96.460 Parlamentarische Initiative. Invalidität unter 10 Prozent (Raggenbass) Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 26. November 1999

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen nach Artikel 21quater Absatz 3 des Geschäftsverkehrsgesetzes (GVG) den vorliegenden Bericht und überweisen ihn gleichzeitig dem Bundesrat zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt, ihrem beiliegenden Beschlussentwurf zuzustimmen.

26. November 1999

Im Namen der Kommission

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Der Präsident: Paul Rechsteiner

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2000-0039

Bericht 1

Ausgangslage

1.1

Einreichung der parlamentarischen Initiative

Mit Urteil vom 19. August 1996 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht (EVG) seine bisherige Praxis aus dem Jahre 1944 aufgegeben, für Teilinvaliditäten unter 10 Prozent in der obligatorischen Unfallversicherung keine Dauerrente auszusprechen. Aus diesem Grunde hat Nationalrat Raggenbass am 11. Dezember 1996 eine parlamentarische Initiative mit folgendem Wortlaut eingereicht: «In Artikel 18 Absatz 2 UVG ist der erste Satz wie folgt zu ergänzen: »

1.2

Verlauf der parlamentarischen Arbeiten

Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) hat sich erstmals am 30. Mai 1997 mit der parlamentarischen Initiative Raggenbass befasst und als Vertreter des Initianten Herrn Nationalrat Deiss angehört. Mit einem Stimmenverhältnis von 11 zu 9 Stimmen bei 3 Enthaltungen beantragte sie dem Rat, der parlamentarischen Initiative Folge zu geben.

Am 30. März 1998 ist der Nationalrat seiner Kommission gefolgt. Er hat mit 100 zu 60 Stimmen der parlamentarischen Initiative Folge gegeben und die SGK mit der Ausarbeitung einer Gesetzesvorlage beauftragt.

An ihren Sitzungen vom 9. Juli und 19. November 1998 hat sich die Kommission erneut mit der parlamentarischen Initiative befasst. Nachdem die SUVA und der Schweizerische Versicherungsverband (SVV) um eine Stellungnahme gebeten worden waren und den Vorstoss unterstützt hatten, beschloss die Kommission, diesen in einer vom Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) umgearbeiteten Version bei weiteren betroffenen Kreisen in Vernehmlassung zu geben. Am 4. Februar 1999 hat sie diese Vernehmlassungsergebnisse zur Kenntnis genommen und die vorliegende Gesetzesänderung mit 13 zu 8 Stimmen gutgeheissen. Eine Minderheit der Kommission wendet sich gegen Eintreten auf den Entwurf, da das fragliche Urteil, bei dem es um einen Härtefall gehe, Renten bei einem Invaliditätsgrad unter 10 Prozent nicht generell gestatte.

2

Erwägungen

2.1

Begründung der Initiative

Die Praxisänderung, die das EVG mit seinem Entscheid vom 19. August 1996 vollzogen hat, macht eine Gesetzesänderung nötig, sollen nicht Ungerechtigkeiten entstehen zwischen vollständig Erwerbsunfähigen, denen im UVG ein Selbstbehalt von 20 Prozent zugemutet wird, und teilweise Erwerbsunfähigen, denen nicht einmal ein Selbstbehalt von 10 Prozent zugemutet würde. Ungerechtigkeiten entstünden auch

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gegenüber krankheitsbedingt Invaliden, die erst ab einem Invaliditätsgrad von 40 Prozent Anspruch auf eine IV-Rente haben.

Bei Kleinstrenten ist der administrative Aufwand unverhältnismässig hoch, und zudem wird die Eigeninitiative, kleine Verdiensteinbussen aufzufangen, lahmgelegt.

Mit der Einführung der Integritätsentschädigung durch das Bundesgesetz über die Unfallversicherung1 (UVG) im Jahre 1984 war unter anderem die Absicht verbunden, kaum messbare Behinderungen nicht mehr zu berenten, sondern ein für allemal abzugelten. Die Festlegung des Invaliditätsgrades beinhaltet oft Schätzungen und ist ohnehin nicht mathematisch genau berechenbar.

Schliesslich setzt der Entscheid des EVG ein falsches Zeichen in einer Zeit des rasanten Kostenanstiegs im Gesundheitswesen. Der Vorstoss beinhaltet keinen Sozialabbau, sondern begegnet einem unnötigen Sozialausbau.

2.2

Invaliditätsgrad und Leistungsanspruch

Die Bestimmung des Invaliditätsgrades ist heute in mehreren Gesetzen geregelt: Artikel 18 des Bundesgesetzes über die Unfallversicherung (UVG), Artikel 28 des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG)2 sowie Artikel 40 des Bundesgesetzes über die Militärversicherung (MVG)3 definieren den Invaliditätsgrad grundsätzlich als Differenz zwischen dem Einkommen, das die versicherte Person ohne Erkrankung resp. Unfall erzielt hätte (Valideneinkommen), und dem Einkommen, das sie bei einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt erzielen könnte (Invalideneinkommen). Bei Teilzeitarbeitenden wird das Ergebnis mit dem Beschäftigungsgrad multipliziert, da sich diese Berechnung nur auf den Erwerbsteil bezieht. Sehr unterschiedlich sind die Folgen für die Zusprechung einer Rente. In der IV sind die Renten grob abgestuft: Ab einem Invaliditätsgrad von 40 Prozent besteht Anspruch auf eine Viertelsrente, ab 50 Prozent auf eine halbe und ab 66 2/3 Prozent auf eine ganze Rente. Fein abgestuft dagegen sind die Renten in der Unfallversicherung und in der Militärversicherung, wo keine rentenbegründende Erheblichkeitsgrenze festgelegt ist.

Im Entwurf zu einem Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)4, der zurzeit in der parlamentarischen Beratung ist, wird die Bestimmung des Invaliditätsgrades für alle Sozialversicherungen einheitlich geregelt (Art. 22).

2.3

Der Entscheid des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 19. August 1996

Am 19. August 1996 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht (EVG) eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde der SUVA gegen einen Entscheid des kantonalen Gerichts abgelehnt und entschieden, dass die Annahme eines Invaliditätsgrades von weniger als 10 Prozent die Zusprechung einer Dauerrente nicht von vornherein aus1 2 3 4

SR 832.20 SR 831.20 SR 833.1 Geschäft Nr. 85.227

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schliesst (BGE 122 V 335 ff.). Das EVG änderte damit seine Praxis, die es seit 1944 befolgte5.

Einer Frau, die wegen anhaltender Schmerzen im Bereich des rechten Sprunggelenkes ihrer Teilzeittätigkeit als Zeitungsverkäuferin nicht mehr nachgehen konnte, bei einer sitzenden Arbeit dagegen grundsätzlich vollumfänglich leistungsfähig blieb, war ein Invaliditätsgrad von 5,82 Prozent bescheinigt worden. Nachdem das erzielbare Valideneinkommen auf 8543 Franken und das bei sitzender Tätigkeit mögliche Invalideneinkommena auf 6055 Franken veranschlagt worden waren, wurde in Anwendung der gemischten Methode der Erwerbsanteil auf 20 Prozent eingesetzt. Dabei ergab sich für den Erwerbsbereich der Invaliditätsgrad von knapp 6 Prozent. Die Suva hatte den Fall mit der Ausrichtung einer Integritätsentschädigung von 9720 Franken abgeschlossen. Nun kommen, gemäss dem Willen des obersten Gerichtshofes, monatlich 34 Franken (inklusive Teuerungszulage) dazu.

In seinem Urteil lehnte sich das Versicherungsgericht an einen Entscheid an, den es kurz zuvor im Bereich der Militärversicherung gefällt hatte (BGE 120 V 368) und in dem es seiner von ihm selbst mehrfach gebilligten Praxis entgegengetreten war.

Es führte aus, dass weder Artikel 18 UVG noch Artikel 40 MVG einen bestimmten rentenbegründenden Invaliditätsgrad verlangen, im Gegensatz zu Artikel 28 Absatz 1 IVG. Hingegen kenne sowohl das UVG (Art. 35 Abs. 1) wie das MVG (Art. 46 Abs. 1) die Möglichkeit des Auskaufs geringer Renten. Daher bestehe kein Zweifel, dass auch das UVG die Existenz rentenbegründender Teilinvaliditäten von weniger als 10 Prozent voraussetzt.

Im Weiteren wies das Versicherungsgericht darauf hin, dass ein Rentenanspruch grundsätzlich dann besteht, wenn ein versicherter Gesundheitsschaden beachtliche negative Erwerbsfolgen hinterlässt6. Solche Folgen liessen sich unter der Geltung des UVG mit der darin vorgegebenen Methode der Invaliditätsbemessung indes nicht bereits deshalb ausschliessen, weil der Invaliditätsgrad weniger als 10 Prozent betrage.

2.4

Ergebnisse der Vernehmlassung

Mit Brief vom 17. Dezember 1998 hat die Kommission den Entwurf zu einer Änderung von Artikel 18 Absatz 1 UVG bei den betroffenen Kreisen in Vernehmlassung gegeben. Diese hatten bis zum 22. Januar 1999 Zeit, ihre Stellungnahme abzugeben7. Während sich der Arbeitgeberverband und der Gewerbeverband zur vorgeschlagenen Änderung positiv äusserten, sind die Stellungnahmen des SGB, des CNG und der Vereinigung der Angestelltenverbände sowie jene der Behindertenorganisationen skeptisch bis negativ. Das EVG sowie die Schweizerische Patientenorganisation und die Geliko verzichteten auf eine Stellungnahme.

5 6 7

Diese Praxis wurde erstmals in EVGE 1944 112, in einem publizierten Entscheid festgeschrieben EVGE 1967 203 Liste der Vernehmlasser siehe Anhang

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2.4.1

Argumente der Befürworter des Entwurfs

Die Befürworter der Gesetzesänderung betonten, dass die parlamentarische Initiative der langjährigen Praxis des EVG entspreche und keinen Sozialabbau bringe, sondern lediglich einen weiteren Leistungsausbau verhindere. Es bestehe kein Anlass, von einer bewährten, seit über 50 Jahren praktizierten Regelung abzuweichen. Die Eigeninitiative der Versicherten dürfe nicht gelähmt werden. Auch sei der administrative Aufwand zur Ausrichtung von Invaliditätsrenten unter 10 Prozent unverhältnismässig gross. Schliesslich äusserten sie sich auch dahin, dass das UVG der Invalidenversicherung anzupassen, d. h. eine Erheblichkeitsgrenze für die Zusprechung von Renten festzulegen sei.

Die Kritik an der Praxisänderung des EVG in Bezug auf Kleinstrenten, die in verschiedenen Kreisen geäussert wurde, wird in einem Artikel von Rudolf Wipf8 ausführlich begründet: Die Bestimmung des Invaliditätsgrades beruhe auf Annahmen und Hypothesen. Als invalid gilt, wer infolge eines Unfalles voraussichtlich bleibend oder für längere Zeit in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt ist. Für die Berechnung des Invaliditätsgrades werden sich zwei hypothetische Einkommen gegenübergestellt, das Invalideneinkommen und Valideneinkommen. Mit Blick auf die reale Arbeitswelt und die wirtschaftlichen Verhältnisse müsse festgestellt werden, dass diese Berechnung ein schwieriges Unterfangen ist, das nicht mit einer arithmetischen Operation zu vergleichen sei. Abweichungen von 10­20 Prozent im oberen und 5­10 Prozent im unteren Bereich der Invalidität dürften den tatsächlichen Begebenheiten entsprechen. Die Bestimmung eines Invaliditätsgrades von 5,82 Prozent (oder 6 %) suggeriere eine wissenschaftliche Genauigkeit, die es in diesem Bereich nicht gebe.

Nach dem klaren Willen des Gesetzgebers solle eine Invalidenrente nur gewährt werden, wenn eine spürbare erwerbliche Beeinträchtigung eingetreten sei9. Frühere Bemühungen, diesen Grundsatz im Gesetz festzuhalten, z. B. im Entwurf zum KUVG, scheiterten an der Befürchtung, dass bei Aufnahme einer ausdrücklichen Regelung bei jeder unfallbedingten Invalidität von über 10 Prozent eine Rente geltend gemacht würde. Das Eidgenössische Versicherungsgericht habe nach anfänglicher Zusprechung von Mindestrenten seine Praxis dahingehend geändert, dass bei kleinen Einbussen keine Berechtigung zum Bezug einer
Rente anerkannt würde.

Diese Rechtsprechung, welche die Aberkennung einer Rente bei Erwerbsunfähigkeiten unter 10 Prozent statuierte, hielt sich über ein halbes Jahrhundert und wurde von der massgebenden Doktrin gebilligt. Seit der Inkraftsetzung des UVG werde überdies der Integritätskomponente, die nach KUVG oft zu kleinen, meist befristeten Renten geführt hatte, durch das Institut der Integritätsentschädigung Rechnung getragen (Art. 24 UVG).

Es sei fraglich, ob kleinere Einbussen, die unter 10 Prozent liegen, überhaupt eine dauerhafte Invalidität zur Folge hätten. Geringfügige Restfolgen eines Unfalles begründeten in der Regel keine sich praktisch auswirkende Arbeitsunfähigkeit bzw.

Erwerbsunfähigkeit10. Meist gewöhne sich der Versicherte bei der Wiederaufnahme 8 9 10

Rudolf Wipf, Die Invalidenrenen im UVG: Existenzsicherung oder Trinkgeld?, SZS 1997/1, Luzern Morger, Die Invaliditätsschätzung nach dem UVG, in plädoyer 1/1984, 17, nach Rudolf Wipf A. Rumo-Jungo, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Bundesgesetz

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der Arbeit an die anfänglichen Beschwerden, und man könne davon ausgehen, dass er die wirtschaftlichen Folgen durch eine entsprechende Willensanstrengung ausgleichen oder auch selbst tragen könne.

Dass man bei den im Vergleich zu den Erkrankten ohnehin meist besser gestellten Verunfallten Erwerbseinbussen von weniger als 10 Prozent unbedingt ausgleichen müsse, liege selbst bei strenger Beachtung des Legalitätsprinzips nicht auf der Hand.

Im Gegenteil, es stehe in krassem Widerspruch zu den Bestimmungen der Invalidenversicherung, die einen Invaliditätsgrad von 40 Prozent voraussetzt. Auch sei darauf zu verweisen, dass das UVG den vollständig erwerbsunfähigen Versicherten, also den Schwerstinvaliden, einen Selbstbehalt von 20 Prozent zumutet, d. h., der Unfallversicherer vergütet nur 80 Prozent des vor dem Unfall verdienten Einkommens11. Die damit verbundene Einbusse könne sehr schwer wiegen. Entsprechend scheine es auch zumutbar, dass der Versicherte eine Einbusse unter 10 Prozent selber trage.

Die mit der langjährigen Praxis in Einklang stehende Lehrmeinung basiere auf zwei Grundgedanken des Sozialversicherungsrechts, nämlich auf der Zumutbarkeit und der Schadenminderungspflicht. Wenn ein Unfall eine gewisse Erwerbsunfähigkeit bewirkt, ist der Versicherte verpflichtet, den Invaliditätsgrad im Rahmen des Zumutbaren zu vermindern. In diesem Sinne verstosse eine untere Leistungsgrenze für die Zusprechung von Invalidenrenten nicht gegen ein Grundrecht der Versicherten.

Bei der Zusprechung von Renten gehe es um eine Grenzziehung zwischen sozialstaatlicher Intervention und Eigenverantwortlichkeit des Versicherten. Dabei seien nicht nur finanzielle Aspekte zu berücksichtigen. Es müsse auch in Betracht gezogen werden, wie sich eine dauernde Berentung auf die Persönlichkeit des Leistungsempfängers auswirke. Unter Umständen könne sich eine dauernde Abhängigkeit von der IV auch negativ auswirken und das Versichertenwohl verletzen 12.

2.4.2

Argumente der Gegner

Die Gegner des Entwurfs waren der Ansicht, dass mit dem Urteil des EVG, das sich auf einen Härtefall beziehe, nicht eine generelle Praxisänderung eingeleitet worden sei. Mit der Formulierung, dass die Zusprechung von Renten unter 10 Prozent «nicht von vornherein ausgeschlossen» sei, mache das Gericht deutlich, dass die Gewährung von Dauerrenten bei einem geringen Invaliditätsgrad eher die Ausnahme als die Regel sein soll. Auch in Zukunft würde bei einer Teilinvalidität von weniger als 10 Prozent nicht in jedem Fall ein Anspruch auf eine Rente bestehen, in einzelnen Fällen soll es aber weiterhin möglich sein, Renten unter 10 Prozent zuzusprechen. ­ Folgende Gründe sprächen gegen eine Gesetzesänderung: Die Streichung der Renten für einen Invaliditätsgrad unter 10 Prozent betreffe in erster Linie Teilzeiterwerbstätige, da die Berechnung der Rente für den Erwerbsbereich auf das Einkommen abstelle. Da der Invaliditätsgrad mit dem Grad der Erwerbstätigkeit multizipliert werde, falle er bei Teilzeiterwerbstätigen zum Vornherein kleiner aus als bei Vollzeiterwerbstätigen. Rund 85 Prozent der Teilzeiter-

11 12

Zusammen mit einer Rente der IV höchstens 90% des versicherten Verdienstes (sog.

Komplementärrente: Art. 20 Abs. 2 UVG) Murer, a.a.O. 301 und insb. 306 f., nach Rudolf Wipf

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werbstätigen in der Schweiz sind Frauen, und somit beinhalte die vorgeschlagene Änderung eine indirekte Diskriminierung der Frauen.

Der Grundsatz der Schadenminderungspflicht gelte auch im Falle von Teilinvaliditäten. Hat eine Person alles getan, um den Schaden möglichst klein zu halten ­ das bedeutet oft, eine weniger qualifizierte Tätigkeit anzunehmen ­, und bleibt ihr danach immer noch eine Erwerbseinbusse, dann sollte ihr nicht zusätzlich diese Rente gestrichen werden, nur weil sie klein ist. Allen Verunfallten mit einem niedrigen Invaliditätsgrad die Rente zu verweigern, laufe darauf hinaus, sie alle zu verdächtigen, ihrer Pflicht nicht nachgekommen zu sein.

Die Feststellung, dass minimale Invaliditäten nach einer Phase der Angewöhnung und Anpassung in der Regel wirkungslos werden, spreche nicht für eine Nichtgewährung, sondern vielmehr für eine zeitlich befristete Ausrichtung kleiner Renten.

Zudem könne eine einmal gewährte UVG-Rente jederzeit revidiert werden, wenn die Voraussetzungen nicht mehr erfüllt seien.

Die unscharfe Schätzung des Invaliditätsgrades stelle sich in jedem Falle und dürfe nicht zum generellen Ausschluss der Gewährung von Kleinstrenten führen. Es sei ja auch denkbar, dass in einem konkreten Fall der Invaliditätsgrad von unter 10 Prozent zu tief geschätzt werde und über 10 Prozent liegen müsste.

Es sei zu bezweifeln, dass der Ausschluss von Renten bei einem Invaliditätsgrad von unter 10 Prozent ein positiver Anreiz für eigene Anstrengungen sei. Er könnte eher dazu führen, dass einzelne Versicherte mit allen Mitteln einen höheren Invaliditätsgrad anstreben.

Eine unterschiedliche Behandlung der Versicherten in der Unfallversicherung und in der Militärversicherung sei sachlich nicht gerechtfertigt. Wenn schon eine Änderung erfolgen soll, dann müsste diese auch in der Militärversicherung eingeführt werden.

Anstatt eine Erheblichkeitsgrenze einzuführen, wäre es sinnvoller, eine befristete Rentenauszahlung oder eine Härtefallregelung vorzusehen. Zudem erscheine es unverhältnismässig, das Problem isoliert im Rahmen einer Teilrevision des UVG zu thematisieren. Vielmehr sollte die Frage der Minimalrenten im Rahmen der Gesetzgebungsarbeiten zu einem ATSG einheitlich für alle Versicherungszweige, unter Einschluss von IVG und BVG, gelöst werden. Aus der Sicht behinderter Menschen
sei dabei die Einführung einer feineren Rentenabstufung und eine Senkung des minimalen Invaliditätsgrades bei den Invalidenrenten gemäss IVG und BVG vordringlicher als die Eliminierung von Invalidenrenten unter 10 Prozent im UVG.

Schliesslich bezeichnen die Gegner einer Änderung die generelle Verweigerung von Renten unter 10 Prozent als Sozialabbau. Ein Invaliditätsgrad von z. B. 8 Prozent löse bei einem durchschnittlichen Monatsverdienst von 5000 Franken immerhin einen Einkommensverlust von monatlich 400 Franken aus, was sicher nicht als unbedeutend bezeichnet werden könne.

3

Erläuterungen zum Entwurf

Mit der Änderung von Artikel 18 Absatz 1 UVG werden in der Unfallversicherung Renten für einen Invaliditätsgrad von weniger als 10 Prozent generell ausgeschlossen. Damit soll verhindert werden, dass das Urteil des EVG vom 19. August 1996 Präjudizwirkung entfalten kann und in der Praxis der Unfallversicherung Kleinstrenten eingeführt werden.

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Im Unterschied zum Wortlaut der parlamentarischen Initiative Raggenbass bleibt der Invaliditätsbegriff nach Absatz 2 unverändert, aber der Rentenanspruch wird erst bei einer Invalidität über 10 Prozent begründet. So wird die Begriffsumschreibung für die Invalidität klar vom Anspruch auf eine Rente getrennt; dies entspricht der Regelung in der Invalidenversicherung, wo die Invalidität in Artikel 4 und der Rentenanspruch in Artikel 28 IVG festgelegt sind.

In der Übergangsbestimmung von Artikel 118 Absatz 5 (neu) wird festgehalten, dass bisher gewährte Renten unter 10 Prozent von der Neuregelung nicht betroffen sein sollen. Eine Änderung drängt sich nicht auf, da auch vor dem Entscheid des EVG Kleinstrenten nur in Ausnahmefällen gewährt worden sind.

4

Finanzielle und personelle Auswirkungen

Nach Schätzungen der SUVA könnte eine Änderung von Artikel 18 UVG, wie sie die Kommission vorschlägt, zu Einsparungen von jährlich 2­3 Millionen Franken führen, bei jährlichen Gesamtausgaben von rund 6 Milliarden Franken. Personelle Auswirkungen sind nicht zu erwarten.

5

Verfassungsmässigkeit

Der Bundesbeschluss stützt sich auf Artikel 117 Bundesverfassung, der dem Bund eine umfassende Kompetenz zur Einrichtung einer Unfallversicherung gibt.

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Anhang

Liste der Vernehmlasser Eidgenössisches Versicherungsgericht (EVG) Schweizerischer Arbeitgeberverband Schweizerischer Gewerbeverband (sgv) Schweizerischer Gewerkschaftsbund (SGB) Christlichnationaler Gewerkschaftsbund (CNG) Vereinigung schweizerischer Angestelltenverbände (VSA) Schweizerische Arbeitsgemeinschaft zur Eingliederung Behinderter Schweizerische Vereinigung Pro Infirmis Pro Mente Sana Schweizerische Patientenorganisation Schweizerische Gesundheitsligenkonferenz (Geliko)

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