Parlamentarische Oberaufsicht über die eidgenössischen Gerichte Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Ständerates vom 28. Juni 2002

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Zusammenfassung Im Hinblick auf die Totalrevision der Bundesrechtspflege und vor dem Hintergrund verschiedener Reorganisationen von Justizbehörden im In ­ und Ausland haben die Geschäftsprüfungskommissionen der eidgenössischen Räte (GPK) im Januar 2001 beschlossen, wichtige Fragen zur parlamentarischen Oberaufsicht über die Justiz zu untersuchen.

Die Analyse der eigenen Oberaufsichtspraxis über Bundesgericht und Eidgenössisches Versicherungsgericht hat aufgezeigt, dass die GPK ein breites Oberaufsichtsspektrum abdecken, ihre Befugnisse im Rahmen der Prüfung der Geschäftsberichte der eidgenössischen Gerichte ausschöpfen und die verfassungsrechtlich verankerte Unabhängigkeit der richterlichen Behörden respektieren. Einem modernen Gerichtsmanagement, einer gut eingerichteten internen Aufsicht und einer hohen Transparenz über den Geschäftsgang misst die GPK des Ständerats hohe Priorität zu. Dem Bundesgericht empfiehlt die Kommission insbesondere, in seiner Geschäftsberichterstattung neue Indikatoren zur Leistungserbringung aufzunehmen.

Die Kommission wird ihrerseits, beispielsweise durch vertiefte Überprüfungen in der Gerichtsadministration, die Oberaufsicht intensivieren.

Im Rahmen der Beratungen des Bundesgesetzes über das Bundesstrafgericht ist die Frage erörtert worden, nicht allein die Richterwahlvorbereitung einer besonderen Gerichtskommission zuzuordnen, sondern diese auch mit der Oberaufsicht über die eidgenössischen Gerichte zu beauftragen. Der Ständerat hat in der Frühjahrssession von einer solchen Doppelfunktion einer Kommission abgesehen und die Gerichtskommission einzig mit der Wahlvorbereitung zuhanden der Bundesversammlung beauftragt. In der Tat kommt der sorgfältigen und professionellen Vorbereitung der Richterwahlen eine zentrale Bedeutung zu. Die Bündelung der Oberaufsicht über Bundesrat, Bundesverwaltung und Bundesgerichte auf eine Kommission ist hingegen eine Stärke des bisherigen Systems. Sie gewährt die Einheit und Kohärenz der parlamentarischen Kontrolle und ist mit Synergiegewinnen verbunden. Für die Kommission stellt sich aber die Frage, wie das Bundesgericht in ein Aufsichtskonzept über die unterinstanzlichen Gerichte einzubinden ist. Als oberstes Gericht hat es vielfältigen Einblick in die Arbeit der unteren Instanzen. Diese Informationen sollen zuhanden der Oberaufsicht
nutzbar gemacht werden. Die Kommission wird deshalb im Rahmen der Beratung des Bundesgerichtsgesetzes den Antrag stellen, das Bundesgericht gesetzlich zu ermächtigen, über die im Rahmen seiner Tätigkeit erhaltenen Eindrücke zur Arbeit der unterinstanzlichen Gerichte des Bundes zuhanden der GPK Meldung zu erstatten. Im Weiteren empfiehlt die Kommission den eidgenössischen Gerichten, in den Bereichen Informatik, Statistik, Benchmarking, Gerichtsverwaltung, Personalmanagement und Weiterbildung zusammenzuarbeiten.

Ausgeführt wurde die Untersuchung von der durch nationalrätliche Mitglieder erweiterten Subkommission EJPD/Gerichte der Geschäftsprüfungskommission des Ständerates unter Beizug der Parlamentarischen Verwaltungskontrollstelle.

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Bericht 1

Kontext und Gegenstand der Untersuchung

Die Geschäftsprüfungskommissionen der eidgenössischen Räte (GPK) haben sich in den letzten Jahren wiederholt mit grundsätzlichen Fragen der Oberaufsicht beschäftigt. Im Rahmen der Verfassungsreform haben sie sich besonders mit der Aufsicht über Bundesrat und Bundesverwaltung und der Zulässigkeit der begleitenden Kontrolle befasst (BBl 1997 III 1382). Abklärungen im Jahr 1998/99 waren der Relevanz des Datenschutzgesetzes im Zusammenhang mit der parlamentarischen Kontrolltätigkeit gewidmet (BBl 2000 3). Die Reformen der Post-, Telekommunikationsund SBB-Gesetzgebung führten 1999 bei den GPK zu einer Grundsatzdiskussion zu Fragen der Aufsicht und Oberaufsicht und zur Neudefinition ihrer Rolle gegenüber Post, Swisscom AG und SBB (BBl 2000 4602). Jüngst haben die GPK die Oberaufsicht über die Bundesanwaltschaft einer Prüfung unterzogen (Jahresbericht 2001/2002 der Geschäftsprüfungskommissionen und der Geschäftsprüfungsdelegation der eidgenössischen Räte, S. 24).

Mit der Oberaufsicht über die Justiz haben sich die GPK im Jahr 2000 im Rahmen der Revision des Geschäftsverkehrsgesetzes (GVG) beschäftigt (BBl 2001 5634).

Sie haben in einer Stellungnahme zuhanden der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates (SPK) ihre Praxis der Oberaufsicht beschrieben. Die Oberaufsicht über die Justiz hat die verstärkte Aufmerksamkeit der GPK aber auch deshalb gefunden, weil mit der Totalrevision der Bundesrechtspflege die Einrichtung zweier neuer Gerichte verbunden ist und verschiedene Aspekte der Aufsicht in diesem Zusammenhang zu klären sind. Gemäss dem massgebenden Verfassungsartikel (Art. 169 Abs. 1 BV) übt die Bundesversammlung die Oberaufsicht über die eidgenössischen Gerichte aus. Demnach liegt nicht nur die Oberaufsicht über das Bundesgericht (BGer) und das Eidgenössische Versicherungsgericht (EVG) beim Parlament, sondern auch jene über die eidgenössischen Rekurskommissionen und die neu zu schaffenden unterinstanzlichen Bundesgerichte.

Der Bundesrat hat die Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege am 28. Februar 2001 verabschiedet (BBl 2001 4202). Die Totalrevision sieht nicht nur Verfahrensänderungen und die Verbesserung des Rechtsschutzes vor, sondern enthält auch organisatorische Neuerungen: Mit der Schaffung eines Bundesverwaltungsgerichts sollen die bestehenden Rekurskommissionen unter einem
Dach vereinigt werden. Die Einrichtung des Bundesstrafgerichts und die Teilintegration des EVG ins BGer werden weitere Organisationsänderungen nach sich ziehen. Mit der Totalrevision ist zudem eine verstärkte Verwaltungsautonomie (z. B. Festlegung der Art und Anzahl Abteilungen in eigener Kompetenz) und insbesondere auch eine weiter als heute gehende Finanzautonomie für die erwähnten Gerichte vorgesehen.

Das einzelne Gericht soll im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben über die vom Parlament gebilligten Mittel selbständig verfügen können. Gemäss Botschaft unterstehen die Gerichte der Oberaufsicht des Parlaments. Der Bundesrat schlägt weiter vor, die neuen Gerichte gleich zu behandeln wie das Bundesgericht und sie keiner zusätzlichen, die parlamentarische Oberaufsicht ergänzenden Aufsicht zu unterstellen.

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In der Zwischenzeit hat die Kommission für Rechtsfragen des Ständerates (RK-S) das Bundesgesetz über das Bundesstrafgericht beraten. Dabei hat sich in der Frage des Wahlorgans der Richterinnen und Richter des Bundesstrafgerichts (und des Bundesverwaltungsgerichts) eine Diskussion entzündet, die auch die Ausübung der Oberaufsicht tangiert. Die RK-S hat beschlossen, die Bundesversammlung als Wahlorgan zu bestimmen ­ entgegen der Botschaft, die den Bundesrat vorsieht.

Wegen der hohen Zahl der zu wählenden Richterinnen und Richter (Bundesstrafgericht 15­35; Bundesverwaltungsgericht 50­70) hat die RK-S im November 2001 einen Antrag zur Schaffung einer Justizkommission gestellt, der auch Aufsichtsaufgaben zukommen sollten (BBl 2002 1181). Nachdem diese Vorlage vom Ständerat zurückgewiesen wurde, hat die RK-S eine sich aus Mitgliedern beider Räte zusammengesetzte Gerichtskommission vorgeschlagen. Nebst der Wahlvorbereitung sollte dieser auch die Oberaufsichtfunktion über alle Gerichte des Bundes zukommen. Die Geschäftsprüfungskommission des Ständerates (GPK-S) hat am 18. Februar 2002 ihre Vorbehalte gegenüber diesem Vorschlag der RK-S mitgeteilt.

Die RK-S hat deshalb und aufgrund der laufenden Untersuchungen der GPK-S vorerst davon abgesehen, die Übertragung der Oberaufsicht auf diese Gerichtskommission im Rat zu beantragen. Sie hat am 5. März 2002 aber angekündigt, dass sie bei der Prüfung der weiteren Gesetzesvorlagen zur Totalrevision der Bundesrechtspflege das Konzept einer mit Oberaufsichtsfunktion ausgestatten Gerichtskommission weiterverfolgen will. Der Ständerat hat am 19. März 2002 entschieden, eine Gerichtskommission einzurichten, die die Richterwahlen vorbereiten, nicht aber die Oberaufsichtsfunktion übernehmen soll.

Der mit dem Jahresprogramm am 19. Januar 2001 beschlossenen Inspektion der GPK «Oberaufsicht über die Justiz» kommt vor diesem Hintergrund hohe Bedeutung zu. Die Untersuchung wurde im Hinblick auf den Ausbau der Bundesjustiz initiiert. Den GPK war bewusst, dass die Oberaufsicht über die eidgenössischen Gerichte erweitert werden muss und sich deshalb die Überprüfung der bisherigen Praxis der Oberaufsicht und die Abklärung spezifischer Fragen aufdrängen, um allfällige Verbesserungsvorschläge formulieren zu können.

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Vorgehen

Die GPK haben die Subkommission EJPD/Gerichte der GPK-S mit der Untersuchung dieser Problematik beauftragt. Angesichts der grundlegenden Bedeutung der Untersuchung wurde die Subkommission durch Mitglieder der entsprechenden Subkommission der GPK des Nationalrates (GPK-N) erweitert. Die erweiterte Subkommission bestand aus Ständerat Hans Hess (Präsident), Ständerätin Helen Leumann-Würsch, den Ständeräten Hans Lauri, Jean Studer und Franz Wicki sowie aus Nationalrätin Brigitta M. Gadient (Präsidentin der GPK-N) und den Nationalräten Claude Janiak, Hubert Lauper (Präsident der Subkommission EJPD/Gerichte der GPK-N) und Jean Jacques Schwaab.

Die erweiterte Subkommission wandte sich zur Erfüllung ihres Mandats an die Parlamentarische Verwaltungskontrollstelle (PVK) und beauftragte sie mit der Durchführung zweier Studien. Am 26. Februar 2001 beauftragte sie die PVK, folgende Fragen zum modernen Management in der Justiz abzuklären.

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Welche organisatorischen Massnahmen zur Steigerung ihrer Effizienz haben BGer, EVG und ausgewählte Rekurskommissionen in den letzten Jahren durchgeführt? Wie funktioniert das aktuelle Management?

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Welche Möglichkeiten bietet das Modell des New Public Management (NPM) und welche Grenzen sind bei dessen Umsetzung im Gerichtswesen der Schweiz zu beachten?

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Welche Instrumente werden im modernen Gerichtsmanagement im In- und Ausland eingesetzt? Wie funktionieren sie und welches sind ihre Vor- und Nachteile?

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Welche (Leistungs-)Indikatoren zur Geschäftsführung eines Gerichts sind zur Ausübung einer wirkungsvollen Oberaufsicht zweckmässig?

Zur Beantwortung dieser Fragen hat die PVK einerseits eine schriftliche Umfrage bei BGer, EVG und ausgewählten Rekurskommissionen durchgeführt und andererseits zahlreiche Dokumente und aktuelle Fachliteratur analysiert. Die PVK hat ihre Ergebnisse am 10. August 2001 in einem Bericht präsentiert.1 Am 15. Oktober 2001 hat die Subkommission die PVK mit einer zweiten Studie beauftragt: Sie sollte die schweizerische Rechtsliteratur unter dem Aspekt der parlamentarischen Oberaufsicht über die Justiz untersuchen und die verschiedenen Positionen zu Tragweite und Problemen dieser Aufsicht darlegen. Ihren Bericht legte die PVK am 11. März 2002 vor.2 Aufgrund der Ergebnisse des Berichtes der PVK zum Gerichtsmanagement hat die erweiterte Subkommission am 15. Oktober 2001 Vertreter von Gerichten und der Wissenschaft angehört.3 Die Anhörungen haben der Subkommission ermöglicht, weitere Informationen zu generieren und noch offene Fragen zu klären. Zudem haben die Subkommissionen EJPD/Gerichte der GPK anlässlich der jährlichen Prüfung der Geschäftsberichte von BGer und EVG die Themen zukünftige Kontakte zwischen dem Parlament und dem BGer bzw. EVG (am 28. März 2001 bzw. am 29. März 2001), die Ausgestaltung der Aufsicht und Oberaufsicht über die unterinstanzlichen Gerichte und den Stand und die Weiterentwicklung des Gerichtsmanagements (10. April 2002 beim BGer, 11. April 2002 beim EVG) diskutiert.

BGer und EVG haben am 21. Juni 2002 zum Bericht der erweiterten Subkommission Stellung genommen. Die GPK-S verabschiedete den vorliegenden Bericht am 28. Juni 2002 und beschloss, diesen sowie die beiden Analysen der PVK zu veröffentlichen.

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Modernes Management in der Justiz. Bericht der PVK zuhanden der um nationalrätliche Mitglieder erweiterten Subkommission EJPD/Gerichte der GPK-S im Rahmen der Inspektion «Parlamentarische Oberaufsicht über die Justiz». Bern, 10. Aug. 2001.

Zur Tragweite der parlamentarischen Oberaufsicht über die Justiz ­ Positionen in der Rechtslehre. Bericht der PVK zuhanden der um nationalrätliche Mitglieder erweiterten Subkommission EJPD/Gerichte der GPK-S im Rahmen der Inspektion «Parlamentarische Oberaufsicht über die Justiz». Bern, 11. März 2002.

Angehörte Personen: Lienhard Andreas, Oberassistent am Institut für öffentliches Recht der Universität Bern; Maillard Marcel, Generalsekretär des EVG; Tschümperlin Paul, Generalsekretär des BGer und Zimmermann Paul, Generalsekretär des Obergerichts des Kantons Zürich.

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Funktion und Tragweite der Oberaufsicht über die Justiz

Die GPK-S beschränkt sich in diesem Kapitel darauf, die Hauptergebnisse der Literaturanalyse der PVK zur parlamentarischen Oberaufsicht über die Justiz gerafft wiederzugeben. Allgemein gesprochen überprüft die Oberaufsicht, ob die Justiz die von der Verfassung vorgeschriebenen Aufgaben ausübt und im Sinn der Verfassung wahrnimmt. Da zu diesem verfassungsgemässen Funktionieren der Justiz auch die Erhaltung der in der Verfassung garantierten richterlichen Unabhängigkeit gehört, bewegt sich die Justizaufsicht in einem Spannungsverhältnis. Diese Unabhängigkeit muss die Aufsicht einerseits schützen, andererseits darf ihre eigene Tätigkeit die richterliche Unabhängigkeit nicht beeinträchtigen. Dadurch, so die Auffassung in einem Teil der Rechtsliteratur, werde die Justizaufsicht begrenzt und könne aufgrund dieser Besonderheit nicht der Oberaufsicht über Regierung und Verwaltung gleichgesetzt werden. In der Literatur findet sich aber noch ein weiterer Oberaufsichtsbegriff. Hier wird betont, dass es sich bei der Oberaufsicht um eine Trendkontrolle handle, dass sie gegenwarts- und zukunftsbezogen ausgerichtet sei und eine Optimierung des überprüften Organs anstrebe. Gewaltenteilungsprinzip und richterliche Unabhängigkeit werden auch in diesem Konzept respektiert, in ihnen wird aber kein Hindernis gesehen, die Oberaufsicht über die Justiz jener über die Exekutive gleichzusetzen. Die Einschränkung, dass die Kontrollkommissionen nicht befugt seien, Entscheidungen von Gerichten aufzuheben oder abzuändern gelte nämlich in gleicher Weise für die gesamte Verwaltungskontrolle (vgl. auch Art. 47quarter Abs. 4 GVG).

Zur Tragweite der Oberaufsicht gibt es in der Literatur unterschiedliche Auffassungen. Im Bericht der PVK werden sie ausführlich dargelegt; ebenso werden dort die Gegenstände der Oberaufsicht und die mit ihnen verbundenen spezifischen Probleme genauer beschrieben. Es kann eine eng gefasste Tragweite der Oberaufsicht, eine erweiterte und eine (punktuell) ausgedehnte Tragweite unterschieden werden.

Die in der Literatur hauptsächlich vertretene Position ist die erweiterte Tragweite.

Der enge Begriff sieht allein die Überwachung der «formellen Regelmässigkeit» als Gegenstand der Oberaufsicht vor. Die erweiterte Definition der Oberaufsichtskompetenz, die Mehrheitsposition, geht entschieden weiter, wobei
auch hier dem Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit hohe Bedeutung zugemessen wird. Die Kontrolle der Geschäftsführung des Gerichts durch die Oberaufsicht steht bei dieser Auffassung an erster Stelle. Justizverwaltung und äusserer Geschäftsgang sind explizit der Oberaufsicht zugeschriebene Überprüfungsgegenstände. In hängige Justizverfahren darf nicht eingegriffen werden, sofern es sich nicht um Ausnahmen wie den Vorwurf der formellen Rechtsverweigerung und -verzögerung oder um sehr lang dauernde Verfahren handelt. Im Sinne einer legislatorischen Erfolgs- und Effizienzkontrolle kann vom Inhalt abgeschlossener Verfahren Kenntnis genommen werden. Auch dürfen Tendenzen der Rechtsprechung mit den Gerichtsbehörden erörtert werden. So können Gesetzesmängel oder -lücken erkannt und entsprechende Korrekturen eingeleitet werden. Darüber hinaus wird in der Literatur ein ausgedehnter, d. h. punktuell noch erweiterter Ermessens- und Oberaufsichtsspielraum erkannt. In erster Linie wird hier für verstärkte Informationsrechte der Oberaufsicht plädiert, namentlich für die Auskunftspflicht der Gerichtsbehörde bezüglich der Rechtsprechung, die Einsicht in Gerichtsakten und die Möglichkeit der Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission über ein Gerichte.

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4

Wahrnehmung der Justizaufsicht durch die GPK

4.1

Rückblick auf die bisherige Praxis

BGer und EVG sind als letztinstanzliche Gerichte keiner dem Parlament vorgelagerten Aufsicht unterworfen; die eidgenössischen Rekurskommissionen sind dagegen der Aufsicht des Bundesrats unterstellt. Über alle übt das Parlament die Oberaufsicht aus. Die Kommission geht im Folgenden auf die Oberaufsichtspraxis der GPK bezüglich BGer und EVG ein, da diese allein schon eine Überzahl von Beispielen bereithält und die bisherige Oberaufsichtstätigkeit ausreichend erhellt. Es sei aber kurz angefügt, dass die GPK auch im Bereich der Rekurskommissionen regelmässig Kontrollen durchführen. Besonders erwähnenswert ist eine Untersuchung aus dem Jahre 1996, welche die Entscheid- und Verfahrenspraxis der Schweizerischen Asylrekurskommission analysiert hat (vgl. Bericht der GPK-N vom 22. Aug.

1996, BBl 1997 III 697). Die Schlussfolgerungen dieser Untersuchung sind bei der Totalrevision des Asylgesetzes aufgenommen worden.

Die Praxis der GPK in der Justizaufsicht hat sich im Verlaufe der Jahre entwickelt und gut eingespielt. Dabei hat es zwischen BGer und GPK gelegentlich unterschiedliche Auffassungen zur Tragweite der Oberaufsicht gegeben. Die Praxis der GPK deckt sich heute mit der in der Literatur beschriebenen erweiterten Tragweite der Oberaufsicht. Die weiter unten aufgeführten Beispiele aus der jüngeren GPK-Aufsichtstätigkeit vermögen dies zu illustrieren. Allerdings haben die GPK in dieser Zeit auch die Erfahrung gemacht, dass sich diese Tragweite nicht ein für allemal definieren lässt, sondern dass sie oft von Fall zu Fall festgelegt werden muss. Die GPK berichten im Rahmen ihrer im Bundesblatt veröffentlichter Jahresberichte über die Kontrolltätigkeit im Bereich der eidgenössischen Gerichte.

Die GPK haben bisher einmal jährlich die Geschäftsberichte am Gerichtsort geprüft und dabei auch andere, das jeweilige Gericht betreffende Traktanden auf die Tagesordnung gesetzt. Analysiert man die Protokolle der zuständigen GPK-Subkommissionen der letzten 12 Jahre, so ergibt sich, dass die GPK beim BGer jährlich durchschnittlich acht verschiedene Themen besprochen haben (beim EVG sechs). Die Prüfung des Geschäftsberichtes weist verschiedene Dimensionen auf und ist oft auch mit Empfehlungen und Forderungen der GPK verbunden. Fragen zum Geschäftsbericht betreffen in der Regel die Erledigungsstatistik, die öffentlichen
Beratungen, die Prozessdauer oder die Pendenzen. Anfangs der 1980er wie auch Mitte der 1990er Jahre haben die GPK wiederholt den Ausbau des Geschäftberichts oder die Führung besonderer Statistiken gefordert (Anzahl erledigte Fälle nach Richter; Entwicklung der durchschnittlichen Leistung der juristischen Mitarbeiter, Erledigungsstatistik der Ersatzrichter u. ä.). Die Gerichtsorganisation und ihre Effizienz, die ungenügenden Leistungen der Ersatzrichter, die Informatik und die Beschleunigung der Urteilsveröffentlichungen waren weitere Diskussionspunkte im Rahmen der Geschäftsberichte. Beschlüsse der GPK betrafen ferner sehr unterschiedliche Bereiche der Gerichtsadministration: So haben sie 1991 beispielsweise eine Richtlinie für die Gebührenpraxis und einen Bericht über die Informatik im Rechnungswesen gefordert und 1992 einen Zusatzbericht zu Erfahrungen mit persönlichen Mitarbeitern oder den Erlass von kammerinternen Gebührenrichtlinien verlangt. An diesen Sitzungen wurden aktuelle Probleme des Gerichts und der Rechtsprechung besprochen, Urteile erörtert (z. B. 1999 Urteil betreffend Kostenentschädigung von 100 000 Fr.) oder gesetzgeberischer Handlungsbedarf aufgrund verschiedener 7631

Urteile eruiert (z. B. 1999 Härtefälle betreffend Führerausweisentzug und Ergänzung des Bürgerrechtsgesetzes durch eine Strafnorm). Aus Gründen der Gewaltenteilung kommentieren die GPK keine Einzelurteile der eidgenössischen Gerichte.4 Sie beobachten jedoch die Tendenzen der Rechtsprechung und erörtern sie gelegentlich mit dem BGer im Hinblick auf allfällige Mängel oder Lücken in der Gesetzgebung. Hinweise auf Mängel im Gesetzesvollzug können zu vertieften Überprüfungen durch die GPK führen.

1994 reichte die GPK-S zur Entlastung des BGer eine parlamentarische Initiative zur Erhöhung der Zahl der Bundesrichter ein (BBl 1994 III 1240), auf die der Nationalrat jedoch nicht eintrat. 1999 lancierten die GPK die Parlamentarische Initiative zur Teilrevision des Bundesrechtspflegegesetzes zur Entlastung des BGer (BBl 1999 9518). Die Initiative führte zu der am 1. Januar 2001 in Kraft getretenen Teilrevision dieses Gesetzes. Die Revision entlastet das BGer vor allem von Prozessen im Zivilrecht und von aufwändigen Rechtsmittelverfahren in Staatshaftungsfällen. Für das EVG brachte die Revision zusätzlich zwei Richter und zwei nebenamtliche Richter; gemäss Geschäftsbericht 2001 des EVG wirken diese bereits entlastend. Hier wie auch in anderen Fällen funktionierten die GPK als Verbindungsglied zwischen den eidgenössischen Gerichten und der Bundesversammlung.

Rückmeldungen des BGer zu Urteilen, die Mängel in der Gesetzgebung offen legten, haben die GPK in der Vergangenheit an die zuständige parlamentarische Fachkommission zur Prüfung weitergeleitet oder direkt mit dem BGer den gesetzgeberischen Handlungsbedarf diskutiert. Die GPK streben bei ihren jährlichen Besuchen bei den eidgenössischen Gerichten an, ein möglichst vollständiges Bild über die Arbeit der Gerichte zu erhalten. Stets gehen sie dabei auch Hinweisen nach, die Probleme bei den Gerichten zum Inhalt haben (Archivierung, Urteile im Internet, Akkreditierung von Journalisten, Rücktrittsalter der Bundesrichter, Ruhegehaltsregelung für Magistratspersonen, Zusammenarbeit zwischen BGer und EVG). Weiter sei erwähnt, dass die GPK regelmässig gegen die Gerichte des Bundes gerichtete Aufsichtsbeschwerden wegen formeller Rechtsverweigerung, Rechtsverzögerung oder wegen Verletzung fundamentaler Verfahrensgrundsätze behandeln und so weitere Informationen zur
Arbeit der Gerichte, insbesondere zu problematischen Punkten in der Verfahrensgesetzgebung, erhalten. Auch betrachten es die GPK als Aufgabe der Oberaufsicht, darüber zu wachen, dass jeder Bürger in gleicher Weise Zugang zum obersten Gericht erhält. Dieser Zugang soll weder durch eine allzu enge Beurteilung der formellen Voraussetzungen, noch durch die finanzielle Lage einer Partei ungebührlich beeinträchtigt werden. Gleichzeitig wollen die GPK aber auch sicherstellen, dass mit dem Armenrecht nicht Missbrauch zu Lasten des Steuerzahlers betrieben wird.

Die im Laufe der Zeit erworbenen, umfangreichen Kenntnisse der eidgenössischen Gerichte und das gegenseitige Vertrauensverhältnis befähigen die GPK, die im Rahmen der Oberaufsicht relevanten Prüfungsgegenstände offen zu erörtern. Die GPK haben die Gewaltenteilung stets respektiert und sich dementsprechend im

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Um Unklarheiten vorzubeugen und ihre Prüfungskompetenz zu begrenzen, haben die GPK in ihrer an die SPK-N gerichteten Stellungnahme im Rahmen der Revision des Geschäftsverkehrsgesetzes vorgeschlagen, gesetzlich festzulegen, dass keine inhaltliche Kontrolle gerichtlicher Entscheidungen ausgeübt werden darf. Diese Präzisierung zur Tragweite der Oberaufsicht ist im Gesetzesentwurf zum Parlamentsgesetz aufgenommen worden. BBl 2001 5634.

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Bereich der Rechtsprechung bewusst zurückgehalten. Gewaltenteilung und Oberaufsicht stehen jedoch in einem Spannungsverhältnis, was zuweilen zu Definitionsfragen über die Reichweite der Oberaufsicht geführt hat.

4.2

Schlussfolgerungen

Sowohl die Rechtsliteratur wie auch die bisherige Praxis der GPK weisen darauf hin, dass die (Ober-)Aufsicht über die Justiz eine heikle Aufgabe ist. Sie vollzieht sich in einem Spannungsfeld zwischen der Wahrung der verfassungsmässigen Unabhängigkeit des Richters und dem Auftrag, über das rechtmässige und auch wirtschaftliche Funktionieren der Justiz zu wachen. Dies unabhängig davon, von welchem Organ ­ parlamentarische Kommission oder ausserparlamentarisches Gremium ­ sie wahrgenommen wird. Auch zeigen die Erfahrungen der GPK, dass sich die Gegenstände der Oberaufsicht nicht ein für allemal definieren lassen. Unabhängig von diesen definitorischen Erschwernissen vertritt die Kommission indessen die ­ auch in der Rechtsliteratur zu findende ­ Position, dass sich die Oberaufsicht über die Gerichte nicht grundsätzlich von jener unterscheidet, wie sie über Bundesrat und Verwaltung ausgeübt wird. In beiden Bereichen haben die GPK keine Befugnis, Entscheidungen aufzuheben oder zu ändern.

Im Rückblick auf die bisherige Oberaufsichtstätigkeit über BGer und EVG kommt die GPK-S zum Schluss, dass die Erfahrungen positiv sind. Das bisherige System hat sich grundsätzlich bewährt. Die jährlich geführten Gespräche im Rahmen der Prüfung des Geschäftsberichts erlauben es, auf wesentliche Probleme im Justizbereich aufmerksam zu werden und bei Bedarf Massnahmen zu ergreifen. Der Kommission ist aber auch bewusst, dass die Aufsicht intensiviert werden kann. In gewissen Bereichen (Organisation, Personalwesen, Informatik, Kundenorientierung etc.) sollen in Zukunft vertiefte Überprüfungen erfolgen. In ihre Jahresprogramme wird die GPK vermehrt Justizthemen aufnehmen. Überdies soll die Oberaufsicht über die Justiz breiter abgestützt werden, d. h. ein grösseres Gewicht in den Plenarkommissionen der GPK und im Parlament erhalten. Im Entwurf zum neuen Parlamentsgesetz sind in diesem Sinne bereits verstärkte Kontakte zwischen den eidgenössischen Gerichten und der Bundesversammlung vorgesehen. Die Kommission will sich ferner kontinuierlich für mehr Transparenz über die Arbeit der Gerichte einsetzen, insbesondere durch zusätzliche Angaben in deren Geschäftsberichten (gezielter Ausbau des Statistikteils mit erweiterten Zeitreihen und Indikatoren zur Leistungserbringung).

5

Auswirkungen des modernen Gerichtsmanagements auf die Oberaufsicht

5.1

Heutiger Stand des Gerichtsmanagements

Die GPK haben in der Vergangenheit Fragen der Organisation wie auch die Einführung und Entwicklung von Managementinstrumenten bei den eidgenössischen Gerichten stets mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Dies zum einen, weil die Gerichtsadministration einen Kernbereich der Oberaufsicht darstellt. Zum andern

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aber, weil einer modernen und gut funktionierenden Verwaltung des BGer, das keiner direkten Aufsicht, sondern allein der Oberaufsicht des Parlaments unterstellt ist, höchste Bedeutung zukommt. Insbesondere hat auch die langjährige Überlastung der Gerichte das Augenmerk der Kontrollorgane immer wieder auf die Gerichtsorganisation gelenkt. 1993 überstieg die Zahl der jährlichen Neueingänge beim BGer 5000 Fälle und blieb mit Schwankungen in dieser Höhe. Erst 2001 sank diese Zahl knapp unter 5000. Das EVG verzeichnete 1993 erstmals mehr als 1500 Eingänge; 1997 war diese Zahl auf 2000 gewachsen und im Jahr 2000 wurden gut 2500 Fälle gezählt. Soll diese Masse von Gerichtsfällen effizient verwaltet und sollen Verzögerungen vermieden werden, so braucht es u. a. ein kompetentes Fall- und Personalmanagement und eine gut funktionierende Gerichtsverwaltung.

Im In- und Ausland hat die Justiz lange Zeit als jener Bereich gegolten, der sich durch eine antiquierte, wenig an Leistungskriterien orientierte Verwaltung auszeichnete und der ­ sich auf die richterliche Unabhängigkeit berufend ­ Modernisierungsbestrebungen skeptisch gegenüber stand. Der Bericht der PVK zum modernen Management zeigt am Rande auf, weshalb diese Widerstände gegenüber Verwaltungsreformen bestanden, geht vor allem aber ausführlich auf die modernen Instrumente der Gerichtsführung ein, wie sie im Rahmen des amerikanischen Court Managements und der wirkungsorientierten Gerichtsführung entwickelt wurden. Es handelt sich um neue Budgetierungsmodelle, die Einrichtung eines umfassenden Controllings oder einer Qualitätskontrolle, um Personalmanagement und Weiterbildungskonzepte, Kunden- und Serviceorientierung etc. Verschiedene Instrumente sind in Justizorganen des In- und Auslands eingeführt worden und haben sich dort bewährt, andere stehen noch in der Entwicklung oder sind an Grenzen gestossen, weil die Justiz besondere Bedürfnisse an moderne Managementinstrumente stellt.

Die Aufarbeitung der aktuellen Trends im Gerichtsmanagement durch die PVK dient der Kommission zur Beurteilung der Modernisierung der Gerichte auf Bundesebene.

Im Bericht der PVK werden die in der jüngeren Vergangenheit erfolgten, der Effizienzsteigerung dienenden Reorganisationsmassnahmen verschiedener eidgenössischer Justizorgane beschrieben. Die Kommission beschränkt sich
hier darauf, diese Entwicklung ansatzweise zu umreissen. BGer und EVG sind unter dem Druck der steigenden Geschäftslast im Sinne effizienterer Führungsstrukturen in den 1990er Jahren mehrmals teilweise reorganisiert worden. In BGer und EVG sind gemäss dem Konzept des modernen Gerichtsmanagements u. a. die Generalsekretariate verstärkt worden, um die Gerichtspräsidenten wirksam von administrativen Arbeiten zu entlasten. Nebst strukturellen Reformen (im BGer z. B. die Einrichtung einer zweigliedrigen Leitungsstruktur unterhalb des Gesamtgerichts mit Präsidentenkommission und Verwaltungskommission) ist es in den 90er Jahren auch zu zahlreichen Neuerungen bei den Arbeits- und Managementinstrumenten gekommen (Informatikprogramme für die Verwaltung der Dossiers und für das Rechnungswesen, Aufbau und Ausbau von Datenbanken, Informatisierung der Bibliothek, Beurteilungsgespräche bei der Personalführung und -entwicklung, Weiterbildungskonzepte etc.).

Im Zuge der Diskussion über das NPM sind im BGer und EVG einzelne seiner Elemente, allerdings nicht unter dieser Bezeichnung, übernommen worden. Im Bereich der Verwaltung und auf Stufe Gerichtsschreiber werden heute beispielsweise beim BGer moderne Kontrollinstrumente eingesetzt. Im Bereich der eigentlichen Verwaltung wird dies als unproblematisch eingeschätzt, im Bereich der Rechtsprechung dagegen als heikel, weil eine zu einseitige Leistungsorientierung Konsequenzen für 7634

die Qualität der Rechtsprechung haben kann. Bei Informatikprojekten, um ein Beispiel aus dem Bereich Verwaltung zu nennen, kommen verschiedene Kontrollmechanismen zur Anwendung: ein Kosten-Nutzen-Filter für neue Projekte, Halbjahresberichte bei bewilligten Projekten, jährliche Kostenzusammenfassungen jedes Projekts (Investitionen und Arbeitsstunden). Weiter wurden die Informatikkosten des BGer im Sinn eines Benchmarkings mit den Informatikkosten anderer Stellen verglichen. Im Bereich der Rechtsprechung kommen einzig auf Stufe Gerichtsschreiber Kontrollinstrumente zum Einsatz. Dazu gehören die Festlegung von Leistungszielen (normal 60 Fälle jährlich, minimal 40), ein Kontrollsystem für Fälle, die länger als zwei Jahre pendent sind, oder eine Redaktionskontrolle (falls ein Fall nicht innert dreier Monate erledigt ist, kommt er auf eine schwarze Liste; aufgrund dieser Eintragung interveniert die Führung unverzüglich). Die Richter und Richterinnen unterliegen aus verschiedenen Gründen keiner solchen Leistungskontrolle (in einem Richterkollegium sind verschiedene Richterqualitäten gefragt; die Qualifikation von Richtern bezüglich Effizienz und Qualität durch Richterkollegen gilt als problematisch). Eine Einführung einer solchen Leistungskontrolle ist nicht geplant.

Aus diesem Grund kommt der professionellen Vorbereitung der Richterwahlen ­ einem sorgfältigen Evaluations- und Selektionsprozess der Kandidierenden ­ durch ein spezialisiertes Organ und durch die Wahlbehörde zentrale Bedeutung zu.

5.2

Schlussfolgerungen

Die Kommission hat die ­ sich teilweise über Jahre erstreckenden, Managementfragen betreffende ­ Reorganisationsprojekte in den eidgenössischen Gerichten mit Aufmerksamkeit verfolgt. Sie ist der Meinung, dass die aktuelle Geschäftsführung von BGer und EVG den Standards einer modernen Gerichtsorganisation entspricht.

Die Justiz steht jedoch ­ wie die gesamte öffentliche Verwaltung ­ unter stetem Effizienzdruck. Deshalb ist es wichtig, dass das in der Vergangenheit entwickelte Instrumentarium eines modernen Justizmanagements erweitert und perfektioniert wird. In diesem Sinn prüft das BGer derzeit die Einführung des neuen Rechnungsmodells des Bundes. Dieses auf einem voll integrierten Rechnungssystem basierende Modell soll u. a. der Förderung der managementorientierten Verwaltungsführung dienen und eine zeit- und stufengerechte Finanzberichterstattung ermöglichen. Dies bedingt auch eine weitere Professionalisierung des Gerichtsmanagements, d. h. den Einsatz von Managern mit ökonomischer Denk- und Handlungsweise auf Stufe Gerichtsleitung, da juristischer Sachverstand allein für die Führung eines Gerichtes nicht länger ausreicht. Aus diesem Grund begrüsst die Kommission insbesondere die Einrichtung von Generalsekretariaten bei Bundesstrafgericht und Bundesverwaltungsgericht, wie sie in den entsprechenden Gesetzesentwürfen vorgezeichnet ist.

Die Oberaufsicht muss sich im Rahmen ihrer Tätigkeit vergewissern, dass die interne Aufsicht über die Geschäftsführung der Gerichte funktioniert. Das prüft sie u. a.

anhand der jährlichen Geschäftsberichte der Gerichte. Allerdings werden in diesen Berichten aus verschiedenen Gründen ­ unter anderem auch um Missverständnissen und Fehlinterpretationen vorzubeugen oder weil es sich nach Meinung des Gerichts um interne Angelegenheiten handelt ­ nicht alle der Gerichtsleitung bekannten Geschäftsdaten aufgenommen. Die GPK müssen deshalb vermehrt auch interne Controllingdaten einsehen, soweit diese die administrative Geschäftsführung betreffen. Nur durch die Herstellung dieser Transparenz können die GPK prüfen, ob 7635

die gerichtsinterne Aufsicht funktioniert. Auch ist die Erweiterung der Tätigkeitsberichte und ihres Statistikteils in Betracht zu ziehen. Die herkömmlichen Statistiken sind für die Wahrnehmung der Oberaufsicht zwar zweckmässig, indem sie sehr relevante Kennzahlen zur Geschäftsführung enthalten. Der administrative Geschäftsgang eines Gerichts kann jedoch ­ wie das Beispiel des Obergerichtes des Kantons Zürich zeigt ­ mit neuen Indikatoren zur Leistungserbringung genauer abgebildet werden. Zu denken ist an Angaben zur Gesamtverfahrensdauer der Fälle, an Erledigungsquotienten bezüglich Neueingängen oder den Indikator der erledigten Neueingänge im Verhältnis zu den erledigten Fällen aus dem Vorjahr. Diese Kennzahlen müssen nicht mit Leistungsvorgaben verknüpft werden, sondern dienen primär der Erhöhung der Transparenz und zeigen ­ im Vorjahresvergleich ­ eventuellen Erklärungsbedarf an. Während die Beurteilung der Geschäftslastbewältigung zur Tragweite der parlamentarischen Oberaufsicht gehört, ist die systematische Richterbeurteilung und -qualifizierung davon ausgeklammert. Deshalb kommt der gründlichen Wahlvorbereitung durch die neu zu schaffende Gerichtskommission eine besonders grosse Bedeutung zu. Gleichzeitig wird es den GPK aufgrund der Wahrnehmung ihrer Oberaufsicht und allfälliger gegen die eidgenössischen Gerichte eingereichter Aufsichtsbeschwerden nicht verborgen bleiben, wenn ein Bundesrichter die an ihn gestellten Anforderungen klar nicht erfüllt und er deswegen nicht zur Wiederwahl empfohlen werden könnte.

6

Die Oberaufsicht über das Bundesstrafgericht und das Bundesverwaltungsgericht

6.1

Ausgangslage

Bei der Beratung des Bundesgesetzes über das Bundesstrafgericht in der RK-S und im Ständerat sind die eingangs dieses Berichts erwähnten Fragen zur Ausübung der Aufsicht und der Oberaufsicht thematisiert worden.5 Die gleichen Fragen werden sich auch bei der Vorlage zur Schaffung des Bundesverwaltungsgerichts stellen. Im Bundesverwaltungsgericht sollen die zahlreichen eidgenössischen Rekurskommissionen vereinigt werden.

Nach geltender Rechtsordnung üben die GPK bereits die Oberaufsicht über die rund 30 Rekurskommissionen aus und werden diese Funktion auch beim Bundesverwaltungsgericht wahrnehmen. Neu dazu kommt lediglich die Oberaufsicht über das Bundesstrafgericht. Die Zusatzbelastung wird sich demnach in Grenzen halten. Um eine grundlegende Änderung des Aufsichtsgegenstandes und des Umfangs der heutigen Oberaufsicht der GPK handelt es sich nicht. Konkret kämen jährlich mindestens zwei zusätzliche Sitzungen zur Prüfung der Geschäftsberichte hinzu, nebst Aktivitäten im Zusammenhang mit vertieften Untersuchungen und Dienststellenbesuchen im unterinstanzlichen Gerichtsbereich. Die GPK werden hier ­ wie bei der Oberaufsicht über Bundesrat und Verwaltung ­ jährlich Themenschwerpunkte setzen. Die bisherige Wahrnehmung der Oberaufsicht über die eidgenössischen Gerichte hat sich bewährt und kann auch auf die neu zu schaffenden Bundesgerichte 5

Unter Aufsicht wird eine Kontrolle verstanden, die dem beaufsichtigten Objekt näher ist; es handelt sich in der Regel um eine Intraorgan-Aufsicht, im Falle der Gerichte um die Aufsicht durch die hierarchisch übergeordnete Gerichtsinstanz. Bei der Oberaufsicht handelt es sich dagegen um eine Interorgankontrolle.

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bezogen werden. Ein gewisses Ausbaupotential haben die GPK erkannt. Sie sind gewillt, dieses umzusetzen. Es stellt sich hier indessen vielmehr die Frage, welche Rolle dem BGer im zukünftigen Aufsichtskonzept zukommt und wie Synergien zu nutzen wären.

Bekanntlich üben in den Kantonen in der Regel die Parlamente die Oberaufsicht über die obersten kantonalen Gerichte aus. Unterinstanzliche Gerichtsbehörden unterliegen hingegen zumeist der Aufsicht durch die übergeordnete Gerichtsinstanz.

Dies hängt damit zusammen, dass erstens die Bezirks- oder Amtsrichter und die Untersuchungsrichter nicht von den Kantonsparlamenten gewählt werden. Zweitens kennen die obersten kantonalen Gerichte die Stärken und Schwächen der unteren Gerichte aufgrund ihrer Beurteilung von erstinstanzlichen Entscheiden genau. Drittens wäre es für eine parlamentarische Kommission zu aufwändig, den über den ganzen Kanton verteilten Bezirks- und Amtsgerichten nachzureisen. Im Vergleich mit der Bundesebene spricht lediglich der zweite Grund für eine Übertragung der Aufsicht an das BGer. In der Bundesverfassung ist jedoch ­ im Gegensatz zu verschiedenen Kantonsverfassungen ­ nicht explizit vorgesehen, dem obersten Gericht die Aufsicht über die unteren Gerichtsinstanzen zu übertragen. Wie jedes übergeordnete Gericht wird das BGer in seiner Fallbearbeitung und durch arbeitsbedingte Kontakte zahlreiche Informationen über die Geschäftsführung der unterinstanzlichen Gerichte erhalten, die Aussenstehenden unter Umständen verborgen sind. Diese Ressource sollte im Rahmen der Oberaufsicht ausgeschöpft werden, denn umfassende Information ist die Basis jeder funktionierenden Aufsicht. Das BGer könnte aufsichtsrechtlich relevante Informationen über den Geschäftsbetrieb des Bundesstrafgerichts und Bundesverwaltungsgerichts an die GPK weiterleiten. Die Übertragung der vollständigen Aufsicht auf das BGer drängt sich nicht auf. Besser als eine vorgeschaltete Aufsicht ist nach Ansicht der GPK-S die Einrichtung eines wirksamen gerichtsinternen Controllings. Weil die parlamentarische Oberaufsicht eine politische Aufgabe ist, kann sie auch nicht an ein ausserparlamentarisches Organ delegiert werden.

6.2

Schlussfolgerungen

Aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen vertritt die GPK-S der Meinung, dass kein neues Organ zur Wahrnehmung der Oberaufsicht oder der Aufsicht über die eidgenössischen Gerichte geschaffen werden muss. Das bisherige Modell weist zahlreiche Stärken auf; folgende seien speziell erwähnt: Die Bündelung der Oberaufsicht über Bundesrat, Bundesverwaltung und Bundesgerichte gewährleisten eine Einheit und Kohärenz der parlamentarischen Kontrolle. Die GPK haben so eine Gesamtsicht über das Funktionieren der Verwaltung, was mit Synergiegewinnen verbunden ist.

Sie können z. B. die der Tendenzkontrolle der Rechtsprechung des BGer entnommenen Hinweise auf Mängel im Gesetzesvollzug unmittelbar weiterverfolgen.

Koordinationsaufwand oder Abgrenzungsprobleme, die sich bei der Tätigkeit von mehreren Kontrollkommissionen ohne Zweifel ergeben werden, entfallen. Die bei der parlamentarischen Kontrolle über den Bundesrat und die Verwaltung gesammelten Erfahrungen und entwickelten Methoden sind zudem von direktem Nutzen für die Oberaufsicht über die Justiz. Ein Ausbau der Oberaufsicht über die Justiz, wie er in den vorherigen Kapiteln skizziert wurde, ist im Rahmen des bestehenden Aufsichtsmodells zudem durchaus möglich.

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Für die GPK-S stellt sich im Rahmen der Totalrevision der Bundesrechtspflege die Frage, wie das BGer in das bestehende Aufsichtskonzept eingebunden werden könnte. Das verfahrensmässig übergeordnete BGer hat vielfältigen Einblick in die Arbeit der unteren Instanzen und kann diese fundiert beurteilen. Zur Nutzung dieser wertvollen Informationsquelle regt die GPK-S an, bei der Vorberatung des Bundesgerichtsgesetzes (BGG) die Ausarbeitung einer Gesetzesnorm zu prüfen, die es dem BGer erlauben würde, aufsichtsrelevante Hinweise über die Geschäftsführung der unteren eidgenössischen Instanzen an die Oberaufsicht weiterzuleiten. Das BGer würde also nicht eine unmittelbare Aufsicht wahrnehmen, sondern eine Hilfsfunktion zuhanden der Oberaufsicht ausüben. Eine direkte Aufsicht des BGer über Bundesstrafgericht und Bundesverwaltungsgericht wäre wohl möglich, würde aber dem Ziel der Totalrevision, das BGer zu entlasten, widersprechen. Hingegen dürfte eine gegenseitige Abstimmung von BGer, Bundesverwaltungsgericht und Bundesstrafgericht im administrativen Bereich sicherlich Effizienz- und Kostenvorteile mit sich bringen. In erster Linie ist hier an die Bereiche Informatik, Statistik, Gerichtsverwaltung, Personalrecht und -management sowie Weiterbildung zu denken. Die GPK werden ihrerseits darauf hinwirken, dass Management und Managementinstrumente der Bundesgerichte einheitlich sind und gleichzeitig hohen Standards entsprechen.

Dies zugunsten einer wirksamen Oberaufsicht, die bei der Beurteilung der eidgenössischen Gerichte mit Vergleichsgrössen, so genannten Benchmarks, arbeiten kann.

7

Antrag, Empfehlungen und weiteres Vorgehen

Antrag: Die GPK-S wird im Rahmen der Beratung des BGG den Antrag stellen, das Bundesgericht gesetzlich zu ermächtigen, über die im Rahmen seiner Tätigkeit erhaltenen Eindrücke zur Arbeit der unterinstanzlichen Gerichte des Bundes zuhanden der GPK Meldung zu erstatten.

Art. 3 Abs. 3 BGG (neu) 3

Es (das Bundesgericht) ist ermächtigt, den Geschäftsprüfungskommissionen Meldung zu erstatten, wenn es Feststellungen zum Geschäftsbetrieb des Bundesstrafgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts macht, die aufsichtsrechtlich von Bedeutung sein können.

Empfehlung 1: Die GPK-S empfiehlt dem Bundesgericht, den Statistikteil im Geschäftsbericht auszubauen und insbesondere mit Indikatoren zur Leistungserbringung und mit einer Erweiterung der Zeitreihen zusätzliche Transparenz zu schaffen.

Empfehlung 2: Die GPK-S empfiehlt dem Bundesstrafgericht und dem Bundesverwaltungsgericht, bei ihrer Konstituierung darauf zu achten, dass ein professionelles Gerichtsmanagement eingerichtet wird.

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Empfehlung 3: Die GPK-S empfiehlt den eidgenössischen Gerichten, in administrativen Belangen (namentlich in den Bereichen Informatik, Statistik, Benchmarking, Gerichtsverwaltung, Personalmanagement und Weiterbildung) in geeigneter Weise zusammenzuarbeiten und Synergien zu nutzen. Diese Zusammenarbeit soll in den Geschäftsreglementen der Gerichte festgehalten werden.

Weiteres Vorgehen: Die GPK-S ersucht das BGer, zu Empfehlung 1 bis Ende Dezember 2002 Stellung zu nehmen. Die Umsetzung von Empfehlungen 2 und 3 wird die GPK-S im Rahmen ihrer ordentlichen Prüfungstätigkeit weiterverfolgen.

28. Juni 2002

Im Namen der Geschäftsprüfungskommission des Ständerates Der Präsident der Kommission: Michel Béguelin, Ständerat Der Präsident der um nationalrätliche Mitglieder erweiterten Subkommission EJPD/Gerichte des Ständerates: Hans Hess, Ständerat Der Sekretär der Geschäftsprüfungskommissionen: Philippe Schwab

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Anhänge

Modernes Management in der Jusitz, Bericht der Parlamentarischen Verwaltungskontrollstelle vom 10. August 2001

Zur Tragweite der parlamentarischen Oberaufsicht über die Gerichte ­ Positionen in der Rechtslehre, Bericht der Parlamentarischen Verwaltungskontrollstelle vom 11. März 2002

Abkürzungsverzeichnis BGer

Bundesgericht

BGG

Bundesgesetz über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz)

EVG

Eidgenössisches Versicherungsgericht

GPK

Geschäftsprüfungskommissionen der eidgenössischen Räte

GPK-N

Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates

GPK-S

Geschäftsprüfungskommission des Ständerates

GVG

Bundesgesetz über den Geschäftsverkehr der Bundesversammlung sowie über die Form, die Bekanntmachung und das Inkrafttreten ihrer Erlasse vom 23. März 1962

NPM

New Public Management

PVK

Parlamentarische Verwaltungskontrollstelle

RK-S

Kommission für Rechtsfragen des Ständerates

SPK

Staatspolitische Kommission

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