

Kleine Kantone haben oft nicht die nötigen personellen Ressourcen, um sich detailliert mit Fragen der Integrationspolitik zu befassen. Ebenfalls problematisch sind die manchmal sehr kurzen Fristen, die für die Konsultation der Kantone zur Verfügung stehen. An einer Anhörung wurde vorgeschlagen, eine verstärkte regionale Zusammenarbeit zwischen Kantonen zu prüfen, um die Lösung dieser praktischen Probleme zu vereinfachen.

4.3.2

Arbeitsteilung Bund ­ Kantone

EU-Beitritt

In Bereichen, die dem EU-Gemeinschaftsrecht unterliegen, verlieren die Kantone Kompetenzen. Sie müssen die EU-Gesetzgebung umsetzen. Dabei unterliegen sie Kontrollen durch den Bund.

EWR

Die Aufgabenteilung ist teilweise betroffen, etwa bei den Dienstleistungen und im Personenverkehr.

Bilaterale Verträge

Die Abkommen im ersten Paket der bilateralen Abkommen binden teilweise auch die Kantone. Die zweite Verhandlungsrunde beinhaltet ebenfalls Themen, die in der Kompetenz der Kantone liegen.

Bei einem Beitritt verlieren die Kantone in den Bereichen Kompetenzen, für die die EU zuständig ist. Betroffen sind namentlich die Gebiete Kriminalitätsbekämpfung, Wirtschaftsförderung, Raumplanung, Gesundheitsvorsorge, soziale Sicherheit, Kultur und Bildung. Sie erhalten im Gegenzug neue Aufgaben, vor allem bei der Umsetzung von EU-Recht. Der Bund ist verpflichtet, die Kantone verstärkt zu kontrollieren.

Den Kantonen bleibt ein gewisser Gestaltungsspielraum. Die Ansichten darüber, ob dies den Kompetenzverlust kompensieren kann, oder ob die neuen Aufgaben nur eine zusätzliche Belastung darstellen, waren an den Anhörungen geteilt.

Mit der Einführung des in der EU gültigen Mehrwertsteuersatzes muss das Steueraufkommen umverteilt werden. Dies hat Folgen für den Finanzausgleich: Der Föderalismus könnte im Kern getroffen werden. Es ist auch absehbar, dass die Kantone unterschiedlich stark von den wirtschaftlichen Auswirkungen eines Beitritts betroffen werden, da ihre Volkswirtschaften in verschiedenem Mass mit der EU verknüpft sind.

6347

Im Verlauf der Verhandlungen des ersten Pakets der bilateralen Abkommen wurde klar, dass die Kantone vermehrte Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Aussenpolitik benötigen, da sie durch die Verhandlungsthemen ebenfalls betroffen waren. Das aus dieser Erkenntnis entstandene Bundesgesetz kommt bei den neuen Verhandlungen bereits zur Anwendung, funktioniert in der Praxis jedoch noch nicht zufrieden stellend. Die neuen Verhandlungen rühren vor allem mit den Gesprächen über die Beteiligung der Schweiz an den Abkommen von Schengen und Dublin direkt an die Kompetenzen der Kantone. Ebenfalls betroffen sind die Dossiers «Dienstleistungen» und «Bildung und Jugend».

Bezüglich der Aufgabenteilung Bund-Kantone unterscheiden sich die Auswirkungen zwischen den Optionen daher nicht grundsätzlich, wohl aber quantitativ.

4.4

Direkte Demokratie

Das demokratische Bewusstsein in der Schweiz ist geprägt durch das Initiativ- und Referendumsrecht, welche die Souveränität der Staatsbürger/innen noch stärker als das Wahlrecht ausmachen. Die demokratischen Rechte werden nicht nur als Mitwirkung und Mitgestaltung, sondern auch als Mitverantwortung gegenüber den geschaffenen Institutionen empfunden. Dies wurde an den Anhörungen wiederholt angesprochen. Schon nur ein teilweiser Verzicht auf diese Rechte stellte einen radikalen Umbruch dar, da dies als Beeinträchtigung der Souveränität aufgefasst würde.

Andere Diskussionsteilnehmer hielten dem entgegen, dass der Einfluss der EU auf das politische und wirtschaftliche Geschehen in der Schweiz bereits jetzt so gross ist, dass zahlreiche EU-Bestimmungen aus praktischen Gründen nachvollzogen werden müssen, was ebenfalls eine Souveränitätseinbusse darstellt.

4.4.1

Gemeinschaftskompetenzen

EU-Beitritt

Das Gemeinschaftsrecht hat Vorrang und ist direkt anwendbar. Initiative und Referendum sind formell möglich, materiell jedoch eingeschränkt.

EWR

Initiative und Referendum sind im jetzt geltenden Rahmen möglich.

Bilaterale Verträge

Initiative und Referendum sind im jetzt geltenden Rahmen möglich.

Die Bereiche Zoll- und Handelspolitik, Landwirtschaft und Wettbewerbspolitik sind ausschliessliche Gemeinschaftskompetenzen und werden mit dem Beitritt zur EU gemeinsam ausgeübt. Die Gestaltungsmöglichkeiten bei der Umsetzung sind relativ gering. Die direktdemokratischen Instrumente können weiterhin angewandt werden, jedoch nur soweit sie nicht zu gemeinschaftsrechtswidrigen Abstimmungsresultaten führen, und lediglich bestehende Handlungsspielräume ausschöpfen. Es ist zu vermuten, dass die EU in den kommenden Jahren anstreben wird, ihre Zuständigkeitsbereiche weiter auszudehnen, was sich bei einem Beitritt wiederum auf die direkte Demokratie in der Schweiz auswirken würde.

6348

Im EWR und in den von bilateralen Abkommen betroffenen Bereichen sind Initiative und Referendum wie bisher anwendbar. Bereits jetzt sind sie in ihrer Wirkung eingeschränkt, wenn sie völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz widersprechen. So könnte, wenn die Schweiz dem EWR angehörte, kein dem EWR-Vertrag zuwiderlaufendes Recht geschaffen werden, ebensowenig wie geltende bilateralen Verträge durch neue Gesetze unterlaufen werden dürfen.

4.4.2

Andere Bereiche

EU-Beitritt

Richtlinien lassen den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung in innerstaatliches Recht einen unterschiedlichen Handlungsspielraum. Initiative und Referendum sind möglich, einzelne materielle Einschränkungen lassen sich nicht ausschliessen.

EWR

Initiative und Referendum sind im jetzt geltenden Rahmen möglich, sofern nicht EWR-Recht betroffen ist.

Bilaterale Verträge

Initiative und Referendum sind im jetzt geltenden Rahmen möglich.

In vielen Politikbereichen (darunter Freizügigkeit, freier Dienstleistungs- und Kapitalverkehr, Asyl, Einwanderung, Sozialpolitik, Umwelt) bestehen in der EU Kompetenzen der Gemeinschaft neben Kompetenzen der Mitglieder. Die Mitgliedstaaten haben daher bei der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts grosse Handlungsspielräume. Die Umsetzung darf allerdings nicht im Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht stehen. Initiative und Referendum sind weiterhin möglich und sinnvoll.

In Fragen der Ausbildung, Berufsbildung, öffentlichen Gesundheit und Kultur bleiben die Mitgliedstaaten zuständig. Die Politik wird koordiniert oder allenfalls durch Formen der intergouvernementalen Zusammenarbeit geregelt. Initiative und Referendum sind im bisherigen Rahmen möglich und sinnvoll.

In den Anhörungen kam auch zur Sprache, dass die Mitgliedstaaten sich bewusst sind, dass in der EU ein gewisses Demokratiedefizit besteht. Der Vertrag von Nizza sucht dem Rechnung zu tragen, indem er einen vermehrten Einbezug der Bürger und der Zivilgesellschaft in die Entscheidungsprozesse in Aussicht stellt. Es bleibt abzuwarten, ob die zu treffenden Massnahmen das bestehende Unbehagen mindern können.

4.4.3

Stimm- und Wahlrecht

EU-Beitritt

Unionsbürger haben in allen Mitgliedstaaten das Kommunalwahlrecht und das Wahlrecht für das Europäische Parlament.

EWR

Das Stimm- und Wahlrecht ist nicht betroffen.

Bilaterale Verträge

Das Stimm- und Wahlrecht ist nicht betroffen.

Im Fall eines Beitritts zur EU erhalten ansässige EU-Bürger das kommunale aktive und passive Wahlrecht, nicht jedoch das Stimmrecht. Das passive Wahlrecht kann unter bestimmten Umständen eingeschränkt werden. Das Gleiche gilt für in der EU 6349

lebende Schweizer Staatsbürger. Alle in der EU lebenden EU-Bürger haben zudem das aktive und passive Wahlrecht in das Europäische Parlament.

4.5

Justiz und Inneres

4.5.1

Grundrechte

EU-Beitritt

Die Schweiz kann auf die Weiterentwicklung der Charta der Grundrechte sowie auf das Verhältnis der Charta zur EMRK Einfluss nehmen. Sie ist voll an der EUMenschenrechtspolitik beteiligt.

EWR

Allenfalls indirekte Auswirkungen bei der Menschenrechtspolitik gegenüber Drittstaaten.

Bilaterale Verträge

Keine Auswirkungen.

Gerade im Zusammenhang mit der verstärkten Polizeizusammenarbeit und Rechtshilfe wird ein grösserer Grundrechtsschutz im EU-Rahmen gefordert. Damit entsteht eine Konkurrenzsituation zum Europarat. Als EU-Mitglied könnte die Schweiz diese Entwicklung direkt beeinflussen.

In den auswärtigen Beziehungen erwartet die EU von ihren EWR-Partnern, dass diese ihre Menschenrechtspolitik mittragen. Als EU-Mitglied hingegen hätte die Schweiz Einfluss auf diese Politik, wäre aber umgekehrt auch in die EU-Koordination eingebunden.

4.5.2

Visumspolitik

EU-Beitritt

Abbau der Grenzkontrollen, Einbezug in «Schengen Raum».

Die Schweiz beteiligt sich an der EU-Visumspolitik und ist in die Visumszusammenarbeit der EU-Konsulate eingebunden.

EWR

Keine Auswirkungen.

Bilaterale Verträge

Keine Auswirkungen im ersten Paket. Im Falle einer «Schengen-Assoziation»: Übernahme der EU-Visumspolitik und gegenseitige Anerkennung von Visa.

Für die schweizerische Tourismusindustrie und den Geschäftsreisendenverkehr wäre es von Vorteil, wenn die Schweiz Teil des «Schengen-Raums» wäre. Touristen aus Übersee benötigen heute neben einem Schengen-Visum in der Regel ein separates Visum für die Schweiz. Dies bringt nicht wenige Touristen-Gruppen und Geschäftsleute dazu, die Schweiz im Rahmen einer Europareise auszulassen. Die Schweiz behilft sich dadurch, dass sie für Angehörige bestimmter Staaten das Schengener Visum anerkennt, was eine Souveränitätseinbusse darstellt.

Die Teilnahme an der Europäischen Visumszusammenarbeit wäre aus sicherheitspolitischen Gründen von Interesse. Die Konsulate der EU-Staaten arbeiten vor Ort eng zusammen und tauschen Informationen über gefälschte Dokumente, Schlepper, etc. aus.

6350

Als EU-Mitglied könnte die Schweiz ihre eigene Visumspolitik nicht mehr weiterführen, doch weicht diese in der Praxis kaum von der EU-Politik ab. Ausserdem könnte die Schweiz direkt Einfluss auf die EU-Visumspolitik und auf die Massnahmen, die in diesem Zusammenhang getroffen werden, nehmen.

Auch bei einer bilateralen Lösung, also einer Assoziation an «Schengen», wäre die Visumspolitik der EU (inkl. Einheitsvisum) aufgrund des Abbaus der Personenkontrollen an den Grenzen vollumfänglich zu übernehmen. Die Warenkontrollen an den Grenzen würden jedoch aufrechterhalten. Ausserdem hätte die Schweiz nicht die gleichen Mitwirkungsmöglichkeiten wie als EU-Mitglied (decision-shaping, nicht decision-making).

4.5.3

Migrationspolitik

EU-Beitritt

Mitwirkung bei der Entwicklung einer gemeinsamen Migrationspolitik.

EWR

Keine formelle Teilnahme bzw. Mitwirkung bei der Entwicklung einer gemeinsamen Migrationspolitik.

Bilaterale Verträge

Keine formelle Teilnahme bzw. Mitwirkung bei der Entwicklung einer gemeinsamen Migrationspolitik.

Als EU-Mitglied könnte sich die Schweiz voll an der weiteren Entwicklung einer Europäischen Migrationspolitik, die heute noch in den Anfängen steckt, beteiligen.

Die Migrationspolitik geht über den «Schengen-Acquis» hinaus, eine Beteiligungsmöglichkeit auf bilateralem Weg ist daher eher unwahrscheinlich.

Noch bis 2004 unterliegen alle Beschlüsse im Bereich Migration, Visa und Asyl trotz der mit Amsterdam erfolgten Vergemeinschaftung dem Einstimmigkeitsprinzip. Diese lange Übergangsfrist wurde angesichts des politisch überaus heiklen Themas gewählt. 2004 wird neu entschieden, ob dieser Bereich definitiv dem ersten Pfeiler zugeordnet wird. Auch dieser Entscheid unterliegt dem Einstimmigkeitsprinzip. Andernfalls wird die Übergangsregelung weitergeführt.

4.5.4

Asylpolitik

EU-Beitritt

Beteiligung an der Entwicklung eines europäischen Asylsystems.

EWR

Keine Auswirkungen.

Bilaterale Verträge

Keine Auswirkungen im ersten Paket. Zweites Paket: Aushandlung einer partiellen Teilnahme an den Zuständigkeitsregeln betreffend eingereichte Asylgesuche (Dubliner Abkommen) sowie den damit verbundenen Austausch von Daten (EURODAC).

6351

Die Schweiz ist heute für Asylbewerber, welche im ganzen EU-Raum nur noch ein Asylgesuch stellen können, die einzige Asyl-Alternative in Westeuropa. Als EUMitglied wäre sie voll in das Europäische Asylsystem eingebunden und könnte auch die Entwicklung der Europäischen Asylpolitik mit beeinflussen.

Zu den Massnahmen im Asyl-verwandten Bereich gehört die gemeinsame Politik der EU bei der Gewährung des vorübergehenden Schutzes. Damit soll den Betroffenen bei Flüchtlingsbewegungen infolge von kriegerischen Ereignissen inskünftig ein zeitlich befristeter Aufenthalt ermöglicht werden. Gleichzeitig soll sichergestellt werden, dass die für die Aufnahmestaaten anfallenden Lasten auf alle Mitgliedstaaten verteilt werden. Mit dem europäischen Flüchtlingsfonds wurde ein erstes Instrument für den finanziellen Lastenausgleich geschaffen. Eine Verminderung der sich für die Schweiz aufgrund ihrer Nichtmitgliedschaft ergebenden Nachteile ist nur sehr beschränkt via autonome Massnahmen möglich.

Auf bilateralem Weg liegt eine Assoziation zum Dubliner Abkommen (Erstasyl) im Bereich des Möglichen. Ein entsprechendes Verhandlungsmandat des Bundesrates liegt vor. Damit wäre die Schweiz zumindest keine Asylinsel mehr, wäre aber nicht in die Europäische Asylpolitik (Definition des Flüchtlingsstatus, Vereinheitlichung des Asylverfahrens, Europäischer Flüchtlingsfonds, etc.) eingebunden.

4.5.5

Polizeiliche Zusammenarbeit

EU-Beitritt

Beteiligung an Schengener Zusammenarbeit, Europol: direkter Zugang zu Informationen, Schweizer Europolbeamte, Mitwirkung in Analyseteams, Teilnahme an Europäischer Polizeihochschule und an Task Force aus europäischen Polizeichefs.

EWR

Keine Auswirkungen.

Bilaterale Verträge

Bisher keine Auswirkungen. Zweites Paket: Aushandlung einer Assoziation zur Schengener Zusammenarbeit und zu Europol, Verstärkung der bilateralen Polizeizusammenarbeit

Die Teilnahme am europäischen System der inneren Sicherheit trägt zum effizienten Schutz gegen die organisierte Kriminalität und den internationalen Terrorismus bei.

Dies zeigt sich heute deutlicher denn je. Als EU-Mitglied wäre die Schweiz voll in den Informationsfluss unter den Mitgliedstaaten eingebunden.

Durch eine Schengen-Assoziation könnte sich die Schweiz zumindest an der operationellen Polizeizusammenarbeit und dem Informationsaustausch (u.a. SIS) beteiligen. Ein Zusammenarbeitsabkommen mit Europol wurde bereits paraphiert. Der Mehrwert einer EU-Mitgliedschaft betrifft einerseits den Zugang zur strategischen Zusammenarbeit (Europäische Polizeichefs) und, im Rahmen von Europol, die Teilnahme an den Analyseteams sowie die Möglichkeit, bei Europol Beamte zu stellen (statt lediglich Verbindungspersonen, die keinen direkten Zugang zu Informationen haben). Die bilaterale Polizeizusammenarbeit würde/müsste sich durch den Wegfall der Binnengrenzen verstärken. Die befragten Experten sehen darin einen deutlichen Sicherheitszuwachs.

6352

4.5.6

Rechtshilfe

EU-Beitritt

Mitwirkung an der EU-Rechtshilfepolitik. Teilnahme an Eurojust.

EWR

Keine Auswirkungen.

Bilaterale Verträge

Bisher keine Auswirkungen. Nächste Verhandlungsrunde: Übernahme der Schengener Rechtshilfe-Bestimmungen inkl. Auslieferung, eventuell Teilnahme an Eurojust (nicht Bestandteil von Schengen).

Die Mitgliedstaaten der EU haben unter sich die Rechtshilfe, aufbauend auf den entsprechenden Instrumenten des Europarates, zusätzlich verstärkt. Ein Teil dieser Regeln gilt als Weiterentwicklung des Schengener Acquis und wäre entsprechend im Falle eines Assoziationsabkommens zu übernehmen. Noch offen ist, wie in diesem Fall die Rechtshilfe im fiskalischen Bereich ausgestaltet würde.

Als EU-Mitglied könnte die Schweiz direkten Einfluss auf die EU-Rechtshilfepolitik nehmen. Dieser Bereich unterliegt vorderhand der Einstimmigkeit. Es wäre auch leichter, innerhalb der EU Allianzen unter Gleichgesinnten zu schaffen. Der bilaterale Weg hat hauptsächlich den Nachteil der ungleichen Mitwirkung, insbesondere im Hinblick auf den künftigen, unbekannten Acquis.

4.5.7

Drogenbekämpfung

EU-Beitritt

Zusammenarbeit im Rahmen der Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität, Teilnahme an der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht.

EWR

Keine Auswirkungen.

Bilaterale Verträge

Bisher keine Auswirkungen. Neue Verhandlungen: Zusammenarbeit im Rahmen der Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität, u.a. via Europol.

Als EU-Mitglied könnte die Schweiz Einfluss auf die Europäische Strategie zur Drogenbekämpfung nehmen. Bilateral würde sich die Zusammenarbeit vermutlich auf Europol beschränken. Eine Teilnahme an der Europäischen Beobachtungsstelle steht zur Zeit nicht zur Debatte.

4.6

Aussen- und Sicherheitspolitik

4.6.1

Gemeinsame Aussenpolitik

EU-Beitritt

Teilnahme an der GASP gemäss Bestimmungen des EU-Vertrags. Die Schweiz zieht Nutzen aus dem grösseren internationalen Einfluss der EU auf politischer und auf wirtschaftlicher Ebene.

6353

EWR

Der EWR-Vertrag deckt die Aussenpolitik nicht ab. Er sieht sie einen institutionalisierten politischen Dialog EU ­ EWR vor, dessen praktische Auswirkungen allerdings gering sind.

Bilaterale Verträge

Die Schweiz unterhält auf einer ad hoc Basis einen informellen politischen Dialog mit dem Präsidium/Vorsitz der EU. Des Weiteren nimmt sie an der Europa-Konferenz als «designiertes Mitglied» statt.

Auch wenn die EWR Verträge die Aussenpolitik nicht abdecken, gibt die EU den EFTA/EWR Staaten die Möglichkeit, ihre Erklärungen bezüglich GASP zu unterstützen, und erwartet diesbezüglich auch eine gewisse Unterstützung.

Der Beitritt zur EU sollte keine markanten Probleme mit sich bringen, da sich die Ziele der schweizerischen Aussenpolitik und der GASP in vielen Punkten schon jetzt decken.

Die EU unterhält institutionalisierte Beziehungen mit vielen Ländern, darunter alle bedeutenden Staaten. Die Schweiz würde von den Verträgen, die mit Drittländern geschlossen wurden, profitieren, insbesondere was das Diskriminierungsrisiko im wirtschaftlichen Bereich anbelangt, welches heutzutage existiert. Dieses würde restlos verschwinden.

4.6.2

Gemeinsame Sicherheitspolitik

EU-Beitritt

Teilnahme an der ESVP gemäss Richtlinien des EU-Vertrags.

Möglichkeit, auf gleichberechtigter Basis bei den zivilen und militärischen Aspekten der zukünftigen EU-Missionen zur Krisenbekämpfung mitzumachen.

EWR

Der EWR-Vertrag deckt den Bereich der Sicherheitspolitik nicht ab.

Bilaterale Verträge

Da die EU im Rahmen der ESVP offen ist für Kooperation mit Drittstaaten, kann die Schweiz einen Beitrag zum zukünftigen zivilen und/oder militärischen EU-Krisenmanagement leisten.

Jeder Mitgliederstaat der EU, sei er nun Mitglied einer militärischen Allianz oder nicht, wird bei Entscheiden bezüglich ESVP auf gleichgestellter Basis beigezogen (ausser Dänemark: seit dem negativen Abstimmungsresultat zum Maastricht-Vertrag betrifft eines der opting-outs die Aussen- und Sicherheitspolitik).

6354

4.6.3

Neutralitätsfragen

EU-Beitritt

Zurzeit kann ein neutraler Staat der EU beitreten, ohne auf seine Neutralität verzichten zu müssen.

EWR

Der EWR betrifft Neutralitätsfragen nicht. Falls die EU Sanktionen gegen einen Drittstaat ergreift, kann sie Druck auf die EFTA/EWR-Staaten ausüben, damit sich diese ihr anschliessen.

Bilaterale Verträge

Im Falle von EU-Sanktionen gegen Drittstaaten dürfte der Druck der EU auf Vertragspartner weniger stark sein als bei der EWR-Lösung.

In den zwei Fällen, wo die EU nicht-militärische Sanktionen gegen einen Drittstaat, ohne entsprechende UNO-Resolution getroffen hat (Ex-Jugoslawien 1998 [ohne Luft- und Ölembargo] und Myanmar 2000), hat die Schweiz diese auf autonomer Basis aufgenommen. Das Neutralitätsrecht schreibt im Prinzip auf wirtschaftlicher Ebene nichts vor.

Was die Aussen- und Sicherheitspolitik der EU betrifft, werden die Entscheide grundsätzlich einstimmig gefällt. Je nach Fall wird die Möglichkeit ein Veto einzureichen ­ welche juristisch gesehen bei einstimmigen Entscheiden immer besteht ­ stark eingeschränkt durch das Solidaritätsprinzip, welches den Aktivitäten der EUMitgliederstaaten zu Grunde liegt.

Die Entwicklung der ESVP betrifft bis jetzt nur das Krisenmanagement und nicht die territoriale Verteidigung. Falls sich die EU entscheidet, ein Krisenmanagement einzuleiten, ist die Teilnahme jedem Mitgliederstaat freigestellt.

Auch wenn momentan nicht zur Sprache steht, eine gemeinschaftliche Verteidigung auf die Beine zu stellen, kann diese auf längere Zeit nicht völlig ausgeschlossen werden. Im Falle einer solchen Einrichtung müsste diese vom Europäischen Rat einstimmig verabschiedet, und von allen Mitgliederstaaten entsprechend ihren Verfassungsbestimmungen unterzeichnet werden. Die Schweiz müsste dann die durch die Neutralitätspolitik gegebenen Vorteile mit jenen der neuen europäischen Massnahmen vergleichen und ihre Position dementsprechend definieren. Die Neutralität ist nicht das Ziel als solches, sondern der Weg um die Sicherheit und die Unabhängigkeit des Landes zu garantieren.

4.7

Sozialpolitik

4.7.1

Sozialrecht

EU-Beitritt

Die Schweiz übernimmt alle Bestimmungen der EU.

EWR

Die Schweiz übernimmt alle Bestimmungen der EU.

Bilaterale Verträge

Bisher haben die bilateralen Verhandlungen keine Auswirkungen.

6355

Im System des EU-Binnenmarkts gehört das Sozialrecht zu den sogenannten flankierenden Politiken, die die Realisierung der vier Freiheiten (freier Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr) unterstützend begleiten. Es umfasst die Rechtssetzungsbereiche Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, Arbeitsrecht im engeren Sinn, und Gleichstellung von Mann und Frau. Das diesbezügliche EURecht wurde vollumfänglich in den EWR eingebaut, während es in den bilateralen Abkommen Schweiz/EU gänzlich ausgeklammert blieb.

Materiell unterscheidet sich das Sozialrecht der EU im Allgemeinen nicht grundlegend von den schweizerischen Bestimmungen. Das schweizerische Recht wurde vor allem im vergangenen Jahrzehnt in vielen Punkten dem EU-Recht angenähert (Gleichstellungsgesetz, Swisslex mit Anpassungen des OR und Erlass des Mitwirkungsgesetzes, Verordnungsrecht zum Arbeits- und zum Unfallversicherungsgesetz).

Wichtigste Ausnahmen sind die in der EU geltenden Regeln zu Mutterschafts- und Elternurlaub sowie die Arbeitszeitvorschriften. Der schweizerische Mutterschaftsurlaub ist mit 8 Wochen deutlich kürzer als die in der EU geltenden 14 Wochen; ausserdem ist im schweizerischen Recht die Lohnzahlung für diese Zeit nicht garantiert. Ein gesetzlicher Anspruch auf Elternurlaub existiert in der Schweiz nicht. Das kürzlich revidierte Arbeitsgesetz sieht weiterhin wöchentliche Höchstarbeitszeiten von 45 bzw. 50 Stunden vor, zuzüglich Überzeit, während das EU-Recht von durchschnittlich 48 Stunden, einschliesslich Überzeit, ausgeht. Unterschiede bestehen auch in den Regelungen bezüglich Nachtarbeit.

Strukturell gibt es deutliche Unterschiede, die im Fall eines Beitritts zur EU bzw.

zum EWR Anpassungen nötig machten. Beispielsweise werden die Bereiche «Sicherheit am Arbeitsplatz» und «allgemeiner Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz» in der EU in einem ganzheitlichen Ansatz durch die gleichen Richtlinien geregelt, während sie in der Schweiz auf Arbeitsgesetz und Unfallversicherungsgesetz aufgeteilt sind. Weiter umfassen die EU-Bestimmungen alle Branchen und Tätigkeiten, während in der Schweiz insbesondere der Geltungsbereich des Arbeitsgesetzes Ausnahmen enthält, beispielsweise die Landwirtschaft.

Im Allgemeinen sind die EU-Regeln meist detaillierter als die in der Schweiz geltenden Bestimmungen, was eine gewisse
Anzahl kleinerer, oftmals technischer Anpassungen erforderlich machen würde.

Die Gleichstellungsbestimmungen für Frau und Mann stimmen weitgehend überein.

Hingegen ist das Diskriminierungsverbot in der EU weiter gefasst, indem es explizit auch Diskriminierungen auf Grund von Rasse, Religion, Behinderung, Alter und sexueller Orientierung einschliesst.

6356

4.7.2

Soziale Sicherheit

EU-Beitritt

Die Schweiz übernimmt die Bestimmungen der EU.

EWR

Die Schweiz übernimmt die Bestimmungen der EU.

Bilaterale Verträge

Mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen ist die Schweiz bereits weitgehend in das in der EU geltende System eingebunden. Das Dienstleistungsabkommen des zweiten Verhandlungspakets fördert die weitere Integration.

Der Unterschied zwischen den drei Szenarien in diesem Bereich ist kaum signifikant, da die Schweiz nach Inkrafttreten des Abkommens über die Personenfreizügigkeit praktisch voll am Sozialversicherungssystem der Europäischen Union teilnimmt. Das Abkommen sieht vor, dass sich die Schweiz auch an den Weiterentwicklungen beteiligt.

Die Sozialversicherungen gehören zu den koordinierten Politikbereichen, die den Mitgliedstaaten eigene Handlungsspielräume belassen. Dementsprechend schreitet die weitere Harmonisierung nur langsam voran.

Die in Angriff genommene Revision des Gesetzes über die berufliche Vorsorge BVG wird es erlauben, noch bestehende Unterschiede auszugleichen. Ausstehend ist noch die Mutterschaftsversicherung.

4.8

Staatsleitung

4.8.1

Regierungsreform

EU-Beitritt

Die Zahl von sieben Regierungsmitgliedern ist nicht ausreichend, um die angemessene Vertretung der Schweiz an EU-Ratssitzungen sicherzustellen.

EWR

Die für die Schweiz massgebende Entscheidvorbereitung im EWR erfolgt auf Beamtenstufe, dadurch wird der Einfluss der Verwaltung weiter vergrössert.

Bilaterale Verträge

Die Inhalte der bilateralen Verträge des ersten und des zweiten Pakets erfordern eine intensive Koordination.

Die Regierungsreform ist unabhängig von der künftigen schweizerischen Europapolitik unabdingbar. Sie drängt sich unter anderem deshalb auf, weil durch die fortschreitende Globalisierung die Koordination nach innen und nach aussen intensiviert werden muss.

Die Regierungsorganisation ist in der EU Sache der einzelnen Mitgliedstaaten. Ihre Strukturen müssen es ihnen aber ermöglichen, als EU-Mitglied korrekt zu funktionieren. Im Fall eines Beitritts müsste die Schweiz die Anzahl ihrer Minister erhöhen, da eine nur siebenköpfige Regierung nicht in der Lage wäre, an den etwa hundert Ratssitzungen teilzunehmen, die jährlich ­ in wechselnder Zusammensetzung ­ durchgeführt werden, und gleichzeitig ihre Verpflichtungen innerhalb der Schweiz einzuhalten. Die politische Stellung des Bundesrates würde gestärkt, da im EU-Rat politisch und rechtlich bindende Entscheide getroffen werden.

6357

Auch die Stellung des/der Bundespräsidenten/in müsste gestärkt werden. Die Institutionen der EU machen einen deutlichen Unterschied zwischen Fachministern einerseits und Staats- und Regierungschefs anderseits. Dies könnte dazu führen, dass ein Schweizer Vertreter, der beide Funktionen wahrnimmt, nicht als gleichwertig wahrgenommen wird. Die damit verbundene Doppelbelastung wäre zudem für den betroffenen Amtsinhaber nur schwer zu bewältigen. Schliesslich könnte es sich nachteilig auf die Kontinuität bei der Vertretung nach aussen auswirken, wenn das Staatsoberhaupt jedes Jahr ein anderes ist.

Die Rolle der Verwaltung ist in der Schweiz sehr bedeutend. An den Anhörungen wurde die Ansicht geäussert, dass eigentlich die Departemente die politische Führung innehaben, indem sie Initiativen ergreifen und Analysen machen. Die politische Führungsfunktion des Bundesrats als Gremium müsste gestärkt werden. Für die Teilnahme in einer supranationalen Organisation, wie die EU sie darstellt, sind die bestehenden Strukturen ungeeignet. Bereits angesichts der intensiven Koordination, die in den bilateralen Verhandlungen nötig ist, stossen sie teilweise an Grenzen.

Dies gilt auch für die Option einer EWR-Mitgliedschaft.

Im EWR werden die für die Nicht-EU-Mitglieder massgebenden Vorentscheide (decision shaping) auf Experten- und/oder Beamtenstufe getroffen. Dies würde den Einfluss der Verwaltung noch erhöhen.

Die Regierungsreform ist bereits eingeleitet. Die Botschaft ist im Dezember 2001 durch den Bundesrat verabschiedet werden.

4.8.2

Rolle des Parlaments

EU-Beitritt

Das Parlament gibt sich eine ständige Europakommission.

EWR

Das Parlament nimmt im Rahmen der heutigen Mitwirkungsmöglichkeiten an den Entscheidungsprozessen teil.

Bilaterale Verträge

Das Parlament nimmt im Rahmen der heutigen Mitwirkungsmöglichkeiten an den Entscheidungsprozessen teil.

Im Fall eines Beitritts der Schweiz zur EU muss eine für Europafragen zuständige Kommission eingesetzt werden. Abgesehen davon sind die existierenden Instrumente für die Mitwirkung des Parlaments in der Aussenpolitik im Prinzip für alle drei Szenarien ausreichend und dürften mit dem neuen Parlamentsgesetz zusätzlich gestärkt werden.

Die schweizerische Bundesversammlung hat eine starke institutionelle Position: Sie ist zuständig für die Gesetzgebung und für die Finanzen der Eidgenossenschaft, und sie ist Wahlorgan der Regierung. Die Gewaltenteilung wird in der Schweiz sehr strikt gehandhabt, was die Stellung der Legislative ebenfalls festigt. Eine Annäherung an die EU führt jedoch tendenziell zu einer Stärkung der Exekutive, da zahlreiche Entscheide auf Regierungsstufe gefällt werden müssen. Dies könnte allenfalls ausgeglichen werden, in dem das Parlament dem Bundesrat seinen Handlungsspielraum bis zu einem gewissen Punkt vorgeben würde.

6358

Für das schweizerische Milizparlament bedeutet eine verstärkte aussenpolitische Mitwirkung eine Mehrbelastung, die an die Grenzen des Milizprinzips stösst. Dies gilt für alle drei Szenarien, da sich das Parlament ohnehin in zunehmendem Mass mit europapolitischen Fragen befassen müssen wird.

5

Schlussfolgerungen und Empfehlungen für das weitere Vorgehen

Die Kommission hat sich mit den Anhörungen einen Überblick über die offenen Fragen verschaffen können, die die europapolitische Diskussion in der Schweiz in den kommenden Jahren prägen werden. Eine detaillierte Behandlung war dabei angesichts der Vielfalt der Themen und ihrer Komplexität nicht möglich. Die Kommission ist zum Schluss gekommen, dass die Bundesversammlung und der Bundesrat die Arbeit weiterführen und vertiefen müssen.

Die Kommission vertritt die Ansicht, dass die Annäherung an die Europäische Union weiter vorangetrieben werden muss. Unter anderem wegen des Abstimmungsergebnisses über die Volksinitiative «Ja zu Europa» vom 4. März 2001 ist der bilaterale Weg zur Zeit der am Leichtesten gangbare und einzig mehrheitsfähige.

Die Kommission geht davon aus, dass sich kurzfristig ohne wirtschaftlichen oder politischen Druck keine Mehrheiten für einen EWR- oder EU-Beitritt finden.

Keine Einigkeit besteht in der Kommission über den längerfristig einzuschlagenden Weg, auch wenn sie sich einig ist, dass sich kurz- und mittelfristig keine Entscheidung für eine der Optionen aufdrängt. Ein Teil der Mitglieder unterstützt längerfristig das EU-Beitrittsziel des Bundesrates. Die Mehrheit der Kommission ist der Ansicht, dass dieser Entscheid erst zu einem späteren Zeitpunkt in Kenntnis der Weiterentwicklung des Verhältnisses der Schweiz mit der EU und der Entwicklungen innerhalb der EU gefällt werden kann, auch wenn einzelne aus heutiger Sicht die längerfristige Präferenz einem EWR-Beitritt oder der Fortsetzung des bilateralen Weges geben. Die Kommission verzichtet daher zur Zeit auf die Empfehlung eines «Königsweges» für die längerfristige Integrationspolitik.

Massgebenden Einfluss auf die Willensbildung innerhalb der Schweiz werden die politische und wirtschaftliche Entwicklung innerhalb der Schweiz und der EU sowie die Auswirkungen der Osterweiterung der EU haben. Dabei ist es von grosser Bedeutung, dass der Willensbildungsprozess in einem sachlichen Diskussionsklima erfolgen kann.

Die Kommission beantragt daher, folgende Empfehlungen an den Bundesrat zu richten: ­

Der Bundesrat ist eingeladen, unter den gegebenen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen in den kommenden Jahren den bilateralen Weg gegenüber der EU fortzusetzen. Dabei hat er insbesondere in den Verhandlungsdossiers, die zu einer automatischen Übernahme des Gemeinschaftsrechts führen, die Begründung dazu, den Nutzen und die Mitgestaltungsmöglichkeiten aufzuzeigen.

6359

­

Der Bundesrat wird gebeten darzulegen, welche Reformen unabhängig vom gewählten Integrationsweg durch den Ausbau der Beziehungen der Schweiz zur Europäischen Union nötig werden, und diese Reformen nach sachlichen und zeitlichen Prioritäten zu bewerten.

­

Der Bundesrat ist gebeten, die sachliche und vertiefte Diskussion über die Voraussetzungen und Auswirkungen der verschiedenen Integrationswege voranzutreiben und dabei das Parlament und möglichst weite Kreise der Zivilgesellschaft einzubeziehen.

6360

Anhang

Liste der Experten Referent

Datum

Thema

Ager Hans Bundesrat, ÖVP, Tirol

19.10.2001

Erfahrungen Österreichs in der EU

Ambühl Michael Botschafter, Integrationsbüro EDA/EVD

21.08.2001

Überblick über den Stand der Gespräche Schweiz-EU

Amstutz Max 12.01.2001 Präsident des Verwaltungsrats, Société Générale de Surveillance

Logistische Aspekte, Warentransport, Zollfragen

Aubert Gabriel Professeur, Université de Genève

18.10.2001

Fragen des Arbeitsrechts

Blankart Franz a. Staatssekretär

11.01.2001

Die Grenzen der Europäischen Integration

Brombacher Steiner Maria 18.10.2001 Verena Vizedirektorin, Delegierte für Sozialversicherungsabkommen, BSV

Soziale Sicherheit

Buntschu Marc stv. Leiter des Sekretariats des Datenschutzbeauftragten

20.08.2001

Polizei / Sicherheit an den Grenzen

Buomberger Peter Leiter «Economic Research», UBS

12.01.2001

Währung, Währungsunion

Ehrenzeller Bernhard Professor, Universität St. Gallen

19.10.2001

Staatsleitung und Staatsleitungsreform

Epiney Astrid Professorin, Universität Fribourg

18.05.2001

Perspektiven für Volksinitiative und Referendum: Reformbedarf im Fall eines EU-Beitritts

Fischer Judith Projektleiterin USIS, EJPD

20.08.2001

Polizei / Sicherheit an den Grenzen

Freymond Jean Groupe de refléxion Suisse-Europe

18.10.2001

Die Option «Assoziation»

Gerber Jean Daniel Direktor BFF, EJPD

20.08.2001

Migration und Asyl

6361

Referent

Datum

Thema

Goetschel Laurent Geschäftsführer Schweizerische Friendensstiftung

21.08.2001

Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik und die Auswirkungen für die Schweiz

Hauser Heinz Professor, Universität St. Gallen, Arbeitskreis Schweiz-Europa

20.08.2001

Die Option EWR

Jametti Greiner Monique Vizedirektorin, BJ, EJPD

20.08.2001

Justizielle Zusammenarbeit

Jeanrenaud Claude Professeur, Université de Neuchâtel

17.05.2001

Implications financières pour les cantons d'un rapprochement à l'Europe

Jost Alexander 12.01.2001 Generaldirektor Nestlé Schweiz

Quelques aspects soulevés par l'intégration européenne pour l'industrie alimentaire suisse

Krayer Georg Präsident Bankiervereinigung

12.01.2001

Bankensektor, Vermögensverwaltung

Languetin Pierrre Groupe de refléxion Suisse-Europe

18.10.2001

Die Option «Assoziation»

Mader Luzius Vizedirektor, BJ, EJPD

19.10.2001

Staatsleitung und Staatsleitungsreform

Martinelli Dante Ambassadeur, Mission suisse auprès des Communautés européennes

11.01.2001

La vue de la Mission suisse à Bruxelles

11.01.2001

Les grands défis de l'Union

Michel Nicolas Botschafter, Direktor DV, EDA

21.08.2001

GASP, ESVP: Neutralitätspolitische Fragen

Mohler Markus früher Polizeikommandant, Basel

20.08.2001

Polizei/Sicherheit an den Grenzen

18.10.2001 Murer Erwin Professor, Universität Fribourg

Tendenzen in der EU-Sozialpolitik und ihre möglichen Auswirkungen auf die Sozialpolitk der Schweiz

Nigg Josef Regierungsrat, Obwalden

17.05.2001

Die EuRefKa-Studie aus der Sicht der Kantone

Pfisterer Thomas Ständerat

17.05.2001

Die EU: Herausforderung für den Föderalismus

6362

Referent

Datum

Thema

Ramsauer Rudolf Direktionspräsident economiesuisse

11.01.2001

Die Sicht der Schweizer Wirtschaft

Rhinow René Professor, Universität Basel

19.10.2001

Staatsleitung und Staatsleitungsreform

Scheidegger Hans-Ulrich, Vize- 18.10.2001 direktor, Leistungsbereich «Arbeitsbedingungen», seco

Fragen des Arbeitsrechts

Schips Bernd Professor, Leiter der Konjunkturforschungsstelle der ETH

11.01.2001

Gesamtwirtschaftliche Überlegungen

Schneider Johann Niklaus Nationalrat, Arbeitskreis Schweiz-Europa

20.08.2001

Die Option EWR

Schönenberger Peter Regierungsrat, St. Gallen

17.05.2001

Institutionelle Fragen, Rolle der KdK

Schweizer Rainer Professor, Universität St. Gallen

17.05.2001

Annäherung an Europa: Konsequenzen für die Aufgaben der Kantone

Schwok René Professeur, Institut européen, Université de Genève

11.01.2001

Analyse du rapport sur l'intégration

Seiler Hansjörg 18.05.2001 Privatdozent, Universität, Bern

EU-Beitritt und direkte Demokratie: Ist Koexistenz möglich?

Stucky Georg alt Nationalrat, Arbeitskreis Schweiz-Europa

20.08.2001

Die Option EWR

Tanner Fred stv. Direktor, Geneva Center for Security Policy, Genf

21.08.2001

ESVP, Europäische Sicherheitsund Verteidigungspolitik und die Auswirkungen für die Schweiz

Thürer Daniel Professor, Universität Zürich

18.05.2001

Das europäische Bürgerrecht

Walter Jean-Philippe 20.08.2001 Stellvertreter des Datenschutzbeauftragten

Polizei / Sicherheit an den Grenzen

Weilharter Engelbert Bundesrat, FPÖ, Steiermark

19.10.2001

Erfahrungen Österreichs in der EU

Widmer Sigmund Groupe de refléxion Suisse-Europe

18.10.2001

Die Option «Assoziation»

6363

Referent

Datum

Thema

Wild Claude Chef der Sektion «Politik und Institutionen», Integrationsbüro EDA/EVD

20.08.2001

Justiz und Inneres in der EU: Eine Einführung

Zepter Bernhard stv. Generalsekretär der Europäischen Kommission

17.05.2001

Die Entwicklung der Europäischen Union mit Blick auf die Erweiterung

6364