00.415 Parlamentarische Initiative Aufhebung des «Bistumsartikels» (Art. 72 Abs. 3 BV) Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 25. Mai 2000

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen gemäss Artikel 21quater Absatz 3 des Geschäftsverkehrsgesetzes (GVG) den vorliegenden Bericht und überweisen ihn gleichzeitig dem Bundesrat zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt mit 17 zu 5 Stimmen, beiliegenden Beschlussentwürfen zuzustimmen. Eine Kommissionsminderheit (Weyeneth, Fehr Hans, Glur, Joder, Zwygart) beantragt Nichteintreten.

25. Mai 2000

Im Namen der Kommission

11026

Die Präsidentin: Hubmann

4038

2000-1271

Bericht 1

Ausgangslage und Vorgehen

1.1

Die parlamentarische Initiative Huber (94.433)

Am 13. Dezember 1994 hat der damalige Ständerat Hans Jörg Huber eine parlamentarische Initiative eingereicht mit folgendem Wortlaut: «Gestützt auf Artikel 21bis GVG verlange ich mit einer parlamentarischen Initiative die ersatzlose Aufhebung von Artikel 50 Absatz 4 der Bundesverfassung». Die Staatspolitische Kommission (SPK) des Ständerates hat mit Bericht vom 19. Mai 1995 ihrem Rat einstimmig beantragt, der Initiative sei Folge zu geben. Der Ständerat folgte diesem Antrag am 12. Juni 1995 mit 18:16 Stimmen (AB 1995 S 558-564).

Das Büro des Ständerates hat darauf diese parlamentarische Initiative zur Ausarbeitung einer Vorlage erneut der SPK zugewiesen. Die SPK hatte das weitere Vorgehen bereits in ihrem Bericht vom 19. Mai 1995 wie folgt skizziert: «Die anstehende Totalrevision der Bundesverfassung bietet nach Ansicht der Kommission wie auch des Initianten die Chance, das Anliegen der Initiative zu erfüllen. Wenn der Rat der vorliegenden Initiative Folge gibt, so könnte sie in diesem grösseren Rahmen behandelt, erfüllt und abgeschrieben werden.» Im Hinblick auf den Ablauf der zweijährigen Frist für die Ausarbeitung einer Vorlage führte die SPK in ihrem weiteren Bericht vom 12. August 1997 aus: «Zur Zeit wird in den Verfassungskommissionen beider Räte die Frage diskutiert, ob das Anliegen der Initiative Huber im Rahmen der der Bundesverfassung realisiert werden kann. Sollte dies gelingen, so kann die Initiative als erfüllt abgeschrieben werden. Andernfalls müsste die Kommission die Situation neu beurteilen und gegebenenfalls eine eigenständige Vorlage zur Realisierung der Initiative ausarbeiten.» Gestützt auf diesen Bericht verlängerte der Ständerat am 29. September 1997 die Behandlungsfrist für die Initiative um weitere zwei Jahre.

1.2

Streichung im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung oder durch eine separate Vorlage?

Der Bundesrat hatte in seinem Verfassungsentwurf vom 20. November 1996 eine Übernahme des Artikels 50 Absatz 4 der geltenden Verfassung in Artikel 84 Absatz 3 des «Bundesbeschlusses über eine nachgeführte Bundesverfassung» beantragt. In der Botschaft führt er dazu aus: «Absatz 3 wurde in der Vernehmlassung stark kritisiert. Zahlreiche Vernehmlasser haben die Streichung der Bestimmung verlangt1.

Wir haben diesem Wunsch nicht stattgegeben, weil dies über die Nachführung des geltenden Rechts hinausführen würde» (BBl 1997 I 288). Die Verfassungskommissionen der Eidg. Räte haben dann allerdings im Laufe ihrer Beratungen einen offeneren Begriff der «Nachführung» entwickelt. Danach darf der Verfassungsentwurf auch Neuerungen enthalten, die für sich allein keine Opposition provozieren, die das ganze Projekt gefährden könnte. Die entsprechende Beurteilung des «Bistumsarti1

2 Kantone (VS, TI), 5 im Parlament vertretene Parteien (SVP, CVP, SP, Grüne, FPS), 9 weitere Parteien (...), 17 Organisationen (...) und 130 Private. Gegen die Aufhebung haben sich geäussert: 2 Kantone (GE, BS), 12 Organisationen (...) und 2 Private.

4039

kels» hat sich im Laufe der Beratungen verändert. Die Verfassungskommission des Ständerates beantragte ihrem Rat am 25. August 1997 mit 11:5 Stimmen, den Absatz 3 von Artikel 84 zu streichen; der Ständerat folgte diesem Antrag am 4. März 1998 mit 20:17 Stimmen (AB 1998 S 235). Der am 15. Oktober 1997 mit 15:13 Stimmen beschlossene Streichungsantrag der nationalrätlichen Verfassungskommission unterlag dann allerdings am 29. April 1998 mit 68:88 Stimmen gegenüber einem Antrag, der Fassung des Bundesrates zu folgen (AB 1998 N 962). In der Differenzbereinigung schloss sich der Ständerat am 21. September 1998 mit 19:19 Stimmen und Stichentscheid des Präsidenten dem Nationalrat an. Ratspräsident Zimmerli begründete seinen Entscheid wie folgt: «Angesichts des Umstandes, dass es zu vermeiden gilt, die Nachführung der Bundesverfassung mit einer solch brisanten Frage zu belasten, gebe ich meine Stimme der Minderheit» (AB 1998 S 855).

Ähnlich wie Ratspräsident Zimmerli hatten sich in den vorangehenden Debatten die meisten Befürworter einer vorläufigen Beibehaltung des «Bistumsartikels» und auch Bundesrat Arnold Koller geäussert: Diese Bestimmung sollte zwar nicht im Rahmen der «Nachführung» der Bundesverfassung, aber dennoch so bald wie möglich gestrichen werden. Ein analoges Vorgehen wurde auch bei einem anderen Thema gewählt, der Streichung der «Kantonsklausel» für die Bundesratswahlen (Art. 96 aBV bzw. Art. 163 BV). Auch diese Bestimmung wurde vorläufig im Entwurf der totalrevidierten Bundesverfassung belassen, parallel dazu wurde aber eine hängig gebliebene parlamentarische Initiative für eine Partialrevision der Bundesverfassung reaktiviert und der entsprechende Bundesbeschluss am 9. Oktober 1998 von den Räten verabschiedet. Im Rahmen der Vorberatung dieses Geschäftes beschloss die SPK des Ständerates an ihrer Sitzung vom 24. September 1998, auch die hängig gebliebene parlamentarische Initiative Huber zu reaktivieren und ihrem Rat baldmöglichst den Entwurf eines Bundesbeschlusses für eine Streichung des «Bistumsartikels» zu unterbreiten.

1.3

Vernehmlassungsverfahren

Die durch die vorgeschlagene Verfassungsänderung direkt betroffenen Kantone und kirchlichen Organisationen haben sich im Rahmen der im Jahre 1995/1996 durchgeführten Vernehmlassung zur Verfassungsreform nur zum kleineren Teil zu der Frage des «Bistumsartikels» geäussert (siehe Fussnote 1). Die Ausgangslage für die Partialrevision war nun zweifellos eine andere. Die SPK des Ständerates hat daher gestützt auf Artikel 21quater Absatz 2 des Geschäftsverkehrsgesetzes den Bundesrat am 16. November 1998 beauftragt, ein Vernehmlassungsverfahren durchzuführen.

Die Aufhebung von Artikel 50 Absatz 4 aBV (Art. 72 Abs. 3 BV) wird von den Vernehmlassern mehrheitlich begrüsst. 162 der 22 Kantone, 7 der 8 Parteien (darunter die vier Bundesratsparteien) sowie 4 der 8 interessierten Organisationen (darunter die Schweizer Bischofskonferenz), die sich haben vernehmen lassen, befürworten 2

LU, SZ, NW, SO, OW (der verlangt, dass die Argumente der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz noch näher geprüft werden), FR, AR, SG, TI, SH, AI, GR, VD, NE, JU.

Auch VS spricht sich für die Aufhebung von Artikel 50 Absatz 4 V aus. Der Vernehmlasser bedauert indes, dass Artikel 50 Absatz 4 BV nicht bereits im Rahmen der Nachführung der Verfassung gestrichen worden ist, und wirft die Frage auf, ob die Aufhebung des Bistumsartikels als Einzelvorlage nicht eventuell den religiösen Frieden gefährden könnte.

4040

die Streichung der Genehmigungspflicht für die Errichtung und die gebietsmässige Veränderung von Bistümern.

Auch die Gegner3 stehen einer Aufhebung des Bistumsartikels nicht a priori ablehnend gegenüber. Doch erachten sie eine Streichung der Bestimmung zum jetzigen Zeitpunkt als verfrüht und wollen ihre Einwilligung von gewissen Gegenleistungen abhängig machen. Zwei Forderungen stehen dabei im Vordergrund. Zum einen verlangen zahlreiche Vernehmlasser, dass der Bistumsartikel so lange aufrecht erhalten bleibe, bis die offenen Bistumsfragen durch Konkordate mit dem Heiligen Stuhl geklärt seien. Einige fordern, dass die römisch-katholische Kirche den betroffenen Kantonen und den kantonalkirchlichen Organen zusichere, dass die Errichtung und Veränderung von Bistümern nur mit ihrer Zustimmung vollzogen werde, andere wünschen eine rechtlich festgelegte Mitwirkung und Mitentscheidung der Ortskirchen bei Bischofswahlen. Zum andern sind etliche Vernehmlasser erst dann bereit, auf den Bistumsartikel zu verzichten, wenn als Ersatz für Artikel 50 aBV (Art. 72 BV) ein neuer umfassender Kirchen- und Religionsartikel in die Verfassung aufgenommen wird.

Einzelne Vernehmlasser zweifeln an, dass der Bistumsartikel, wie im erläuternden Bericht der SPK des Ständerates ausgeführt, diskriminierend, grundrechtsverletzend und völkerrechtswidrig ist. Oft wird auch auf die Sonderstellung der römischkatholischen Kirche verwiesen, die sich aus dem völkerrechtlichen Status des Heiligen Stuhls ergibt und ihr den direkten Zugang zur Regierung ermöglicht. Artikel 50 Absatz 4 aBV (Art. 72 Abs. 3 BV) sei das Gegenstück zu diesem Privileg der römisch-katholischen Kirche. Würde die Bestimmung gestrichen, dann dürfe ein ausländisches Staatsoberhaupt Entscheide fällen, die für die Schweiz und ihren konfessionellen Frieden von grosser Bedeutung sein könnten.

1.4

Reaktion des Ständerates auf das Vernehmlassungsverfahren

Aus dem Bericht der SPK des Ständerates vom 2. September 1999 geht hervor, zu welchen Schlussfolgerungen die Kommission aufgrund der Auswertung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens gelangt ist: «Am 11. Mai 1999 nahm die SPK Kenntnis vom Ergebnis des Vernehmlassungsverfahrens. Die Kommission stellte fest, dass zwar eine Mehrheit der Vernehmlasser die ersatzlose Streichung des begrüsst hat, dass sich aber auch gewichtige Stimmen gegen eine isolierte Streichung dieser Verfassungsbestimmung zum jetzigen Zeitpunkt erhoben haben. Nachdem die SPK am 23. August 1999 Vertretungen der beiden grossen Konfessionen sowie der Kantone Genf und Zürich noch persönlich angehört hat, möchte sie nun darauf verzichten, diese Vorlage ihrem Rat und später Volk und Ständen zu unterbreiten. Es wurde zwar weder in der Kommission noch von Seiten der Vernehmlasser bestritten, dass die Genehmigungspflicht für die Errichtung von Bistümern eine rechtliche Diskriminierung der römisch-katholischen Kirche bedeutet und dass sie daher bei geeigneter Gelegenheit aufgehoben werden sollte. Wird aber die Aufhebung dieser Regelung Volk und Ständen jetzt isoliert unterbreitet, so 3

Die Kantone ZH, BE, GL, AG, GE, TG; die EVP und unter den interessierten Organisationen der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK), die Christkatholische Kirche der Schweiz und die Römisch-Katholische Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ).

4041

könnten dadurch unnötigerweise Diskussionen ausgelöst werden, die den religiösen Frieden gefährden. Zeitlich dringender Handlungsbedarf besteht nicht, da sich die rechtliche Diskriminierung in der Praxis seit Bestehen des kaum ausgewirkt hat. Die Kommission schlägt vor, dieses Problem im Rahmen einer umfassenderen Änderung von Artikel 72 der neuen Bundesverfassung zu lösen. Dadurch sollen die allgemeinen Grundsätze der Beziehungen zwischen Religionsgemeinschaften und Staat festgehalten und bei dieser Gelegenheit die Genehmigung der Errichtung von Bistümern durch den Bund aufgehoben werden. Diese Aufgabe sprengt den Rahmen des Auftrages der parlamentarischen Initiative von alt Ständerat Huber. Die Kommission möchte daher den Bundesrat mit einer Motion beauftragen, eine entsprechende Vorlage auszuarbeiten 4 ».

Im Ständerat standen sich am 5. Oktober 1999 der Antrag der Kommission auf Abschreibung der parlamentarischen Initiative und Annahme der Motion einerseits sowie ein Antrag Danioth auf Rückweisung des Geschäftes an die Kommission zwecks Ausarbeitung einer Vorlage zur Streichung von Artikel 72 Absatz 3 BV andererseits gegenüber. Der Bundesrat hatte zwar in seiner schriftlichen Stellungnahme zur Motion deren Annahme beantragt. Angesichts des Antrags Danioth erklärte aber Bundesrätin Ruth Metzler im Rat, sie würde den Antrag Danioth vorziehen. Die Kommission obsiegte mit 20:18 Stimmen knapp über den Antrag Danioth.

1.5

Neuer Anlauf der SPK des Nationalrates

Die am 5. Oktober 1999 vom Ständerat angenommene Motion für einen «Religionsartikel» gelangte am 17. Februar 2000 zur Vorberatung in die SPK des Nationalrates. Mit 23:1 Stimme bei einer Enthaltung lehnt die Kommission die Motion des Ständerates ab. Ein Verfassungsartikel, der die Stellung aller Religionsgemeinschaften regeln möchte, würde nach Überzeugung der SPK viel grössere Schwierigkeiten mit sich bringen (siehe dazu unten Ziff. 6). Die im Grundsatz ja von niemandem bestrittene Streichung des «Bistumsartikels» würde damit aller Voraussicht nach in eine ferne und ungewisse Zukunft verschoben. Das anlässlich der Diskussionen im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung gegebene Versprechen muss nun eingelöst werden. Die Kommission beschloss mit 19:3 Stimmen bei 3 Enthaltungen, die Vorlage ihrer ständerätlichen Schwesterkommission wieder aufzunehmen.

An ihrer Sitzung vom 25. Mai 2000 hörte die Kommission die hauptbetroffenen grossen kirchlichen Organisationen an. Anwesend waren eine Vertretung der Schweizer Bischofskonferenz, des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes und der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz. Anschliessend stimmte die Kommission mit 17:5 Stimmen den beiden Erlassentwürfen zu. Eine Minderheit (Weyeneth, Fehr Hans, Glur, Joder, Zwygart) beantragte Nichteintreten. Die von der Kommissionsminderheit vorgebrachten Gründe entsprechen den im Vernehmlassungs-

4

Text der Motion: Der Bundesrat wird beauftragt, den Entwurf für eine Änderung von Artikel 72 der neuen Bundesverfassung zu unterbreiten, der insbesondere vorsieht, dass 1. die allgemeinen Grundsätze der Beziehungen zwischen Religionsgemeinschaften und Staat festgehalten werden, und 2. die Genehmigung der Errichtung von Bistümern durch den Bund aufgehoben wird.

4042

verfahren geäusserten Vorbehalten gegen eine Streichung des Bistumsartikels (siehe vorne Ziff. 1.3).

2

Historische Einordnung

Artikel 72 Absatz 3 BV(Art. 50 Abs. 4 aBV), der «Bistumsartikel», entstammt der Zeit des Kulturkampfes in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Er ist direkt auf die Ereignisse rund um den Genfer Pfarrer Mermillod zurückzuführen, der vom Heiligen Stuhl ohne das Einverständnis der staatlichen Behörden zum Apostolischen Vikar in Genf ernannt worden war. Auf diesem Weg sollte ein Bistum Genf errichtet werden. Weil Mermillod nicht auf sein Amt verzichten wollte, wurde er des Landes verwiesen, und der Bundesrat erklärte die Errichtung des Bistums Genf für nichtig.

Mit der Genehmigungspflicht für die Errichtung von Bistümern in der Verfassung von 1874 wollte der junge Bundesstaat derartige Vorkommnisse künftig verhindern.

Der Bistumsartikel trat damit zu den anderen, gegen die katholische Kirche gerichteten konfessionellen Sonderartikeln: Verbot des Jesuitenordens, Verbot, neue Klöster zu errichten, und Ausschluss der Geistlichen aus dem Nationalrat.

Im Laufe der Entspannung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat wurden verschiedene Anläufe gemacht, die als überholt betrachteten religiösen Ausnahmebestimmungen zu streichen, im Fall des Jesuiten- und des Klosterartikels (Art. 51 und 52 aBV) mit Erfolg: 1973 stimmten Volk und Stände deren Aufhebung zu. Die Nichtwählbarkeit Geistlicher in den Nationalrat (Art. 75 aBV) ist mit dem Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung dahingefallen (vgl. Art. 143 BV). Damit bleibt der Bistumsartikel die letzte konfessionelle Ausnahmebestimmung in der Bundesverfassung.

3

Auslegung des Bistumsartikels

Adressaten des Bistumsartikels sind alle episkopal verfassten Kirchen. In der Praxis trifft es die römisch-katholische Kirche; ohne sie gäbe es den Bistumsartikel nicht.

Wie die staatsrechtliche Literatur5 zwar immer wieder betont, ist der Bistumsartikel nicht nur auf die katholische Kirche anwendbar, sondern auf alle Kirchen mit Episkopalverfassung (in Teilkirchen gegliederte Kirchen). Die Praxis zeigt indes, dass die römisch-katholische Kirche nicht nur die erste, sondern auch die einzige Adressatin der Bestimmung ist. Denn auf die Errichtung der orthodoxen, anglikanischen und methodistischen Bistümer in der Schweiz fand Artikel 72 Absatz 3 BV (damals Art. 50 Abs. 4 aBV) keine Anwendung6.

Artikel 72 Absatz 3 BV unterstellt die Errichtung von Bistümern der Genehmigung des Bundes. Nach Lehre und Rechtsprechung gilt die Genehmigungspflicht darüber hinaus auch für jede Neuumschreibung der Bistumsgrenzen (so für die Zusammenlegung mehrerer Bistümer, die Teilung des Gebietes mit Gründung neuer Diözesen, die Ablösung eines Teilgebietes unter Anschluss an ein bestehendes Bistum). Sollte die römisch-katholische Kirche mit ihren seit Beginn der achtziger Jahre laufenden 5 6

So Häfelin in Kommentar BV, Art. 50, Rz. 46; Aubert, Bundesstaatsrecht der Schweiz II, 1995, S. 921.

Vgl. die Zusammenstellung bei Walter Gut, Der Staat und die Errichtung von Bistümern, Freiburg 1997, S. 29 ff.

4043

Bemühungen um eine Neuverteilung der Bistümer in der Schweiz Erfolg haben, wäre dies theoretisch ein Anwendungsfall von Artikel 72 Absatz 3 BV.

Beim Genehmigungsbeschluss nach Artikel 72 Absatz 3 BV handelt es sich um einen Verwaltungsakt. Zuständig für die Erteilung der Genehmigung ist der Bundesrat.

In der Rechtswirklichkeit sind Bistümer in der Schweiz aber nicht einseitig hoheitlich, sondern meist auf Grund von Staatsverträgen mit dem Heiligen Stuhl errichtet oder gebietsmässig verändert worden. Damit gelangte nicht das Genehmigungsprozedere des Artikel 50 Absatz 4 BV zur Anwendung, sondern es galten die Regeln über den Abschluss von Staatsverträgen. Danach kann der Bund auch in jenen Bereichen, die innerstaatlich in die Zuständigkeit der Kantone fallen ­ wie die Kirchenhoheit ­, Staatsverträge abschliessen. Nach Artikel 9 aBV konnten die Kantone ausnahmsweise Verträge mit dem Ausland schliessen «über Gegenstände der Staatswirtschaft, des nachbarlichen Verkehrs und der Polizei». Schon unter der alten Bundesverfassung entwickelte sich die Lehre und die Praxis, dass die Kantone über die Gegenstände aus ihrem gesamten Zuständigkeitsbereich Verträge mit dem Ausland schliessen dürfen (was Art. 56 BV nun ausdrücklich festhält; vgl. dazu Ziff.

5.2). Doch hat der amtliche Verkehr ­ also auch das Verhandeln und der Abschluss von Verträgen ­ mit ausländischen Behörden sowohl nach alter (Art. 10 Abs. 1 aBV) wie nach neuer (Art. 56 Abs. 3 BV) Bundesverfassung durch Vermittlung des Bundes zu geschehen. In der Praxis haben sich vier Formen des Vertragsschlusses herausgebildet: Der Bundesrat schliesst den Vertrag im Namen des Bundes ab oder im Namen des Bundes und des Kantons oder im Namen des Kantons. Im eigenen Namen schliesst der Kanton den Vertrag nur ab, wenn er dazu ausdrücklich vom Bund ermächtigt worden ist7. So gab es Fälle, wo ein Kanton und der Heilige Stuhl alleinige Vertragspartner des Konkordates waren, andere, wo der Bundesrat das Konkordat im eigenen Namen oder gleichzeitig im eigenen Namen und in jenem der Kantone unterzeichnete (vgl. Anhang).

4

Drei Hauptargumente für die Streichung des Bistumsartikels

4.1

Der Bistumsartikel verletzt die Religionsfreiheit

Die in Artikel 15 BV (früher: Art. 49 und 50 aBV) garantierte Religionsfreiheit steht natürlichen Personen zu sowie juristischen Personen, die religiöse oder kirchliche Zwecke verfolgen. Nach heute überwiegender Lehre verfügen die Kirchen auf Grund der Religionsfreiheit über ein Selbstbestimmungsrecht, das es ihnen erlaubt, ihre interne Organisation nach ihren eigenen Vorstellungen zu regeln8. Dass es sich bei der Errichtung von Bistümern und deren Gebietsveränderungen um rein innerkirchliche Vorgänge handelt, die nicht in das gemeinsame Aufgabengebiet von Kirche und Staat («res mixtae»), sondern in den Bereich der kirchlichen Selbstbestimmung fallen, ist evident. Die Einsetzung von Bischöfen und die Errichtung von Bistümern für die katholischen Gläubigen ist rein pastoral bedingt und Teil der innerkirchlichen Organisation und Leitung der katholischen Kirche. Der Genehmigungsvorbehalt in Artikel 72 Absatz 3 BV stellt folglich einen «Eingriff in die Freiheit der 7 8

Vgl. Schindler in Kommentar BV, Art. 10, Rz. 1­12.

Vgl. Christoph Winzeler, AJP 11/95, S. 1456.

4044

Selbstorganisation und Selbstbestimmung der Kirche»9 dar und bedeutet eine klare Einschränkung der Religionsfreiheit.

Eine vernünftige und haltbare Begründung für eine solche Einschränkung ­ etwa um eine Gefahr für Ruhe und Ordnung oder eine Bedrohung des Religionsfriedens abzuwenden ­ lässt sich nicht finden. Konnte die Einführung des Bistumsartikels im Jahr 1874 allenfalls noch mit der Sicherung des konfessionellen Friedens begründet werden, lässt sich diese Argumentation bereits seit Jahrzehnten nicht mehr aufrecht erhalten. Dem Bistumsartikel fehlt damit die innere Rechtfertigung.

4.2

Der Bistumsartikel ist diskriminierend

Wie bereits dargelegt, wirkt die Einschränkung des durch die Religionsfreiheit garantierten Selbstbestimmungsrechts der Glaubensgemeinschaften auf alle episkopal organisierten Kirchen; in der Praxis jedoch richtet sie sich einzig gegen die römischkatholische Kirche. Nur sie wird ins Visier genommen, während alle anderen Religionsgemeinschaften ­ zu Recht ­ ihre interne Organisation selber regeln können.

Der Bistumsartikel stellt damit eine die römisch-katholische Kirche diskriminierende Ausnahmebestimmung dar, die sich durch keine sachlichen Gründe rechtfertigen lässt. Er verletzt die Rechtsgleichheit.

4.3

Der Bistumsartikel ist völkerrechtswidrig

Der Bistumsartikel steht im Widerspruch zu den internationalen Verpflichtungen, welche die Schweiz mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK, SR 0.101) und dem internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II, SR 0.103.2) eingegangen ist.

Artikel 9 EMRK garantiert die Religionsfreiheit. Absatz 2 der Bestimmung verbietet Einschränkungen der Religionsfreiheit, wenn sie nicht im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind. Eine solche Notwendigkeit ist beim Genehmigungsvorbehalt von Artikel 72 Absatz 3 BV nicht gegeben. Die Bestimmung sieht somit eine Einschränkung der Religionsfreiheit vor, für die kein öffentliches Sicherheitsinteresse besteht10. Darüber hinaus verlangt Artikel 14 EMRK, dass «Rechte und Freiheiten», also auch die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (eingeschlossen die korporative Religionsfreiheit), in rechtsgleicher Weise zu gewährleisten sind. Die bis anhin verfolgte Praxis zum Bistumsartikel, die einzig für die römisch-katholische Kirche eine Einschränkung bedeutet, verletzt diesen Grundsatz klar.

Derselben Grundlinie wie die EMRK folgt auch der UNO-Pakt II. Artikel 18 des Paktes hat das Grundrecht der Religionsfreiheit zum Inhalt, und Artikel 26 verbietet jegliche Diskriminierung auf Grund einer bestimmten Religionszugehörigkeit.

9 10

Gut, a.a.O., S. 13.

Vgl. auch Nicolas Michel, La Constitution fédérale et les évêchés: une discrimination contraire à la liberté religieuse, in: Rapports église ­ état en mutation, Freiburg 1997, S. 46.

4045

5

Folgen einer Streichung des Bistumsartikels

5.1

Rechtliche Folgen

Eine Streichung des Bistumsartikels hat primär zur Folge, dass die Bundeskompetenz für die Genehmigung der Bistumseinteilung der römisch-katholischen Kirche wegfällt. Der Heilige Stuhl ist damit nicht mehr an eine Genehmigung gebunden für die Errichtung von Bistümern oder für eine Änderung der Bistumsgrenzen. Die Streichung von Artikel 72 Absatz 3 BV bringt keine Erweiterung der kantonalen Kirchenkompetenzen mit sich. Die Kantone können also nicht ihrerseits eine Genehmigungspflicht für die Errichtung oder gebietsmässige Veränderung von Bistümern einführen. Denn wie der Bund, so sind auch die Kantone an die von der Verfassung gewährleistete Religionsfreiheit und Rechtsgleichheit gebunden. Würde ein Kanton statt des Bundes eine ähnliche Genehmigungspflicht für die Errichtung eines Bistums statuieren, könnte die Kirche mit staatsrechtlicher Beschwerde die Verletzung ihres aus Artikel 15 BV herleitbaren Selbstbestimmungsrechts beim Bundesgericht und sodann beim Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg anfechten 11.

Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass die Streichung des Bistumsartikels Bund und Kantone nicht daran hindert, Massnahmen zu ergreifen, sollte im konkreten Fall die Errichtung oder gebietsmässige Veränderung eines bestimmten Bistums zu einer Gefährdung der inneren Sicherheit führen. Im Ausnahmefall könnte ein derartiges Vorhaben sogar verhindert werden. Doch dürften weniger einschneidende Massnahmen ­ insbesondere Gespräche ­ regelmässig ausreichen, um den religiösen Frieden im Land zu sichern.

Eine Streichung des Bistumsartikels hat im übrigen Auswirkungen auf Gesetzesebene. Der Bundesbeschluss vom 22. Juli 1859 betreffend die Lostrennung schweizerischer Landesteile von auswärtigen Bistumsverbänden (SR 181) enthält das Verbot, schweizerisches Staatsgebiet unter die Jurisdiktion eines im Ausland residierenden Botschafters zu stellen. Schon beim Erlass des Bundesbeschlusses, als der Bistumsartikel noch nicht in Kraft stand, war seine Verfassungsmässigkeit fragwürdig; nach einer Streichung des Bistumsartikels wäre sie nicht mehr gegeben. Im übrigen bleiben die heutigen Zustände unverändert, denn die Abstimmung der Bistumsgrenzen auf die Landesgrenzen entspricht einem konstanten kirchlichen Grundsatz12.

5.2

Praktische Folgen

Die rein rechtlichen Folgen, die sich aus einer Aufhebung von Artikel 72 Absatz 3 BV ergeben, vermitteln nur ein unvollständiges Bild. Vielmehr müssen auch die tatsächlichen Auswirkungen, die eine Streichung des Bistumsartikels in der Praxis zur Folge hätte, betrachtet werden. Ein Blick von der Rechtslage auf die Rechtswirklichkeit zeigt nämlich, dass der Bistumsartikel in den 125 Jahren seines Bestehens toter Buchstabe geblieben ist. Abgesehen vom historischen Sonderfall der Errichtung des christkatholischen Nationalbistums 1876 wurde die staatliche Genehmigungspflicht nie als solche durchgeführt. In der bisherigen Praxis erfolgten die Veränderungen im Bistumsbereich, wie bereits dargelegt, stets auf Grund von Staats11 12

Vgl. Gut, a.a.O., S. 19 f.

Urs Cavelti, Die Praxis zum Bistumsartikel der Bundesverfassung, Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Gemeindeverwaltung, 81/1980, S. 65.

4046

verträgen mit dem Heiligen Stuhl. Dieses Vorgehen ist ständige Praxis des Heiligen Stuhls, was sich aktuell auch bei den neuen deutschen Bundesländern zeigt, wo der Heilige Stuhl mittels Konkordaten und Kirchenverträgen nach Lösungen sucht13.

Nach einem Wegfall des Bistumsartikels werden also auch in Zukunft die Regeln über den Abschluss von Staatsverträgen gelten, sofern die Errichtung oder gebietsmässige Veränderung von Bistümern durch ein Konkordat zwischen dem Bund oder zwischen den Kantonen und dem Heiligen Stuhl vereinbart wird.

Für die Errichtung neuer bzw. die Gebietsänderung bestehender Bistümer sind nämlich grundsätzlich zwei Fälle zu unterscheiden. Theoretisch möglich, aber praktisch nicht zu erwarten, ist die Errichtung eines Bistums durch einen einseitigen Beschluss des Papstes als Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche. In diesem Fall entfiele die bisher gegebene rechtliche Einflussmöglichkeit des Bundes, da ein solcher Akt der internen Organisation der katholischen Kirche in den Schutzbereich der korporativen Religionsfreiheit fiele. Lediglich eine Grundrechtseinschränkung käme in Frage. Sie müsste allerdings die in Artikel 36 BV festgeschriebenen Bedingungen erfüllen und die völkerrechtlichen Verpflichtungen (vgl. Ziff. 4.3 hiervor) einhalten; konkret also ein Einschreiten im Interesse der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung bei einer Störung des religiösen Friedens.

Der praktisch allein vorkommende zweite Fall ist die Errichtung bzw. Veränderung von Bistümern durch völkerrechtlichen Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Bund oder dem betroffenen Kanton. Nach den Regeln über den Abschluss von Staatsverträgen ist es, wie bereits erwähnt, der Bund, der gestützt auf Artikel 54 BV auch in solchen Bereichen Staatsverträge abschliessen kann, für die innerstaatlich die Kantone zuständig sind ­ in casu die Kirchenhoheit. Nach Artikel 56 Absatz 1 BV können die Kantone indes über alle Gegenstände in ihrem Zuständigkeitsbereich völkerrechtliche Verträge schliessen. Dies ist nach bisheriger Praxis unproblematisch, da der Bundesrat die Verträge für die Kantone schliesst oder einen Kanton ausdrücklich ermächtigen kann, den Vertrag im eigenen Namen zu schliessen (vgl.

Ziff. 3 hiervor). Im Unterschied zur alten Bundesverfassung (Art. 102 Ziff. 7 aBV) sieht die neue
nicht mehr eine obligatorische Genehmigungspflicht durch den Bundesrat vor. Hingegen gebietet Artikel 56 Absatz 2 BV den Kantonen, den Bund vor Abschluss der Verträge zu informieren. Doch kann der Bundesrat ­ oder ein anderer Kanton - Einsprache gegen die Verträge der Kantone mit dem Ausland erheben (Art. 186 Abs. 3 BV); in diesem Fall trifft die Bundesversammlung den endgültigen Entscheid (Art. 172 Abs. 3 BV). Als Bedingung für eine Einsprache nennt die Verfassung, dass der Vertrag dem Recht oder den Interessen des Bundes bzw. den Rechten anderer Kantone zuwiderläuft (Art. 9 aBV bzw. Art. 56 Abs. 2 BV). In Frage kommt in erster Linie eine Störung des religiösen Friedens und ­ im Extremfall ­ eine davon ausgehende Gefährdung der inneren Sicherheit. Nur unter diesen Voraussetzungen wäre es dem Bund gestattet, ein Konkordat über die Errichtung von Bistümern nicht zu genehmigen.

Die Kantone können also gestützt auf ihre kantonale Kirchenhoheit mit dem Heiligen Stuhl Verträge über die Errichtung oder gebietsmässige Veränderung eines Bistums schliessen. Der Bund ist dabei mitbeteiligt (bei den Vertragsverhandlungen und beim Vertragsabschluss) und kann die Genehmigung eines Vertrages nur unter den in der Verfassung definierten Voraussetzungen verweigern.

13

Gut, a.a.O., S. 18.

4047

6

Religionsartikel?

Die Motion des Ständerats will den Bundesrat beauftragen, Artikel 72 BV zu ändern: in einem Religionsartikel sollen die allgemeinen Grundsätze der Beziehungen zwischen Religionsgemeinschaften und dem Staat festgehalten werden; dabei sei die Genehmigungspflicht für die Errichtung von Bistümern aufzuheben.

Die SPK des Nationalrats erachtet die Erarbeitung eines Religionsartikels als gefährlichen, unnötigen und problematischen Umweg. Es bleibt unklar, was Inhalt dieses Religionsartikels sein soll. Weder die Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens, noch die Anhörung der Gegner einer ersatzlosen Aufhebung des Bistumsartikels in der SPK des Ständerats, noch die Diskussionen im Ständerat haben Hinweise geliefert, wie ein konsensfähiger Religionsartikel ausgestaltet sein müsste.

Es wurden völlig unterschiedliche Vorstellungen geäussert. So wurde gefordert: die grundsätzliche Anerkennung der Bedeutung der Religion und ihres öffentlichen Charakters; eine generelle Norm über das Verhältnis des Staates zu den religiösen Gruppierungen und Institutionen; die Anerkennung des Rechts der religiösen Organisationen, ihre inneren Angelegenheiten selbständig zu regeln unter der Voraussetzung, dass sie sich an Rechtsstaatlichkeit, innere Demokratie, Toleranz und Transparenz halten; die Festlegung der Voraussetzungen für die öffentlich-rechtliche Anerkennung der Religionsgemeinschaften; die Regelung der Stellung von Religionsgemeinschaften ohne Sonderstatus; eine Bundesregelung für die Gebietsänderung einer anerkannten Religionsgemeinschaft, von der mehrere Kantone betroffen sind; ein verfassungsrechtliches Gebot, dass Bistümer der römisch-katholischen Kirche nur durch Konkordate errichtet oder verändert werden dürfen; eine rechtlich festgelegte Mitwirkung und Mitentscheidung der Ortskirchen bei der Wahl der Bischöfe.

Diese Vorschläge würden massiv in die Zuständigkeit der Kantone und in die Organisationsautonomie der Kirchen und Glaubensgemeinschaften eingreifen. So sind etwa die Voraussetzungen für die öffentlich-rechtliche Anerkennung der Religionsgemeinschaften von den Kantonen unterschiedlich geregelt. Auch kann die Bundesverfassung den Heiligen Stuhl nicht zwingen, Konkordate abzuschliessen; ein Konkordat ist ein Vertrag zwischen zwei selbständigen Vertragspartnern. Die Organisationsautonomie der Religionsgemeinschaften
würde verletzt, wenn ihnen die Bundesverfassung ihre innere Organisation oder die Art der Wahl ihrer Geistlichen vorschreiben würde. Zudem wäre es diskriminierend, nur gerade der katholischen Kirche die Wahl ihrer geistlichen Obrigkeit vorzuschreiben.

Bei der Erarbeitung eines Religionsartikels müssten alle Religions- und Glaubensgemeinschaften vertreten sein. Dabei würden neue Probleme entstehen und weitere Forderungen erhoben: Sollen auch vereinnahmende Bewegungen, Psychoorganisationen, Sekten und neue religiöse Bewegungen14 einbezogen werden? Sollen Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung für Glaubensgemeinschaften umschrieben werden? Sollen Streitigkeiten bei der Bildung oder Trennung von Glaubensgemeinschaften geregelt werden? Haben die Angehörigen aller Glaubensgemeinschaften Anspruch auf eine Bestattung nach ihren religiösen Vorschriften?

Sollen die Gemeinden gezwungen werden, Sonderfriedhöfe für gewisse Religionsgemeinschaften vorzusehen? Wie weit dürfen religiöse Symbole öffentlich angebracht oder getragen werden? All diese Probleme konnten bisher im Einzelfall durch Auslegung der Religionsfreiheit oder durch kantonales Recht befriedigend gelöst 14

Vgl. Sektenbericht der GPK des Nationalrats vom 1. Juli 1999, BBl 1999 9884­9955.

4048

werden. Es kann und soll nicht Aufgabe der Bundesverfassung sein, diese Probleme zu regeln.

Die Erarbeitung eines Religionsartikels wird grosse Probleme schaffen: es könnten neue Gräben aufgerissen und weit grössere Emotionen geweckt werden als bei der ersatzlosen Aufhebung des Bistumsartikels.

7

Schlussfolgerungen

Mit der Aufhebung von Artikel 72 Absatz 3 BV fällt die Genehmigungspflicht des Bundes betreffend Errichtung und Neuumschreibung von Bistümern weg; in der Praxis hat die Bestimmung indes wenig bis keine Auswirkungen gezeitigt. Auf der Gewinnseite hingegen fällt eine Streichung von Artikel 72 Absatz 3 BV deutlich ins Gewicht, da die Bundesverfassung von einer grundrechtsverletzenden, diskriminierenden und völkerrechtswidrigen Bestimmung entlastet wird.

Eine unvoreingenommene Analyse von Sinn und Zweck der Bestimmung führt zum selben Schluss. Beim Bistumsartikel handelt es sich um ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert. Sachliche Gründe für die Beibehaltung der religiösen Sonderbestimmung lassen sich keine finden. Für die Beibehaltung der Genehmigungspflicht wird zum Teil vorgebracht, sie garantiere, dass der Heilige Stuhl in der Schweiz nur Bistümer errichten und verändern könne, wenn bei der Bestellung der Bischöfe den Lokalkirchen ein Mitspracherecht eingeräumt werde. Doch es ist ein Trugschluss zu glauben, der Bistumsartikel könne eine rechtliche Handhabe sein gegen Entscheide der römisch-katholischen Kirche in Fragen der Bischofswahl. Artikel 72 Absatz 3 BV befasst sich mit der Errichtung von Bistümern, nicht mit der Wahl der Bischöfe.

Im übrigen kann es auch nicht Aufgabe der Bundesverfassung sein, Probleme innerhalb der römisch-katholischen Kirche zu lösen.

4049

Anhang

Konkordate mit dem Heiligen Stuhl über Änderungen in den Bistumsverhältnissen 15 1848er Bundesverfassung: ­

Übereinkunft vom 11. Juni 1864 über die Einverleibung des alten Kantonsteils Bern in das Bistum Basel. Vertragspartner waren der Kanton Bern und der Heilige Stuhl. Der Bund beschränkte sich auf die Verhandlungsleitung.

­

Vertrag vom 23. Oktober 1869 über die Einverleibung der Gemeinden Poschiavo und Brusio in die Diözese Chur. Der Vertrag wurde vom Bundesrat allein in seinem Namen unterzeichnet.

1874er Verfassung: ­

Verträge vom 1. September 1884 über die kirchlichen Verhältnisse im Kanton Tessin und im Bistum Basel. Diesen Vertrag (sowie die zwei folgenden vom 16. März 1888 und vom 24. Juli 1968) schloss der Bundesrat gleichzeitig in seinem Namen und in jenem des Kantons ab.

­

Vertrag vom 16. März 1888 über die endgültige Regelung der kirchlichen Verhältnisse im Kanton Tessin.

­

Vereinbarung vom 24. Juli 1968 zur Trennung der apostolischen Administratur des Tessins von der Diözese Basel und Wandlung in eine eigene Diözese des Tessins.

­

Vereinbarung vom 2. Mai 1978 (Zusatz-Vereinbarung zum Basler Bistumskonkordat vom 26. März 1828, ratifiziert am 19. Juli 1978), womit die katholische Bevölkerung der Kantone Basel-Stadt, Basel-Land sowie Schaffhausen definitiv dem Bistum Basel zugeordnet wurde. Auch diesen Vertrag schloss der Bundesrat gleichzeitig in seinem Namen und in jenem der Kantone ab.

­

Zusatzvereinbarung vom 13. Mai 1981 über den Beitritt des Kantons Jura zum Bistum Basel (in der Form eines Notenaustausches zwischen dem EDA und der Apostolischen Nuntiatur in der Schweiz).

11026

15

Aufstellung bei Gut, a.a.O., S. 16 f.; vgl. auch Häfelin in Kommentar BV, Art. 50, Rz. 49.

4050