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Schweizerisches Bundesblatt.

35. Jahrgang. III.

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Nr. 39.

4. August

1883.

Bundesrathsbeschluß über

den Rekurs des Fräuleins Katharine Booth aus England, betreffend ihre Ausweisung aus dem Kanton Genf.

(Vorn 24. Juli 1883.)

Der s c h w e i z e r i s c h e B u n d e s r a t h hat in Sachen des Fräuleins K a t h a r i n e B o o t h , zur Zeit iu Neuenburg (Schweiz), geb. 1859 zu Gateshead in England, Tochter der gegenwärtig in London wohnenden Eheleute William und Katharine Booth, gegen den Beschluß des Staatsrathes von Genf vom.2. März 1883, betreffend Ausweisung aus dem Gebiete des Kantons Genf ; nach angehörtem Berichte des eidg. Justiz- und Polizeidepartements und nach Einsicht der Akten, woraus sich ergeben : A. Fräulein Katharine Booth, welche im Laufe des Monats Dezember vorigen Jahres nach Genf gekommen war, erhielt unterm 29. Januar 1883 in Gemäßheit der Bestimmungen des Genfer Gesetzes über die Fremdenpolizei vom 9. Februar 1844 vom Justizund Polizeidepartemente des Kantons Genf gegen Abgabe ihres von der Regierung ihres Heimatlandes ausgestellten Reisepasses die Aufenthaltsbewilligung für das Gebiet des Kantons Genf auf die Dauer eines Jahres.

Am 12. Februar d. J. jedoch wurde ihr durch das genannte Regierungsdepartement diese Bewilligung wieder entzogen und ihr Bundesblatt. 35. Jahrg. Bd. III.

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402 die Weisung ertheilt, gleichen Tages vor sechs Uhi- Abends das Kantonsgebiet zu verlassen.

Diese Verfügung des Departementes stützt sieh in rechtlicher Beziehung auf § 5 des Artikels 27 des Fremdenpolizeigesetzes, zufolge welcher Bestimmung eine Aufenthaltsbewilligung zurückgezogen werden kann, wenn der Ertheilung derselben nachgehend solche dem Fremden zur Last fallende Thatsachen zur Kenntniß des Justiz- und Polizeidepartements gelangen, welche bei rechtzeitiger Kenntniß das Departement veranlaßt haben würden, die Aufenthaltsbewilligung zu verweigern. In thatsächlicher Beziehung wird sie damit begründet, daß von Seite des Departementes, nachdem Fräulein Katharine Booth die Ermächtigung zum Aufenthalt im Kanton Genf bereits erhalten hatte, in Erfahrung gebracht worden sei, daß die von ihr geleitete sogen. ,, H e i l s a r m e e " 1 im Kantonsgebiete mehrfache Geldsammlungen veranstaltet habe, ohne über deren Verwendung einen Ausweis zu leisten, obgleich Fräulein Booth wohl im Stande gewesen wäre, dieser Verpflichtung nachzukommen, da nach ihrer eigenen Aussage das Ergebniß der Sammlungen jeweilen in einem Buche eingetragen worden. Die Vorweisung dieses Buches habe jedoch trotz wiederholter amtlicher Aufforderung von ihr nicht erlaugt werden können. Ein solches Verhalten komme einem nicht unbedeutenden Einbruch der öffentlichen Ordnung gleich und könne unmöglich geduldet werden.

Bevor sie Genf verließ, richtete Fräulein Booth -- am 12. Februar -- gegen den Erlaß des Justiz- und Polizeidepartements eine Besehwerde an den Staatsrath des Kantons Genf. Sie berief sich in derselben darauf, daß sie selbst keinerlei Sammlungen gemacht habe, daß nicht sie die Rechnungen der ,,Heilsarmee" führe und in Händen habe, was von ihr bereits in ihren Verhören auseinandergesetzt worden sei. Sammlungen hätten übrigens jeweilen nur beim Ausgange aus den Versammlungslokalen der Heilsarmee stattgefunden und niemals von Haus zu Haus (quêtes à domicile). Es falle ihr demnach keine Handlung zur Last, welche die Behörde, wenn sie dieselbe früher gekannt hätte, zur Verweigerung der Aufeathaltsbewilligung hätte veranlaßen können, und sie verlange daher die Aufhebung der Ausweisungsverfügung des Justiz- und Polizeidepartements.

Nach Maßgabe von Artikel 5 des Genfer Fremdenpolizeigesetzes ernannte der Staatsrath einen
Kommissär -- der den Beamten des Justiz- und Polizeidepartements nicht angehören darf -- zur Einvernahme der Rekurrentin, in der Person eines seiner Mitglieder.

Fräulein Booth, die nach ihrer Ausweisung sich nach Lausanne begeben hatte, wurde eingeladen, zu diesem Zwecke in Genf vor

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dem Regiei'ungskommissär zu erscheinen, durch welchen sodann am 25. Februar ihre Einvernahme stattgefunden hat.

Am 2. März faßte der Staatsrath von Genf über den Rekurs von Fräulein Booth den nachfolgenden Beschluß : ,,Der S t a a t s r a t h ,,nach Einsicht des Rekurses von Fräulein Katharine Booth gegen die Ausweisungsverfügung des Justiz- und Polizeidepartements vom 12. Februar 1883, durch welche ihr die Ermächtigung zum Aufenthalt im Kantonsgebiete entzogen wurde; ,,in Betracht, daß Fräulein Booth offen erklärt, in Genf unter den Mitgliedern der ,,Heilsarmee" die höchste hierarchische Stellung einzunehmen ; ,,in Betracht, daß dieselbe auf Grund dessen für das Treiben (agissements) der unter ihren Befehlen stehenden Gruppe verantwortlich ist; ,,in Betracht, daß die ,,Heilsarmee11 die Ursache schwerer Unruhen geworden -ist und daß mehrere ihrer Mitglieder gegen den Beschluß des Staatsrathes vom 2. Februar 1883, der ihre Uebungen bis auf Weiteres untersagt, sich verfehlt haben; ,,in Anwendung von Artikel 28 des Gesetzes vom 9. Februar 1844, also lautend : .,,,,Der Staatsrath hat, kraft seiner obersten administrativen Gewalt, jederzeit das Recht, Fremde, deren Aufenthalt den Interessen des Landes oder der Sicherheit des Staates Eintrag thun könnte, aus dem Kanton wegzuweisen ;ttct ,,nach Anhörung der Berichterstattung des in Gemäßheit von Artikel 5 des Fremdenpolizeigesetzes vom 9. Februar 1844 ernannten Untersuchungskommissärs, beschließt, ,,den Rekurs von Fräulein Katharine Booth abzuweisen."

B. Ungefähr gleichzeitig mit der Rekurrentin, nämlich zwischen dem 10. und 15. Dezember 1882, waren noch folgende Ausländer nach Genf gekommen : 1) Fräulein Maud (Mathilde) Elisabeth Charlesworth, geb. 1865, Engländerin ; 2) Arthur Sydney Clibborn, geb. 1855, Irländer; 3) Alfred Zitzer, geb. 1864, Badenser; 4} Michael Eduard Bouillat, geb. 1861, Franzose; 5) Richard Greville Thonger, geb. 1861, Engländer; 6) Emil Vinot, geb. 1863, Franzose.

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Ihnen hatte sich angeschlossen Anna Furrer, geb. 1855, Schweizerin (Solothurnerin ; nach Angabe von Fräulein Booth Luzernerin).

Alle diese Personen sind Mitglieder der den Namen ,,Heilsarmee" (Salvation Army; Armée du Salut) führenden religiösen Gesellschaft, welche im Jahre 1865 in London ihren Anfang genommen hat und von William Booth, dem Vater von Fräulein Katharine Booth, gewesenem Pastor einer Kongregation der Wesleyanischen Kirche in England, gegründet wurde. Zuerst ,,Christliche Mission" genannt, wurde ihr im Jahre 1878 von ihrem Gründer der Name ,,Heilsarmee" beigelegt.

Die Armee steht unter dem Oberbefehl (Generalship) des Herrn William Booth. Ihre Organisation ist derjenigen eines militärischen Korps, einer Armee, nachgebildet.

Nach den von der Rekurrentin in einem Verhör vor dem Unterpolizeiinspektor in Genf am 8. Februa"? gemachten Eröffnungen bekleiden die oben genannten Personen folgende militärische Grade in der Heilsarmee, beziehungsweise in der in Genf funktionirenden Gruppe derselben : Fräulein Booth ist Marschallin, Fräulein Charlesworth ihre Adjutantin (aide-de-camp) ; Herr Clibborn hat den Rang eines Obersten, Herr Bouillat ist dessen Adjutant mit Hauptmannsgrad ; ebenso kommt dem Herrn Zitzer der Grad eines Hauptmanns zu; die Herren Thonger und Vinot sind Lieutenants, Jungfrau Anna Furrer ist Lieutenante.

Im Laufe der Monate Dezember 1882 und Januar 1883 hatte die Armee in Genf bereits zahlreiche öffentliche Versammlungen und Uebungen (die Rekurrentin sagt 73) in größern, Privaten oder Gesellschaften gehörenden Lokalen (wie z. B. in den Salles de la Reformation, du Casino, du Terraille, des Grottes etc.) abgehalten, als -- am 2. Februar 1883 -- der Staatsrath von Genf ,,mit Rücksicht auf die Aufregung, die sich der Bevölkerung infolge der Einladungen, Aufführungen und Uebungen der Heilsarmee bemächtigt habe und auf die daher rührenden, Besorgniß erregenden, täglich sich wiederholenden öffentlichen Ruhestörungen11 auf den Antrag des Justiz- und Polizeidepartements beschloß, die Uebungen der Heilsarmee bis auf Weiteres zu untersagen.

Auf eine Anfrage von Fräulein Booth, ob sich dieses Verbot auch auf Zusammenkünfte in Privatwohnungen zum Zwecke religiöser Uebungen, die auf die Einladung der betreffenden Hausbewohner hin stattfinden, erstrecke, wurde ihr vom Justiz- und
Polizeidepartement erwidert, daß die Schlußnahme des Staatsrathes eine formelle sei und daß das mit ihrer Vollziehung betraute Departements in keinerlei Form eine Theilnahme von Mitgliedern der Heilsarmee an solch-

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artigen Hebungen zulassen werde; Alle diejenigen, welche bereits dem staatsräthlichen Beschlüsse zuwidergehandelt haben oder in Zukunft noch demselben zuwiderhandeln sollten, würden aus dem Kantonsgebiete verwiesen werden.

Dieser Eröffnung Folge gebend, verfügte das gedachte Departement Sonntags, den 11. Februar, die Ausweisung von vier Mitgliedern (Chargirten) der Armee, nämlich des Hauptmanns und Adjutanten Bouillat, des Hauptmanns Zitzer, des Lieutenant Vinot und des Fräuleins Charlésworth, Adjutantin der Marschallin Booth.

C. Die Rekurrentin selbst hat, so viel aus den Akten ersichtlich ist, seit dem 2. Februar, dem Tage des Suspensionsbeschlusses des Staatsrathes, an keiner religiösen Versammlung mehr theilgenommen, bei welcher Mitglieder der Heilsarmee betheiligt waren.

Anders die oben, unter Litt. B benannten vier Mitglieder. Die von diesen besuchten Versammlungen hatten zwar, am 5., 7. und 8. Februar, in Privatwohnungen und, wie Fräulein Booth versichert, auf Privateinladung hin stattgefunden; es wurde jedoch dabei Jedermann freier Zutritt gewährt und zu derjenigen vom 7. Februar (in Cologny) waren sogar durch einen Dienstboten der Hauseigenthümerin Einladungen von Haus zu Haus ergangen.

Der Zusicherung, welche die Rekurrentin dem Polizeiinspektor am 8. Februar gab, daß die Anführer der Heilsarmee von nun an auch keinen Privateinladungen zu religiösen Zusammenkünften mehr Folge leisten werden, scheint nachgelebt worden zu sein ; wenigstens ist polizeiamtlich nachgewiesen, daß Fräulein Booth arn Abend jenes Tages den zu einer Vereinigung in einem Privathause in den EauxVives eingeladenen und erschienenen Hauptmann Zitzer wissen ließ, er habe sich aus derselben zu entfernen, und von weitern Fällen ist nirgends die Rede.

In Betreff der Kollekten, die jeweilen an den Ausgängen der Versammlungslokale vorgenommen wurden, hat die Rekurrentin in ihrem Verhöre vom 9., Februar vor dem Genfer Unter-Polizeiinspektor Benoit die Angabe gemacht, daß darüber nach Ablauf eines Vierteljahres seit dem Beginne ihres Aufenthaltes in Genf öffentlich werde Rechnung abgelegt werden ; die Rechnungsbücher ständen zur Verfügung des Justiz- und Polizeidepartements, sobald die momentan abwesende Sekretärin zurückgekekrt sein werde.

Die eingesammelten Gelder würden ausschließlieh zur Deckung von allgemeinen Kosten,
als der Kosten für Miethe, Verpflegung der Offiziere, Drucksachen u. s. f., verwendet. Niemand erhalte eine Besoldung. In einem folgenden Verhöre vor dem Polizeiinspektor Müller, am 12. Februar, erklärte Fräulein Booth, daß von ihr

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weitere diesbezügliche Aufschlüsse nicht ertheilt werden könnten, da ihre Sekretärin noch immer abwesend sei und sie nicht wisse, wann dieselbe zurück sein werde; sie persönlich beschäftige sich nicht mit den Schreibereien und könne daher über das Ergebniß der Kollekten, die übrigens immer in Gegenwart der Polizei stattgefunden und sofort aufgehört hätten, als ihnen von einem staatlichen Reglement über Kollekten Kenntniß gegeben worden, nichts mittheilen.

D. Mehrfache Polizeirapporte thun dar, daß wirklich, wie der Staatsrath von Genf in der Motivirung seines Beschlusses vom 2. Februar hervorhebt, im Laufe des Monats Januar durch das Auftreten und die Versammlungen der Heilsarmee eine tiefgehende und zu alltäglichen Störungen der öffentlichen Ruhe führende Aufregung der Bevölkerung erzeugt worden war, wobei freilich die persönliche Sicherheit der Anführer der Armee in erster Linie als gefährdet erschien und auch mehrfach thatsäehlich verletzt worden ist.

Eine Zuschrift des Herrn Dr. M. Olivet, Professor der Psychiatrie an der Universität Genf und Direktor der Irrenanstalt genannt L'Asile des Vernaies, an den Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements von Genf, d. d. 11. Februar 1883, besagt, daß in zwei frischen Fällen von Geistesverwirrung weiblicher Personen in Genf die Theilnahme an den Hebungen der Heilsarmee die Krankheit hervorgerufen habe, und es sprechen sich der genannte Experte, sowie der Inspektor des öffentlichen Gesundheitswesens des Kantons Genf, Herr Dr. Vincent, -- letzterer in einem Schreiben an den Justiz- und Polizeidirektor des Kantons Genf vom 12. Februar, -- mit aller Bestimmtheit dahin aus, daß die Uebungen (exercices) und Gebräuehe (procédés mis en pratique) der Heilsarmee auf den geistigen Zustand nervenkranker oder auch nur nervöser Personen, aus denen sich die Freunde derartiger ,,Aufführungen" (exhibitions) zumeist i'ekrutiren, von schlimmem Einflüsse sein müssen.

E. Gegen die Schlußnahme des Genfer Staatsrathes hat Fräulein Booth den Rekurs an die schweizerische Bundesbehörde ergriffen.

In ihrem aus Neuchâtel vom 19. April datirten, durch Vermittlung der englischen Gesandtschaft in Bern am 24. April 1883 dem schweizerischen Bundespräsidenten übergebenen Rekursmemorial an den Bundesrath legt die Rekurrentin das Hauptgewicht auf die Stipulationen des zwischen der
schweizerischen Eidgenossenschaft und Ihrer Majestät der Königin des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland abgeschlossenen Freundschafts-, Handels- und Niederlassung« Vertrages vom 6. September 1855. Zufolge den ße-

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Stimmungen dieser internationalen Vereinbarung hätten dieUnterthanen Ihrer britischen Majestät das Recht, in allen Kantonen der Schweiz unter den gleichen Bedingungen und auf demselben Fuße wie Schweizerbürger anderer Kantone sich aufzuhalten, und könnten folgerichtig auch nur in denjenigen Fällen aus einem Kanton weggewiesen werden, wo dies gegenüber einem Schweizerbürger aus einem andern Kanton zuläßig wäre. In einem solchen Falle aber befände sich die Rekurrentin selbst dann nicht, wenn angenommen werden wollte, sie sei wirklich für all' das persönlich verantwortlich, was die Genfer Behörden den Mitgliedern der Heilsarmee zur Last legen. Allein es könne ihr eine solche Verantwortlichkeit keineswegs aufgebürdet werden. Der Staatsrath von Genf wolle in ganz unhaltbarer Weise auf die bloße Annahme einer hierarchischen Rangstellung eine rechtliche Verantwortlichkeit der Rekurrentin für Handlungen gründen, die sie weder selbst vorgenommen, noch befohlen habe, die überdem von der Behörde ebenso wenig jemals genau bezeichnet und festgestellt worden seien, als wie die Akte, durch welche sie, die Rekurrentin, dazu beigetragen haben sollte, ·die Interessen des Landes und die Sicherheit des Staates in Gefahr zu bringen. Zu all' dem komme hinzu, daß die vom Staatsrath als ^schwere Unordnungen" bezeichneten Vorfälle ohne Ausnahme v o r dem Zeitpunkte (29. Januar) sich ereignet haben, in welchem ihr die Aufenthaltsbewilligung ertheilt wurde, also nicht hinterher als Gründe zürn Entzug dieser Bewilligung dienen können. Da übrigens die Motive des Staatsrathes ganz andere seien als diejenigen des Justiz- und Polizeidepartements, jene ihr aber nicht gemäß Artikel 5 des Genfer Frerndenpolizeigesetzes vom 9. Februar 1844 zur Vernehrnlassung mitgetheilt worden, so erscheine auch diese gesetzliche Garantie der Rekurrentin gegenüber als verletzt, wenn überhaupt -- was angesichts der vertragsmäßigen Gleichstellung der Engländer und der Schweizerbürger in Bezug auf Niederlassung und Aufenthalt in der Schweiz seit 1855, sowie im Hinblick auf die Artikel 45 und 70 der Schweiz. Bundesverfassung als sehr fraglich bezeichnet werden dürfe -- die Wegweisung eines britischen Unterthanen durch einfache Verfügung von K a n t o n a l behörden statthaft und die Bestimmungen eines kantonalen Polizeigesetzes in concreto anwendbar seien.
F. Der Staatsrath des Kantons Genf beschränkt sich in seiner Vernehmlassung vom 23. Mai 1883 auf eine gedrängte Darstellung der thatsächlichen Vorkommnisse. Er fügt bei, daß die ,,Heilsarmee" von der Ausbeutung leichtgläubiger Personen lebe, in ihren Satzungen und Einrichtungen (.,,Ordres et Règlements" ; Orders and Régulations, pagina 61 bis 64) diese Seite ihrer Thätigkeit systematisch

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geordnet und ausgebildet habe und deshalb unzweifelhaft im öffentlichen Interesse der kantonalen Verordnung vom 4. März 1879, betreffend die öffentlichen Sammlungen und Einzüge, unterstellt worden sei. Sowohl für die Zuwiderhandlung gegen diese staatliche Verordnung als für die vorgekommenen fortwährenden Unruhen und Ordnungsstörungen habe die Rekurrentin in der von ihr selbst beanspruchten obersten Rangstellung einer ,,Marschallin"' der Armee in erster Linie die Verantwortlichkeit zu tragen.

Nachdem der Staatsrath noch mit wenigen Worten den Ausführungen der Rekurrentin, betreffend die aus dem englisch-schweizerischen Niederlassungsvertrage resultirenden Rechtsverhältnisse, als irrthümlichen entgegengetreten, schließt er seinen Bericht mit dem Begehren, daß-der staatsräthliche Beschluß vom 2. März 1883 vom Bundesrathe aufrechterhalten und bestätigt werde möge; in E r w ä g u n g : 1) Nach einem allgemein anerkannten staatsrechtlichen Grundsatze, welchem sich das schweizerische Bundesrecht in Theorie und Praxis angeschlossen hat, sind die Bestimmungen eines zwischen zwei Ländern bestehenden Staatsvertrages als das internationale Gesetz zu betrachten, nach welchem sich die Rechtsverhältnisse der Bürger des einen Staates im Gebiete des andern richten. Der Rekurrentin, als einer Angehörigen des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland, steht deshalb ein unbestreitbarer Anspruch auf alle jene rechtlichen Vortheile zu, welche der zwischen der Schweiz und England am 6. September 1855 abgeschlossene Freundschafts-, Handels- und Niederlassungsvertrag den in der Schweiz sich aufhaltenden britischen Unterthanen zusichert.

2) Wenn auch der hier maßgebende Staatsvertrag die Gleichstellung der Angehörigen je des andern Staates in Bezug auf Aufenthalt und Wohnsitz mit den Bürgern des eigenen Landes zum internationalen Reehtsgesetze der vertragschließenden Theile erhoben hat, so ist doch wohl zu beachten, daß diese Gleichstellung (im allegirten Vertrage) nicht ohne Vorbehalt ausgesprochen wird.

Einmal sollen die Bürger und Unterthanen der beiden Staaten nur unter der Voraussetzung, daß sie ,, d e n L a n d e s g e s e t z e n Gen ü g e l e i s t e n " , die Gebietsteile je des andern Landes frei betreten und sich daselbst niederlassen, wohnen und bleibend aufhalten können (Artikel I, Alinea 2 des
Vertrages vom 6. September 1855). Sodann ist ausdrücklich vorgesehen, daß die Bürger oder Unterthanen des einen der kontrahirenden Staaten, welche in den Gebieten des andern wohnen oder niedergelassen sind, u. A.

auch ,,durch gerichtliches Urtheil oder d u r c h , auf g e s e t z l i c h e

409 Weise a n g e w e n d e t e u n d v o l l z o g e n e , P o l i z e i m a ß r e g e l n "· in ihre Heimat zurückgewiesen werden können (Art. II ibidem).

Durch diese, in allen, auch den neuesten Niederlassungsverträgen der Schweiz mit auswärtigen Staaten enthaltenen offenen Vorbehältnisse wird der Grundsatz der Gleichstellung der Ausländer io Bezug auf Niederlassung und Aufenthalt mit den Schweizerbürgern, beziehungsweise den betreffenden Kantonsbürgern, zu Ungunsten der Landesfremden erheblich beschränkt.

3) Die Ausführung der Rekurrentin, dahingehend, daß es, seitdem im Jahre 1848 die Eidgenossenschaft ihre internationalen Beziehungen ausschließlich in die Hände des Bundes gelegt habe, und im Hinblick auf die positive Bestimmung des (nunmehrigen) Artikels 70 (bis 1874 Artikel 57) der schweizerischen Bundesverfassung, nicht mehr in die Kompetenz der Kantone fallen könne Angehörige von Vertragsstaaten aus dem schweizerischen Gebiete zu verweisen, beruht auf einer irrthümlichen Auffassung des in Ansehung der Fremdenpolizei in der Schweiz herrschenden Rechtszustandes. Denn es kann nicht in Zweifel gezogen werden, daß die Santone selbstständig, neben dem Bunde, die Fremdenpolizei auf ihrem Gebiete auszuüben berechtigt sind. Ja es erscheint sogar die Anwendung der Polizeigewalt gegenüber Fremden durch die Kantone als die Regel, die Ausübung derselben durch den Bund als die Ausnahme. Es ist ein in der Doktrin und Praxis des schweizerischen Bundesstaatsrechtes fest eingebürgerter Satz, daß die Kantone zufolge ihrer Souveränetät (Artikel 3 der Bundesverfassung) berechtigt sind, Fremde aus polizeilichen Gründen, insbesondere wegen Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung, aus ihrem Gebiete wegzuweisen (vergi. Bundesblatt 1869, III, 566. 567, 568; 1870, I, 27; III, 60, 232 ff.; 1877, II, 527; 1879, II,'590 ; 1880, II, 603; 1881, IV, 306; 1882, II, 752; IV, l ff. BlumerMorel, Handbuch des Schweiz. Bundesstaatsrechtes II. 257; Dubs, Das öffentliche Recht der Schweiz. Eidgenossenschaft II. 197, 198).

4) Dagegen ist es richtig, daß die Polizeihoheit der Kantone gegenüber Fremden an den von der Eidgenossenschaft mit auswärtigen Staaten abgeschlossenen Verträgen, insbesondere den Niederlassungsverträgen, ihre bundesrechtliche Schranke findet. In dieser Richtung ist der Bundesrath durch Verfassung und Gesetz
berufen, darüber zu wachen, daß die Kantone von ihrer Polizeigewalt gegenüber den Angehörigen fremder Staaten nicht einen willkürlichen und unzuläßigen, d. h. vertragswidrigen Gebrauch machen (Bundesblatt 1. c.; Blumer-Morel 1. c.J.

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5) Wenn es nach diesen rechtlichen Feststellungen nicht mehr bezweifelt werden kann, daß das Fremdenpolizeigesetz des Kantons Genf vom 9. Februar 1844 weder infolge der Bundesverfassungen von 1848 und 1874, noch vermöge des englisch-schweizerischen Niederlassungsvertrages von 1855 etwas von seiner Rechtskraft eingebüßt hat, so fragt es sich nun allerdings, ob die Anwendung, welche die Kantonsbehörden von Genf irn konkreten Falle durch Ausweisung der Rekurrentin von dem mehrerwähnten Gesetze gemacht haben, durch die Thatsachen gerechtfertigt werde und ob dabei die gesetzlichen Formen und Garantien gewahrt worden seien.

6) In dieser Beziehung ist vorerst eine Formfrage zu erledigen.

Fräulein Booth beschwert, sich auch darüber, daß ihr nicht nach Artikel 5 des citirten Gesetzes die Gründe, welche den Staatsrath zur Bestätigung der Ausweisung bewegen haben, der Beschlußfassung vorgängig zur Vernehmlassung mitgetheilt worden seien.

Dieser Beschwerdepunkt erscheint jedoch deßwegen als unbegründet, weil die Ausweisung durch Departementalverfügung, aus, in Gemäßheit der allegirten Gesetzesstelle, der Rekurrentin bekannt gegebenen Gründen erfolgt war und es dem Staatsrathe durchaus frei stand, zur Rechtfertigung seines Beschlusses in Anwendung von Artikel 28 des Gesetzes und gestützt auf seine oberste Administrativgewalt sich seinerseits auch auf Gründe des öffentlichen Wohles oder der öffentlichen Ruhe und Sicherheit zu berufen, ohne daß diesfalls die nach Artikel 4 und 5 des Gesetzes für das Rekursverfahren betreffend eine Departementalverfügung vorgeschriebenen Formalitäten hätten beobachtet werden müssen.

7) In der Sache selbst muß anerkannt werden, daß die Genfer Staatsbehörde berechtigt war, die Ausweisung der Rekurrentin zu verfügen.

Fräulein Booth hat selbst die Erklärung abgegeben, daß sie als v,Marschallin"' unter den in Genf thätig gewesenen Mitgliedern der nach dem Vorbilde eines militärischen Korps geordneten sogen.

,,Heilsarmee" die höchste hierarchische Stellung einnehme. In Folge dessen ist sie auch für die Handlungen und das Treiben der unter ihren Befehlen stehenden Gruppe der ,,Armee" verantwortlich. Es war daher die Rekurrentin unzweifelhaft verpflichtet, über die in Genf in den öffentlichen Versammlungen der ,,Heilsarmee" veranstalteten allgemeinen Einzüge (Kollekten) der
Polizeibehörde vorbehaltslose und vollständige Rechenschaft abzulegen, was sie trotz wiederholter Aufforderung unterlassen hat, ohne sich darüber befriedigend zu verantworten. Ob nun die bezügliche Aufforderung von der Polizeibehörde auf Grund eines im Spezialfalle anwend-

411 baren Polizeiregleraentes oder kraft des unbestreitbaren polizeilichen Aufsiehts- und Kontroirechtes der Staatsbehörden in Betreff öffentlichen Sammlungen an sie ergangen war, ist hierorts nicht zu erörtern.

Da das vorn Justiz- und Polizeidepartement des Kantons Genf für seinen vom Staatsrath bestätigten Ausweisungsbeschluß angeführte Motiv die rekurrirte Maßregel hinreichend zu begründen vermag, so nimmt der Bundesrath davon Umgang, auf die in der Schlußnahme des Staatsrathes noch weiter geltend gemachten Motive einzutreten, beschlossen: 1. Der Rekurs von Fräulein Katharine Booth wird als unbegründet abgewiesen.

2. Dieser Beschluß ist der englischen Gesandtschaft in Bern zu Händen der Rekurrentin, sowie dem Staatsrathe des Kantons Genf schriftlich mitzutheilen, unter Aktenrückschluß an beide Theile.

B e r n , den 24. Juli 1883.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident:

L. Ruchonnet.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Blngier.

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