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Parlamentarische Initiative Volksinitiativen. Abstimmungsverfahren Bericht der Kommission des Nationalrates vom 13. Februar 1980

Sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, Nationalrat Muheim unterbreitete am 13. Dezember 1978 einen ausgearbeiteten Beschlussesentwurf zur Änderung der Bundesverfassung (Art. 121 Abs. 6 und 123 Abs. 1) und einen Gesetzesentwurf zur Änderung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte (Art. 15 Abs. 3 und Art. 76). Nach Auffassung des Initianten enthält das heute geltende Verfahren bei Doppelabstimmungen über Volksinitiativen mit einem Gegenvorschlag schwerwiegende Unzulänglichkeiten. Es bestehe die grosse Gefahr, dass beide Vorstösse verworfen würden, obschon sich eine eindeutige Mehrheit des Volkes für eine Veränderung gegenüber dem geltenden Recht aussprechen möchte.

Die mit der Prüfung der parlamentarischen Initiative von Nationalrat Muheim beauftragte Kommission hat einen Gegenentwurf ausgearbeitet, den sie gemäss Artikel 21octles des Geschäftsverkehrsgesetzes dem Bundesrat zur Stellungnahme überweist und sämtlichen Mitgliedern des Rates zur Kenntnis bringt.

Die Kommission liess sich gründlich dokumentieren und führte am 30. April 1979 eine erste Sitzung durch, an welcher sie den Urheber des Vorstosses anhörte und eine Grundsatzdebatte abhielt. Am 28. Mai 1979 studierte eine Subkommission auf Grund eines Berichts des Rechtsdienstes der Bundeskanzlei eine Reihe von Lösungsmöglichkeiten. Gleichzeitig bereitete sie die auf den 28. August 1979 angesetzte Anhörung dreier Experten vor.

Am 23. Oktober 1979 wurde ein im Rahmen der Kommission ausgearbeiteter Gegenentwurf in einer Eventualabstimmung mit 8 zu 7 Stimmen der Initiative Muheim vorgezogen. In der Hauptabstimmung - hier war zwischen dem Gegenvorschlag und der Beibehaltung des Status quo zu entscheiden - wurde die Kommissionsinitiative mit 8 gegen 2 Stimmen, bei 5 Enthaltungen, gutgeheissen.

Die Kommission war einhellig der Auffassung, dass das heutige Abstimmungsverfahren mit dem Verbot des «doppelten Ja» unbefriedigend ist. Wiederholt sind in jüngster Zeit Revisionsvorhaben in den Abstimmungen gescheitert, wenn der Stimmbürger gleichzeitig über eine Volksinitiative und einen Gegenvorschlag zu befinden hatte. Für die Kommission stand ausser Frage, dass das Abstimmungsverfahren die Befürworter einer Neuerung aufspaltet, ohne dass ihnen Gelegenheit geboten wird, sich auf einen Gegenvorschlag zur Initiative zu einigen. Die Mehrheit der Kommission möchte diesen unbefriedigenden Zu1980-167

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stand durch eine zeitlich gestaffelte Eventualabstimmung verbessern. Wenn zu einer Volksinitiative ein Gegenvorschlag der Bundesversammlung unterbreitet wird, dann soll in einer Vorabstimmung - unter Verzicht auf das Ständemehr das Volk darüber entscheiden, ob es der Initiative oder dem Gegenvorschlag den Vorzug geben will. In der Hauptabstimmung - sie hätte innert sechs Monaten nach der Vorabstimmung stattzufinden - müssten dann Volk und Stände definitiv über die Annahme oder Verwerfung des in der Vorabstimmung gutgeheissenen Entwurfs befinden.

Während der Entwurf der Kommissionsmehrheit dem Stimmbürger um den Preis zweier Abstimmungen die Möglichkeit verschafft, zwischen Initiative und Gegenvorschlag zu gewichten, kommt die Initiative Muheim mit einer einzigen Abstimmung aus. In dieser Abstimmung wäre das «doppelte Ja» zugelassen.

Erreichen sowohl die Initiative als auch der Gegenvorschlag das Volks- und Ständemehr, dann soll die Initiative in Kraft treten. Mit dieser rechtlichen Privilegierung der Initiative wollte sich die Kommissionsmehrheit nicht abfinden.

Die Kommission beauftragt den Bundesrat mit der Durchführung eines Vernehmlassungsverfahrens bei den Kantonen und den interessierten Organisationen (Art. 27 Abs. 4 GRN).

Beilagen 1 2 3

Text und Begründung der Initiative von Nationalrat Muheim Erlassesentwürfe der Kommission Erwägungen der Kommission

Anträge Die Kommissionsmehrheit beantragt, die Initiative abzuschreiben und ihren Gegenvorschlag anzunehmen.

Der Initiant hält an seinem Vorstoss fest.

13. Februar 1980

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Namens der Kommission Der Präsident: Cevey

Beilage l I

Text und Begründung der Initiative

II

Text der Initiative vom 13. Dezember 1978

Gestützt auf Artikel 21bls GVG unterbreite ich folgende parlamentarische Einzelinitiative in Form eines ausgearbeiteten Entwurfs: A

Die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Prüfung einer parlamentarischen Initiative, nach Einsicht in den Bericht der Kommission des Nationalrates vom 13. Februar 1980 D, und in die Stellungnahme des Bundesrates vom ...2\ beschliesst: Die Bundesverfassung wird wie folgt geändert: Art. 121 Abs. 6 6 Wird das Begehren in Form eines ausgearbeiteten Entwurfs eingereicht, so unterbreitet die Bundesversammlung die Initiative der Abstimmung von Volk und Ständen. Sie kann die Initiative zur Annahme oder Verwerfung empfehlen.

Lehnt sie die Initiative ab, so kann sie gleichzeitig für den Fall der Verwerfung der Initiative einen eigenen Gegenentwurf der Abstimmung unterbreiten.

Art. 123 Abs. l 1 Die revidierte Bundesverfassung beziehungsweise der revidierte Teil derselben treten in Kraft, wenn sie von der Mehrheit der an der Abstimmung teilnehmenden Bürger und von der Mehrheit der Kantone angenommen sind. Werden gleichzeitig die Volksinitiative und der Gegenentwurf der Bundesversammlung angenommen, tritt nur die Initiative in Kraft.

» BEI 1980 11395 « BEI 1980 II ...

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B

Die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, gestützt auf die Artikel 121 und 123 der Bundesverfassung, nach Prüfung einer parlamentarischen Initiative, nach Einsicht in den Bericht der Kommission des Nationalrates vom 13. Februar 1980 D, und die Stellungnahme des Bundesrates vom ... 2\ beschliesst: I

Das Bundesgesetz vom 17. Dezember 19763) über die politischen Rechte wird wie folgt geändert: Art. 15 Abs. 3 3

Änderungen der Bundesverfassung treten mit der Annahme durch Volk und Stände in Kraft, sofern die Vorlage nichts anderes bestimmt. Wird mit einer Volksinitiative gleichzeitig der Gegenentwurf der Bundesversammlung angenommen, tritt nur die Initiative in Kraft.

Art. 76 Abstimmung über Initiative und Gegenentwurf 1 Beschliesst die Bundesversammlung einen Gegenentwurf (Art. 27 Abs. 3 GVG), werden den Stimmberechtigten auf dem gleichen Stimmzettel folgende Fragen vorgelegt : a. «Wollen Sie die Volksinitiative annehmen?» b. «Für den Fall, dass die Volksinitiative verworfen werden sollte: Wollen Sie den Gegenentwurf der Bundesversammlung annehmen?» 2 Stimmzettel, auf denen eine oder beide Fragen mit Ja oder Nein beantwortet werden, sind gültig.

3 Eine Volksinitiative ist angenommen, wenn ihr mehr als die Hälfte der gültig Stimmenden und der Stände zustimmte.

4 Der Gegenentwurf der Bundesversammlung zu einer Volksinitiative tritt in Kraft, wenn ihm mehr als die Hälfte der gültig Stimmenden und der Stände zustimmte und die Volksinitiative zurückgezogen oder verworfen wurde.

II

Die vorstehenden Gesetzesänderungen treten in Kraft, sobald Volk und Stände die Änderung von Artikel 121 Absatz 6 und Artikel 123 Absatz l der Bundesverfassung gutgeheissen haben.

') BEI 1980 11395 BB11980 II ...

> SR 161.1

2 > 3

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12

Begründung

Am 13. Dezember 1978 habe ich, gestützt auf Artikel 21bls des Geschäftsverkehrsgesetzes eine parlamentarische Einzelinitiative in Form eines ausgearbeiteten Entwurfes eingereicht. Ich schlage darin vor, die Artikel 121 Absatz 6 und 123 Absatz l der Bundesverfassung sowie die Artikel 15 Absatz 3 und 76 des Bundesgesetzes über die politischen Rechte zu ändern. Die von mir vorgeschlagene Änderung bezieht sich auf das Abstimmungsverfahren für den Fall, dass die Bundesversammlung einer Volksinitiative einen eigenen Entwurf für eine Verfassungsänderung gegenüberstellt. Der Text meines Vorstosses ist den Mitgliedern des Nationalrates bzw. seiner Kommission zugestellt worden.

Zur Begründung meiner parlamentarischen Initiative mache ich folgende Ausführungen : 1. Mit der Einführung des Volksrechtes der Verfassungsinitiative im Jahre 1891 wurde den eidgenössischen Räten die Befugnis eingeräumt, einen eigenen Entwurf auszuarbeiten und diesen gleichzeitig mit dem Initiativbegehren der Abstimmung des Volkes und der Stände zu unterbreiten. Bis zum Jahre 1970 waren solche Doppelabstimmungen über Initiative und Gegenvorschlag sehr selten (1920, 1938, 1951, 1955), doch seit 1971 wurden die Bürger sechsmal vor diese Doppelfrage gestellt. Es handelte sich um folgende Gegenstände: 1972 Wohnungsbau, 1972 Alters-, Hinterlassenenund Invalidenvorsorge, 1974 soziale Krankenversicherung, 1976 Mitbestimmung, 1977 Staatsvertragsreferendum und 1977 Mieterschutz.

2. Diese Doppelabstimmungen Initiative-Gegenvorschlag erhielten aber nicht nur wegen ihrer Häufigkeit eine erhöhte Bedeutung, sondern sie gerieten immer wieder ins Schussfeld der Kritik, weil sich beim Abstimmungsverfahren schwerwiegende Unzulänglichkeiten ergaben. Nach der geltenden Regelung werden nämlich die beiden Vorlagen einander so gegenübergestellt, dass der Stimmende sich nur für die eine oder andere aussprechen kann. Er kann nicht zweimal ja stimmen, aber zweimal nein. Dadurch werden die Befürworter einer Änderung in zwei Gruppen gespalten, die von einer Minderheit von Reformgegnern dominiert werden können. Damit eine der beiden Vorlagen angenommen ist, braucht es zudem das absolute Mehr der Stimmen. Jede Ja-Stimme für die Initiative gilt als Nein für den Gegenvorschlag und umgekehrt. Diese Aufspaltung der Ja-Stimmen und Kumulierung der Nein-Stimmen wirkt
sich nicht nur auf das Volksmehr, sondern auch auf das Ständemehr aus. Das Ergebnis der Volksabstimmung gilt nämlich in jedem Kanton als Standesstimme.

3. So kann beim geltenden Abstimmungsverfahren bei Initiative und Gegenvorschlag der Volkswille verfälscht werden. Es besteht heute die grosse Gefahr, dass Initiative und Gegenvorschlag verworfen werden, obschon sich eine Mehrheit des Volkes für eine Revision ausspricht, und nur eine Minderheit gar keine Änderung will. In diesem Falle bleibt aber ein echtes Problem, das eine Mehrheit des Volkes lösen möchte, weiterhin ungelöst.

Solche Null-Entscheide stellen unsere demokratischen Einrichtungen in Frage und schüren das Malaise gegenüber Staat und Behörden.

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4. Dieser Mangel des heutigen Abstimmungsverfahrens ist nicht nur theoretischer Natur, sondern hat sich in den letzten Jahren wiederholt bei wichtigen Fragen ausgewirkt. So wurden bei den Abstimmungen über die soziale Krankenversicherung, über die Mitbestimmung und über den Mieterschutz sowohl die Initiativen als auch der Gegenvorschlag verworfen. Es kam somit ein negatives Resultat heraus, obschon die Mehrheit der Stimmenden eine Reform befürworteten. Für die drei genannten Abstimmungen lautete das Ergebnis wie folgt: a. Soziale Krankenversicherung Gültige Stimmzettel Absolutes Mehr Ja-Stimmen für Initiative Ja-Stimmen für Gegenvorschlag .

Total Ja-Stimmen b. Mitbestimmung Gültige Stimmzettel Absolutes Mehr Ja-Stimmen für Initiative Ja-Stimmen für Gegenentwurf...

Total Ja-Stimmen c. Mieterschutz Gültige Stimmzettel Absolutes Mehr Ja-Stimmen für Initiative Ja-Stimmen für Gegenvorschlag .

Total Ja-Stimmen

Nein-Stimmen (doppeltes Nein zulassig)

l 438 337 719169 384 155 457 923

1010103 833 179

842 078 l 457 959 728 980 472 094 431 690

966 140 974 695

903 784 l 886 434 943 218 796 825 777 604

l 043 798 944 806

l 574 429

5. Um solch unbefriedigende Resultate zu verhindern, habe ich bei der Beratung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte beantragt, die Bestimmungen über das Abstimmungsverfahren bei Volksinitiativen mit Gegenvorschlag so zu ändern, dass auch das doppelte Ja zulässig wäre. Wenn beide Vorlagen von Volk und Ständen angenommen würden, dann sollte diejenige mit der grösseren Zahl der Ja-Stimmen angenommen sein. Dem wurde vom Bundesrat entgegengehalten, dass das Volksmehr damit mehr Gewicht bekäme als das Ständemehr, was mit Artikel 123 der geltenden Bundesverfassung, der die beiden Mehre einander gleichsetze, unvereinbar sei. Ein Abweichen davon müsste auf Verfassungsstufe und nicht auf Gesetzesebene erfolgen. Aus diesen Überlegungen hat der Nationalrat damals meinen Antrag abgelehnt.

6. Da die Nachteile des geltenden Abstimmungsverfahrens bei Initiative Gegenvorschlag nach wie vor bestehen und inzwischen an zwei weiteren Beispielen krass in Erscheinung getreten sind, möchte ich die Frage, und

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zwar diesmal auf Verfassungs- und Gesetzesstufe, wiederum aufgreifen und einer Lösung zuführen. An Vorschlägen mangelt es nicht, nachdem besonders in den letzten Jahren zahlreiche Publikationen erfolgten. In der Öffentlichkeit ist eine grosse Diskussion in Gang gekommen. An die Neugestaltung des Abstimmungsverfahrens müssen verschiedene Erfordernisse gestellt werden. In erster Linie muss gewährleistet sein, dass der Wille der Mehrheit zum Ausdruck kommt. Sodann soll sich der Bürger differenziert äussern können, ob er der Initiative, dem Gegenvorschlag oder der geltenden Ordnung zustimmt. Das Verfahren muss aber für den Wähler einfach und verständlich sein. Und endlich darf die Ermittlung der Resultate nicht wesentlich erschwert werden. Das Ziel einer Revision des Abstimmungsverfahrens muss aber sein, dass der tatsächliche Volkswille eruiert wird.

7. Unter diesen Gesichtspunkten erscheint auf den ersten Blick ein Abstimmungsverfahren naheliegend, bei dem das doppelte Ja zulässig ist und eine Vorlage nicht das absolute Mehr aller abgegebenen, gültigen Stimmen aufweisen muss. Dieses System kommt in den Kantonen Zürich, Genf, Waadt und Basel-Stadt zur Anwendung. Den offensichtlichen Vorteilen dieses Verfahrens steht aber bei der Anwendung für eidgenössische Abstimmungen ein gewichtiges Bedenken entgegen. Das hängt zusammen mit dem doppelten Mehr des Volkes und der Stände, das gegeben sein muss.

Für den Fall der Annahme der Initiative und des Gegenvorschlages müsste das eine oder andere Mehr als ausschlaggebend bezeichnet werden, wodurch an deren Gleichwertigkeit gerührt würde. Aus staatspolitischen Überlegungen möchte ich daher meinen ursprünglichen Antrag zugunsten eines neuen Vorschlages zurückstellen.

8. Ausser dieser sogenannten Alternativabstimmung gibt es noch das sogenannte Eventualverfahren. Dabei können die Stimmberechtigten sich zu einer Eventual- und einer Hauptfrage aussprechen. Dieses Verfahren hat den Vorteil, dass die Stimmberechtigten ihre Meinung differenzierter zum Ausdruck bringen können. Dabei sind verschiedene Formen denkbar. Bei der einen wird zuerst über die Eventualfrage und nachher über die Hauptfrage entschieden. Es ist aber auf eidgenössischer Ebene kaum denkbar, dass diese beiden Abstimmungen an zwei verschiedenen Wochenenden durchgeführt werden, wie das in verschiedenen
Kantonen der Fall ist. Angesichts der ohnehin grossen Belastung der Stimmbürger kommen weitere eidgenössische Urnengänge nicht in Betracht. Es kommt daher nur eine Variante in Frage, bei der am gleichen Tage über alle Fragen entschieden wird. Da diese aber zum Teil einen hypothetischen Charakter haben, wird die Beantwortung für den Stimmbürger erschwert. Die Fragestellung muss daher möglichst vereinfacht werden, damit die Stimmberechtigten nicht überfordert sind. Die Stellung von zwei oder drei Fragen, wie sie in der Botschaft des Bundesrates zum Bundesgesetz über die politischen Rechte vom 9. April 1975 dargelegt sind, erscheinen als zu kompliziert. Die Abstimmungsfragen sollten vereinfacht werden. Das kann so geschehen, dass die Hauptfrage auf die Annahme der Initiative gerichtet und - für den Fall der Verwerfung der Initiative - die Eventualfrage auf Annahme des Gegenentwurfes gestellt wird. Wenn die Initiative von Volk und Ständen

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angenommen wird, dann tritt sie in Kraft ohne Rücksicht darauf, ob der Gegenentwurf ebenfalls angenommen oder verworfen ist. Ein angenommener Gegenentwurf erhält nur dann Rechtskraft, wenn die Initiative verworfen wird. Damit wird von Gesetzes wegen eine gewisse Präferenz zugunsten der Initiative festgelegt, was gerechtfertigt erscheint. Dafür entfällt bei Annahme beider Vorlagen die staatspolitisch heikle Höher- oder Minderbewertung des Volks- oder Ständemehrs. Das mit der parlamentarischen Initiative vorgeschlagene System erfüllt die eingangs erwähnten Anforderungen an das Abstimmungsverfahren bei Initiative und Gegenvorschlag.

Der Wille der Mehrheit und nicht einer Minderheit kommt zum Zuge. Die Fragestellung ist differenziert und doch einfach, und die Resultatsermittlung erfährt keine Erschwerung. Dieser Abstimmungsmodus wird übrigens auch in einer Variante des Vorentwurfes der Expertenkommission für eine Totalrevision der Bundesverfassung vorgeschlagen. Dadurch können die Nachteile des heutigen Abstimmungsverfahrens, insbesondere die Verfälschung des Volkswillens, beseitigt werden.

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Beilage 2 2

Erlassesentwürfe

Bundesbeschluss über das Abstimmungsverfahren

Entwurf

Die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Prüfung einer parlamentarischen Initiative, nach Einsicht in den Bericht der Kommission des Nationalrates vom 13. Februar 1980 D, und die Stellungnahme des Bundesrates vom ...2\ beschliesst: I

Artikel 121 der Bundesverfassung wird wie folgt ergänzt: Art. 121 Abs. 6 6 Wird das Begehren in Form eines ausgearbeiteten Entwurfs eingereicht, so unterbreitet die Bundesversammlung die Initiative der Abstimmung von Volk und Ständen. Sie kann die Initiative zur Annahme oder Verwerfung empfehlen.

Lehnt sie die Initiative ab, so kann sie diese zusammen mit einem eigenen Gegenentwurf dem Volk zur Vorabstimmung unterbreiten. In der Hauptabstimmung entscheiden Volk und Stände, ob die Bundesverfassung im Sinne des Vorentscheides geändert werden soll.

II 1

Dieser Beschluss untersteht der Abstimmung des Volkes und der Stände.

Er wird vom Bundesrat gleichzeitig mit dem Bundesgesetz über das Abstimmungsverfahren in Kraft gesetzt.

2

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» BB11980 11395 ) BEI 1980 II ...

2

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Bundesgesetz über das Abstimmungsverfahren

Entwurf

Die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, gestützt auf Artikel 121 der Bundesverfassung, nach Prüfung einer parlamentarischen Initiative, nach Einsicht in den Bericht der Kommission des Nationalrates vom 13. Februar 1980 D, und die Stellungnahme des Bundesrates vom ...2>, beschliesst: I

Das Bundesgesetz vom 17. Dezember 19763) über die politischen Rechte wird wie folgt geändert: Art. 76 Abstimmung über Initiative und Gegenentwurf 1 Beschliesst die Bundesversammlung einen Gegenentwurf (Art. 27 Abs. 3 GVG), so werden den Stimmberechtigten in einer Vorabstimmung auf dem gleichen Stimmzettel folgende Fragen vorgelegt: - Ziehen Sie die Volksinitiative dem Gegenentwurf vor?

oder - Ziehen Sie den Gegenentwurf der Volksinitiative vor?

2 In der Vorabstimmung sind nur Stimmzettel gültig, welche die eine der beiden Fragen mit «Ja» beantworten.

3 Zur Hauptabstimmung gelangt jene Vorlage, die die Mehrheit der in der Vorabstimmung gültigen Ja-Stimmen erreicht.

4 Die Hauptabstimmung findet spätestens sechs Monate nach der Vorabstimmung statt.

5 Eine Änderung der Bundesverfassung ist angenommen, wenn ihr mehr als die Hälfte der gültig Stimmenden und der Stände zustimmt.

!) BEI 1980 11395 > BB11980 II ...

> SR 161.1

2 3

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Abstimmungsverfahren

II

Das Geschäftsverkehrsgesetz1) wird wie folgt geändert: Art. 27 Abs. 3 zweiter und dritter Satz 1 ... Gleichzeitig kann sie dem Volk einen von ihr selbst ausgearbeiteten, die nämliche Verfassungsmaterie beschlagenden Revisionsentwurf zur Vorabstimmung unterbreiten. In 'der Hauptabstimmung entscheiden Volk und Stände, ob die Bundesverfassung im Sinne des Vorentscheides geändert werden soll.

III 1 2

Dieses Gesetz untersteht dem fakultativen Referendum.

Der Bundesrat bestimmt das Inkrafttreten.

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J

) SR 171.11

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Beilage 3 3

Erwägungen der Kommission

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Kommissionsarbeit

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Grundsätzliche Problematik

Angesichts der Bedeutung der direktdemokratischen Institutionen für unser Land hat die Kommission das Anliegen der Initiative Muheim mit besonderer Sorgfalt geprüft. Sie kam dabei zum Schluss, dass das heutige Abstimmungssystem bei Volksinitiativen mit einem Gegenvorschlag in jüngster Zeit wiederholt zu unbefriedigenden Ergebnissen führte. So ist anzunehmen, dass in den Abstimmungen über eine verfassungsmässige Neuordnung der Kranken- und Unfallversicherung vom 8. Dezember 1974 und über einen Mieterschutz vom 25. September 1977 eine grundsätzlich veränderungswillige Mehrheit von einer beharrenden Minderheit majorisiert wurde. Ob dies auch bei der Abstimmung über einen Verfassungsartikel zur Mitbestimmung vom 21. März 1976 zutraf, ist umstritten, weil die Meinungen darüber auseinandergehen, ob der Gegenvorschlag der Bundesversammlung in die gleiche Richtung zielte wie die Initiative.

In den beiden zuerst genannten Fällen hat sich aber deutlich gezeigt, dass das Verbot des «doppelten Ja» - das heisst die Unmöglichkeit, gleichzeitig für die Initiative und den Gegenvorschlag zu stimmen - zu einer Verfälschung der demokratischen Willensbildung führte. Während die Gegner jeder Änderung ihrer Auffassung durch ein doppeltes Nein Nachdruck verleihen können, müssen die in zwei Lager aufgespaltenen grundsätzlichen Befürworter einer Neuerung mit einer Niederlage rechnen. Der Hinweis, die Initianten hätten es in der Hand, ihr Begehren zu Gunsten des Gegenvorschlages zurückzuziehen, vermag unter anderem deshalb nicht zu befriedigen, weil er den Entscheid einfach dem Initiativkomitee überlässt und den Stimmbürger an einer Stellungnahme hindert.

Die Kommission war sich darin einig, dass eine Neuordnung des Abstimmungsverfahrens einer Reihe von zum Teil gegensätzlichen Zielen genügen müsste. Es käme insbesondere darauf an, - dem Stimmberechtigten die Möglichkeit zu bieten, seinen Willen unverfälscht und differenziert zu äussern ; - das Verfahren einfach und verständlich zu gestalten und den Stimmbürger nicht zu verwirren; - am Prinzip der doppelten Mehrheit von Volk und Ständen für Verfassungsänderungen festzuhalten ; - den Aufwand für Volksabstimmungen in vernünftigen Grenzen zu belassen.

Als wichtige, aber nicht um jeden Preis zu realisierende Kriterien betrachtete die Kommission die Einheit des Abstimmungstermins und die völlige Gleichbehandlung von Initiative und Gegenentwurf.

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Frühere Lösungsvorschläge auf Bundesebene

Nach heutigem Verfassungsrecht kann die Bundesversammlung einem Initiativbegehren in der Form des ausgearbeiteten Entwurfs einen eigenen Entwurf gegenüberstellen und diesen gleichzeitig mit dem Initiativbegehren der Abstimmung des Volks und der Stände unterbreiten (Art. 121 Abs. 6 BV). Ein Revisionsvorschlag muss, um in Kraft zu treten, die absolute Mehrheit der gültig Stimmenden und der Stände auf sich vereinigen (Art. 123 BV). Ausser einer generellen Verweisung auf die Gesetzgebung (Art. 122 BV) enthält die Verfassung keine eingehenderen Vorschriften.

In den eidgenössischen Räten herrschte bei der Beratung dieser Materie die Meinung vor, das Abstimmungsverfahren zwischen Gegenentwurf und Initiative würde auf Gesetzesstufe als Eventual- und Hauptabstimmung ausgestaltet. Dieses Verfahren wurde vom Bundesrat in seiner Botschaft vom 22. Juli 1891 zu einem Initiativengesetz auch vorgeschlagen: «Nach reiflicher Prüfung dieser Frage haben wir uns der Überzeugung nicht verschliessen können, dass den wirklichen Willen der Mehrheit des Volkes einzig die eventuelle Abstimmung zu Tage zu fördern geeignet ist» (BB1 1891IV 11). Der Nationalrat und später auch der Ständerat - dieser allerdings nur, weil der Nationalrat an seinem Beschluss festhielt - lehnten die vorgeschlagene Regelung ab und entschieden sich für die heute geltende reine Alternativ ab Stimmung. Damit wird zwar die Fragestellung vereinfacht, zweifelhaft bleibt hingegen, ob eine unverfälschte Feststellung des Volkswillens noch möglich ist.

Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass das System der reinen Alternativabstimmung in der Literatur kaum Befürworter fand. Walter Burckhardt kritisierte, nicht jeder Bürger könne seine Meinung zum Ausdruck bringen; nach Schollenberger stellt die reine Alternativabstimmung dem schweizerischen Stimmbürger ein Armutszeugnis aus, während Jean-François Aubert dieses Verfahren als unvollkommen charakterisierte. Trotz allen Unzulänglichkeiten verpassten die Behörden im Jahre 1962 bei der Revision des Initiativengesetzes die Gelegenheit, eine befriedigendere Lösung einzuführen. Auf Mängel wurde zwar in der Botschaft des Bundesrates vom 25. April 1960 (BB1 1960 l 1442) hingewiesen, Alternativen wurden jedoch als «äusserst schwerfällig, zeitraubend und kostspielig» oder dann als «kompliziert» bezeichnet. Eine ähnliche
Haltung nahm der Bundesrat in der Botschaft zu einem Bundesgesetz über die politischen Rechte vom 9. April 1975 ein (BEI 197511355).

Das Parlament ist jeweils den Vorschlägen des Bundesrates gefolgt (Art. 8 und 9 des Initiativengesetzes vom 23. März 1962, AS 1962 789; Art. 76 des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 1976 über die politischen Rechte, SR 161.1).

Diese Beschlüsse des Parlaments und auch der Hinweis des Bundesrates, das gesamte Problem erst bei einer umfassenden Revision der Volksrechte wieder aufgreifen zu wollen, haben die Diskussion nicht versiegen lassen. Das Abstimmungsverfahren wurde in jüngster Zeit vermehrt wissenschaftlich erörtert. Überdies hat die Expertenkommission für die Totalrevision der Bundesverfassung eine Variante vorgelegt, wonach über die Initiative und gleichzeitig, für den Fall, dass sie abgelehnt wird, über den Gegenentwurf abzustimmen wäre (Art. 66 VE, Variante).

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Die Lage in den Kantonen

In den Kantonen zeigt sich die zunehmende Tendenz, dem Bürger bei Doppelabstimmungen über die Initiativen mit einem Gegenvorschlag eine differenzierte Stimmabgabe zu ermöglichen. Obschon die Kantone insofern in einer einfacheren Lage sind, als sie nicht einem doppelten Mehr von Volk und Gliedstaaten zu genügen haben, Hessen es bisher elf Kantone bei der blossen Alternativabstimmung bewenden (LU, SZ, OW, ZG, SO, GR, AG, TG, VS, FR, NE).

Gegenstandslos ist die Frage in den Landesgemeindekantonen (AR, AI, GL, NW). Die übrigen Stände verfügen über je spezifische Lösungen, die sie insgesamt als positiv beurteilen: Auf blosse Alternativabstimmungen mit zugelassenem doppeltem Ja beschränken sich die Kantone Zürich, Genf, Basel, Jura und neuerdings Bern.

Die Kantone Tessin und St. Gallen haben mit ihren Gesetzen über Referendum und Initiative eine Lösung realisiert, die den im Jahre 1891 vom Bundesrat entwickelten Prinzipien entspricht: Hier findet eine vorgezogene Eventualabstimmung statt. Der Kanton Schaffhausen lässt die Bürger zunächst nur über den Gegenvorschlag entscheiden und bringt die Initiative erst dann zur Abstimmung, wenn dieser Gegenvorschlag verworfen wird. Im Kanton Waadt haben sich die Bürger zuerst über die Grundsatzfrage auszusprechen, ob sie überhaupt eine Änderung des bestehenden Zustandes wünschen. Für den Fall einer Bejahung dieser Frage haben die Stimmberechtigten im selben Urnengang die Wahl zwischen Initiative und Gegenvorschlag zu treffen.

Die Kantone Basel-Landschaft und Uri kennen ein Verfahren mit bedingter Eventualabstimmung. Dieses System erlaubt das doppelte Ja, stellt aber für den Spezialfall, dass beide Vorlagen zustimmende Mehrheiten erhalten, eine Zusatzfrage. Der Stimmbürger soll sich hier darüber äussern können, welche der beiden Vorlagen er nun definitiv vorzieht.

Im Auftrag der Kommission wurden die Kantone mit vom Bundesrecht abweichenden Abstimmungsverfahren über ihre Erfahrungen befragt. Abgesehen von einer zurückhaltenden Bewertung des Kantons St. Gallen lauten sämtliche Berichte betont positiv.

314

Näher geprüfte Varianten

Die Kommission hat neben der bereits mit Text und Begründung vorgestellten Initiative Muheim (vgl. Beilage 1) und dem später zu kommentierenden Mehrheitsvorschlag eine Reihe von Lösungsmöglichkeiten näher untersucht.

Als Radikallösung bietet sich der Verzicht auf die Ausarbeitung von Gegenvorschlägen an. Ein solcher Verzicht wäre jedoch schlecht mit der hervorragenden Rolle des Parlaments im Gesetzgebungsverfahren zu vereinbaren und würde es überdies verunmöglichen, wenigstens mehrheitsfähige Teilaspekte der von den Initianten aufgeworfenen Anliegen zu realisieren.

Kaum in Betracht fällt auch eine Lösung, die das Initiativkomitee darüber entscheiden lassen will, ob die Initiative oder der Gegenentwurf dem geltenden Recht gegenübergestellt werden sollen. Ein solches Vorgehen würde das Prinzip 1408

der Doppelabstimmungen ebenfalls eliminieren und die Initianten zu Schiedsrichtern über eine Parlamentsvorlage aufwerten.

Ohne einschneidende Neuerungen für den Bürger versucht eine Lösungsvariante auszukommen, die am bisherigen, reinen Alternativabstimmungsverfahren samt dem Verbot des doppelten Ja festhält. Bei Verwerfung sowohl der Initiative als auch des Gegenentwurfs wäre jedoch von Amtes wegen zu prüfen, ob dieser Abstimmungsausgang auf das Verbot des doppelten Ja zurückzuführen ist. Dies wäre dann der Fall, wenn die Summe der Ja-Stimmen von Initiative und Gegenentwurf das absolute Mehr übersteigt. In dieser Situation könnte jene Vorlage, die mehr Ja-Stimmen auf sich vereinigen konnte, einer zweiten, gewöhnlichen Abstimmung unterbreitet werden. Dieses Modell ist mit der Ungewissheit behaftet, ob zwei Urnengänge stattfinden, und nimmt in Kauf, dass eine Hauptabstimmung nachträglich zu einer Eventualabstimmung umfunktioniert würde.

Längere Zeit hat sich die Kommission mit einer Variante beschäftigt, die von einer prozentualen Gewichtung des Volks- und Ständemehrs ausgeht. Das doppelte Ja wäre zugelassen. Erreichen sowohl die Initiative als auch der Gegenvorschlag das Volks- und Ständemehr, erzielt jedoch eine Vorlage das grössere Volks-, die andere das grössere Ständemehr, so wäre von Amtes wegen auszurechnen, welche Variante in Kraft tritt. Ausgangspunkt dieser Berechnung wäre die arithmetisch gleiche Gewichtung von Volk und Ständen mit je 100 Prozent.

Als neuer Verfassungstext akzeptiert wäre jene Vorlage, die eine grössere Prozentsumme an Volks- und Standesstimmen aufweist. Dieses Prozentsummenmodell, welches zwar der verfassungsrechtlich gebotenen Gleichstellung von Volkund Ständemehr nicht widerspricht, rief in der Kommission psychologischen Bedenken.

Eingehend hat sich die Kommission mit Vorschlägen befasst, die vom Bürger im Sinne der Entscheidungstheorie verlangen, die Vorlagen nach einer Art «Multiple-choice-System» in eine Rangordnung zu bringen. Obwohl der Stimmbürger auch in Alltagsentscheidungen vor der Aufgabe steht, zwischen drei möglichen Varianten eine Auswahl zu treffen, erschien der Kommission ein solches Präferenzordnungsverfahren in Volksabstimmungen als zu anspruchsvoll.

Dies gilt selbst dann, wenn der Stimmzettel vom Bürger keine Gewichtung mit Ziffern verlangt,
sondern ihm die Beantwortung vertrauter Abstimmungsfragen gestattet. Die Kommission war sich der Tatsache bewusst, dass ein Präferenzordnungssystem eine maximal differenzierte Stimmabgabe ermöglichen würde, hat jedoch die Gewichte zugunsten eines einfacheren Verfahrens gesetzt, weil sie dem Bürger die eindeutige politische Sanktionsmöglichkeit im Sinne einer Ja/Nein-Äusserung erhalten will (absolute Zustimmung).

Das in den Kantonen Basel-Landschaft und Uri praktizierte Verfahren mit bedingter Eventualabstimmung Hesse sich auf den Bund übertragen. Das Verfahren lässt das doppelte Ja für Initiative und Gegenvorschlag zu, stellt aber für den Spezialfall, dass beide Vorlagen durch Volk und Stände angenommen werden sollten, eine Zusatzfrage. Darin muss der Stimmbürger zum Ausdruck bringen, welche der beiden Änderungsvorschläge er nun vorzieht. Die Kommission wusste die Vorteile eines solchen Systems zu würdigen, entschloss sich aber im

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Interesse einer von Hypothesen freien Fragestellung für ein zweistufiges Abstimmungsverfahren.

Die von der Kommission am 28. August 1979 angehörten Experten kamen zu keinen einheitlichen Ergebnissen: Etienne Grisel, Professor für öffentliches Recht an der Universität Lausanne, stellte die Anforderungen zusammen, die von den Prinzipien der Demokratie und des Föderalismus her an ein Abstimmungsverfahren zu stellen sind. Er kam zum Schluss, dass ein System mit zeitlich vorgezogener Eventualabstimmung es dem Bürger am ehesten ermöglicht, seinen Willen unverfälscht und differenziert zu äussern. Die Nachteile eines zweimaligen Urnengangs müssten in Kauf genommen werden. Gert Meier, Mitarbeiter der Forschungsgemeinschaft für Nationalökonomie der Hochschule St. Gallen, stellte im Auftrag von Professor Walter Adolf Jöhr das Präferenzordnungssystem vor. In einem graphischen oder tabellarischen Rangordnungsverfahren könne der Bürger nicht nur ein Maximum an Präferenzen ausdrücken, dieses Verfahren gestatte überdies eine einfache, schnelle und fehlerfreie Auszählung mit einem Computer. Für ein modifiziertes Präferenzordnungssystem mit vereinfachter Fragestellung äusserte sich ebenfalls Alfred Nydegger, Professor an der Hochschule St. Gallen, in einem Schreiben an die Kommission.

Hans Stadier, damals Staatsschreiber des Kantons St. Gallen, kommentierte das in seinem Kanton praktizierte zweistufige Verfahren mit vorgezogener Eventualabstimmung und kam zum Schluss, das von Nationalrat Muheim vorgeschlagene Modell entspreche am ehesten den Gegebenheiten auf Bundesebene. Im gleichen Sinne äusserte sich Peter Gilg, Professor am Forschungszentrum für Schweizerische Politik der Universität Bern, in einem der Kommission zur Verfügung gestellten Argumentenkatalog.

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Grundzüge der vorgeschlagenen Lösung

Die Kommission war einhellig der Auffassung, dass Entscheidungen auf Verfassungsebene nicht allein durch die Mehrheit der Stimmbürger legitimiert werden können, sondern zugleich der Mehrheit der nach Grosse und Bevölkerungszahl ungleichen Kantone bedürfen. An dieses Prinzip soll nicht gerührt werden, wenn es um die definitive Neugestaltung des Verfassungsrechts geht.

Anders liegen die Dinge hingegen bei der Beantwortung der Eventualfrage.

Hier wird lediglich ein Vorentscheid im Verfahren getroffen, eine Art Vorwahl der in der massgebenden Abstimmung miteinander zu konfrontierenden Texte.

Werden in einer zeitlich vorgezogenen Eventualabstimmung Initiative und Gegenentwurf der Bundesversammlung einander gegenübergestellt, dann genügt es durchaus, das Volksmehr darüber entscheiden zu lassen, welche Variante in einem definitiven Urnengang Volk und Ständen vorzulegen ist. Solche Vorentscheide sind auch nach heutigem Verfassungsrecht in die alleinige Kompetenz des Volkes gestellt: Wenn beispielsweise eine Abteilung der Bundesversammlung die Totalrevision beschliesst und die andere nicht zustimmt, oder wenn 100 000 stimmberechtigte Schweizerbürger die Totalrevision der Bundesverfassung verlangen, so ist die Frage in beiden Fällen ausschliesslich dem Volk zur Abstimmung zu unterbreiten (Art. 120 Abs. l BV). Eine vergleichbare Regelung 1410

findet sich im Rahmen der Partialrevision (Art. 121 Abs. 5 B V): Wird ein Begehren auf Teilrevision der Verfassung in Form der allgemeinen Anregung gestellt und findet dieses nicht die Zustimmung der eidgenössischen Räte, so ist die Frage der Partialrevision dem Volk zur Abstimmung zu unterbreiten. Stimmt die Mehrheit der Bürger dem Begehren zu, dann hat die Bundesversammlung die Revision im Sinne des Volksbeschlusses an die Hand zu nehmen.

Für das alleinige Abstellen auf das Volksmehr in der Vorabstimmung sprechen aber noch andere Überlegungen: Wenn schon bei der Beantwortung der Eventualfrage Volks- und Ständemehr verlangt werden, würde die Mehrheit der Bürger, die in der Eventualabstimmung die doppelte Mehrheit geliefert haben, nicht begreifen, dass sie diesen gleichen Entscheid in einer zweiten Abstimmung nochmals mit Volks- und Ständemehr zu bestätigen haben. Dazu kommt die Möglichkeit, dass in der Eventualabstimmung die eine Vorlage am Volks- und die andere am Ständemehr scheitert, womit das Verfahren blockiert wäre. Eine Eventualabstimmung verfehlt ihren Zweck, wenn sie die Durchführung einer Hauptabstimmung nicht in jedem Fall sicherstellt.

Aus diesen Gründen entschloss sich die Mehrheit der Kommission, in der Vorabstimmung allein auf das Volksmehr abzustellen und nur jene Stimmzettel als gültig zu erachten, die sich mit einem Ja zur Initiative oder zum Gegenvorschlag darüber äussern, welche der beiden Vorlagen in die Hauptabstimmung gelangen soll.

Die Kommission hat sich eingehend mit dem Problem auseinandergesetzt, ob die Eventual- und Hauptfrage am gleichen Tag zum Entscheid gebracht werden soll oder ob die beiden Urnengänge zeitlich zu staffeln sind. Je nach dem gewählten Verfahren ändert sich auch die Fragestellung. Beim gleichzeitigen Entscheid muss der Bürger die Hauptfrage hypothetisch beantworten, da er das Ergebnis der Eventualabstimmung noch nicht kennt. Bei zeitlich gestaffelten Urnengängen fällt die Hypothese für die Hauptfrage dahin, da das Ergebnis der Eventualabstimmung bekannt ist. Im Interesse einer klaren Willensäusserung entschied sich die Kommission für ein zweistufiges Abstimmungsverfahren. Sie hat dabei durchaus bedacht, dass die Abstimmungstermine nicht ohne Not vermehrt werden sollten. In ihren Augen genügt es jedoch in den relativ seltenen Fällen einer
Doppelabstimmung, die Zahl der Geschäfte pro Abstimmungstag im Rahmen des jährlichen Abstimmungskalenders zu erhöhen. Die Kommission ist überzeugt, dass der Stimmbürger dadurch nicht überfordert wird.

Sie nimmt in Kauf, dass an zwei zeitlich auseinanderliegenden Abstimmungen zwar nicht genau die gleichen Bürger - aber doch insgesamt ein vergleichbar repräsentativer Querschnitt des Souveräns - teilnehmen.

Die Gefahr dass jemand aus taktischen Gründen in der Eventualabstimmung für die extremere Variante stimmt, um diese dann in der Hauptabstimmung umso leichter zu Fall zu bringen, möchte die Kommission nicht überschätzen.

Dies dürfte in parlamentarischen Abstimmungen leicht zu praktizieren sein, wird aber von Parteien und Verbänden bei der Ausgabe von Abstimmungsparolen im Interesse ihrer Glaubwürdigkeit kaum übernommen werden können.

Schwerer ins Gewicht fällt die vermehrte finanzielle Belastung, die sich für diese Organisationen aus einem zweimaligen Abstimmungskampf ergeben kann.

1411

Die Initiative Muheim böte demgegenüber den Vorteil, dass der ganze Fragenkomplex in einer einzigen Doppelabstimmung gelöst werden könnte. Diese wesentliche verfahrensmässige Vereinfachung geht einher mit einer unkomplizierten Fragestellung, die an der Gleichwertigkeit von Volks- und Ständemehr festhält und das doppelte Ja zulässt. Die Kommissionsmehrheit empfand es allerdings als Nachteil, dass der Stimmbürger weniger Präferenzen ausdrücken kann und dass Initiative und Gegenvorschlag verfahrensmässig nicht gleich behandelt werden. In den1 seltenen Fällen, in denen beide Vorlagen die doppelte Mehrheit von Volk und Ständen erreichen sollten, gilt Kraft Rechtsatzes die Initiative als angenommen. Die gegenteilige Lösung - eine rechtliche Privilegierung des Gegenvorschlages in Pattsituationen - erschien der Kommission als unzulässige Schmälerung des Initiativrechts. Allerdings ist davon auszugehen, dass das Modell Muheim materiell den Gegenvorschlag bevorzugt. Diese Auffassung äusserte auch Professor Gilg: Stimmbürger, die den Gegenvorschlag der Initiative vorziehen, würden sich kaum zur Bejahung der Initiative veranlasst sehen; wohl aber würden viele Befürworter der Initiative ein zweites Ja für den Gegenvorschlag einlegen, da sie damit die Initiative in keiner Weise gefährden, sondern nur für den Fall ihres Scheiterns eine weniger weitgehende Lösung retten könnten. Dabei wird stillschweigend vorausgesetzt, dass es sich um echte Gegenvorschläge handelt, die dem Anliegen der Initianten auf halbem Weg entgegenkommen.

33

Erläuterung des Entwurfs

331

Bundesverfassung

Artikel 121 Absatz 6 der Bundesverfassung bedarf insofern einer Ergänzung, als darauf hinzuweisen ist, dass das Volk bei Doppelabstimmungen über Initiativen mit einem Gegenentwurf in einer Vorabstimmung darüber befinden muss, welche Vorlage zur Hauptabstimmung gelangen soll.

Der Bundesrat hatte in der Botschaft zu einem Bundesgesetz über die politischen Rechte darauf hingewiesen, die Einführung einer Eventualabstimmung mit relativem Volksmehr komme einer wesentlichen Neuerung in unserem Abstimmungsverfahren gleich. Deshalb stelle sich die Frage, ob dafür eine Verfassungsrevision notwendig sei. Weil die Eventualabstimmung nicht mit dem entscheidenden Urnengang nach Artikel 123 der Bundesverfassung gleichgestellt werden dürfe und Artikel 122 die Bundesversammlung ermächtige, das Verfahren bei den Abstimmungen zur Revision der Verfassung näher zu regeln, erübrige sich die Schaffung einer neuen Verfassungsgrundlage (BB1197511354 f.).

Diese Rechtsauffassung steht im Widerspruch zu Artikel 121 Absatz 6 des Verfassungswortlauts, welcher davon spricht, Initiative und Gegenentwurf'der Bundesversammlung seien gleichzeitig der Abstimmung von Volk und Ständen zu unterbreiten. Wird eine zeitlich vorgezogene Eventualabstimmung eingeführt, in welcher das Volk diejenige der beiden Vorlagen auswählt, die in der definitiven Abstimmung Volk und Ständen vorzulegen ist, dann wird der heute gültigen Verfassungsvorschrift nicht Genüge getan. Es fehlt das Element der Gleichzeitigkeit, und, was schwerer ins Gewicht fällt, Volk und Stände können sich in 1412

der Hauptabstimmung nur noch zu einer Vorlage äussern, die dem bestehenden Rechtszustand gegenübergestellt wird.

Angesichts des Wortlauts der Verfassung, aber auch der staatspolitischen Bedeutung eines neugeordneten Abstimmungsverfahrens, ist die Kommission überzeugt, dass eine Verfassungsrevision unerlässlich ist.

332

Bundesgesetz über das Abstimmungsverfahren

Artikel 76 des Bundesgesetzes über die politischen Rechte regelt das Abstimmungsverfahren bei Initiative und Gegenentwurf. Beschliesst die Bundesversammlung einen solchen Gegenentwurf, dann werden den Stimmberechtigten (und nicht gleichzeitig den Standen) in einer Vorabstimmung die folgenden beiden Fragen vorgelegt: - Ziehen Sie die Volksinitiative dem Gegenentwurf vor?

oder - Ziehen Sie den Gegenentwurf der Volksinitiative vor?

In dieser Vorabstimmung sind nur Stimmzettel gültig, welche die eine der beiden Fragen mit «Ja» beantworten. Da es sich nur um einen Vorentscheid handelt, ist der Stimmbürger, der sowohl die Initiative als auch den Gegenvorschlag ablehnen möchte, in seinen Rechten nicht gekürzt. Sein Beharrungswille kann in der Hauptabstimmung ungeschmälert ausgedrückt werden.

Die Hauptabstimmung muss spätestens sechs Monate nach der Vorabstimmung stattfinden. Es handelt sich dabei um eine Ordnungsfrist. Die Mehrheit der Kommission ist der Auffassung, dass der zeitliche Zusammenhang zwischen Initiative und Gegenvorschlag gewahrt werden sollte. Der grosse administrative Aufwand und die beschränkte Zahl der Abstimmungstermine auf Bundesebene lassen es als unrealistisch erscheinen, die Hauptabstimmung in einem kurzen Abstand von nur wenigen Wochen auf die Vorabstimmung folgen zu lassen.

Der Normalfall sollte indessen sein, dass Volk und Stände am nächsten ordentlichen Abstimmungstermin über die in der Vorabstimmung siegreiche Vorlage befinden können.

Zwischen den beiden Abstimmungen findet keine weitere parlamentarische Debatte statt.

Artikel 27 Absatz 3 des Geschäftsverkehrsgesetzes bedarf einer inhaltlichen Angleichung an den neugefassten Artikel 121 Absatz 6 BV.

34

Schlussbemerkungen

341

Finanzielle und personelle Auswirkungen

Wenn die Vorschläge der Kommissionsmehrheit realisiert werden, ist im Falle von Doppelabstimmungen mit finanziellen Mehraufwendungen zu rechnen. Angesichts der Ungewissheit über die Zahl der künftigen Gegenvorschläge sind genaue Berechnungen allerdings schwierig. Der Aufwand dürfte sich in vertretbarem Rahmen halten, wenn die Zahl der Abstimmungstermine nicht vermehrt 1413

wird. Der heutige Zustand jedenfalls, der es oft verunmöglicht, die anstehenden Probleme (Kranken- und Unfallversicherung, Mitbestimmung) zu lösen, erweist sich in der Folge meistens als kostspieliger.

342

Verfassungsmässigkeit

Die verfassungsrechtliche Problematik wurde unter Ziffer 331 erschöpfend dargestellt.

7025

1414

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Parlamentarische Initiative Volksinitiativen. Abstimmungsverfahren Bericht der Kommission des Nationalrates vom 13. Februar 1980

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