18.029 Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 2. März 2018

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf einer Änderung des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG).

Gleichzeitig beantragen wir Ihnen, die folgenden parlamentarischen Vorstösse abzuschreiben: 2012

M

09.3406

Kostenpflicht der Verfahren vor den kantonalen Versicherungsgerichten (N 12.4.11, Fraktion der Schweizerischen Volkspartei; S 27.2.12)

2013

M

12.3753

Revision von Artikel 21 ATSG (N 14.12.12, Lustenberger; S 17.9.13)

2014

M

13.3990

Eine nachhaltige Sanierung der Invalidenversicherung ist dringend notwendig (S 12.12.13, Schwaller; N 3.6.14; S 16.9.14)

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

2. März 2018

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Alain Berset Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

2016-2900

1607

Übersicht Das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungrechts (ATSG) enthält Regelungen, die vom Grundsatz her ­ abgesehen von der beruflichen Vorsorge ­ in allen Sozialversicherungszweigen zur Anwendung kommen.

Aufgrund verschiedener Revisionsanliegen aus dem Parlament, aus der Rechtsprechung und Lehre sowie aus der Vollzugspraxis sollen eine Reihe von Bestimmungen angepasst werden.

Ausgangslage Seit seinem Inkrafttreten im Jahr 2003 wurde das ATSG noch keiner eigenständigen Revision unterzogen. Da sich in den letzten Jahren zahlreiche Revisionsanliegen aus Parlament, Rechtsprechung, Vollzug und Wissenschaft summiert haben, erachtet der Bundesrat eine erste ATSG-Revision für notwendig, die inhaltlich drei Hauptachsen aufweist: ­

Verbesserungen bei der Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs: Um missbräuchlichen Bezug von Sozialversicherungsleistungen möglichst wirkungsvoll verhindern und bekämpfen zu können, sollen die Motionen 12.3753 (Lustenberger) und 13.3990 (Schwaller; zweiter Punkt) umgesetzt werden.

­

Anpassungen im internationalen Kontext: Im Bereich der Durchführung von internationalen Sozialversicherungsabkommen sind, insbesondere bedingt durch Aktualisierungen von Anhang II des Freizügigkeitsabkommens Schweiz­EU, verschiedene Anpassungen erforderlich.

­

Optimierungen des Systems und des Vollzugs des ATSG: Um System und Vollzug des ATSG weiter zu optimieren und aufgrund verschiedener Gerichtsentscheide sind diverse Anpassungen der Regressbestimmungen im ATSG sowie eine Anpassung bei der Rückerstattungsfrist im Bereich der beruflichen Vorsorge angezeigt. Zudem soll die Motion 09.3406 der SVPFraktion umgesetzt werden, mit der die Einführung einer generellen Kostenpflicht für die kantonalen sozialversicherungsrechtlichen Gerichtsverfahren gefordert wird. Schliesslich sollen punktuell einige weitere Anpassungen erfolgen, um das System zu optimieren und zu vereinheitlichen.

Inhalt der Vorlage ­

1608

Verbesserungen bei der Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs: Geldleistungen mit Erwerbsersatzcharakter sollen auch bei ungerechtfertigtem Nichtantritt des Straf- oder Massnahmenvollzugs sistiert werden können. Mit der hier vorgesehenen Regelung können Rentenzahlungen bei strafrechtlich verurteilten Personen auch dann (vorübergehend) eingestellt werden, wenn diese sich dem Vollzug einer Freiheitsstrafe entziehen. Heute darf die Rentenzahlung erst eingestellt werden, wenn sich der oder die Verurteilte tatsächlich im Straf- oder Massnahmenvollzug befindet.

Zudem sollen die Abläufe bei der Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs verbessert werden. Vorgeschlagen werden neue Bestimmungen über die vorsorgliche Einstellung von Leistungen bei begründetem Verdacht auf unrechtmässige Leistungserwirkung oder bei Meldepflichtverletzungen, über die Verlängerung der Frist für die Rückforderung unrechtmässig bezogener Leistungen, über die aufschiebende Wirkung von Beschwerden bei Leistungsverfügungen und über die Auferlegung der Mehrkosten infolge Bekämpfung des ungerechtfertigten Leistungsbezugs.

­

Anpassungen im internationalen Kontext: Aufgrund der Aktualisierung von Anhang II des Freizügigkeitsabkommens Schweiz­EU, welcher die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit im internationalen Verhältnis regelt, ist eine ausdrückliche Kodifizierung der innerschweizerischen Zuständigkeiten notwendig. Ebenfalls notwendig ist eine Anpassung der Verweisbestimmung im Familienzulagengesetz, welche das Koordinationsrecht im Rahmen dieses Gesetzes als anwendbar erklärt.

Im Rahmen der Anwendung von Anhang II des Freizügigkeitsabkommens werden die für den grenzüberschreitenden Datenaustausch verwendeten Papierformulare durch den elektronischen Datenaustausch abgelöst. Auch für den elektronischen Datenaustausch muss eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden, in der die Zuständigkeiten, die Errichtung von Informationssystemen und die Datenbekanntgabe geregelt werden.

Weiter soll die Praxis, wonach Sozialversicherungsabkommen vom fakultativen Referendum ausgenommen sind, soweit sie Bestimmungen enthalten, die nicht über das hinausgehen, wozu sich die Schweiz bereits in anderen vergleichbaren Staatsverträgen verpflichtet hat, in den einzelnen Sozialversicherungsgesetzen ausdrücklich festgelegt werden. Damit soll die notwendige gesetzliche Grundlage für die Praxis geschaffen werden, wonach bestimmte internationale Verträge betreffend die zwischenstaatliche Koordination der Sozialversicherungsgesetze vom fakultativen Referendum ausnimmt.

­

Optimierungen des Systems und des Vollzugs des ATSG: Die Regressbestimmungen sollen zur Vollzugserleichterung und infolge der aktuellen haftpflichtrechtlichen Rechtsprechung des Bundesgerichts angepasst werden, indem insbesondere die Mitwirkungspflichten der versicherten Personen verstärkt werden und der Katalog der regressierbaren Leistungen der Sozialversicherungen ergänzt wird. Infolge eines Urteils des Bundesgerichts soll zudem im Bereich der beruflichen Vorsorge klargestellt werden, dass es sich bei der Frist für die Rückerstattung zu Unrecht bezogener Leistungen um eine Verwirkungsfrist und nicht um eine Verjährungsfrist handelt.

Die Beschwerdeverfahren vor den kantonalen Sozialversicherungsgerichten sollen teilweise kostenpflichtig und an die allgemeinen Regeln des Verwaltungsrechts angepasst werden. So können Anreize zur Prozessverlängerung eliminiert und unnötige Gerichtsfälle vermieden werden.

1609

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

1608

1

Grundzüge der Vorlage 1.1 Ausgangslage 1.1.1 Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs 1.1.2 Anpassungen im internationalen Kontext 1.1.3 Optimierungen des Systems 1.2 Die beantragte Neuregelung 1.2.1 Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs 1.2.2 Anpassungen im internationalen Kontext 1.2.3 Optimierungen des Systems 1.3 Ergebnisse der Vernehmlassung 1.4 Abstimmung von Aufgaben und Finanzen 1.5 Rechtsvergleich, insbesondere mit dem europäischen Recht 1.6 Umsetzung 1.7 Erledigung parlamentarischer Vorstösse

1612 1612 1612 1614 1615 1616 1616 1618 1622 1625 1630 1631 1631 1631

2

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln 2.1 Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts 2.2 Änderung anderer Erlasse 2.2.1 Kompetenz der Bundesversammlung zur Genehmigung internationaler Verträge mit einfachem Bundesbeschluss 2.2.2 Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung 2.2.3 Bundesgesetz über die Invalidenversicherung 2.2.4 Bundesgesetz über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung 2.2.5 Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge 2.2.6 Freizügigkeitsgesetz 2.2.7 Bundesgesetz über die Krankenversicherung 2.2.8 Bundesgesetz über die Militärversicherung 2.2.9 Erwerbsersatzgesetz 2.2.10 Familienzulagengesetz 2.2.11 Arbeitslosenversicherungsgesetz 2.3 Koordinationsbedarf mit anderen Revisionsvorlagen

1632

Auswirkungen 3.1 Auswirkungen auf den Bund 3.1.1 Finanzielle Auswirkungen 3.1.2 Personelle Auswirkungen 3.2 Auswirkungen auf die Sozialversicherungen und ihre Organe

1654 1654 1654 1656 1656

3

1610

1632 1643 1643 1644 1646 1650 1650 1651 1651 1652 1652 1653 1653 1654

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3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 4

5

Auswirkungen auf den AHV-Fonds Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete Auswirkungen auf die Volkswirtschaft Auswirkungen auf die Gesellschaft Andere Auswirkungen

Verhältnis zur Legislaturplanung und zu Strategien des Bundesrates 4.1 Verhältnis zur Legislaturplanung 4.2 Verhältnis zu Strategien des Bundesrates Rechtliche Aspekte 5.1 Verfassungsmässigkeit 5.2 Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz 5.2.1 Instrumente der Vereinten Nationen 5.2.2 Instrumente der Internationalen Arbeitsorganisation 5.2.3 Instrumente des Europarats 5.2.4 Rechtsvorschriften der Europäischen Union 5.2.5 Vereinbarkeit mit internationalem Recht 5.3 Erlassform 5.4 Unterstellung unter die Ausgabenbremse 5.5 Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen 5.6 Datenschutz

1657 1657 1657 1658 1658 1658 1658 1659 1659 1659 1659 1659 1659 1660 1660 1661 1661 1661 1661 1662

Abkürzungsverzeichnis

1663

Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) (Entwurf)

1665

1611

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Botschaft 1

Grundzüge der Vorlage

1.1

Ausgangslage

Das Bundesgesetz vom 6. Oktober 20001 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungrechts (ATSG) enthält Regelungen, die vom Grundsatz her ­ abgesehen von der beruflichen Vorsorge ­ in allen Sozialversicherungszweigen zur Anwendung kommen. Seit seinem Inkrafttreten ist das ATSG zwar mehrfach im Rahmen einzelner Gesetzesänderungen im Sozialversicherungsbereich revidiert worden (so etwa bei der 5. IV-Revision2), nicht aber in einer eigenständigen Revision. In den letzten Jahren haben sich die Revisionsanliegen aus Parlament, Rechtsprechung, Vollzug und Wissenschaft derart gehäuft, dass es angezeigt scheint, eine erste ATSG-Revision vorzunehmen, die inhaltlich drei Hauptachsen aufweist.

1.1.1

Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs

In jeder Versicherung kann es aus verschiedenen Gründen dazu kommen, dass versicherte Personen Leistungen beziehen, auf die sie eigentlich gar keinen Anspruch hätten. Oft handelt es sich dabei nicht um Betrug im juristischen Sinne; deswegen wird im Folgenden der nicht juristisch zu verstehende Begriff des «Versicherungsmissbrauchs» verwendet.

Die Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs ist längst nicht mehr nur ein Thema der Invalidenversicherung (IV). Aber nicht zuletzt aufgrund der in der IV geführten Diskussion über Versicherungsmissbrauch haben auch die anderen Sozialversicherungen ihre Bemühungen im Bereich der Missbrauchsbekämpfung verstärkt. Die angestrebten einheitlichen gesetzlichen Grundlagen dafür sollen deshalb im ATSG festgeschrieben und die Vereinheitlichung der Verfahrensvorschriften in den Sozialversicherungen verstärkt werden.

Seit dem Inkrafttreten der 5. IV-Revision am 1. Januar 2008 bekämpft die IV den Versicherungsmissbrauch aktiv und erfolgreich. Basierend auf den Erfahrungen aus der Privatassekuranz entwickelte die IV einen Prozess zur Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs, der konzeptionell in vier Phasen unterteilt werden kann: das Erkennen von Verdachtsfällen, spezielle Abklärungen und Ermittlungen, die Observation als letztes Mittel der Abklärung und Beweissicherung sowie die versicherungs- und strafrechtlichen Massnahmen. Die von der IV jährlich publizierten Fallzahlen zeigen die Effizienz wie auch die Notwendigkeit einer gut organisierten Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs. Im Jahr 2016 hat die IV in 1860 Fällen Ermittlungen wegen Verdachts auf Versicherungsmissbrauch aufgenommen und insgesamt 1950 Ermittlungen abgeschlossen. Dabei bestätigte sich der Verdacht in 650 Fällen, was eine Herabsetzung oder Aufhebung der Rentenleistung oder die 1 2

SR 830.1 AS 2007 5129

1612

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Nichtzusprache einer Neurente zur Folge hatte. Damit konnten insgesamt umgerechnet 470 ganze Renten eingespart werden. Daraus resultiert eine hochgerechnete Gesamteinsparung der IV von rund 178 Millionen Franken, bei Kosten von rund 8 Millionen Franken im Jahr 2016. Die Einsparungen bei den Ergänzungsleistungen oder in der 2. Säule sind dabei nicht berücksichtigt. Das Konzept der Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs und der verantwortungsvolle Umgang der IV-Stellen mit den neuen Instrumenten haben sich in der Praxis bewährt.

Der Bundesrat hatte im Vorentwurf zur Änderung des ATSG (VE-ATSG), den er am 22. Februar 20173 in die Vernehmlassung schickte, auch eine neue Gesetzesbestimmung betreffend Observationen vorgeschlagen (Art. 43a VE-ATSG), dies aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom 18. Oktober 20164 i.S. Vukota-Boijc gegen die Schweiz, gemäss dem im schweizerischen Sozialversicherungsrecht (im konkreten Fall in der Unfallversicherung) keine genügende gesetzliche Grundlage für die Durchführung von Observationen besteht. Diese Bestimmung wurde in der Zwischenzeit aus der vorliegenden Revisionsvorlage herausgelöst: Mit der parlamentarischen Initiative 16.479 der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates (SGK-S) «Gesetzliche Grundlage für die Überwachung von Versicherten» hat die SGK-S beschlossen, ihrerseits eine solche Bestimmung auszuarbeiten, um das Gesetzgebungsverfahren zu beschleunigen. Die parlamentarische Initiative wird im Moment in den Räten beraten.

In einem System obligatorischer (Volks-)Versicherungen ist dem Vertrauen von Politik und Bevölkerung in die einzelnen Sozialversicherungen grosse Bedeutung zuzumessen. Vertrauensbildend wirkt sich dabei nicht nur das Wissen um einen wirtschaftlichen und effizienten Vollzug aus, sondern auch das Wissen, dass der missbräuchliche Bezug von Leistungen möglichst ausgeschlossen werden kann.

Unter diesem Titel der Missbrauchsbekämpfung schlägt der Bundesrat in den folgenden Bereichen Massnahmen vor: Einstellung der Leistungen an Personen, die sich dem Strafvollzug entziehen: Auslöser der Motion Lustenberger 12.3753 «Revision von Artikel 21 ATSG» war ein Urteil des Bundesgerichts vom 30. August 20125. Das Bundesverwaltungsgericht hatte zuvor die Sistierung der Rente eines
strafrechtlich verurteilten IV-Rentners gutgeheissen, weil dieser den Strafvollzug durch Flucht ins Ausland nicht angetreten hatte. Die Beschwerde des IV-Rentners gegen dieses Urteil des Bundesverwaltungsgerichts wurde jedoch vom Bundesgericht im genannten Urteil gutgeheissen, dies mit der Begründung, dass die IV-Rente nach Artikel 21 Absatz 5 ATSG erst dann sistiert werden könne, wenn sich die Person im Vollzug befinde. Der IV-Rentner habe diesen aber nicht zum angeordneten Zeitpunkt angetreten. Um künftig solche Fälle zu verhindern, soll eine gesetzliche Grundlage dafür geschaffen werden, dass auch bei Personen, die sich dem Strafvollzug entziehen, bestimmte Sozialversicherungsleistungen eingestellt werden können.

3 4 5

Die Vernehmlassungsunterlagen sind abrufbar unter www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2017 > EDI.

Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Vukota-Boji gegen Schweiz vom 18. Okt. 2016 (Nr. 61838/10).

BGE 138 V 281

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Verbesserung der Abläufe bei der Missbrauchsbekämpfung: In der Sommersession 2013 ist die Vorlage zur 6. IV-Revision, zweites Massnahmenpaket6 (IV-Revision 6b) in der Differenzbereinigung im Parlament gescheitert. Im zweiten Massnahmenpaket zur 6. IV-Revision enthalten waren auch Bestimmungen zur Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs. Nach dem Scheitern der Vorlage wurde deshalb die Motion Schwaller 13.3990 « Eine nachhaltige Sanierung der Invalidenversicherung ist dringend notwendig» eingereicht. Sie verlangt in Punkt 2 eine Verbesserung der Abläufe bei der Betrugsbekämpfung, die in einer für alle Sozialversicherungen gemeinsamen Gesetzesgrundlage verankert werden soll. Die damals im Parlament unbestrittenen Punkte jener Vorlage, die im ATSG zu regeln sind, werden in die vorliegende Revisionsvorlage aufgenommen, womit der zweite Punkt der Motion Schwaller erfüllt werden soll.

1.1.2

Anpassungen im internationalen Kontext

Anhang II des Abkommens vom 21. Juni 19997 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (Freizügigkeitsabkommen; FZA) koordiniert die schweizerischen Sozialversicherungen mit den Sozialversicherungen der EU-Mitgliedstaaten.

Seit dem 1. April 2012, dem Inkrafttreten der 3. Aktualisierung von Anhang II FZA mit dem Beschluss Nr. 1/2012 des Gemischten Ausschusses vom 31. März 20128 sind die Zuständigkeiten der verschiedenen nationalen Stellen, die mit der Durchführung des europäischen Koordinationsrechts betraut sind, nicht mehr direkt in den Anhängen der Verordnung (EG) Nr. 883/20049 und der Verordnung (EG) Nr. 987/200910 geregelt, sondern können nur aus einem elektronischen Verzeichnis abgeleitet werden (Art. 88 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009). Aus Gründen der Rechtssicherheit und der Transparenz sollen die heutigen internationalen Zuständigkeiten der verschiedenen schweizerischen Sozialversicherungsstellen wie in anderen europäischen Staaten auch durch innerstaatliche Regelungen explizit kodifiziert werden, weshalb Konkretisierungen im nationalen Recht angezeigt sind.

Die für den grenzüberschreitenden Datenaustausch verwendeten Papierformulare zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit im internationalen Verhältnis (Anwendung von Anhang II FZA) werden zunehmend durch den elektronischen Datenaustausch abgelöst. Diese Umstellung auf den elektronischen Datenaustausch 6 7 8 9

10

Geschäftsnummer 11.030 SR 0.142.112.681 AS 2012 2345 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit., ABl L 166 vom 30.4.2004, S. 1; eine unverbindliche, konsolidierte Fassung dieser Verordnung ist veröffentlicht in SR 0.831.109.268.1.

Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (mit Anhängen), ABl. L 284 vom 30.10.2009, S. 1; eine unverbindliche, konsolidierte Fassung dieser Verordnung ist veröffentlicht in SR 0.831.109.268.11.

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setzt auf bestimmten Gebieten eine Anpassung der nationalen Informationsverarbeitung voraus. Die gesetzlichen Grundlagen für den (innerstaatlichen) Datenaustausch zwischen den für die Erfüllung internationaler Verpflichtungen zuständigen schweizerischen Stellen sowie mit den zuständigen Stellen im Ausland sind entsprechend zu präzisieren, ebenfalls sind die Verwendung der Daten und dieser Informationssysteme sowie deren Finanzierung zu regeln.

Ebenfalls im internationalen Kontext soll die vorliegende Revision zum Anlass genommen werden, eine Bestimmung einzuführen, mit der die Praxis betreffend die Befugnis der Bundesversammlung zur Genehmigung internationaler Sozialversicherungsabkommen mit einfachem Bundesbeschluss ausdrücklich kodifiziert wird. Der Bundesrat hatte dies, gestützt auf den Bericht des Bundesamts für Justiz vom 29. August 201411 «Fakultatives Staatsvertragsreferendum: Entwicklung der Praxis des Bundesrates und der Bundesversammlung seit 2003» über die Anwendung von Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 der Bundesverfasssung12 (BV) zum fakultativen Referendum, mit Beschluss vom 22. Juni 2016 verlangt.

Aufgrund von Aktualisierungen von Anhang II FZA ist zudem eine Anpassung der Verweisbestimmung im Familienzulagengesetz vom 24. März 200613 (FamZG), welche das Koordinationsrecht im Rahmen des FamZG als anwendbar erklärt, notwendig.

1.1.3

Optimierungen des Systems

Schliesslich werden in dieser Vorlage verschiedene Revisionspunkte aufgegriffen, die unter sich keinen grösseren inneren Zusammenhang aufweisen, sich aber dem gemeinsamen Zweck zuordnen lassen, System und Vollzug des ATSG weiter zu optimieren: Infolge der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind mehrere Anpassungen bei den Regressbestimmungen im ATSG erforderlich. So soll insbesondere die Durchführung des Regresses erleichtert werden, indem die Mitwirkungspflichten der versicherten Personen verstärkt werden; daneben soll infolge der jüngeren haftpflichtrechtlichen Rechtsprechung des Bundesgerichts Artikel 74 ATSG ergänzt werden, der den nicht abschliessenden Katalog an regressierbaren Leistungen enthält.

Aufgrund des Bundesgerichtsurteils BGE 142 V 20 ist eine Klarstellung dahingehend erforderlich, dass es sich bei der Frist zur Rückerstattung von zu Unrecht bezogenen Leistungen in Artikel 35a Absatz 2 erster Satz des Bundesgesetzes vom 25. Juni 198214 über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG), analog zu Artikel 25 Absatz 2 ATSG, um eine Verwirkungs- und nicht um eine Verjährungsfrist handelt.

11

12 13 14

Der Bericht ist abrufbar unter: www.ejpd.admin.ch > Aktuell > News > Suche unter Stichworten nach: «Fakultatives Referendum bei internationalen Standardabkommen» > Medienmitteilung des Bundesrats vom 22.Juni 2016 einschliesslich Download-Link auf den Bericht (PDF-Format).

SR 101 SR 836.2 SR 831.40

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Die Motion der SVP-Fraktion 09.3406 «Kostenpflicht der Verfahren vor den kantonalen Versicherungsgerichten» verlangt die Einführung einer Kostenpflicht für die letztinstanzlichen kantonalen sozialversicherungsrechtlichen Gerichtsverfahren. Sie zielt darauf ab, Anreize zur Prozessverlängerung zu eliminieren und damit unnötige Gerichtsfälle zu vermeiden und die Gerichte zu entlasten. In den parlamentarischen Beratungen war die Motion in ihrem absoluten Wortlaut umstritten, insbesondere auch deshalb, weil mit einer wortgetreuen Umsetzung der Motion den Erfahrungen, die man mit der Einführung der Kostenpflicht in Verfahren nach dem Bundesgesetz vom 19. Juni 195915 über die Invalidenversicherung (IVG) gemacht hat, nicht Rechnung getragen werden kann. Der Bundesrat stellte damals in seinen Ausführungen vor dem Parlament in Aussicht, dass er bei Annahme der Motion dem Parlament eine differenziertere Gesetzesbestimmung vorlegen werde und insbesondere die Resultate der Umfrage bei den Gerichten zu den Erfahrungen mit der Einführung der Kostenpflicht in den IV-Verfahren berücksichtigen und auch dem Umstand Rechnung tragen werde, dass die Einführung einer Kostenpflicht beispielsweise für Verfahren im Zusammenhang mit Ergänzungsleistungen keinen Sinn machen würde, da diese Kosten aufgrund des Anspruchs auf unentgeltliche Rechtspflege ohnehin von den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern zu übernehmen wären.

Im Bereich der Militärversicherung sollen zwei Bestimmungen (Art. 9 Abs. 2 und Art. 105 des Bundesgesetzes vom 19. Juni 199216 über die Militärversicherung, MVG) aufgehoben werden, die bislang gegenüber dem ATSG abweichende Sonderregelungen enthalten, die heute nicht mehr als gerechtfertigt erscheinen. Damit sollen in diesen Teilbereichen die Regeln des ATSG Anwendung finden.

Schliesslich sind vereinzelte Anpassungen rein sprachlicher oder formeller Natur vorzunehmen, die bisher noch nicht vorgenommen wurden oder bei früheren Anpassungen versehentlich nicht aufgenommen wurden (vgl. Ziff. 2).

1.2

Die beantragte Neuregelung

1.2.1

Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs

Sistierung von Geldleistungen für rechtskräftig Verurteilte bei ungerechtfertigtem Nichtantritt bzw. verspätetem Antritt des Straf- oder Massnahmenvollzugs Heutige Situation Nach geltendem Recht kann eine Geldleistung mit Erwerbsersatzcharakter eingestellt werden, wenn sich der oder die Verurteilte im Straf- oder Massnahmenvollzug befindet (Art. 21 Abs. 5 ATSG). Mit dieser Bestimmung wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass Rentenbezügerinnen und Rentenbezüger während des Freiheitsentzuges nicht besser gestellt werden als Personen, die keine Rente beziehen und gewöhnlich einer Erwerbsarbeit nachgehen. Da Letztere während des Freiheitsent-

15 16

SR 831.20 SR 833.1

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zuges keiner Erwerbsarbeit nachgehen können, sollen auch Erstere keine Geldleistungen ausbezahlt werden, die Erwerbsersatzcharakter haben.

Im Bundesgerichtsurteil BGE 138 V 281 hatte das Bundesgericht zu entscheiden, ob einem rechtskräftig verurteilten IV-Rentenbezüger, der sich im Ausland aufhielt und den Strafvollzug unrechtmässig nicht antrat, die IV-Rente weiter ausbezahlt werden muss. Das Bundesverwaltungsgericht hatte dies verneint, unter anderem mit der Argumentation, dass eine versicherte Person aus einer rechtswidrigen Handlung keinen Nutzen ziehen können soll. Das Bundesgericht pflichtete in diesem Punkt der Vorinstanz zwar bei, kam aber trotzdem zum Schluss, dass dem Verurteilten die IVRente weiter bezahlt werden müsse, weil er sich eben noch nicht im Strafvollzug befand. Aufgrund des Wortlauts von Artikel 21 Absatz 5, wonach für die versicherte Person «während dieser Zeit», also während der Zeit des Straf- oder Massnahmevollzugs, die Auszahlung von Geldleistungen mit Erwerbscharakter eingestellt werden soll, sei davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die Rentensistierung nur für die Dauer des Freiheitsentzuges und nicht länger habe ermöglichen wollen.

Dieses Urteil veranlasste Nationalrat Lustenberger zu seiner Motion 12.3753 «Revision von Artikel 21 ATSG».

Neue Regelung Der oben dargelegte Sachverhalt wird allgemein als stossend empfunden und soll mit der Neuformulierung von Artikel 21 Absatz 5 ATSG in Zukunft verhindert werden. Die vorgeschlagene neue Regelung in Artikel 21 Absatz 5 des Entwurfs zur Änderung des ATSG (E-ATSG) ermöglicht die Einstellung von Geldleistungen mit Erwerbsersatzcharakter bei einer rechtskräftig verurteilten Person, die den Strafoder Massnahmenvollzug unrechtmässig nicht antritt. Massgebend für die Einstellung der Leistung ist dabei der Zeitpunkt, in dem die Strafe oder die Massnahme hätte angetreten werden müssen.

Verbesserung der Abläufe bei der Missbrauchsbekämpfung Heutige Situation Im Rahmen der praktischen Erfahrungen in der IV hat sich gezeigt, dass bei gewissen Verfahrenspunkten, die mit der Missbrauchsbekämpfung zusammenhängen, gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht. Der Bundesrat hatte darum dem Parlament in seiner Botschaft vom 11. Mai 201117 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (6. IV-Revision, zweites Massnahmenpaket)
(IVRevision 6b) entsprechende Vorschläge unterbreitet, beispielsweise zur vorsorglichen Leistungseinstellung bei begründetem Missbrauchsverdacht oder zur Verlängerung der Frist für die Rückforderung von unrechtmässig bezogenen Leistungen.

Diese Revision scheiterte jedoch im Sommer 2013 im Parlament. Daraufhin überwies das Parlament am 16. September 2014 die Motion Schwaller 13.3990 «Eine nachhaltige Sanierung der Invalidenversicherung ist dringend notwendig». Punkt 2 der Motion verlangt die Schaffung einer gemeinsamen gesetzlichen Grundlage für alle Versicherungen im Hinblick auf eine Verbesserung der Abläufe bei der Betrugsbekämpfung.

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Neue Regelung Die mit der IV-Revision 6b vorgesehenen Regelungen im Bereich der Missbrauchsbekämpfung, die in der parlamentarischen Beratung unbestritten waren, werden im Rahmen der vorliegenden Revision erneut aufgenommen. Es handelt sich dabei um die folgenden Bestimmungen: ­

Regelung betreffend die vorsorgliche Einstellung von Leistungen bei begründetem Verdacht auf unrechtmässige Leistungserwirkung oder bei Meldepflichtverletzung oder wenn einer Lebens- oder Zivilstandskontrolle nicht fristgerecht nachgekommen wird. Die Versicherungen machen von der Möglichkeit der vorsorglichen Einstellung der Leistung bereits heute Gebrauch, aber die Gerichte beurteilen die Zulässigkeit dieser Massnahme oder ihre gesetzliche Grundlage unterschiedlich. Im Interesse der Rechtssicherheit ist daher eine klare gesetzliche Grundlage erforderlich.

­

Weiter wird eine Verlängerung der Verwirkungsfrist für die Rückforderung unrechtmässig bezogener Leistungen vorgeschlagen, da sich in der Praxis gezeigt hat, dass diese Frist aufgrund der oftmals notwendigen weitgehenden Abklärungen zu kurz ist.

­

In der Bestimmung über den Entzug der aufschiebenden Wirkung von Beschwerden soll neu ausdrücklich festgehalten werden, dass dieser auch dann möglich ist, wenn die Verfügung auf eine Geldleistung gerichtet ist. Durch die ausdrückliche Kodifizierung dieser bestehenden Gerichtspraxis soll Rechtssicherheit geschaffen werden. Der Vollständigkeit und Klarheit halber sollen schliesslich neben den Beschwerden auch Einspracheentscheide ausdrücklich genannt werden.

­

Schliesslich sollen die Mehrkosten infolge Bekämpfung des ungerechtfertigten Leistungsbezugs der versicherten Person auferlegt werden können, wenn diese mit wissentlich unwahren Angaben oder in anderer rechtswidriger Weise eine Leistung erwirkt oder zu erwirken versucht hat.

1.2.2

Anpassungen im internationalen Kontext

Grenzüberschreitender Datenaustausch und Zuständigkeitsregelung im Rahmen der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit im internationalen Verhältnis Heutige Situation Die grenzüberschreitende Amts- und Verwaltungshilfe im Bereich der sozialen Sicherheit ist in internationalen Sozialversicherungsabkommen geregelt. Die Schweiz koordiniert ihre Sozialversicherungen mit den Sozialversicherungen der EU-Mitgliedstaaten im Rahmen von Anhang II FZA. Derzeit werden die Informationen mittels Formularen in Papierform ausgetauscht. Dieser Datenaustausch ist umständlich und verursacht einen beträchtlichen Aufwand. Seit dem 1. April 2012, dem Inkrafttreten der 3. Aktualisierung von Anhang II FZA mit dem Beschluss

1618

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Nr. 1/2012 des Gemischten Ausschusses vom 31. März 201218, wendet die Schweiz in den Beziehungen zu den EU-Mitgliedstaaten die Verordnung (EG) Nr. 883/200419 und die Verordnung (EG) Nr. 987/200920 an. Diese Verordnungen enthalten die Rechtsgrundlagen für die Einführung eines elektronischen Datenaustauschs, dem Electronic Exchange of Social Security Information (EESSI). Dieser soll die Papierformulare ersetzen. Die Schweiz ist wie alle anderen mitwirkenden Staaten verpflichtet, hierfür innerstaatlich die nötige Infrastruktur zur Verfügung zu stellen und insbesondere die nötigen Zugangs- und Schnittstellen für den grenzüberschreitenden elektronischen Datenaustausch mit dem Ausland zu erstellen und zu betreiben. Die Umstellung auf den elektronischen Datenaustausch setzt auf bestimmten Gebieten eine Anpassung der nationalen Informationsverarbeitung voraus.

Entsprechend wird auf nationaler Ebene eine Infrastruktur aufgebaut. Es ist die Einführung neuer nationaler Informationssysteme geplant, welche den Anschluss an den EESSI ermöglichen.

Neue Regelung Aufgrund der in Artikel 33 ATSG statuierten Schweigepflicht ist für den Datenaustausch eine explizite gesetzliche Grundlage nötig. Im Zusammenhang mit EESSI und den neuen nationalen Informationssystemen erfolgt der Informationsaustausch zwischen den schweizerischen Versicherungsträgern nicht mehr in schriftlicher Form oder auf Einzelanfrage hin. Deshalb ist die Einführung einer neuen, expliziten Rechtsgrundlage für den internen Datenaustausch im Zusammenhang mit der Erfüllung von Aufgaben im Rahmen von internationalen Abkommen notwendig. Ferner sind Regelungen zur Verwendung und Finanzierung dieser neuen nationalen Informationssysteme nötig.

Insbesondere erfolgt der Datenaustausch über nationale Zugangsstellen, die das elektronische Portal der jeweiligen Staaten darstellen. Im nationalen Recht soll deshalb geregelt werden, wer für die Entwicklung und den Betrieb dieser Infrastrukturen zuständig ist und wie die Finanzierung zu regeln ist.

Zusätzlich ist auch eine Bestimmung vorgesehen, welche die innerstaatliche Zuständigkeit für aus internationalen Abkommen über soziale Sicherheit resultierenden Aufgaben regelt. Da insbesondere im Rahmen des europäischen Koordinationsrechts die zuständigen nationalen Stellen nicht mehr in den Anhängen der massgeblichen
Verordnungen der EU aufgeführt sind, sondern einzig in einem elektronischen Verzeichnis, ist es angemessen, entsprechende Bestimmungen im nationalen Recht vorzusehen.

18 19

20

AS 2012 2345 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 166 vom 30.4.2004, S. 1; eine unverbindliche, konsolidierte Fassung dieser Verordnung ist veröffentlicht in SR 0.831.109.268.1.

Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (mit Anhängen), ABl. L 284 vom 30.10.2009, S. 1; eine unverbindliche, konsolidierte Fassung dieser Verordnung ist veröffentlicht in SR 0.831.109.268.11.

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Kompetenz zur Genehmigung von internationalen Sozialversicherungsabkommen Heutige Situation Nach der früheren Version von Artikel 141 BV unterstanden Sozialversicherungsabkommen nicht dem fakultativen Referendum. Seit der Änderung vom 4. Oktober 200221 von Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV unterstehen diejenigen Staatsverträge dem fakultativen Referendum, die «wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert».

Bei der Anwendung dieser Bestimmung hat sich für bestimmte Abkommen, wie Doppelbesteuerungsabkommen, Freihandelsabkommen, Abkommen zur gegenseitigen Förderung und zum gegenseitigen Schutz von Investitionen, Sozialversicherungsabkommen, von Anfang an folgende Praxis durchgesetzt: Verträge, die dem Verpflichtungsniveau einer grossen Zahl vergleichbarer Abkommen, die die Schweiz bereits abgeschlossen hat, entsprechen, werden als nicht dem fakultativen Referendum unterstellt behandelt. Sie werden gemeinhin als «Standardabkommen» bezeichnet. Die von der Schweiz abgeschlossenen Sozialversicherungsabkommen sind solche Standardabkommen. Sie beruhen alle auf derselben Vorlage, die auf internationaler Ebene einheitlich zur Anwendung kommt und vom Parlament mehrfach genehmigt wurde. Sozialversicherungsabkommen sind Abkommen zur Koordination, mit denen vermieden werden soll, dass Angehörige des einen Vertragsstaates benachteiligt sind, wenn sie in den anderen Staat umziehen.

Neue Regelung Das Parlament griff bei Sozialversicherungsabkommen wiederholt auf die Praxis für Standardabkommen zurück. Im Auftrag des Bundesrates wurde diese Praxis vom Bundesamt für Justiz (BJ) untersucht. Das BJ kam in seinem Bericht vom 29. August 201422 «Fakultatives Staatsvertragsreferendum: Entwicklung der Praxis des Bundesrats und der Bundesversammlung seit 2003» zum Schluss, dass diese Praxis aufzugeben sei, weil das Kriterium der Neuheit im Vergleich zu früher verabschiedeten Abkommen nicht zur Beurteilung, was nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV als wichtig einzustufen ist und was nicht, herangezogen werden könne.

Mit Beschluss vom 22. Juni 2016 nahm der Bundesrat diesen Bericht zur Kenntnis.

Er entschied, dass die Tatsache, dass ein internationales Abkommen keine umfangreicheren Verpflichtungen schaffe als bereits von der Schweiz
ratifizierte Abkommen ähnlichen Inhalts, bei der Beurteilung, ob ein Abkommen dem fakultativen Referendum zu unterstellen sei, nicht mehr ausschlaggebend ist. Zudem hat er die Departemente damit beauftragt, Normen zu erarbeiten, die eine Kompetenzdelegation entweder an den Bundesrat oder an die Bundesversammlung vorsehen; dies im Hinblick darauf, internationale Abkommen, die keine umfangreicheren Verpflichtungen schaffen als bereits von der Schweiz ratifizierte Abkommen ähnlichen Inhalts, im eigenen Zuständigkeitsbereich genehmigen zu können. Die Delega21 22

AS 2003 1949 Der Bericht ist abrufbar unter: www.ejpd.admin.ch > Aktuell > News > Suche unter Stichworten nach «Fakultatives Referendum bei internationalen Standardabkommen» > Suchergebnis: Medienmitteilung des Bundesrats vom 22.Juni 2016 einschliesslich Download-Link auf den Bericht (PDF-Format).

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tionsnormen sind in einem Rechtsakt festzuhalten, der seinerseits dem fakultativen Referendum unterliegt. Aus diesem Grund soll in den einzelnen Sozialversicherungsgesetzen eine neue Bestimmung eingeführt werden, wonach die Bundesversammlung über die Kompetenz verfügt, Sozialversicherungsabkommen mit einfachem Bundesbeschluss zu genehmigen. Somit bedürften Sozialversicherungsabkommen weiterhin der Zustimmung der Bundesversammlung und wären auch künftig vom fakultativen Referendum ausgenommen, allerdings hätte das Vorgehen nunmehr eine gesetzliche Grundlage. Diese Kompetenzdelegation an die Bundesversammlung kodifiziert gewissermassen die Praxis für Standardabkommen und erteilt ihr die dazu notwendige juristische Grundlage. Es sollen folgende neuen Bestimmungen aufgenommen werden: ­

Bundesgesetz vom 20. Dezember 194623 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG): Art. 153b;

­

IVG: Art. 80b;

­

Bundesgesetz vom 6. Oktober 200624 über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ELG):Art. 32a;

­

BVG: Art. 89f;

­

Freizügigkeitsgesetzes vom 17. Dezember 199325 (FZG): Art. 25h;

­

Bundesgesetzes vom 18. März 199426 über die Krankenversicherung (KVG); Art. 95b;

­

Bundesgesetz vom 20. März 198127 über die Unfallversicherung (UVG): Art. 115b;

­

Erwerbsersatzgesetzes vom 25. September 195228 (EOG): Art. 28b;

­

Bundesgesetzes vom 20. Juni 195229 über die Familienzulagen in der Landwirtschaft (FLG): Art. 23b;

­

FamZG: Art. 24a;

­

Arbeitslosenversicherungsgesetzes vom 25. Juni 198230 (AVIG): Art. 121a.

Anpassung der Verweisbestimmung im Familienzulagengesetz Heutige Situation Die Schweiz koordiniert ihre Sozialversicherungen mit den Sozialversicherungen der EU-Mitgliedstaaten im Rahmen von Anhang II FZA. Die Bestimmungen des europäischen Koordinationsrechts gelten zusätzlich zu den jeweiligen innerstaat-

23 24 25 26 27 28 29 30

SR 831.10 SR 831.30 SR 831.42 SR 832.10 SR 832.20 SR 834.1 SR 836.1 SR 837.0

1621

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lichen Gesetzesbestimmungen und gehen zuwiderlaufenden Gesetzesbestimmungen vor.

Deshalb wurde in jedem Sozialversicherungsgesetz präzisiert, dass das Abkommen und die dort bezeichneten Rechtsakte zu berücksichtigen sind31. Diese sogenannten Verweisbestimmungen müssen in sämtlichen betroffenen Gesetzen aufdatiert und durch die neuen, im Abkommen aufgeführten Rechtsakte ergänzt werden. Bei den meisten Sozialversicherungsgesetzen wurde dies gemacht, als das FZA auf Kroatien ausgedehnt wurde (vgl. Bundesbeschluss vom 17. Juni 201632 über die Genehmigung und die Umsetzung des Protokolls zum Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft sowie ihren Mitgliedstaaten andererseits betreffend die Ausdehnung auf die Republik Kroatien). Da die Verweise im FamZG damals nicht aktualisiert wurden, erfolgt die Anpassung mit der vorliegenden Revision.

Neue Regelung Der Anhang II FZA ist seit Inkrafttreten des Abkommens durch vier Beschlüsse des Gemischten Ausschusses angepasst worden: Beschluss Nr. 2/2003 vom 15. Juli 200333, Beschluss Nr. 1/2006 vom 6. Juli 200634, Beschluss Nr. 1/2012 vom 31. März 201235 und Beschluss Nr. 1/2014 vom 28. November 201436.

Der Bundesrat hat die Aktualisierungen von Anhang II FZA, welche die Koordinationsgrundsätze und deren technische Durchführung präzisieren und keine materiellen Anpassungen auf Gesetzesstufe erfordern, jeweils in eigener Zuständigkeit genehmigt. Die Nachführung der entsprechenden Verweise in den Sozialversicherungsgesetzen auf Anhang II des Freizügigkeitsabkommens und die dort aufgeführten EURechtsakte obliegt indessen der Bundesversammlung.

Analoges gilt für Anlage 2 zu Anhang K des des Übereinkommens vom 4. Januar 196037 zur Errichtung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA-Übereinkommen).

1.2.3

Optimierungen des Systems

Anpassungen bei den Regressbestimmungen Heutige Situation Die Praxis des Rückgriffs der Sozialversicherungen hat gezeigt, dass diese nicht immer über genügende griffige Mittel des Vollzugs verfügen, weshalb sich verschiedene Anpassungen aufdrängen. Aus der Praxis und der Rechtsprechung ergibt sich zudem vereinzelt weiterer Anpassungs- oder Ergänzungsbedarf.

31 32 33 34 35 36 37

Vgl. BBl 1999 6128, Ziff. 275.211 AS 2016 5233 AS 2004 1277 AS 2006 5851 AS 2012 2345 AS 2015 333 SR 0.632.31

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Neue Regelung Es kommt beispielsweise immer wieder vor, dass versicherte Personen die für die Regressdurchführung notwendigen Angaben nicht liefern. Mit den vorgeschlagenen Änderungen in Artikel 28 Absätze 2 und 3 E-ATSG sollen die Mitwirkungspflichten der versicherten Person im Regress an diejenigen zur Abklärung des Leistungsanspruchs angepasst werden, ohne darüber hinauszugehen.

Kürzt ein Sozialversicherer seine Leistungen, wird im Regress der haftpflichtrechtliche Schadenersatzanspruch nach der Quotenteilungsregel nach Artikel 73 Absatz 2 ATSG auf den Anspruch der geschädigten Person und die regressierende Sozialversicherung verteilt. Artikel 73 Absatz 2 ATSG enthält Verweise auf die Leistungskürzungen nach Artikel 21 ATSG, die aus Gründen der Vollständigkeit mit einer Verweisung auf dessen Absatz 4 (Leistungskürzungen wegen verletzter Schadenminderungspflicht der versicherten Person) zu ergänzen sind.

Sozialversicherungen treten von Gesetzes wegen (Subrogation gemäss Art. 72 ATSG) für ihre gesetzlichen Leistungen in kongruente haftpflichtrechtliche Schadenersatzleistungen der geschädigten Person ein. Die Subrogation beschränkt sich auf den Umfang der von den Sozialversicherern an die geschädigte Person bezahlten Leistungen. Artikel 74 Absatz 2 ATSG legt die als kongruent geltenden Leistungen aus der Sozialversicherung einerseits und diejenigen aus der Haftpflicht andererseits fest. Für einen bestimmten Teil der Leistungen subrogieren Sozialversicherungen (Unfallversicherung [UV] und Alters- und Hinterlassenenversicherung [AHV]) nach jüngster Praxis des Bundesgerichts38 in den haftpflichtrechtlichen Rentenschaden, welcher nun Eingang in der nicht als abschliessend aufgeführten Aufzählung kongruenter Leistungen finden soll. Die zusätzlichen Kosten für Umtriebe, die allgemein bei der Schadensermittlung entstehen, gehören ebenfalls zum haftpflichtrechtlichen Schaden: Das sind einerseits Abklärungskosten bezüglich der Ursache und andererseits Kosten für die Ermittlung der Schadenshöhe. Dem Urteil des Bundesgerichts 2C_1087/2013 vom 28. Mai 2014 (Erw. 5.2) zufolge können die von Sozialversicherern entrichteten Kosten für berufliche Abklärungen und den medizinischen Gutachten im Regress geltend gemacht werden, sodass diese allgemein als Abklärungskosten im Sinne von Artikel 45 ATSG ebenfalls in
der Aufzählung der kongruenten Leistungen enthalten sein müssen.

Rückerstattung zu Unrecht bezogener Leistungen Heutige Situation Aufgrund eines kürzlich ergangenen Bundesgerichtsentscheids39, der festhielt, dass aufgrund des Gesetzeswortlauts auf eine Verjährungs- und nicht auf eine Verwirkungsfrist zu schliessen sei, ist im BVG eine Klarstellung erforderlich.

38 39

BGE 126 III 41 BGE 142 V 20

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Neue Regelung Mit Artikel 35a Absatz 2 erster Satz E-BVG wird klargestellt, dass es sich bei der Frist für die Rückerstattung zu Unrecht bezogener Leistungen um eine Verwirkungsund nicht um eine Verjährungsfrist handelt; im Gegensatz zu einer Verjährungsfrist kann eine Verwirkungsfrist weder ruhen noch unterbrochen werden. Mit der Änderung des Gesetzeswortlauts von «verjährt» auf «erlischt» wird ausdrücklich im Gesetz verankert, dass es sich um eine Verwirkungsfrist handelt. Um die 2. Säule, wie ursprünglich vorgesehen, mit der 1. Säule zu koordinieren, soll die Verwirkungsfrist zudem auch von einem auf drei Jahre verlängert werden (analog zu der vorgeschlagenen Änderung in Art. 25 Abs. 2 E-ATSG).

Weitere Anpassungen Im Bereich der Militärversicherung sind einzelne punktuelle Anpassungen vorgesehen: Zwei Bestimmungen des MVG (Art. 9 Abs. 2 und Art. 105) sollen zugunsten der einheitlichen Regelungen im ATSG aufgehoben werden. Weiter soll durch eine Ergänzung im Koordinationsrecht ein gesetzgeberisches Versehen korrigiert werden.

Schliesslich sind vereinzelte Korrekturen rein sprachlicher Natur und wenige andere geringfügige Anpassungen vorzunehmen, welche bisher noch nicht aufgenommen wurden (vgl. Ziff. 2). Betroffen sind im ATSG die Artikel 7 Absatz 1 (betrifft nur den französischen Text) und 72 Absatz 3 zweiter Satz (betrifft nur den französischen und den italienischen Text), im AHVG Artikel 91 Absatz 2 (Einsprache statt Beschwerde) und im KVG Artikel 82 Buchstabe a (Korrektur eines Verweises).

Kostenpflicht der kantonalen Gerichtsverfahren Diskussionspunkte Die beiden Räte haben am 12. April 2011 beziehungsweise am 21. Februar 2012 der Motion der SVP-Fraktion 09.3406 «Kostenpflicht der Verfahren vor den kantonalen Versicherungsgerichten» zugestimmt, welche die Kostenpflicht für sämtliche Verfahren vor den kantonalen Sozialversicherungsgerichten vorsieht. Mit der Annahme dieser Motion beabsichtigt das Parlament den Grundsatz der Kostenlosigkeit von Verfahren im Bereich der Sozialversicherungen, den es mit der Einführung des ATSG verabschiedet hatte, zu widerrufen. Im Jahr 2006 war dieser Grundsatz relativiert worden, indem für Verfahren bei Streitigkeiten über die Bewilligung oder die Verweigerung von Leistungen der Invalidenversicherung moderate Kosten eingeführt wurden (Art. 69 Abs. 1bis
IVG). Im Übrigen sind Bundesgerichtsverfahren betreffend Sozialversicherungsleistungen bereits heute kostenpflichtig, mit Gerichtsgebühren zwischen 200 und 1000 Franken (Art. 65 Abs. 4 Bst. a des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 200540 [BGG]).

Im Rahmen der parlamentarischen Debatten wurde der Wille geäussert, bei Beschwerdeverfahren statt einer generellen Einführung der Kostenpflicht eine differenzierte Lösung zu erarbeiten, da mit einer wortgetreuen Umsetzung der Motion den bisherigen Erfahrungen mit der Kostenpflicht im kantonalen Gerichtsverfahren 40

SR 173.110

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betreffend IV-Leistungen nicht Rechnung getragen werden könne. Eine Umfrage bei den kantonalen Sozialversicherungsgerichten zeigte, dass die Mehrheit der Gerichte gegen eine generelle Einführung einer Kostenpflicht ist und die generelle Einführung der Kostenpflicht bei IV-Verfahren nicht den gewünschten Effekt gebracht hat.

Auch erscheint die Einführung einer generellen Kostenpflicht für alle Sozialversicherungsverfahren nicht sinnvoll, genauso wenig ein fixer Kostenrahmen. Im Bereich Ergänzungsleistungen beispielsweise werden die Gerichtskosten in jedem Fall über die unentgeltliche Rechtspflege abgegolten. Es wäre also nicht sinnvoll, für diese Verfahren eine Kostenpflicht einzuführen. Was die bei den kantonalen Sozialversicherungsgerichten eingereichten Beschwerden zu AHV-Streitigkeiten betrifft, sind die Beitragsstreitigkeiten bedeutend häufiger als die Leistungsstreitigkeiten. Bei den in der Regel hohen Beträgen bei Beitragsstreitigkeiten würde ein Kostenrahmen von 200­1000 Franken den erwünschten Effekt, nämlich unnötige Gerichtsfälle zu vermeiden, kaum bewirken.

Neue Regelung Eine Kostenpflicht soll neu für alle Sozialversicherungen eingeführt werden. Bezüglich Leistungsstreitigkeiten schlägt der Bundesrat jedoch eine differenzierte Lösung vor, welche die Möglichkeit bietet, den Eigenheiten der einzelnen Sozialversicherungen Rechnung zu tragen und die Kostenpflicht und Kostenhöhe dementsprechend in den Einzelgesetzen zu regeln.

Falls die Voraussetzungen für den Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege erfüllt sind, wird das Beschwerdeverfahren ­ wie in der übrigen Verwaltungsrechtspflege ­ für die Betroffenen auch weiterhin kostenlos sein (unter Vorbehalt späterer Rückforderungen). Auf diese Weise kann den Eigenheiten des Einzelfalls Rechnung getragen werden und gleichzeitig bleibt sichergestellt, dass sich auch Personen mit geringen finanziellen Mitteln an die Gerichte wenden können.

1.3

Ergebnisse der Vernehmlassung

Der Bundesrat hat vom 22. Februar bis zum 29. Mai 2017 das Vernehmlassungsverfahren durchgeführt.41 Die überwiegende Mehrheit der Teilnehmer befürwortet die Stossrichtung der Vorlage und die angestrebten Ziele der Revision in den erwähnten Bereichen. Insbesondere seitens der Kantone und Durchführungsstellen wird die Vorlage grundsätzlich positiv aufgenommen, wenn auch in einzelnen Punkten als verbesserungswürdig erachtet. Von verschiedenen Organisationen werden die Vorschläge betreffend Missbrauchsbekämpfung teilweise kritisch aufgenommen und auch die beabsichtigte Einführung einer Kostenpflicht im Sozialversicherungsgerichtsverfahren wird ­ von diversen Organisationen, Verbänden, einigen Kantonen und einzelnen kantonalen Gerichten ­ kritisch aufgenommen oder abgelehnt. Der Bundesrat hatte im Rahmen der Vernehmlassung noch zwei verschiedene Varianten zur Bestimmung über die Kostenpflicht vorgelegt, mit der vorliegenden Botschaft 41

Die Vernehmlassungsunterlagen und der Ergebnisbericht sind abrufbar unter www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2017 > EDI.

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legt er nur noch einen Vorschlag (entsprechend Vernehmlassungs-Variante 1, teilweise modifiziert) vor. Nachfolgend werden die wichtigsten Ergebnisse bewertet: Kostenpflicht für letztinstanzliche kantonale Verfahren Eine knappe Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmenden befürwortet im Grundsatz eine Kostenpflicht für letztinstanzliche kantonale Gerichtsverfahren im Bereich der Sozialversicherungen. Die Gegner sind der Auffassung, dass die Erfahrungen im Bereich der IV zeigen, dass die Einführung der Kostenpflicht für kantonale Verfahren nicht zu einer Reduktion der Anzahl Verfahren führt und dass Bezügerinnen und Bezüger von Sozialleistungen, die in der Regel über wenig finanzielle Mittel verfügen, auf einen kostenlosen Rechtsbeistand zurückgreifen, was zu einem zusätzlichen Verwaltungsaufwand für die kantonalen Gerichte führt.

Zwei Varianten wurden in die Vernehmlassung gegeben. Bezüglich der Leistungsstreitigkeiten schlug der Bundesrat mit Variante 1 von Artikel 61 VE-ATSG eine differenzierte Lösung vor, die es ermöglichen würde, den Eigenheiten der einzelnen Sozialversicherungen Rechnung zu tragen, indem die Kostenpflicht nur gilt, wenn dies im jeweiligen Einzelgesetz vorgesehen ist. Variante 2 hingegen war näher am Wortlaut der Motion, weil sie für Leistungsstreitigkeiten einen fixen Kostenrahmen von 200­1000 Franken vorsah.

Aufgrund der Stellungnahmen aus der Vernehmlassung hat der Bundesrat die Variante 1 überarbeitet. Er hat insbesondere die ursprünglich vorgesehene und in der Vernehmlassung mehrfach kritisierte Regelung, wonach den Versicherungsträgern in der Regel keine Kosten auferlegt werden, aus dem Entwurf gestrichen.

Der Bundesrat lehnt hingegen die Forderung einiger Kantone, auch in der beruflichen Vorsorge den Grundsatz der Kostenpflicht einzuführen, ab, denn das Verfahren im Bereich der beruflichen Vorsorge unterscheidet sich wesentlich von demjenigen in den anderen Sozialversicherungen. So können die Vorsorgeeinrichtungen im Unterschied zu den übrigen Sozialversicherungsträgern keine Verfügungen (oder Vorbescheide) erlassen, gegen die die versicherten Personen zuerst noch eine Einsprache (oder Einwände) beim Versicherungsträger erheben können, bevor es zu einem gerichtlichen Beschwerdeverfahren kommt. Sondern das Verfahren läuft unweigerlich und von Amtes wegen über das kantonale
Gericht. Die versicherte Person kann ihre Rechte im Bereich der 2. Säule also einzig vor Gericht geltend machen. Deshalb ist es wichtig, dass das Verfahren in der beruflichen Vorsorge weiterhin kostenlos bleibt. Würde dies geändert, hätte dies negative Auswirkungen sowohl für die versicherten Personen wie auch die Vorsorgeeinrichtungen.

Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs Zahlreiche Vernehmlassungsteilnehmende befürworten und unterstützen die konsequente Weiterführung beziehungsweise Ergänzung der Massnahmen zur Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs; insbesondere wird eine Regelung im ATSG für alle Sozialversicherungen begrüsst. Einige Vernehmlassungsteilnehmende sind der Ansicht, dass die heute schon vorgesehenen Massnahmen ausreichen, dass aber einige davon eine klare gesetzliche Grundlage erfordern, damit die Rechtssicherheit gewährleistet werden kann.

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Mehrere Vernehmlassungsteilnehmende sprachen sich gegen die (im Zusammenhang mit der vorsorglichen Leistungseinstellung nach Artikel 52a E-ATSG) in Artikel 57a Absatz 3 E-IVG vorgesehene Frist von 10 Tagen zur Anfechtung eines Vorbescheids über die vorsorgliche Einstellung von Leistungen aus. Einige Vernehmlassungsteilnehmende schlugen vor, das Recht auf vorgelagerte Anhörung im Rahmen dieser Verfahren aufzuheben, während andere eine Frist von 30 Tagen für angemessen halten. Die Botschaft vom 11. Mai 201142 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung sah keine Gewährung des rechtlichen Gehörs vor Erlass einer Verfügung über eine Leistungseinstellung vor. Der Bundesrat erachtete angesichts der zeitlichen Dringlichkeit und der gewichtigen Interessen der Versicherungsträger eine nachträgliche Gewährung des rechtlichen Gehörs als vertretbar. Die mit der vorliegenden Botschaft vorgeschlagene Lösung stellt einen Kompromiss zwischen den verschiedenen Vorschlägen aus der Vernehmlassung dar.

Mehrere Vernehmlassungsteilnehmende sprachen sich dagegen aus, dass die Frist für das Vorbescheidverfahren in der Invalidenversicherung (Art. 57a Abs. 3 E-IVG) neu auf Gesetzesstufe statt auf Verordnungsebene geregelt werden soll. Der Bundesrat hält jedoch an seinem Vorschlag fest. Die Frist kann in den in Artikel 41 ATSG genannten Fällen weiterhin wiederhergestelllt werden.

Rückerstattung der Kosten für den unentgeltlichen Rechtsbeistand Nur wenige Vernehmlassungsteilnehmende (23 von 82) haben sich zur vorgeschlagenen Änderung in Artikel 37 Absatz 4 zweiter Satz VE-ATSG geäussert. Die Absicht hinter dieser Änderung wurde positiv aufgenommen, jedoch haben die Teilnehmenden auf verschiedene Anwendungsprobleme und den unverhältnismässigen administrativen Aufwand hingewiesen, da das «Weiterverfolgen» der finanziellen Verhältnisse nach Abschluss des Falles nur schwer möglich und sehr aufwendig wäre. Hinzu komme, dass in vielen Fällen eine erhebliche Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse wohl eher unwahrscheinlich sein dürfte. Aus diesen Gründen wird auf die Änderung verzichtet.

Elektronischer Datenaustausch im internationalen Kontext (Art. 75a VE-ATSG) Die Resonanz auf den in die Vernehmlassung geschickten Vorschlag betreffend Artikel 75a VE-ATSG war insgesamt positiv. Ein grosser Teil der
Kantone fordert allerdings die Streichung der vorgeschlagenen Delegationsnorm, die den Bundesrat ermächtigen sollte, die finanzielle Beteiligung der Benutzer der elektronischen Zugangsstellen zu regeln. Ebenso kritisiert wird die Ermächtigung des Bundesrates, die Durchführungsstellen zur Verwendung von Informationssystemen zu verpflichten, die für die Erfüllung internationaler Verpflichtungen notwendig sind und die Kostenbeteiligung der Durchführungsstellen zu regeln.

Der Bundesrat hält an einer Kostenbeteiligung der Durchführungsstellen an der Finanzierung der elektronischen Zugangsstellen fest. Diese sind aufgrund internationaler Verträge verpflichtet, Daten auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit mit den Staaten der europäischen Union zukünftig elektronisch auszutauschen. Die Informatik gehört zur operativen Verantwortung dieser Stellen und stellt ein Kerngeschäft 42

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der Durchführung dar. Da Stellen aus allen Sozialversicherungszweigen betroffen sind und eine einheitliche, branchenübergreifende Lösung zu finden ist, die im Einklang mit den internationalen Vorgaben steht, erfolgt die Einführung zwar im Rahmen eines vom Bund geführten Projekts. Die Finanzierung hingegen muss verursachergerecht erfolgen, das heisst die finanzielle Beteiligung der Benutzer ist entsprechend dem Ausmass der Benutzung der elektronischen Zugangsstellen auszugestalten. Die vorgeschlagene Bestimmung wird entsprechend angepasst (Art. 75a E-ATSG) und neu soll in Artikel 75c E-ATSG die Finanzierung der elektronischen Zugangs- und Schnittstellen mittels einer Benutzungsgebühr explizit vorgesehen werden. Die betroffenen Stellen sollen diesbezüglich auch vorgängig angehört werden. Der Kritik vieler Vernehmlassungsteilnehmenden, dass die Angaben zur finanziellen Tragweite fehlen, wird mit den ergänzenden Ausführungen in Ziffer 3 Rechnung getragen.

Was die Verpflichtung von Durchführungsstellen anbelangt, Informationssysteme zu verwenden und sich an deren Kosten zu beteiligen, so wurde die sehr generelle Bestimmung gemäss dem Vernehmlassungsentwurf fallengelassen. Dass die Durchführungsstellen auch bei der Verwendung von Informationssystemen Standards einhalten müssen, ergibt sich grundsätzlich direkt aus den internationalen Vereinbarungen. Die ursprünglich vorgeschlagene Bestimmung ist aber sehr weitgreifend und räumt dem Bundesrat einen grossen Ermessenspielraum ein, auch in Bezug auf künftige Informationssysteme. Eine gesetzliche Regelung soll deshalb vorerst nur in denjenigen Bereichen geschaffen werden, in denen bereits Informationssysteme konzipiert wurden und deren konkrete Ausgestaltung bekannt ist. Das Informationssystem ALPS (Applicable Legislation Platform Switzerland) dient der Feststellung der Versicherungsunterstellung, und das von der Zentralen Ausgleichsstelle (ZAS) geführte System SWAP (Swiss Web Application Pension) wird für die Erfassung und Bearbeitung von Anträgen für in- und ausländische Leistungen sowie deren Übermittlung zwischen den Versicherungsträgern verwendet. Es handelt sich hierbei um Aufgaben der Durchführungsstellen der 1. Säule. Entsprechend sind vorerst nur gesetzliche Grundlagen im AHVG (Art. 49a E-AHVG) und IVG (Anpassung von Art. 66 E-IVG) zu schaffen,
welche den Bundesrat ermächtigen, die Durchführungsstellen zur Verwendung von Informationssystemen zu verpflichten. Das System betreffend Rentenanträge (SWAP) wird durch die ZAS betrieben und deshalb durch den AHV-Fonds finanziert. Für die Finanzierung des Betriebs von ALPS ist hingegen noch eine entsprechende Rechtsgrundlage im AHVG zu schaffen. So sieht der neu vorgeschlagene Artikel 95a E-AHVG vor, dass diese Kosten durch den AHVFonds getragen werden. Damit würden die Durchführungsstellen entlastet und es wird den Wünschen der Vernehmlassungsteilnehmenden entsprochen.

Genehmigung internationaler Sozialversicherungsabkommen ohne fakultatives Referendum Nur wenige Vernehmlassungsteilnehmende haben sich zu der geplanten Änderung geäussert, die Mehrheit davon positiv. Vier Vernehmlassungsteilnehmende lehnen die Änderung ab.

Die Praxis im Zusammenhang mit Standardabkommen, die sich seit der Änderung des Verfassungsartikels zum fakultativen Referendum im Jahr 2003 entwickelt hat,

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besteht darin, Abkommen, die dem Verpflichtungsniveau einer grossen Zahl vergleichbarer Abkommen, die die Schweiz bereits abgeschlossen hat, entsprechen, nicht dem fakultativen Referendum zu unterstellen. Dies aufgrund der Überlegung, dass es sich bei diesen bereits mehrmals genehmigten Regelungen nicht mehr um wichtige Bestimmungen handelt, die dem fakultativen Referendum unterstellt werden müssen.

Nach der Prüfung dieser Praxis durch das BJ hat der Bundesrat beschlossen, dass diese Praxis nur mit einer gesetzlichen Grundlage weitergeführt werden kann. Was die Sozialversicherungsabkommen angeht, wurde diese Praxis bisher weder als unsicher erachtet noch kritisiert oder angezweifelt. Da diese Abkommen alle vergleichbar sind, sprach nichts dafür, einzelne davon dem Referendum zu unterstellen.

Die Abkommen haben in Bezug auf die Verpflichtungen der Schweiz alle denselben Inhalt (insbesondere die Zahlung von Leistungen ins Ausland und die Gleichbehandlung). Die darin enthaltenen Vorschriften wurden von der Bundesversammlung wiederholt genehmigt. Die mit einem bestimmten Abkommen geschaffenen Verpflichtungen entsprechen jenen aus früheren Abkommen und fügen sich in das Netz der bereits geltenden Abkommen ein. Diese Abkommen werden im Interesse der Versicherten und der Arbeitgeber abgeschlossen und sehen die Koordination zwischen Versicherungsträgern vor. Sie entsprechen somit voll und ganz der auf internationaler Ebene angewandten Koordination. Im Gegensatz zu den zuletzt abgeschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen weichen die Abkommen über soziale Sicherheit nicht vom Standardmodell ab.

Entsprechend kann festgehalten werden, dass die Praxis verhältnismässig und nicht willkürlich war und es sich rechtfertigt, diese weiterzuführen, indem die Kompetenz, solche Abkommen mit einfachem Bundesbeschluss zu genehmigen, an die Bundesversammlung delegiert werden soll, dies entgegen den Stellungnahmen von SVP und FDPin der Vernehmlassung.

Während alle Sozialversicherungsabkommen auf denselben Grundsätzen beruhen, gibt es bei ihrem sachlichen Geltungsbereich häufiger Abweichungen, insbesondere in Bezug auf die erfassten Versicherungszweige. So geht die Koordination mit den EU-Staaten sehr viel weiter als jene im Rahmen bilateraler Abkommen mit NichtEU-Mitgliedstaaten, welche sich auf Rentenversicherungen
beschränkt. Die Kompetenzdelegation muss den Bereichen und Regelungen, die in den bereits genehmigten und geltenden Abkommen enthalten sind, Rechnung tragen. Deshalb bezieht sich die vorgeschlagene Bestimmung nicht auf ein konkretes Abkommensmodell, sondern listet die Bereiche auf, in denen die Schweiz bereits heute an Verpflichtungen aus internationalen Abkommen gebunden ist.

Mehrere Vernehmlassungsteilnehmende verlangten, dass auch die Massnahmen zur Betrugs- und Missbrauchsbekämpfung ausdrücklich in der Liste der Regelungen, die die Abkommen enthalten können, erwähnt werden. Diese Massnahmen fallen in der jeweiligen Bestimmung unter Buchstabe f (Amtshilfe und Zusammenarbeit der zuständigen Behörden und Einrichtungen). In den Abkommen, die solche Massnahmen enthalten, werden diese in den Bestimmungen zur Amtshilfe erfasst; das EURecht siedelt die Missbrauchsbekämpfung bei den Bestimmungen zur Verwaltungszusammenarbeit an.

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Die vorgeschlagene Kompetenzdelegation kann im schweizerischen Recht nicht im ATSG eingeführt werden, sondern muss in jedem Einzelgesetz verankert werden.

Denn da das ATSG auf die einzelnen Gesetze nur Anwendung findet, wenn und soweit diese es für anwendbar erklären, kann die Anwendbarkeit der Bestimmung insbesondere in Bezug auf das BVG unterschiedlich beurteilt werden. Weiter entspräche die Einführung einer Bestimmung über die Genehmigungskompetenz der Bundesversammlung auch nicht den Zielen nach Artikel 1 ATSG. Und schliesslich wird mit der vorgeschlagenen Regelung in den Einzelgesetzen auch die Transparenz erhöht.

Die neue Bestimmung kann in ein Bundesgesetz aufgenommen werden. Artikel 166 Absatz 2 BV, Artikel 24 Absatz 2 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 200243 (ParlG) und Artikel 7a Absatz 1 des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 199744 (RVOG) erlauben es dem Gesetzgeber, das heisst der Bundesversammlung und dem Volk, den Bundesrat zum selbstständigen Abschluss von Verträgen zu befugen. A fortiori kann diese Kompetenz mittels Bundesgesetz auch an die Bundesversammlung übertragen werden.

Würde jedes Sozialversicherungsabkommen automatisch dem Referendum unterstellt, käme bei dessen Verabschiedung eine politische Komponente ins Spiel; der jeweilige Partnerstaat und die Nationalität der betroffenen Versicherten und nicht die Grundprinzipien würden in den Fokus gerückt. Daraus würde sich keine verbesserte Rechtssicherheit und auch keine Garantie für eine neutrale, kohärente Politik der Schweiz beim Abschluss von Sozialversicherungsabkommen ergeben.

1.4

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

Die für den elektronischen Datenaustausch auf europäischer Ebene mit dem EESSI notwendigen neuen nationalen Informationssysteme werden zusätzliche Kosten verursachen. Gemäss dem vorgesehenen neuen Artikel 75c E-ATSG werden die Durchführungsstellen an den anfallenden Kosten im Zusammenhang mit der Nutzung dieser Infrastruktur beteiligt, wobei der Umfang der anfallenden Kosten vor der effektiven Inbetriebnahme dieser Infrastruktur nur grob geschätzt werden kann (vgl. dazu Ziff. 3.1). Im Gegenzug sind bedeutende Qualitätsverbesserungen und eine Aufwandsreduktion bei der Abwicklung der Geschäfte bei allen Beteiligten zu erwarten. Durch den vorgesehenen Datenaustausch können die gesetzlichen Aufgaben besser wahrgenommen werden. Der zu erwartende finanzielle Aufwand steht in einem vertretbaren Verhältnis zu der Bedeutung der Aufgaben.

43 44

SR 171.10 SR 172.010

1630

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1.5

Rechtsvergleich, insbesondere mit dem europäischen Recht

Mit der vorgeschlagenen Revision erfolgen keine grundsätzlichen Neuerungen oder Änderungen am System: Es werden hauptsächlich punktuelle Präzisierungen und Anpassungen bestehender Regelungen angestrebt, die sich insbesondere aus der Rechtsprechung und der Praxis aufdrängen und die dem besseren Vollzug dienen sollen. Es stellen sich keine spezifischen rechtsvergleichenden Fragen.

Im Rahmen der von der Schweiz angewendeten Verordnung (EG) Nr. 883/200445 bei der Koordination der schweizerischen Sozialversicherungen mit den Sozialversicherungen der EU-Mitgliedstaaten sind einzelne Anpassungen im nationalen Recht erforderlich, weil seit der 3. Aktualisierung von Anhang II FZA die Zuständigkeiten der verschiedenen nationalen Stellen, die mit der Durchführung des europäischen Koordinationsrechts betraut sind, nicht mehr direkt in den Anhängen der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und der Verordnung (EG) Nr. 987/200946 geregelt sind.

Daher sollen die heutigen internationalen Zuständigkeiten der verschiedenen schweizerischen Sozialversicherungsstellen ­ wie in anderen europäischen Staaten auch ­ durch innerstaatliche Regelungen explizit kodifiziert werden (vgl. Ziff. 1.1.2 und 1.2.2).

1.6

Umsetzung

Am Vollzug der von der Vorlage betroffenen Gesetzesbestimmungen ergeben sich keine wesentlichen Änderungen. Vollzugsfragen, die speziell einzelne Bestimmungen betreffen, werden im 2. Kapitel (Erläuterungen zu einzelnen Artikeln) und im 3. Kapitel (Auswirkungen) behandelt.

1.7

Erledigung parlamentarischer Vorstösse

Mit dieser Botschaft soll die Abschreibung der folgenden parlamentarischen Vorstösse beantragt werden: Motion Lustenberger 12.3753 «Revision von Artikel 21 ATSG» Durch die in der vorliegenden Revisionsvorlage vorgeschlagene Anpassung von Artikel 21 Absatz 5 ATSG kann der Motion Lustenberger 12.3753 vollständig entsprochen werden, da Geldleistungen mit Erwerbsersatzcharakter auch dann, wenn 45

46

Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 166 vom 30.4.2004, S. 1; eine unverbindliche, konsolidierte Fassung dieser Verordnung ist veröffentlicht in SR 0.831.109.268.1.

Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (mit Anhängen), ABl. L 284 vom 30.10.2009, S. 1; eine unverbindliche, konsolidierte Fassung dieser Verordnung ist veröffentlicht in SR 0.831.109.268.11.

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die versicherte Person sich dem Straf- oder Massnahmenvollzug entzieht oder ihn in ungerechtfertigter Weise verzögert, ab dem Zeitpunkt eingestellt werden können, in dem der Straf- oder Massnahmenvollzug hätte beginnen sollen.

Motion Fraktion des Schweizerischen Volkspartei 09.3406 «Kostenpflicht der Verfahren vor den kantonalen Versicherungsgerichten» Mit der in Artikel 61 E-ATSG vorgeschlagenen Einführung einer differenzierten Kostenpflicht für letztinstanzliche kantonale Verfahren wird dem Anliegen der Motion der SVP-Fraktion 09.3406 Rechnung getragen.

Motion Schwaller 13.3990 «Eine nachhaltige Sanierung der Invalidenversicherung ist dringend notwendig» Die Motion Schwaller 13.3990, die am 16. September 2014 angenommen wurde, umfasst drei Punkte, die jeweils durch eine eigene Vorlage erfüllt werden oder werden sollen. Punkt 1 «Die Schulden des IV-Fonds beim AHV-Fonds müssen auch nach Auslaufen der befristeten Mehrwertsteuerfinanzierung bis in das Jahr 2028 abgetragen werden.» wird mit dem neuen Ausgleichsfondsgesetz vom 16. Juni 201747 erfüllt, Punkt 3 «Die Massnahmen zur verstärkten Eingliederung und zum Verbleib im Arbeitsmarkt sind zu verstärken und insbesondere auch auf Menschen mit psychischen Behinderungen auszurichten.» mit der Vorlage «IVG. Änderung (Weiterentwicklung der IV)»48.

Mit der Einführung der Bestimmungen zur Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs im Rahmen der vorliegenden Revision soll auch Punkt 2 der Motion («Im Hinblick auf eine Verbesserung der Abläufe bei der Betrugsbekämpfung ist eine gemeinsame Gesetzesgrundlage für alle Versicherungen zu schaffen») umgesetzt werden, womit die Motion insgesamt zur Abschreibung beantragt werden kann.

2

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln

2.1

Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts

Art. 7 Abs. 1 Diese Änderung betrifft nur den französischen Text: Statt dem heutigen Wortlaut «sur un marché du travail équilibré dans son domaine d'activité» soll im französische Text neu «sur le marché du travail équilibré qui entre en considération» stehen.

Damit wird der französischen Text an die deutsche («auf dem in Betracht kommenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt») und die italienische Fassung angepasst.

47 48

BBl 2017 4219 Geschäftsnummer 17.022

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Art. 21 Abs. 5 Nach Artikel 21 Absatz 5 ATSG kann die Auszahlung von Geldleistungen mit Erwerbsersatzcharakter während des Straf- oder Massnahmenvollzugs eingestellt werden (vgl. Ziff. 1.2.1). Mit der vorgeschlagenen Ergänzung in Absatz 5 sollen neu auch die Fälle erfasst werden, in denen eine rechtskräftig verurteilte Person den Straf- oder Massnahmenvollzug unrechtmässig nicht antritt. Mit der vorliegenden Änderung wird die Zahlung von Geldleistungen mit Erwerbsersatzcharakter ab dem Zeitpunkt eingestellt, an dem der Straf- oder Massnahmenvollzug hätte beginnen sollen, wenn die versicherte Person sich diesem entzogen hat. Wurden hingegen der Vollzug einer Massnahme oder einer Freiheitsstrafe mit der Zustimmung der zuständigen Behörden verschoben, so wird die Ausrichtung der Geldleistung erst auf den Zeitpunkt des effektiven Vollzugs eingestellt. Die Sistierung der Rente betrifft weiterhin nur die Person, welche die Hauptrente bezieht. Leistungen für Angehörige, wie Kinderrenten, werden während der Sistierung dagegen weiter ausgerichtet (Art. 21 Abs. 5 dritter Satz).49 Da die Sistierung einer Rente der Invalidenversicherung auch zur Sistierung der Invalidenrente nach dem BVG führt50, gilt diese Regelung faktisch auch für das BVG, obwohl dieses grundsätzlich nicht unter das ATSG fällt.

Art. 25 Abs. 2 erster Satz In Bezug auf Artikel 25 ATSG wird die Kenntnisnahme im Zusammenhang mit einem Rückforderungsanspruch in der Praxis sehr streng ausgelegt. Dabei ist nicht eine tatsächliche Kenntnisnahme verlangt, sondern die Rechtsprechung bezeichnet es als ausreichend, dass der Versicherungsträger bei Beachtung der zumutbaren Aufmerksamkeit hätte erkennen müssen, dass die Voraussetzungen für eine Rückerstattung bestehen.51 In Fällen, in denen eine Person Leistungen zu Unrecht erwirkt oder zu erwirken versucht, hat die Praxis gezeigt, dass die Frist von einem Jahr zu kurz ist, da oftmals weitergehende Abklärungen notwendig sind, bevor alle Tatsachen mit genügender Sicherheit festgestellt sind, um die Unrechtmässigkeit des Leistungsbezuges zu bestätigen. Eine Sistierung der Leistungen kommt hier oft zu spät, da bereits über einen längeren Zeitraum zu Unrecht Leistungen ausgerichtet wurden. Auch ist eine Sistierung der Leistungen nicht immer möglich oder sinnvoll.

Da die Regelung in einzelnen Fällen auch
ausserhalb des Versicherungsmissbrauchs (z.B. bei Kapitalhilfefällen in der IV) eine Rückforderung verunmöglicht, soll diese Verwirkungsfrist neu auf drei Jahre verlängert werden. Eine Verlängerung der Verwirkungsfrist scheint auch deshalb angezeigt, weil eine Verlängerung der relativen Verjährungsfristen von einem Jahr auf drei Jahre auch in der Botschaft des Bundesrates vom 29. November 201352 zur Änderung des Obligationenrechts (OR.

Verjährungsrecht) vorgesehen ist.

49 50 51 52

Vgl. auch Urteil des Bundesgerichts 9C_256/2009 vom 17. Sept. 2009 E. 4.

Urteil des Bundesgerichts B 63/05 vom 31. Aug. 2006.

Vgl. Kieser Ueli, Kommentar ATSG, Zürich 2015, 3. Aufl., Zürich: Schulthess, 2015, Art. 25 Rz. 56.

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Art. 28 Abs. 2 und 3 erster Satz Abs. 2: Die versicherte Person hat Angaben über den Hergang des Ereignisses, über haftpflichtige Dritte, über Zeuginnen und Zeugen und Haftpflichtversicherungen zu machen, damit der Sozialversicherer überprüfen kann, ob ein Regressfall vorliegt. Es kommt in der Praxis immer wieder vor, dass die Versicherten die zur Regressnahme notwendigen Angaben nicht liefern. In Artikel 28 Absatz 2 E-ATSG wird nun auf Gesetzesstufe festgelegt, dass die versicherte Person nicht nur an der Abklärung des Leistungsanspruchs, sondern auch an der Festsetzung des Regressanspruchs mitwirken muss. Wenn sie die Mitwirkung verweigert, gelangt das Mahn- und Gedenkzeitverfahren nach Artikel 43 Absatz 3 ATSG zur Anwendung.

Abs. 3 erster Satz: Die versicherte Person ermächtigt mit der Unterschrift im Anmeldeformular alle Personen und Stellen, die für die Abklärung des Anspruchs und die für die Durchführung des Rückgriffs auf Dritte erforderlichen Auskünfte zu geben. Es fehlt heute aber eine gesetzliche Grundlage, die die versicherte Person auch zu Auskünften im Zusammenhang mit dem Regressverfahren verpflichtet.

Diese Verpflichtung wird mit der Ergänzung von Artikel 28 Absatz 3 geschaffen.

Art. 32 Abs. 3 Für die Erfüllung zwischenstaatlicher Verpflichtungen sind die innerstaatlichen Sozialversicherungsstellen auf einen Informationsaustausch untereinander angewiesen. Die Informationen sind nötig für die Leistungserbringung, die Zahlung der Beiträge, die Identifizierung der zuständigen Stellen und Personen, die Feststellung des Versicherungsverlaufs und Abklärungen zur Rechtsgültigkeit der Ansprüche.

Nach der Bestimmung der anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften müssen AHV-Ausgleichskassen beispielsweise die Versicherungsträger aller Zweige darüber informieren, ob Personen den schweizerischen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit unterstellt sind. Nur so kann die Versicherungspflicht in den einzelnen Versicherungszweigen eruiert werden. Es ist auch ein Informationsaustausch zwischen den zuständigen Trägern der einzelnen Versicherungswerke und ihren Schweizer Verbindungsstellen zum Ausland notwendig, damit letztere ihre Aufgaben gemäss FZA erfüllen können. Auch im Bereich der Leistungsfestsetzung ist eine Datenbekanntgabe zwischen den verschiedenen nationalen Stellen für die Erfüllung
zwischenstaatlicher Verpflichtungen nötig. Für die Bearbeitung von Anträgen auf ausländische Renten ist die ZAS als Verbindungsstelle zum Beispiel auf Angaben der zuständigen AHV-Ausgleichskasse oder IV-Stelle angewiesen. Die ZAS ihrerseits erhält aus dem Ausland Angaben zur Höhe der im Ausland ausbezahlten Renten, die für die korrekte Berechnung der Leistungen im Bereich Unfall, Arbeitslosigkeit oder Ergänzungsleistungen von den jeweiligen Versicherungsträgern ebenfalls benötigt werden.

Im Bereich der Sozialversicherungen gilt der Grundsatz der Schweigepflicht. Eine Datenbekanntgabe kann nur dann erfolgen, wenn eine entsprechende gesetzliche Grundlage eine Abweichung vorsieht. Die Aufhebung der Schweigepflicht ist einerseits in Rahmen der Amts- und Verwaltungshilfebestimmungen nach Artikel 32 ATSG sowie in jedem Einzelgesetz in einer Bestimmung mit der Sachüberschrift «Datenbekanntgabe» vorgesehen. Allerdings erlauben diese Bestimmungen die

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Datenbekanntgabe entweder nur auf schriftliche Anfrage in Einzelfällen oder in Fällen der Datenbekanntgabe zwischen Sozialversicherungsträgern unterschiedlicher Zweige der sozialen Sicherheit, wenn sich eine Pflicht zur Bekanntgabe aus einem Bundesgesetz ergibt. Die Schweigepflicht verhindert zwar den Datenaustausch nicht, wenn dieser für die Anwendung der jeweiligen Gesetze unabdingbar ist, eine entsprechende Regelung für den notwendigen Datenaustausch für die Erfüllung von Aufgaben im Rahmen von internationalen Abkommen fehlt allerdings.

Der Informationsaustausch soll zwischenstaatlich neu systematisch elektronisch abgewickelt werden. Dies setzt auch innerstaatlich gewisse Anpassungen voraus. So erleichtert die Einführung bestimmter nationaler Informationssysteme den elektronischen Datenaustausch mit dem Ausland. Die gegenseitige Datenbekanntgabe zwischen den schweizerischen Versicherungsträgern und zuständigen Stellen kann deshalb nicht mehr nur auf Einzelanfrage oder in schriftlicher Form erfolgen. Es handelt sich vielmehr um ein Massengeschäft, das einen systematischen Informationsfluss erfordert.

Es soll im ATSG deshalb in Abweichung vom Grundsatz der Schweigepflicht die Bekanntgabe von Daten, welche die jeweiligen Stellen in Erfüllung ihrer Aufgaben im Rahmen internationaler Abkommen benötigen, vorgesehen werden, wobei dies im Gegensatz zu den allgemeinen Bestimmungen zur Amts- und Verwaltungshilfe nicht nur schriftlich und auf Einzelanfrage hin erfolgen muss. Im grenzüberschreitenden Verhältnis ist es in jedem Fall bereits möglich, die entsprechenden Informationen elektronisch und systematisch zwischen der jeweiligen in- und der ausländischen Stelle auszutauschen. Mit der vorliegenden Bestimmung können die aus dem Ausland übermittelten Informationen nun auch innerstaatlich ausgetauscht werden, damit die jeweiligen Stellen ihre Aufgaben erfüllen können.

Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit erfordert es, dass sich der Datenaustausch auf das beschränkt, was zur Erfüllung der in den jeweiligen Abkommen vorgesehenen Aufgaben nötig ist. Der Bundesrat soll die Einzelheiten regeln. Auf Verordnungsstufe sollen auch die im Rahmen des EESSI geplanten nationalen Informationssysteme, insbesondere deren Zweck, die Art und der Umfang der Datenbearbeitung und der Datenbekanntgabe sowie die Datensicherheit,
geregelt werden. So kann den datenschutzrechtlichen Vorgaben entsprochen werden. Sollten künftig Informationssysteme entwickelt werden, welche die Bekanntgabe von besonders schützenswerten Daten oder von Persönlichkeitsprofilen im Abrufverfahren oder die Bearbeitung von besonders schützenswerten Personendaten vorsehen, müssten dafür spezialgesetzliche Grundlagen geschaffen werden, um den datenschutzrechtlichen Vorgaben zu genügen.

Art. 45 Abs. 4 Wenn eine versicherte Person wissentlich mit unwahren Angaben oder in anderer rechtswidriger Weise Leistungen erwirkt oder zu erwirken versucht, auf die sie keinen Anspruch hat, hat der Versicherungsträger zur Abwendung eines entsprechenden Schadens für die Versicherung Massnahmen zu treffen und zusätzliche Abklärungen vorzunehmen, die über das übliche Mass der normalerweise erforderlichen Abklärungen hinausgehen. Durch den Beizug von Spezialistinnen und Spe-

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zialisten zur Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs entstehen dem Versicherungsträger erhebliche Mehrkosten. Diese Mehrkosten sollen in Zukunft der versicherten Person, welche die zusätzlichen Abklärungen im Rahmen der Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs verursacht hat, auferlegt werden können.

Es braucht in jedem Fall ein der versicherten Person vorwerfbares Verhalten, wobei hier nicht primär die strafrechtliche Relevanz des entsprechenden Verhaltens, sondern die versicherungsrechtliche Konsequenz zählt. Entweder versucht die versicherte Person Leistungen zu erhalten, obwohl sie davon ausgehen muss, dass ihr solche gar nicht zustehen, oder aber sie trägt durch ein rechtswidriges Verhalten wie beispielsweise durch unwahre Angaben gegenüber der Versicherung oder den begutachtenden Ärztinnen und Ärzten dazu bei, dass ihr zu Unrecht eine Versicherungsleistung zugesprochen wird. Es reicht somit nicht aus, dass eine versicherte Person beispielsweise nur aufgrund einer ungenügenden Abklärung ­ bei vorhandener Mitwirkung und bei stetig wahrheitsgetreuen Angaben ­ durch den Versicherungsträger während Jahren Leistungen empfangen hat, auf die sie bei einer rechtsgenüglichen Abklärung eigentlich gar keinen Anspruch gehabt hätte.

Art. 49 Abs. 5 Diese Regelung entspricht dem geltenden Artikel 97 AHVG, der für die Invalidenversicherung und die Ergänzungsleistungen sinngemäss anwendbar ist (bisherige Art. 66 IVG und Art. 27 ELG). Nach der Rechtsprechung gilt Artikel 97 AHVG analog auch für die Arbeitslosenversicherung und die Krankenversicherung.53 Zwar kann bisher schon über eine ergänzende Anwendung von Artikel 55 Absatz 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vom 20. Dezember 196854 (VwVG) in Verbindung mit Artikel 55 Absatz 1 ATSG einer allfälligen Beschwerde gegen eine Verfügung, die nicht eine Geldleistung zum Gegenstand hat, die aufschiebende Wirkung entzogen werden. Und gemäss der Rechtsprechung sowie der einhelligen Lehrmeinung55 wird als Verfügung, die eine Geldleistung zum Gegenstand hat, entgegen dem Wortlaut des Gesetzes nur eine Verfügung verstanden, welche die Adressatin oder den Adressaten der Verfügung zu einer Geldleistung verpflichtet. Keine Verfügungen über eine Geldleistung im Sinne des VwVG stellen somit Leistungsverfügungen der Sozialversicherungen dar. Wird daher eine bisher ausgerichtete
(Dauer-) Geldleistung eingestellt oder gekürzt, so kann die aufschiebende Wirkung entzogen werden.

Um jegliche Rechtsunsicherheit in diesem Bereich auszuräumen ­ immerhin spricht man in den Sozialversicherungen bei Leistungen wie Renten, Taggeldern, Hilflosenentschädigungen einhellig von Geldleistungen (vgl. etwa die Definition von Geldleistungen in Art. 15 ATSG) ­, soll eine klare gesetzliche Grundlage für alle dem ATSG unterstehenden Sozialversicherungen geschaffen werden. Die neue Regelung 53 54 55

BGE 124 V 82 E. 3b und Krankenversicherung, Rechtsprechung und Verwaltungspraxis, 1981. Nr. 445, S. 80 ff., E. 2.

SR 172.021 vgl. etwa BGE 109 V 229 E. 2a und Seiler Hansjörg, in: Waldmann Bernhard/Weissenberger Philippe (Hrsg.), Praxiskommentar Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl., Zürich: Schulthess, 2016, Art. 55 Ziff. 85 ff.

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dient somit der Rechtssicherheit und ist nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Regelung der vorsorglichen Leistungseinstellung nach Artikel 52a E-ATSG essenziell (vgl. Erläuterungen weiter unten).

Hingegen soll die bisherige Praxis gemäss BGE 130 V 407 (insb. Erw. 3.4), die den Entzug der aufschiebenden Wirkung bei Rückerstattungen unrechtmässig bezogener Leistungen nicht erlaubt, mit dieser Vereinheitlichung auf ATSG-Ebene nicht geändert werden (zweiter Satz).

Für diejenigen Fragen im Zusammenhang mit der aufschiebenden Wirkung, welche durch Artikel 49 Absatz 5 E-ATSG nicht geregelt werden, sind über Artikel 55 Absatz 1 ATSG weiterhin die Bestimmungen des VwVG ergänzend anwendbar (insb. Art. 55 Abs. 2­4 VwVG).

Art. 52 Abs. 4 In dieser Bestimmung soll klargestellt werden, dass der Versicherungsträger auch in Einspracheentscheiden einer allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wirkung entziehen kann, analog zu den Verfügungen nach Artikel 49 Absatz 5 E-ATSG.

Art. 52a In den Sozialversicherungen werden typischerweise Leistungen auf längere oder unbestimmte Zeit zugesprochen (z.B. Renten, Hilflosenentschädigungen, Taggelder sowie medizinische oder berufliche Massnahmen). Im Rahmen einer nachträglichen Überprüfung kann sich zeigen, dass die Rechtmässigkeit der Leistung in Frage gestellt werden muss.56 Ergeben die Abklärungen, dass ein Leistungsbezug mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht oder nicht mehr berechtigt ist, ist aber ein endgültiger Entscheid über die Leistung nicht innert nützlicher Frist möglich, so kann der Versicherungsträger die Leistung vorsorglich einstellen.

Die vorsorgliche Leistungseinstellung wird heute bereits von diversen Versicherungsträgern genutzt, wobei das Verfahren unterschiedlich gehandhabt wird und die kantonalen Gerichte unterschiedliche gesetzliche Grundlagen zur Anwendung bringen. Oftmals wird von den kantonalen Gerichten Artikel 56 VwVG in Verbindung mit Artikel 55 Absatz 1 ATSG herangezogen, auch wenn diese Bestimmung eigentlich für das Beschwerdeverfahren und nicht das Verwaltungsverfahren geschaffen wurde; immerhin wurde in einer beiläufigen Erwähnung in einem Bundesgerichtsurteil vom 12. April 201057 festgehalten, dass die Anordnung einer Renteneinstellung als vorsorgliche Massnahme in analoger Anwendung von Artikel 56 VwVG zulässig sei, wobei auch auf die
BGE 121 V 112 und 119 V 295 Erw. 4 verwiesen wurde.

Neu wird seit dem Inkrafttreten der 5. IV-Revision in der Invalidenversicherung auch Artikel 7b Absatz 2 Buchstaben b und c IVG angewendet. Gleichzeitig gibt es auch Rechtsprechung und Literatur, die festhält, dass die Leistungssistierung ohne 56

57

Vgl. hierzu Schlauri Franz, Die vorsorgliche Einstellung von Dauerleistungen der Sozialversicherungen, in: Schaffhauer René/Schlauri Franz, Die Revision von Dauerleistungen in der Sozialversicherung, St. Gallen: Schweizerisches Institut für Verwaltungskurse, Neue Reihe, Band 47. 1999, S.191 ff.

Urteil des Bundesgerichts 9C_45/2010 vom 12. Apr. 2010 E. 2.

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spezielle gesetzliche Grundlage ohne Weiteres zulässig sein müsse und sich aus den materiell-rechtlichen Bestimmungen ableite, deren Durchsetzung gesichert werden soll.58 Artikel 52a E-ATSG soll nun eine einheitliche Handhabung der vorsorglichen Leistungseinstellung innerhalb der Sozialversicherungen und eine schweizweite Unité de doctrine herstellen. Als Beispiele für eine vorsorgliche Leistungseinstellung können folgende praxisbezogenen Fälle dienen: ­

Ein Versicherungsträger erfährt, dass ein Strafverfahren wegen Versicherungsbetrugs hängig ist, nimmt Einsicht in die entsprechenden Akten und stellt fest, dass die versicherte Person Tätigkeiten ausgeübt hat, die nicht vereinbar sind mit dem der Leistungsverfügung zugrunde liegenden Gesundheitsschaden.

­

Ein Versicherungsträger stellt fest, dass eine versicherte Person zwar ein für den Leistungsanspruch erhebliches Einkommen generiert, dass sie dieses jedoch nicht ordnungsgemäss gemeldet hat.

Der Versicherungsträger soll daher eine vorsorgliche Leistungseinstellung vornehmen können, wenn der begründete Verdacht besteht, dass die versicherte Person die Leistung unrechtmässig erwirkt oder wenn sie es unterlassen hat, wesentliche Änderungen in den für die Leistung massgebenden Verhältnissen zu melden. Ein Verdacht ist dann begründet, wenn er auf einem konkreten Hinweis oder mehreren Anhaltspunkten beruht, die auf einen unrechtmässigen Leistungsbezug oder eine Meldepflichtverletzung hindeuten.

Eine Interessenabwägung fällt in diesen Situationen zugunsten des Versicherungsträgers aus, dessen Interesse an der Vermeidung von Umtrieben und Verlustrisiken im Zusammenhang mit allfälligen Rückforderungen klar höher zu werten ist als das Interesse des Versicherten, nicht in eine vorübergehende finanzielle Notlage zu geraten. Dies umso mehr, als die Prozessaussichten im Hauptverfahren für die Versicherten in solchen Fällen grundsätzlich kaum je eindeutig positiv zu werten sind. Dieselbe Interessenabwägung wird von den kantonalen Gerichten wie auch vom Bundesgericht regelmässig bei der Frage des Entzugs der aufschiebenden Wirkung zugunsten des Versicherungsträgers gemacht.

Hierbei muss jedoch der Versicherungsträger die Sicherung allfällig uneinbringlicher Rückforderungen abwägen gegen mögliche Nachteile bei der weiteren Abklärung. So erfährt die versicherte Person mit einer vorsorglichen Leistungseinstellung durch den Versicherungsträger beispielsweise unweigerlich, dass der Versicherungsträger Zweifel an der Leistungsberechtigung hegt. Dadurch aber hat sie auch die Möglichkeit, sich im Laufe der weiteren Abklärungen so zu verhalten, dass die Leistungsberechtigung am Ende nicht mehr in Zweifel steht.

Die Anordnung einer vorsorglichen Leistungseinstellung hat in Form einer Verfügung zu erfolgen (Art. 49 Abs. 1 ATSG) und unterliegt als prozess- und verfahrens-

58

Vgl. hierzu etwa das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes C-676/2008 vom 21. Juli 2009.

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leitende Verfügung59 nicht der Einsprache (Art. 52 Abs. 1 ATSG). Die Verfügung kann dagegen direkt beim kantonalen Versicherungsgericht angefochten werden (Art. 56 Abs. 1 ATSG).

Um eine sofortige Vollstreckbarkeit der vorsorglichen Leistungseinstellung sicherzustellen, muss der Versicherungsträger die Möglichkeit haben, einer allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu entziehen. Der Entzug der aufschiebenden Wirkung soll neu in Artikel 49 Absatz 5 E-ATSG geregelt werden.

Bei der vorsorglichen Leistungseinstellung ist sodann wie bei jeder Verfügung Artikel 49 Absatz 4 ATSG zu berücksichtigen.

Art. 61 Bst. a und fbis Gemäss der Motion 09.3406 soll der Grundsatz der Kostenlosigkeit des Beschwerdeverfahrens vor kantonalen Gerichten im Bereich Sozialversicherungen aufgehoben werden. Der Hinweis auf die Kostenlosigkeit des Verfahrens soll deshalb gestrichen werden (Art. 61 Bst. a E-ATSG). Damit werden die Bestimmungen des kantonalen Rechts über die Verfahrenskosten anwendbar.

Nach Buchstabe fbis hingegen soll bei Leistungsstreitigkeiten eine Kostenpflicht nur dann bestehen, wenn das Einzelgesetz es vorsieht. Dies ist seit dem 1. Juli 2006 für die Invalidenversicherung bereits der Fall (Art. 69 Abs. 1bis IVG).

Diese Lösung entspricht den Ergebnissen der parlamentarischen Beratungen, in denen die Forderung nach einer differenzierten Lösung anstelle der Einführung einer generellen Kostenpflicht für Beschwerdeverfahren vorgebracht wurde.

Einer Partei, die sich mutwillig oder leichtsinnig verhält, kann das Gericht auch dann Gerichtskosten auferlegen, wenn das Einzelgesetz keine Kostenpflicht vorsieht. Diese in Buchstabe fbis vorgesehene Regelung entspricht der heutigen Regelung im letzten Satz von Artikel 61 Buchstabe a.

Art. 70 Abs. 2 Bst. b Dass eine Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung gegenüber der Militärversicherung nicht bestehen soll, ist nicht nachvollziehbar und ein gesetzgeberisches Versehen.60 Bei allen anderen in Artikel 70 Absatz 2 ATSG genannten Versicherungen besteht eine Vorleistungspflicht gegenüber der Militärversicherung. Durch die Aufnahme der Militärversicherung in die Aufzählung von Buchstabe b wird dieses gesetzgeberische Versehen behoben.

Art. 72 Abs. 3 zweiter Satz Diese Änderung betrifft nur den französischen und den italienischen Gesetzestext, die durch die Einführung des Begriffs «relatif» beziehungsweise «relativo» dem deutschen Text («relative Fristen») angepasst werden sollen.

59 60

Vgl. hierzu Kieser Ueli, Kommentar ATSG, Zürich 2015, 3. Aufl., Zürich: Schulthess, 2015, Art. 52 Rz. 46.

Vgl. auch Kieser Ueli, Kommentar ATSG, Zürich 2015, 3. Aufl., Zürich: Schulthess, 2015, Art. 70 Rz. 33.

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Art. 73 Abs. 2 Kürzt ein Sozialversicherer seine Leistungen wird im Regress der haftpflichtrechtliche Schadenersatzanspruch nach der Quotenteilungsregel gemäss Artikel 73 Absatz 2 ATSG auf den Anspruch der geschädigten Person und die regressierende Sozialversicherung verteilt. Dabei soll sich auch die haftpflichtrechtliche Schadenersatzreduktion auf die versicherte Person auswirken. Als Voraussetzung der Anwendung von Artikel 73 Absatz 2 müssen die regressierenden Sozialversicherer die Leistungen gekürzt haben (z. B. wegen verletzter Schadenminderungspflicht). Sie subrogieren im Umfang der gekürzten Leistungen in den Haftpflichtanspruch der geschädigten Person. Die Leistungskürzungen sollen nicht aufgefangen werden durch entsprechend erhöhte Schadenersatzleistungen aus Haftpflicht. Artikel 73 Absatz 2 enthält Verweisungen auf die Leistungskürzungen nach Artikel 21 ATSG, die aus Gründen der Vollständigkeit mit einer Verweisung auf Absatz 4 zu ergänzen sind. Die Leistungskürzungen wegen verletzter Schadenminderungspflicht der versicherten Person im Sinne von Artikel 21 Absatz 4 erhielten durch die jüngsten IV-Revisionen eine verstärkte praktische Bedeutung.

Art. 74 Abs. 2 Bst. c: Als Rentenverkürzungsschaden oder einfacher Rentenschaden gilt die auf die Beitragslücken entfallende Reduktion der Altersleistungen. Er entspricht der Differenz zwischen den hypothetischen Altersrenten (ohne Unfallfolgen) und dem beitragsfinanzierten Anteil der Altersrenten. Die Entschädigung des Rentenverkürzungsschadens entspricht jüngster gängiger Gerichtspraxis (u. a. BGE 129 III 135 ff., Urteil 4C.343/2003 des Bundesgerichts vom 13. Okt. 2004). Für einen bestimmten Teil der Leistungen subrogieren Sozialversicherungen (Unfallversicherung und AHV) gemäss BGE 126 III 41 ff. in den haftpflichtrechtlichen Rentenschaden.

Bst. h: Die zusätzlichen Kosten für Umtriebe, die allgemein bei der Schadensermittlung entstehen, gehören ebenfalls zum haftpflichtrechtlichen Schaden: Das sind einerseits Abklärungskosten bezüglich der Ursache und andererseits Kosten für die Ermittlung der Schadenshöhe61. Bei der Personenschadenerledigung spielen sowohl haftpflicht- wie sozialversicherungsrechtlich hauptsächlich die Expertisekosten eine Rolle. Es herrscht Identität zwischen den haftpflichtrechtlichen Schadenermittlungskosten und den von
den Sozialversicherern entrichteten Kosten für Abklärungen (z.B. für medizinische Gutachten), die der Personenschadenausmittlung dienen.62 Demzufolge können beispielsweise die von Sozialversicherern entrichteten Kosten für berufliche Abklärungen und für medizinische Gutachten, die nötig waren, um 61

62

Vgl. Brehm Roland, in: Berner Kommentar, Kommentar zum schweizerischen Privatrecht/Obligationenrecht: Die einzelnen Vertragsverhältnisse, Gesellschaftsrecht, Wertpapierrecht, Art. 363­1186 / Allgemeine Bestimmungen ­ Die Entstehung durch unerlaubte Handlungen, Art. 41­61 OR, Band VI, 1. Abt., 3. Teilband, 1. Unterteilband, 4. Aufl., Bern: Stämpfli, 2013; N 77 f. zu Artikel 41 OR, sowie Landolt Hardy, in: Zürcher Kommentar zum schweizerischen Zivilrecht, Obligationenrecht, Teilband V/1c/2, Art. 45­49 OR. Die Entstehung durch unerlaubte Handlungen, 3. Aufl., Zürich: Schulthess, 2007, N 216 zu Artikel 46 OR.

Urteil des Bundesgerichts 2C_1087/2013 vom 28. Mai 2014 E. 5.2.

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den Umschulungsbedarf abzuklären oder die Heilung an die Hand zu nehmen, im Regress geltend gemacht werden.

Art. 75a Das europäische Koordinationsrecht weist Stellen wie der «zuständigen Behörde», den «Verbindungsstellen» oder den «zuständigen Trägern» bestimmte Aufgaben zu.

Gemäss den bis zum 31. März 2012 gültigen Bestimmungen wurden die national zuständig erklärten Stellen in einem Anhang namentlich aufgeführt. Mit Einführung der Verordnung (EG) Nr. 883/200463 wurden die jeweiligen nationalen Aufgabenzuteilungen in eine öffentlich zugängliche europäische Datenbank (elektronisches Verzeichnis nach Art. 88 Abs. 4 i.V.m. Anhang 4 der Verordnung [EG] Nr. 987/200964) überführt und die entsprechenden Bestimmungen gelöscht. Der vorliegende Artikel kodifiziert deshalb die bestehende Aufgabenzuteilung formell in einer gesetzlichen Grundlage. Dabei sind weder inhaltliche noch organisatorische Änderungen der Zuständigkeiten der betroffenen Stellen vorgesehen. Die entsprechenden Aufgaben werden durch dieselben Stellen auch im Rahmen anderer internationaler Abkommen über die soziale Sicherheit wahrgenommen, ohne dass diese Zuständigkeit bislang explizit in einer Rechtsgrundlage festgehalten wurde. Vorliegende Bestimmung soll die Zuständigkeiten in den internationalen Beziehungen nun umfassend regeln.

Art. 75b Abs. 1: Heute übermitteln die Durchführungsstellen wie beispielsweise die AHVAusgleichskassen oder die Kranken- und Unfallversicherer die für die Umsetzung der Koordinierungsvorschriften nötigen Daten auf Papierformularen. Die EU-Koordinationsverordnungen (u.a. Art. 78 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und Art.

2­4 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009) sehen die Abschaffung des Informationsaustausches in Papierform und den allgemeinen Einsatz des elektronischen Datenaustausches vor. Die beteiligten Staaten werden verpflichtet, im Rahmen des elektronischen Datenaustausches einen eigenen elektronischen Datenverarbeitungsdienst zu betreiben, der es den Durchführungsstellen erlaubt, die innerhalb der Europäischen Union verwendeten strukturierten elektronischen Dokumente (Structured Electronic Documents: SED; elektronische Formulare) und anderweitige Informationen neu via elektronische Zugangsstellen zwischen den Staaten zu übermitteln.

Diese elektronischen Zugangsstellen werden teilweise von der Europäischen
Union, teilweise von den beteiligten Staaten entwickelt. Sie müssen alle national erforderlichen Elemente enthalten (z.B. Kommunikation mit den nationalen Stellen, Nach63

64

Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. L 166 vom 30.4.2004, S. 1; eine unverbindliche, konsolidierte Fassung dieser Verordnung ist veröffentlicht in SR 0.831.109.268.1.

Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (mit Anhängen), ABl. L 284 vom 30.10.2009, S. 1; eine unverbindliche, konsolidierte Fassung dieser Verordnung ist veröffentlicht in SR 0.831.109.268.11.

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richtenumwandlung). Jeder Staat verfügt über mindestens eine, höchstens jedoch fünf Zugangsstellen. Es ist vorgesehen, dass die Schweiz, wie die meisten durch den elektronischen Datenaustausch im Bereich der sozialen Sicherheit betroffenen Staaten, zur Vermeidung von Mehrausgaben nur eine einzige Zugangsstelle einrichtet. Die vorliegende Bestimmung soll den Bundesrat dazu ermächtigen, die Zuständigkeit für die Erstellung und den Betrieb dieser nationalen Zugangsstellen sowie weiterer nötiger Infrastruktur in der Schweiz zu regeln.

Abs. 2: Die Durchführungsstellen rufen die in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden und aus dem Ausland elektronisch übermittelten Daten mittels geschütztem Zugriff von den Zugangsstellen ab. Ein solches Abrufverfahren in datenschutzrechtlichem Sinne erfordert eine gesetzliche Grundlage.

Art. 75c Die betroffenen Sozialversicherungsträger tauschen mittels der Anwendung RINA (Reference Implementation for a National Application,), einer den Staaten durch die europäische Kommission zur Verfügung gestellten und webbasierten Benutzeroberfläche, elektronische Formulare aus über die elektronischen Zugangsstellen nach Artikel 75b E-ATSG. Sowohl die elektronischen Zugangsstellen als auch die Anwendung sind einzurichten und zu betreiben. RINA eignet sich allerdings eher für kleinere Stellen mit geringem Datenvolumen, da sie personalintensiv ist. Alternativ können auch eigene nationale Informationssysteme die entsprechenden Aufgaben übernehmen. Sofern bereits nationale Informationssysteme bestehen, sind diese mittels IT-Schnittstellen mit den elektronischen Zugangsstellen zu verknüpfen.

Diese Infrastruktur erlaubt es den Durchführungsstellen, die heute in Papierform übermittelten Daten neu elektronisch zu übermitteln. Die elektronischen Zugangsstellen stellen somit das operative Geschäft dieser Stellen sicher und dienen der Abwicklung von Durchführungsaufgaben. Aus diesem Grund haben sich diejenigen Stellen, welche die elektronischen Zugangsstellen benutzen, auch an deren Finanzierung zu beteiligen, in Form einer Abgabe, die nach dem Ausmass der Benutzung bemessen wird. Eine verhältnismässige finanzielle Beteiligung der Benutzer ist gerechtfertigt. Es gilt auch zu beachten, dass die Durchführungsstellen entlastet werden mit der Schaffung von ALPS, dem Informationssystem im Bereich
der Versicherungsunterstellung, welches die Versicherungsunterstellung für alle Versicherungszweige bestimmt und an dessen Entwicklung und Betrieb sie sich finanziell nicht beteiligen müssen (vgl. Art. 95a E-AHVG). Die Kompetenz zur Festlegung der Benutzungsgebühr liegt beim Bundesrat, der das Verfahren und die Höhe gemäss den Vorgaben von Artikel 46a des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 199765 festsetzt.

Übergangsbestimmung zur Änderung vom ...

Diese Übergangsbestimmung gilt für die im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Änderung in erster Instanz (Art. 61 ATSG) hängigen Beschwerden.

65

SR 172.010

1642

BBl 2018

2.2

Änderung anderer Erlasse

2.2.1

Kompetenz der Bundesversammlung zur Genehmigung internationaler Verträge mit einfachem Bundesbeschluss

Art. 153b E-AHVG, Art. 80b E-IVG, Art. 32a E-ELG, Art. 89f E-BVG, Art. 25h E-FZG, Art. 95b E-KVG, Art. 115b E-UVG, Art. 28b E-EOG, Art. 23b E-FLG, Art. 24a E-FamZG, Art. 121a E-AVIG In den verschiedenen Sozialversicherungsgesetzen soll eine neue Bestimmung aufgenommen werden, die der Bundesversammlung die Befugnis erteilt, Sozialversicherungsabkommen mit einfachem Bundesbeschluss zu genehmigen. Somit sollen Sozialversicherungsabkommen weiterhin der Zustimmung der Bundesversammlung bedürfen und auch künftig vom fakultativen Referendum ausgenommen sein, allerdings hätte dieses Vorgehen nunmehr eine gesetzliche Grundlage. Diese Kompetenzdelegation an die Bundesversammlung kodifiziert gewissermassen die Praxis für «Standardabkommen» und schafft dazu die notwendige juristische Grundlage (vgl.

Ziff. 1.2.2).

Entsprechend führt die Bestimmung diejenigen Koordinationsgrundsätze und Reglementierungen auf, die derzeit in den bestehenden Verträgen enthalten sind und als Vorlage für allfällige künftige Abkommen dienen sollen. Diese Standardreglementierungen zielen auf eine Nichtdiskriminierung der Angehörigen des Partnerstaates ab, gewährleisten die Auszahlung gewisser Leistungen im Ausland, ermöglichen die Bestimmung der Rechtsvorschriften, aufgrund welcher eine Person versichert ist, sowie eine Berücksichtigung ausländischer Versicherungszeiten. Ausserdem können die Übernahme und die Rückerstattung von Behandlungskosten bei Krankheit und Unfall erwähnt sein.

Neu sollen in den einzelnen Gesetzen folgende Bestimmungen eingefügt werden: ­

Art. 153b E-AHVG

­

Art. 80b E-IVG

­

Art. 32a E-ELG

­

Art. 89f E-BVG

­

Art. 25h E-FZG

­

Art. 95b E-KVG

­

Art. 115b E-UVG

­

Art. 28b E-EOG

­

Art. 23b E-FLG

­

Art. 24a E-FamZG

­

Art. 121a E-AVIG

1643

BBl 2018

2.2.2

Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung

Art. 49a Der im europäischen Koordinierungsrecht angestrebte elektronische Datenaustausch stellt auch Anforderungen an die nationale Informationsverarbeitung. Um den Datenaustausch zu modernisieren und den administrativen Aufwand der diversen involvierten Sozialversicherungsträger und Durchführungsstellen zu minimieren, werden nationale Informationssysteme entwickelt. In der Schweiz wurden bisher zwei Anwendungen entwickelt: ALPS, das Informationssystem zur Bestimmung der Versicherungsunterstellung, und SWAP, das Informationssystem zur Festlegung der Renten im Bereich der 1. Säule.

Die Entwicklung solcher Systeme, die der Erfüllung von Aufgaben aufgrund internationaler Sozialversicherungsabkommen dienen, erfolgt immer unter Einbezug der involvierten Stellen, wie dies auch bei ALPS und SWAP der Fall ist. Damit wird sichergestellt, dass solche Systeme praxistauglich sind und auf bestehende Informatiklösungen der Durchführungsstellen in angemessener Weise Rücksicht genommen werden kann.

Es muss aber auch möglich sein, diejenigen Stellen, welche diese Informationssysteme nutzen, zu deren Verwendung zu verpflichten. Nur so kann verhindert werden, dass durch die Verwendung unterschiedlicher Informatiklösungen und Standards die direkte Weiterbearbeitung von Daten durch eine nachfolgende Stelle erschwert oder verunmöglicht wird oder die Kosten unverhältnismässig hoch ausfallen. Zudem wird durch die Verwendung einer einheitlichen Lösung die Bearbeitungszeit verkürzt; die langen Bearbeitungszeiten im Bereich der internationalen Sozialversicherung geben seitens der Arbeitgeber und der betroffenen Versicherten bislang immer wieder Grund zur Kritik. Eine einheitliche Lösung bringt sowohl für die Durchführungsstellen als auch für die angeschlossenen Unternehmen und die Versicherten einen direkten Nutzen und führt folglich zu Transparenz bei den zuständigen Stellen und der Verwaltung. Schliesslich erleichtert das System auch die Weiterleitung der elektronischen Daten zwischen der Schweiz und den betroffenen ausländischen Staaten.

Art. 49b Artikel 49b E-AHVG entspricht grösstenteils dem bisherigen Artikel 49a AHVG, der die Bearbeitung von Personendaten regelt. Infolge des neu vorgeschlagenen Artikels 49a E-AHVG wird der geltende Artikel 49a aber neu zu Artikel 49b E-AHVG. Zudem wird im Einleitungssatz eine
Präzisierung vorgenommen: Es wird festgehalten, dass die Befugnisse zur Bearbeitung von Personendaten auch für Aufgaben aufgrund von zwischenstaatlichen Vereinbarungen gelten.

Art. 71 Abs. 4 Die Aufgaben der ZAS sind in Artikel 71 AHVG präzisiert. Absatz 4 hält fest, dass die ZAS auch gewisse Register führt.

1644

BBl 2018

Im zentralen Versichertenregister sind die den Versicherten zugewiesenen Versichertennummern erfasst. Es soll hier nun präzisiert werden, dass auch ausländische Identifikationsnummern der sozialen Sicherheit erfasst werden können (Bst. a). Dies erleichtert es der ZAS, das zwischenstaatliche Antragsverfahren systematisch abzuwickeln.

Das Register der laufenden Leistungen dient dazu, ungerechtfertigte Zahlungen zu vermeiden. Da auch ausländische Leistungen die Höhe der schweizerischen Leistungen beeinflussen können, soll der bestehende Buchstabe b ergänzt werden, damit im Register auch gleichartige ausländische Geldleistungen, die aufgrund von zwischenstaatlichen Vereinbarungen gewährt werden, erfasst werden können.

Art. 85bis Abs. 2 Die vorgeschlagene Regelung in Artikel 61 Buchstabe fbis E-ATSG soll sinngemäss auch für die Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht nach Artikel 85bis Absatz 2 AHVG anwendbar sein.

Art. 91 Abs. 2 Der heutige Artikel 91 Absatz 2 zweiter Satz AHVG, sieht vor, dass Ordnungsbussenverfügungen mit Beschwerde anfechtbar sind. Diese seit dem 1. Januar 1973 unverändert gebliebene Regelung steht in Widerspruch zu Artikel 52 Absatz 1 ATSG, wonach gegen Verfügungen bei der verfügenden Stelle Einsprache erhoben werden kann. Offensichtlich handelt es sich hier um ein gesetzgeberisches Versehen und wurde anlässlich der Einführung des ATSG per 1. Januar 2003 eine entsprechende Anpassung von Artikel 91 Absatz 2 AHVG versäumt. Dass der Gesetzgeber nicht willentlich eine Abweichung vom einheitlichen Einspracheverfahren für Ordnungsbussenverfügungen anstrebte, zeigt sich insbesondere darin, dass die Abweichung nicht ausdrücklich als solche bezeichnet wurde.66 In diesem Sinne soll die fehlerhafte Abweichung aufgehoben und die Regelung mit dem ATSG in Einklang gebracht werden.

Art. 95a Für die Abwicklung des elektronischen Datenaustausches auf nationaler Ebene und für den Datenaustausch mit dem Ausland wurde im Bereich der Versicherungsunterstellung das Informationssystem ALPS entwickelt. Diese Webapplikation erlaubt es den betroffenen Firmen und Selbstständigerwerbenden, den Austausch von Daten zu Arbeitseinsätzen im Ausland mit den Kassen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) direkt online abzuwickeln, was aufgrund der harmonisierten und vereinfachten Prozesse und der
verkürzten Bearbeitungszeit zu grossen Einsparungen bei der Erledigung dieser administrativen Aufgaben der AHV-Ausgleichskassen führt. Die Kosten für die Entwicklung des Systems wurden aufgrund von Artikel 95 Absatz 1quater AHVG durch den AHV-Fonds übernommen, der es ermöglicht, kassenübergreifende Informatikprojekte zu realisieren, die für die Entwicklung der 66

Vgl. Kieser Ueli, Kommentar ATSG, Zürich 2015, 3. Aufl., Zürich: Schulthess, 2015, Art. 52 Rz. 15 sowie Art. 2 Rz. 21.

1645

BBl 2018

Versicherung notwendig und für AHV-Ausgleichskassen sowie Versicherte und Arbeitgeber nutzbringend sind. Gemäss Wortlaut bezieht sich die Kostentragung des AHV-Fonds ausschliesslich auf die Entwicklung solcher Informatikprojekte, nicht aber auf deren Betrieb. Dies obwohl in der damaligen Botschaft des Bundesrates vom 3. Dezember 201067 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (Verbesserung der Durchführung) ausgeführt wurde, dass damit der Bund über eine gesetzliche Grundlage verfüge, um damit u.a. kassenübergreifende Informatikprojekte unterhalten zu können.68 Mit der vorliegenden Regelung soll ermöglicht werden, dass nicht nur die Entwicklung, sondern auch der Betrieb von Informatikprojekten wie ALPS, welche der Erfüllung der aus internationalen Sozialversicherungsabkommen resultierenden Pflichten dienen, durch den AHV-Fonds finanziert wird. Mit der Begrenzung auf Informatikprojekte im Bereich des internationalen Sozialversicherungsrechts wird der Anwendungsbereich limitiert und damit die finanzielle Belastung für den AHVFonds begrenzt. Mit dieser Regelung kann sichergestellt werden, dass kassenübergreifende Informatikprojekte in diesem Bereich auch umgesetzt werden können.

Dadurch werden zudem die Durchführungsstellen, welche sich bereits finanziell an der Finanzierung der elektronischen Zugangsstellen beteiligen (vgl. Artikel 75c E-ATSG), entlastet.

Art. 97 Die Regelung des Entzugs der aufschiebenden Wirkung einer allfälligen Beschwerde bei Verfügungen über Geldleistungen soll neu in Artikel 49 Absatz 5 E-ATSG aufgenommen worden, weshalb die bisherige spezialgesetzliche Regelung im AHVG nicht mehr notwendig ist. Die neue ATSG-Bestimmung ist automatisch für die AHV anwendbar (über Art. 1 Abs. 1 AHVG).

2.2.3

Bundesgesetz über die Invalidenversicherung

Art. 14bis Abs. 2 Anspruch auf medizinische Massnahmen nach Artikel 14 IVG haben versicherte Personen bis zum 20. Altersjahr, sei es zur Behandlung von Geburtsgebrechen (Art. 13 IVG), zur Eingliederung ins Erwerbsleben oder zur Betätigung im Aufgabenbereich (Art. 12 IVG). Dabei umfassen die medizinischen Massnahmen die Behandlung, die vom Arzt oder der Ärztin selbst oder auf dessen oder deren Anordnung durch medizinische Hilfspersonen in Anstalts- oder Hauspflege vorgenommen wird, mit Ausnahme von logopädischen und psychomotorischen Therapien (Art. 14 Abs. 1 Bst. a IVG), sowie die Abgabe der vom Arzt oder der Ärztin verordneten Arzneien (Art. 14 Abs. 1 Bst. b IVG). Erfolgt die ärztliche Behandlung in einer Kranken- oder Kuranstalt, so hat die versicherte Person überdies Anspruch auf Unterkunft und Verpflegung in der allgemeinen Abteilung. Begibt sich die versi67 68

BBl 2011 543 BBl 2011 564

1646

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cherte Person in eine andere Abteilung, obwohl die Massnahme in der allgemeinen Abteilung durchgeführt werden könnte, so hat sie Anspruch auf Ersatz der Kosten, die der Versicherung bei Behandlung in der allgemeinen Abteilung entstanden wären (Abs. 2).

Gemäss Artikel 14bis IVG wird die Kostenvergütung für stationäre Behandlungen im Sinne von Artikel 14 IVG, die in einem nach Artikel 39 KVG zugelassenen Spital erbracht werden, zu 80 Prozent durch die die IV und zu 20 Prozent durch den Wohnkanton der versicherten Person geleistet. Der Wohnkanton entrichtet seinen Anteil direkt dem Spital. Diese Bestimmung ist seit dem 1. Januar 2013 in Kraft und ersetzt die aufgrund eines Beschlusses der Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) vom 26. November 1987 (damals noch Sanitätsdirektorenkonferenz) bereits ab 1987 bis Ende 2011 geltende Kostenaufteilung. Im Hinblick auf die neue Spitalfinanzierung ab dem 1. Januar 2012 hatte die GDK die entsprechende Vereinbarung aufgelöst. Das Parlament hat sich deshalb veranlasst gesehen, den Kostenteiler auf einer gesetzlichen Grundlage wiedereinzuführen.69 Mit der Neuregelung wird eine der Kostenaufteilung im KVG (Art. 49a KVG) vergleichbare Regelung für das Verhältnis zwischen IV und Wohnkanton geschaffen, allerdings mit einem anderen Kostenteiler; hier gilt gesamtschweizerisch ein fixer Kostenteiler von 80 Prozent für die IV und 20 Prozent für denWohnkanton.

Der IV sind somit nur noch 80 Prozent des vollen Tarifs in Rechnung zu stellen, 20 Prozent übernimmt der Wohnkanton der versicherten Person. Massgebend ist der für das behandelnde Spital geltende IV-Tarif (vgl. Art. 3quater der Verordnung vom 17. Jan. 196170 über die Invalidenversicherung[IVV]).

Offenbar haben die Kantone für die aufgrund des vorstehend erwähnten GDKBeschlusses bis Ende 2011 übernommenen Kostenanteile für IV-Behandlungen bisher keine oder nur wenige Regressansprüche geltend gemacht. Soweit ersichtlich, hat die Regressfrage auch in den parlamentarischen Beratungen keine Rolle gespielt.

In der Botschaft zur IV-Revision 6b war Artikel 14bis IVG nicht enthalten; die Notwendigkeit einer solchen Regelung wurde erst in der Kommission des Ständerates erkannt. Der Gesetzgeber hat es aber versäumt, die gesetzliche Kostenaufteilung in Artikel 14bis IVG mit einer Subrogationsnorm zu ergänzen, wie sie in Artikel
79a KVG enthalten ist. Eine gesetzliche Grundlage ist sinnvollerweise im IVG aufzunehmen, dem Gesetz, das auch die Kostenübernahmepflicht des Kantons zu 20 Prozent festlegt. Dies geschieht ­ analog zu Artikel 79a KVG ­ durch einen Verweis auf die Regressbestimmungen des ATSG.

Sicherlich wäre es stossend, wenn letztlich die haftpflichtige Person von der Kostenaufteilung zwischen IV und Kanton profitieren würde, was dann der Fall wäre, wenn keine Regressmöglichkeit bestünde.71

69 70 71

AB 2011 S 1197 (Votum Kuprecht); AB 2012 N 708 (Votum Humbel) SR 831.201 Vgl. dazu Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts K 152/99 vom 18. April 2002 E. 4b und BBl 2004 5581.

1647

BBl 2018

Art. 57a Abs. 3 Abs. 3: Mit der Einführung der Massnahmen zur Verfahrensstraffung per 1. Juli 2006 wurde in der IV der Vorbescheid wieder eingeführt, und in diesem Zusammenhang wurde die Frist (30 Tage) für die Einwanderhebung gegen den Vorbescheid in Artikel 73ter Absatz 1 IVV geregelt. Gemäss dem BGE 143 V 71 ist die auf Verordnungsebene festgehaltene Frist erstreckbar. Aus den Materialien geht jedoch klar hervor, dass dies nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprach. Deshalb soll mit dieser Gesetzesanpassung kodifiziert werden, dass diese 30-tägige Frist nicht erstreckbar ist.

Zum einen wurde das Vorbescheidverfahren im Zuge der Verfahrensstraffung eingeführt. Würde die Frist weiterhin in der IVV geregelt bleiben und das Bundesgericht zum Schluss kommen, dass es sich dabei um eine richterliche Frist handelt, würde dies dem Sinn und Zweck zuwiderlaufen und unter Umständen zu einer ungewollten Verlängerung des Verfahrens führen. Zum anderen sind an die Vorbringung von Einwänden gegen den Vorbescheid keine grossen formellen Anforderungen gestellt; diese kann z.B. auch mündlich erfolgen. Eine absolute Frist von 30 Tagen erscheint auch im Lichte des Rechtsschutzes der Versicherten unbedenklich, haben diese doch die Möglichkeit nach Erhalt der Verfügung, ebenfalls in einer gesetzlichen Frist von 30 Tagen, Beschwerde dagegen zu führen.

Wie die Frage der Möglichkeit der vorsorglichen Leistungseinstellung wird auch die Frage, ob der vorsorglichen Leistungseinstellung ein Vorbescheidverfahren voranzugehen hat beziehungsweise inwiefern das rechtliche Gehör zu gewähren ist, von den Gerichten unterschiedlich beantwortet. So entschieden einige kantonale Gerichte mit Verweis auf die betroffenen Interessen der IV und die zeitliche Dringlichkeit, dass bei einer vorsorglichen Leistungseinstellung kein Vorbescheid nötig sei. Andere Gerichte verweisen jedoch auch auf die zwingende Natur des rechtlichen Gehörs beziehungsweise des Vorbescheids, lassen jedoch dann teilweise zu, dass in solchen Fällen die übliche 30-tägige Frist für einen Einwand zum Vorbescheid massiv gekürzt wird. Es gilt in diesem Bereich die Interessen der Versicherung und den Verfahrensschutz der von einer einschneidenden Massnahme betroffenen Personen gegeneinander abzuwägen. Aus diesem Grund soll die Frist zur Stellungnahme im Rahmen des
Vorbescheidverfahres auf 10 Tage verkürzt werden.

Systematisch ist die Frist in Artikel 57a Absatz 3 E-IVG aufzunehmen, da die Frist auch für die in Absatz 2 genannten Parteien zu gelten hat.

Art. 66 erster Satz Diese Bestimmung erklärt die Vorschriften des AHVG für verschiedene Bereiche als sinngemäss anwendbar. Da in einigen der betroffenen Bereiche mit der vorliegenden Revision Änderungen vorgesehen sind, muss diese Bestimmung angepasst werden: Die Regelung des Entzugs der aufschiebenden Wirkung einer allfälligen Beschwerde bei Verfügungen über Geldleistungen soll neu in Artikel 49 Absatz 5 E-ATSG aufgenommen werden und in der Folge soll Artikel 97 AHVG, auf den bisher verwiesen wird, aufgehoben werden. Aus diesem Grund soll auch in Artikel 66 E-IVG der Verweis auf die aufschiebende Wirkung (nach Art. 97 AHVG) ersatzlos wegfal1648

BBl 2018

len. Artikel 49 Absatz 5 E-ATSG ist automatisch für die Invalidenversicherung anwendbar (über Art. 1 Abs. 1 IVG).

Der im europäischen Koordinierungsrecht angestrebte elektronische Datenaustausch stellt auch Anforderungen an die nationale Informationsverarbeitung. Um den Datenaustausch zu modernisieren und den administrativen Aufwand der diversen involvierten Sozialversicherungsträger und Durchführungsstellen zu minimieren, wurde unter Einbezug der involvierten Stellen SWAP, das Informationssystem zur Festlegung der Renten im Bereich der 1. Säule, entwickelt. Dieses System, das die Prozesse im Bereich des EU-Rentenantragsverfahrens regelt, wird auch von den IVStellen genutzt, welche die benötigten Daten direkt im System erfassen und der ZAS elektronisch übermitteln. Die IV-Stellen sollen deshalb von der neu vorgesehenen Regelung in Artikel 49a E-AHVG erfasst werden. Damit Artikel 49a E-AHVG auch auf die IV-Stellen anwendbar ist, ist der Verweis auf die dort geregelten Informationssysteme neu in Artikel 66 E-IVG aufzunehmen.

Art. 66a Abs. 1 Bst. d Zur Erfassung und Bearbeitung von Anträgen für in- und ausländische Leistungen sowie zu deren Austausch zwischen den Versicherungsträgern und Durchführungsorganen wird ein Informationssystem entwickelt. Dieses bezweckt die Feststellung der Leistungen im Rahmen der Erfüllung gesetzlicher oder durch zwischenstaatliche Vereinbarungen übertragener Aufgaben. Im Rahmen der europäischen Amts- und Verwaltungshilfe leitet die ZAS in ihrer Funktion als Verbindungsstelle die nötigen Daten ins Ausland weiter. Die benötigten Daten enthalten u.a. auch medizinische Angaben zur versicherten Person, welche der ZAS durch die jeweils zuständige IVStelle zur Verfügung gestellt werden. Da es sich bei diesen Daten um besonders schützenswerte Personendaten handelt, ist es für die Erfüllung der datenschutzrechtlichen Anforderungen notwendig, die Weiterleitung dieser Daten durch die IV-Stelle an die ZAS in einem Gesetz im formellen Sinn ausdrücklich vorzusehen.

Die übrigen aus datenschutzrechtlicher Sicht nötigen Bestimmungen, insbesondere betreffend den Zweck des Informationssystems, die involvierten Stellen, die Art und den Umfang der Datenbearbeitung und die Datenbekanntgabe sowie die Datensicherheit werden auf Verordnungsstufe geregelt werden.

Art. 66b Abs. 2bis und 2ter
Wenn ein Bundesorgan Dritten den Zugang zu seinen Personendatensammlungen gestattet, ohne dass dafür im Einzelfall eine Anfrage gemacht wurde (Abrufverfahren oder Online-Zugang), hat es sich auf eine ausreichende Rechtsgrundlage zu stützen. Die vorliegende Bestimmung soll es den IV-Stellen und den AHV-Ausgleichskassen erlauben, das unter Artikel 66a Absatz 1 Buchstabe d E-IVG erwähnte Informationssystem im Abrufverfahren zu konsultieren. Da das Informationssystem medizinische Angaben zur versicherten Person und damit besonders schützenswerte Daten im Sinne des Datenschutzgesetzes enthält, muss der Zugriff durch Abrufverfahren auf Gesetzesstufe vorgesehen sein.

1649

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Art. 69 Abs. 1bis erster Satz Artikel 61 Buchstabe fbis E-ATSG soll künftig die Möglichkeit schaffen, in den Einzelgesetzen Gerichtskosten vorzusehen. Deshalb muss die Formulierung in Artikel 69 Absatz 1bis IVG entsprechend angepasst werden. «Abweichend von Artikel 61 Buchstabe a ATSG» ist zu streichen.

2.2.4

Bundesgesetz über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung

Art. 27 Die Regelung des Entzugs der aufschiebenden Wirkung einer allfälligen Beschwerde bei Verfügungen über Geldleistungen soll neu in Artikel 49 Absatz 5 E-ATSG aufgenommen werden, weshalb die bisherige spezialrechtliche Regelung in Artikel 27 ELG nicht mehr notwendig ist. Dieser Artikel soll daher aufgehoben werden. Die neue ATSG-Bestimmung ist automatisch auf die Ergänzungsleistungen anwendbar (über Art. 1 Abs. 1 ELG).

2.2.5

Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge

Art. 26b Diese Regelung folgt dem Prinzip, dass für die Vorsorgeeinrichtung grundsätzlich eine Bindungswirkung an den IV-Entscheid besteht, der ihr von der IV-Stelle mitgeteilt wird; diese Koordination besteht auch bei anderen Fragen der Invalidenleistungen z.B. betreffend den massgebenden Invaliditätsgrad. Die Regelung klärt die Koordination zwischen 1. und 2. Säule bei der vorsorglichen Einstellung der Invalidenrente und verbessert damit die Rechtssicherheit. Der Vorteil der Anknüpfung an den Entscheid der IV-Stelle besteht darin, dass die Vorsorgeeinrichtungen nicht selber aktiv werden müssen; sie müssen keine eigenen Abklärungen durchführen, sondern handeln gestützt auf den Entscheid der IV-Stellen über die vorsorgliche Einstellung der Zahlung einer Invalidenrente. Gleichzeitig kommt die einheitliche Vorgehensweise zwischen IV-Stellen und Vorsorgeeinrichtungen dem Schutz der betroffenen Versicherten entgegen.

Art. 35a Abs. 2 erster Satz Artikel 35a Absatz 2 erster Satz E-BVG stellt klar, dass es sich bei der Rückerstattungsfrist von zu Unrecht bezogenen Leistungen um eine Verwirkungs- und nicht um eine Verjährungsfrist handelt. Diese Präzision wurde aufgrund eines kürzlich ergangenen Bundesgerichtsentscheids (BGE 142 V 20) erforderlich, der festhielt, dass aufgrund des Gesetzeswortlauts auf eine Verjährungs- und nicht auf eine Verwirkungsfrist zu schliessen sei. Der mit der 1. BVG-Revision eingeführte Artikel 35a BVG hätte in der 2. Säule die gleiche Regel einführen sollen, wie sie damals in 1650

BBl 2018

der 1. Säule bestand72, nämlich eine Verwirkungsfrist von einem Jahr statt einer Verjährungsfrist. Die Koordination zwischen der 1. und 2. Säule soll nun auch mit der neuen Verwirkungsfrist nach Artikel 25 Absatz 2 E-ATSG wieder hergestellt werden. Die neue Verwirkungsfrist soll drei Jahre betragen. Die längere Frist soll es Vorsorgeeinrichtungen ermöglichen, weitergehende Abklärungen zu treffen, um alle Tatsachen mit Sicherheit festzustellen und zu klären, ob die Leistung unrechtmässig bezogen wurde.

Art. 89e Die Bestimmungen des ATSG sind auf die bundesgesetzlich geregelten Sozialversicherungen nur anwendbar, wenn und soweit die einzelnen Sozialversicherungsgesetze es vorsehen.

Damit die Bestimmungen von Artikel 32 Absatz 3 und Artikel 75a­75c E-ATSG auch auf die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge anwendbar sind, ist eine entsprechende Bestimmung ins BVG aufzunehmen. Die Bestimmungen sind nur insoweit anwendbar, als das BVG nicht ausdrücklich eine Abweichung vom ATSG vorsieht.

2.2.6

Freizügigkeitsgesetz

Art. 25g Die Bestimmungen des ATSG sind auf die bundesgesetzlich geregelten Sozialversicherungen nur anwendbar, wenn und soweit die einzelnen Sozialversicherungsgesetze es vorsehen.

Damit die Bestimmungen von Artikel 32 Absatz 3 und Artikel 75a­75c E-ATSG auch auf die Freizügigkeit in der beruflichen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge anwendbar sind, ist eine entsprechende Bestimmung ins FZG aufzunehmen. Die Bestimmungen sind nur insoweit anwendbar, als das FZG nicht ausdrücklich eine Abweichung vom ATSG vorsieht.

2.2.7

Bundesgesetz über die Krankenversicherung

Art. 82 Dieser Artikel enthält in Buchstabe a fälschlicherweise den Verweis auf Artikel 41 Absatz 3 statt auf Artikel 79a (Rückgriffsrecht der Kantone), weil er seit einer früheren Revision von Artikel 41 Absatz 3 KVG73 nie angepasst wurde. Der Verweis soll daher mit der vorliegenden Revision korrigiert werden.

72 73

Vgl. BBl 2000 2692 AS 2008 2049

1651

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2.2.8

Bundesgesetz über die Militärversicherung

Art. 9 Abs. 2 Bezüglich des Anspruchs auf Verzugszinsen beinhaltet Artikel 9 Absatz 2 MVG mit dem Erfordernis eines trölerischen oder widerrechtlichen Verhaltens der Militärversicherung eine restriktivere Regelung, als dies in den übrigen Sozialversicherungszweigen gestützt auf Artikel 26 Absatz 2 ATSG gilt. Diese Sonderbehandlung der Militärversicherung, die mit einer Benachteiligung der Versicherten einhergeht, lässt sich nicht länger rechtfertigen. Entsprechend soll die vorliegende Revision dazu genutzt werden, die Ausnahmeregelung von Artikel 9 Absatz 2 aufzuheben.

Art. 105 Artikel 105 MVG sieht eine von Artikel 58 Absatz 2 ATSG abweichende besondere Gerichtstandsbestimmung bei Wohnsitz der versicherten Person im Ausland vor.

Weil bereits das ATSG eine Lösung für den Fall kennt, dass sich der letzte Wohnsitz in der Schweiz nicht mehr ermitteln lässt, ohne dass dafür ­ wie in Artikel 105 MVG festgelegt ­ eine Vereinbarung unter den Parteien erforderlich ist, erscheint die Regelung des ATSG einfacher und praktikabler. Mit dem in Artikel 58 Absatz 2 ATSG vorgesehenen Auffangtatbestand, dass letztlich das Versicherungsgericht desjenigen Ortes zuständig ist, in dem das Durchführungsorgan seinen Sitz hat, lässt sich auch in der Militärversicherung stets ein Gerichtsstand definieren, weshalb es die spezielle Lösung von Artikel 105 MVG mit einem vertraglich vereinbarten Forum nicht mehr braucht, wie sich auch in der Praxis gezeigt hat. Daher soll Artikel 105 aufgehoben werden, was eine Aufhebung des Gliederungstitels vor Artikel 104 MVG nach sich zieht.

2.2.9

Erwerbsersatzgesetz

Art. 29 Die Regelung des Entzugs der aufschiebenden Wirkung einer allfälligen Beschwerde bei Verfügungen über Geldleistungen soll neu in Artikel 49 Absatz 5 E-ATSG aufgenommen werden und Artikel 97 AHVG in der Folge aufgehoben werden. Aus diesem Grund fällt der Verweis auf die aufschiebende Wirkung ersatzlos hin. Die neue ATSG-Bestimmung ist automatisch für die Erwerbsersatzleistungen anwendbar (über Art. 1 EOG).

1652

BBl 2018

2.2.10

Familienzulagengesetz

Art. 24 Infolge einer Aktualisierung von Anhang II FZA wurde die Verweisbestimmung in den Sozialversicherungsgesetzen neu formuliert. In Absatz 1 der betroffenen Artikel soll das anwendbare Recht präziser bezeichnet werden, indem auf den persönlichen Geltungsbereich, die einschlägigen EU-Rechtsakte und die für die Schweiz massgebliche Fassung von Anhang II des FZA Bezug genommen wird.

Neu werden die Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und 987/2009 aufgeführt, in welchen die Koordinationsgrundsätze der Verordnungen (EWG) Nr. 1408/71 und 574/72 nachgeführt wurden und die seit der 3. Aktualisierung von Anhang II FZA für die Schweiz massgeblich sind. Soweit darauf in den Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 oder (EG) Nr. 987/2009 Bezug genommen wird oder Fälle aus der Vergangenheit betroffen sind, bezieht sich Anhang II FZA weiterhin auf die Verordnungen (EWG) Nr. 1408/71 und 574/72.

Absatz 2 der jeweiligen Artikel betreffend Anlage 2 zu Anhang K des EFTAÜbereinkommens werden bei dieser Gelegenheit analog umformuliert.

Mit einem neuen Absatz 3 soll der Bundesrat ermächtigt werden, die Referenzen auf die EU-Rechtsakte in den Absätzen 1 und 2 jeweils selbstständig in den Sozialversicherungsgesetzen anzupassen, sobald Anhang II FZA oder Anlage 2 zu Anhang K des EFTA-Übereinkommens geändert wurden.

Absatz 4 präzisiert jeweils, dass alle verwendeten Ausdrücke für EU-Mitgliedstaaten in den Sozialversicherungsgesetzen die Vertragsstaaten bezeichnen, für die das Freizügigkeitsabkommen gilt.

In allen anderen Sozialversicherungsgesetzen wurde diese Bestimmung bereits aktualisiert, als die Ausdehnung des FZA auf Kroatien in Kraft trat (vgl. Bundesbeschluss vom 17. Juni 201674 über die Genehmigung und die Umsetzung des Protokolls zum Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft sowie ihren Mitgliedstaaten andererseits betreffend die Ausdehnung auf die Republik Kroatien). Im FamZG jedoch wurde die entsprechende Bestimmung bislang noch nicht aktualisiert, weshalb dies mit der vorliegenden Revision erledigt werden soll.

2.2.11

Arbeitslosenversicherungsgesetz

Art. 88 Abs. 2bis Absatz 2bis AVIG enthielt bisher nur die Möglichkeit der Auferlegung von Mehrkosten, die durch missbräuchliche Leistungserwirkung verursacht wurden. Hingegen war der Versuch der missbräuchlichen Leistungserwirkung nicht erfasst. Artikel 45 Absatz 4 E-ATSG soll neu eine einheitliche Regelung der Auferlegung von Mehr74

AS 2016 5233

1653

BBl 2018

kosten schaffen und dabei nebst dem unrechtmässigen Leistungsbezug auch den Versuch desselben umfassen. Aus diesem Grund muss auch die Regelung in Artikel 88 Absatz 2bis AVIG mit der neuen ATSG-Regelung harmonisiert werden.

2.3

Koordinationsbedarf mit anderen Revisionsvorlagen

Aufgrund der laufenden Revisionsprojekte «Datenschutzgesetz. Totalrevision und Änderung weiterer Erlasse zum Datenschutz»75, «IVG. Änderung (Weiterentwicklung der IV)»76 sowie «Änderung des AHVG (Modernisierung der Aufsicht in der 1. Säule und Optimierung in der 2. Säule der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge)»77 besteht bei den folgenden Bestimmungen unter Umständen Koordinationsbedarf: ­

Art. 32 Abs. 3 E-ATSG

­

Art. 49b E-AHVG

­

Art. 95a E-AHVG

­

Art. 66 erster Satz E-IVG

­

Art. 66a Abs. 1 Bst. d E-IVG

3

Auswirkungen

3.1

Auswirkungen auf den Bund

3.1.1

Finanzielle Auswirkungen

Sowohl das Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU als auch das EFTA-Übereinkommen sehen die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und den elektronischen Datenaustausch zwischen den Staaten im Rahmen des europäischen Projekts EESSI vor. Geplant war, dieses Projekt bereits Mitte 2012 abzuschliessen. Allerdings führte die Entwicklung der diversen EESSI-Komponenten zu erheblichen Verspätungen. Nachdem sowohl die Architektur als auch die Technologie grundlegend geändert worden waren, wurde EESSI im Juli 2017 schliesslich lanciert. Der Zeitplan sieht vor, dass bis Juli 2019 alle Staaten in der Lage sein müssen, ihre Daten vollumfänglich in digitalisierter Form zu übermitteln.

Im Hinblick auf die durch die Schweiz gegenüber der EU eingegangenen Verpflichtungen bereitet die Schweiz wie alle anderen beteiligten Staaten den Anschluss an EESSI im Rahmen des nationalen Programms «Swiss National Action Plan for EESSI» (SNAP EESSI) vor. Als IKT-Schlüsselprojekt des Bundes von 2013 bis 2015 wurde das Programm in den Jahren 2013 und 2016 durch die Eidgenössische Finanzkontrolle geprüft und als insgesamt gut geführt beurteilt. Das Programm ist 75 76 77

Geschäftsnummer 17.059 Geschäftsnummer 17.022 Vernehmlassung vom 5. April bis zum 13. Juli 2017. Die Vernehmlassungsunterlagen sind abrufbar unter www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2017 > EDI.

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weiterhin Schlüsselprojekt. Die Projektkosten über die Jahre 2010­2020 belaufen sich auf 10,5 Millionen Franken.

Kernstück von SNAP EESSI ist die sektorübergreifende Bereitstellung der elektronischen Zugangs- und Schnittstellen und der dazugehörigen Infrastruktur für den elektronischen Datenaustausch mit anderen Staaten. Deren Entwicklung wird durch den Bund übernommen. An der Finanzierung der Betriebskosten hingegen werden die zuständigen Träger der Sozialversicherungen nach Artikel 75a E-ATSG beteiligt, da sie die Benutzer dieser elektronischen Zugangsstellen und der dazugehörigen Infrastruktur sein werden. Der effektive Verteilschlüssel kann nach Klärung der Frage, wie und im welchem Umfang der Anschluss der einzelnen Sozialversicherungssektoren an die elektronischen Zugangsstellen erfolgt, erarbeitet werden. Es ist vorgesehen, eine kostendeckende Benutzungsgebühr einzuführen. Aufgrund erster Schätzungen ist mit jährlichen Betriebskosten zwischen 850 000 Franken und 1 450 000 Franken sowie zusätzlichen Personalressourcen von höchstens 2 Vollzeitstellen beim BSV zu rechnen. Diese Schätzung basiert auf der Annahme, dass bei einer Anzahl von etwa 1000 Benutzern die Bearbeitung von insgesamt 2 Millionen Fällen pro Jahr erfolgt.

Jährliche Betriebskosten

Infrastruktur für elektronischen Datenaustausch / elektronische Zugangsstellen

Sachkosten (Infrastruktur- und Applikationsbetrieb)

Personalkosten (zentraler Fachbetrieb)

850 000­1 450 000 Fr.

200 000­300 000 Fr.

(1,5­2 Vollzeitstellen)

Der Umfang der anfallenden Kosten kann vor der effektiven Inbetriebnahme dieser Infrastruktur nur grob geschätzt werden. Einerseits fehlen seitens des Projekts EESSI auf EU-Ebene noch die erforderlichen Spezifizierungen. Andererseits sind das Datenvolumen und die Benutzeranzahl der elektronischen Zugangsstellen noch nicht bekannt. In den einzelnen Sozialversicherungssektoren werden im Rahmen von Projekten Abklärungen vorgenommen, wie und im welchem Umfang der Anschluss an die elektronischen Zugangsstellen erfolgen soll. Die betroffenen Sozialversicherungsträger können die Daten über die durch die Europäische Kommission zur Verfügung gestellte Anwendung RINA austauschen. RINA eignet sich allerdings eher für kleinere Stellen mit geringem Datenvolumen, da sie personalintensiv ist. Alternativ können innerstaatlich auch eigene Informationssysteme die entsprechenden Aufgaben übernehmen. Sofern einzelne Sozialversicherungssektoren nicht die zur Verfügung gestellte Anwendung, sondern eigene Systeme für den Datenaustausch via den elektronischen Zugangsstellen nutzen, fallen zusätzliche Kosten an. Deren Höhe ist abhängig von der Ausgestaltung der jeweiligen Informationssysteme. Die Finanzierung ist durch den jeweiligen Betreiber des Informationssystems zu klären und erfolgt nicht im Rahmen von Artikel 75c E-ATSG.

In der Implementierungsphase, das heisst in der Übergangsperiode vom Datenaustausch in Papierform zum Datenaustausch in rein elektronischer Form, werden noch nicht alle künftigen Benutzer an die Infrastruktur angeschlossen sein. Es muss neben 1655

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der nötigen Infrastruktur eine Test-, Referenz- und Produktionsumgebung für die Schweizer Sozialversicherungsinstitutionen und eine Schnittstelle zum Informationssystem ALPS bereitgestellt werden. In dieser Zeit ist die Erhebung einer kostendeckenden Gebühr noch nicht möglich, da sonst die ersten Benutzer unverhältnismässig belastet würden. Diese Übergangsphase dauert voraussichtlich von 2019 bis 2022. Die in dieser Übergangsperiode anfallenden Betriebskosten in der Grössenordnung von insgesamt 5 300 000 Franken werden vom Bund finanziert.

3.1.2

Personelle Auswirkungen

Für den elektronischen Datenaustausch sind durch die Schweiz elektronische Zugangs- und Schnittstellen zur Verfügung zu stellen. Der hierfür notwendige zentrale Fachbetrieb (Administration, Support, Training usw.) für die elektronischen Zugangsstellen im Zusammenhang mit EESSI und der damit verbundenen Anwendung wird bei einer der zuständigen Bundesstellen angesiedelt sein. Aufgrund der vorliegenden Revision sind personelle Auswirkungen im Umfang von schätzungsweise 200 000 bis 300 000 Franken (1,5­2 zusätzliche Vollzeitstellen) zu erwarten, die nach einer Übergangsperiode (ab 2023) über Gebühren finanziert werden (vgl. Ziff.

3.1.1).

3.2

Auswirkungen auf die Sozialversicherungen und ihre Organe

Für den elektronischen Datenaustausch sind durch die Schweiz elektronische Zugangs- und Schnittstellen zur Verfügung zu stellen. Deren Entwicklung wird durch den Bund finanziert. An den anfallenden Kosten für den Betrieb hingegen werden die Träger gemäss Artikel 75c E-ATSG, also die Durchführungsstellen als Benutzer dieser Infrastruktur, beteiligt. Es ist vorgesehen, eine kostendeckende Benutzungsgebühr einzuführen (vgl. Ziff. 3.1.1).

Der dezentrale Fachbetrieb, insbesondere die Beantwortung fachlicher Fragen oder die Lösung sektorspezifischer Probleme, wird wie bis anhin durch die Verbindungsstellen der einzelnen Sozialversicherungssektoren wahrgenommen. Während der Dauer der Umstellung vom papierbezogenen auf den elektronischen Datenaustausch dürfte hier ein zusätzlicher personeller Aufwand resultieren. Allerdings führt die administrative Vereinfachung durch den verstärkten Einsatz von IT-Mitteln und die damit erzielte Effizienzsteigerung auch zu tieferen personellen Aufwänden, insbesondere bei den Verbindungs- und Durchführungsstellen. Mögliche Mehraufwände können so durch Minderaufwände kompensiert oder zumindest geschmälert werden.

1656

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3.3

Auswirkungen auf den AHV-Fonds

Für die Abwicklung des elektronischen Datenaustausches auf nationaler Ebene und für den Datenaustausch mit dem Ausland wurde im Bereich der Versicherungsunterstellung das Informationssystem ALPS entwickelt. Dieses System erlaubt es den betroffenen Firmen und Selbstständigerwerbenden, den Austausch von Daten zu Arbeitseinsätzen im Ausland mit den AHV-Ausgleichskassen und dem BSV direkt online abzuwickeln. Der neu vorgesehene Artikel 95a E-AHVG legt fest, dass die Kosten für den Betrieb dieses Informationssystems durch den AHV-Ausgleichsfonds übernommen werden. Es ist mit jährlichen Betriebskosten in Höhe von rund 350 000 Franken zu rechnen. Dadurch werden die Durchführungsstellen, die sich bereits an den Kosten für den elektronischen Datenaustausch beteiligen, entlastet.

Bereits die Finanzierung des Informationssystems erfolgte gestützt auf Artikel 95 Absatz 1quater AHVG durch den AHV-Fonds. Zusätzliche Personalkosten entstehen nicht, da die benötigten Ressourcen durch bestehendes Personal bei den zuständigen Fachämtern abgedeckt werden.

3.4

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Die Kostenpflicht in den kantonalen Sozialversicherungsverfahrens bringt den Kantonen zusätzliche Einnahmen. Allerdings bedingt die Erhebung dieser Verfahrenskosten auch grösseren administrativen Aufwand. Die Kantone werden insbesondere auch mehr Gesuche um unentgeltliche Rechtspflege haben. Es kann davon ausgegangen werden, dass Aufwand und Ertrag in etwa ausgeglichen sind, sodass daraus finanziell kein Gewinn oder Verlust resultieren dürfte.

Die übrigen Revisionspunkte haben keine Auswirkungen auf die Kantone, Gemeinden, urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete.

3.5

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Mit der Einführung des Datenaustauschsystems EESSI würde der administrative Aufwand für die in- und die ausländischen Unternehmen sowie für die Sozialversicherungen reduziert. Die Verfahren und die Dokumente würden vereinheitlicht und der Regulierungsaufwand verringert. Diese Systeme bilden einen Beitrag zu E-Government, erleichtern statistische Erhebungen und entsprechen den Informatikstandards des Bundes.

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3.6

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Durch die Kostenpflicht in den kantonalen Sozialversicherungsverfahren wird der Zugang zu den Gerichten für die Bürgerinnen und Bürger erschwert. Diese Erschwernis ist bewusst eingebaut und im Sinne der Motion 09.3406, die damit Anreize zur Prozessverlängerung mindern und unnötige Gerichtsfälle vermeiden will.

In dieser Vorlage werden die Bestimmungen zur Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs teilweise verschärft. Eine gut funktionierende Missbrauchsbekämpfung stärkt das Vertrauen der Bevölkerung in die Sozialversicherungen.

3.7

Andere Auswirkungen

Durch die vorgesehenen Gesetzesänderungen im Hinblick auf den elektronischen Datenaustausch mit dem Ausland im Bereich der sozialen Sicherheit werden auch Anpassungen beim rein innerstaatlichen Datenaustausch zwischen den involvierten Sozialversicherungsträgern vorgesehen. E-Government im Sinne einer wirtschaftlichen und medienbruchfreien elektronischen Verwaltungstätigkeit schafft sowohl für die Behörden und Verwaltungseinheiten als auch für die betroffenen Personen einen Mehrwert: Insbesondere die Verwendung standardisierter elektronischer Formulare für den Datenaustausch mit dem Ausland führt durch die Abschaffung der Sprachbarrieren sowie die im Vergleich zur postalischen grenzüberschreitenden Zustellung von Dokumenten sichere und schnelle Informationsübermittlung zu einer nicht unerheblichen Qualitätsverbesserung und reduziert bei allen Beteiligten den Aufwand bei der Abwicklung der Geschäfte. Der standardisierte Datenaustausch gestaltet die Arbeit effizienter, fördert die Transparenz, reduziert die Regulierungskosten und erlaubt eine statistische Auswertung, was wiederum die Aufsichtstätigkeit vereinfacht. Durch den vorgesehenen Datenaustausch können die gesetzlichen Aufgaben besser wahrgenommen und damit schliesslich auch ein Beitrag zur Missbrauchsbekämpfung im Bereich der sozialen Sicherheit geleistet werden.

4

Verhältnis zur Legislaturplanung und zu Strategien des Bundesrates

4.1

Verhältnis zur Legislaturplanung

Die Vorlage ist weder in der Botschaft vom 27. Januar 201678 zur Legislaturplanung 2015­2019 noch im Bundesbeschluss vom 14. Juni 201679 über die Legislaturplanung 2015­2019 angekündigt. Der Erlass der vorgeschlagenen Bestimmungen ist dennoch angezeigt, damit dem verfassungsmässigen Auftrag, dass alle wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen in Form von Bundesgesetzen zu erlassen sind, nachgekommen wird. Der Bundesrat hat, basierend auf der Legislaturplanung 78 79

BBl 2016 1105 BBl 2016 5183

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2015­2019, in seinen Jahreszielen 201780 unter anderem auch die Verabschiedung der Botschaft zu einer ATSG-Revision vorgesehen, dies im Rahmen des Ziels, die Schweizer Sozialwerke zu reformieren und nachhaltig zu finanzieren.

4.2

Verhältnis zu Strategien des Bundesrates

Diese Vorlage ist nicht Teil einer nationalen Strategie des Bundesrates.

5

Rechtliche Aspekte

5.1

Verfassungsmässigkeit

Die Vorlage stützt sich insbesondere auf die Artikel 112 Absatz 1, 113 Absatz 1, 114 Absatz 1, 116 Absatz 1 und 117 Absatz 1 BV, die dem Bund die Kompetenz zur Gesetzgebung im Bereich der Sozialversicherungen geben.

5.2

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

5.2.1

Instrumente der Vereinten Nationen

Der Internationale Pakt vom 16. Dezember 196681 über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Pakt I) ist für die Schweiz am 18. September 1992 in Kraft getreten. In seinem Artikel 9 sieht er das Recht eines jeden auf Soziale Sicherheit vor; diese schliesst die Sozialversicherungen ein.

5.2.2

Instrumente der Internationalen Arbeitsorganisation

Die Schweiz hat das Übereinkommen Nr. 102 vom 28. Juni 195282 über die Mindestnormen der Sozialen Sicherheit am 18. Oktober 1977 ratifiziert. Für die Schweiz gelten die Teile VI und VII über die Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie über Familienleistungen. Die beiden Teile definieren jeweils den gedeckten Schadenfall und bezeichnen die zu schützenden Personen, die Voraussetzungen für den Anspruch auf Leistungen, die Höhe dieser Leistungen und die Leistungsdauer. Artikel 69 des Übereinkommens Nr. 102 legt die Liste der Umstände fest, unter denen die Leistung ruhen kann. Das Übereinkommen Nr. 102 sieht ferner vor, dass jedem Antragsteller das Recht einzuräumen ist, ein Rechtsmittel einzulegen, falls die Leistung abgelehnt wird oder ihre Art oder ihr Ausmass strittig ist (Art. 70 Abs. 1).

80

81 82

Ziele des Bundesrates 2017, Band I, S. 34. Die Jahresziele 2017 des Bundesrates sind abrufbar unter: www.bk.admin.ch > Dokumentation > Führungsunterstützung > Jahresziele > Archiv Jahresziele des Bundesrates, Band I.

SR 0.103.1 SR 0.831.102

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Die Schweiz hat das Übereinkommen Nr. 128 vom 29. Juni 196783 über Leistungen bei Invalidität und Alter und an Hinterbliebene am 13. September 1977 ratifiziert.

Teil II bezeichnet die Leistungen bei Invalidität, Teil III die Leistungen bei Alter und Teil IV die Leistungen an Hinterbliebene. Für jeden dieser Teile definiert das Übereinkommen den gedeckten Schadenfall, bezeichnet die zu schützenden Personen, die Voraussetzungen für den Anspruch auf Leistungen, die Höhe dieser Leistungen und die Leistungsdauer. Artikel 32 des Übereinkommens Nr. 128 legt die Liste der Umstände fest, unter denen die Leistung ruhen kann. Das Übereinkommen Nr. 128 sieht auch vor, dass jeder Antragsteller bei einer Ablehnung der Leistung das Recht auf Anfechtung von deren Art oder Ausmass hat und dass Verfahren vorzuschreiben sind, die es dem Antragsteller gegebenenfalls ermöglichen, sich von einer sachkundigen Person seiner Wahl vertreten oder unterstützen zu lassen (Art. 34).

5.2.3

Instrumente des Europarats

Die Europäische Ordnung der Sozialen Sicherheit vom 16. April 196484 wurde am 16. September 1977 von der Schweiz ratifiziert. Unser Land hat die Teile V, VI, VII, IX und X, Leistungen im Alter, Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, Familienleistungen, Leistungen bei Invalidität und Leistungen an Hinterbliebene angenommen. Jeder dieser Teile definiert den gedeckten Schadenfall, bezeichnet die zu schützenden Personen, die Voraussetzungen für den Anspruch auf Leistungen, die Höhe dieser Leistungen und die Leistungsdauer. Artikel 68 legt die Umstände fest, unter denen die Leistung ruhen kann. Die Ordnung sieht auch vor, dass jeder Antragsteller bei einer Ablehnung der Leistung das Recht auf Anfechtung von deren Art oder deren Ausmass hat (Art. 69 Abs. 1).

5.2.4

Rechtsvorschriften der Europäischen Union

Artikel 48 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU85 sieht eine Koordinierung der nationalen Sozialversicherungssysteme vor, um den freien Verkehr der Arbeitnehmenden, der Selbstständigen sowie deren anspruchsberechtigten Angehörigen zu erleichtern. Diese Koordinierung ist in der Verordnung (EG) Nr. 883/200486 geregelt und durch die Verordnung (EG) Nr. 987/200987, die die Durchführungsbestim83 84 85 86

87

SR 0.831.105 SR 0.831.104 ABl. C 326 vom 26.10.2012, S. 1.

Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 166 vom 30.4.2004, S. 1; eine unverbindliche, konsolidierte Fassung dieser Verordnung ist veröffentlicht in SR 0.831.109.268.1.

Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (mit Anhängen), ABl. L 284 vom 30.10.2009, S. 1; eine unverbindliche, konsolidierte Fassung dieser Verordnung ist veröffentlicht in SR 0.831.109.268.11.

1660

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mungen der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 festlegt. Diese beiden Verordnungen haben nur die Koordinierung der nationalen Sozialversicherungssysteme zum Ziel und stützen sich auf die internationalen Koordinierungsgrundsätze, namentlich die Gleichbehandlung nationaler Staatsangehöriger und Angehöriger anderer Staaten der EU, der Erhalt der erworbenen Ansprüche und die Auszahlung von Geldleistungen im gesamten Gebiet der EU. Das EU-Recht sieht keine Harmonisierung der nationalen Sozialversicherungssysteme vor und die Mitgliedstaaten behalten somit die Kompetenz, deren Konzeption, den persönlichen Geltungsbereich, die Finanzierungsmodalitäten und die Organisation festzulegen, unter Vorbehalt der Koordinierungsgrundsätze des EU-Rechts. Seit dem 1. Juni 2002, Datum des Inkrafttretens des FZA, nimmt die Schweiz an diesem Koordinierungssystem teil und wendet heute in diesem Kontext die beiden oben erwähnten Verordnungen an (vgl. Anhang II FZA, Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit).

5.2.5

Vereinbarkeit mit internationalem Recht

Die Möglichkeit, die Auszahlung von Geldleistungen in den Fällen einzustellen, in denen sich die versicherte Person einer Massnahme oder einer Freiheitsstrafe unrechtmässig entzieht, ist in den Übereinkommen Nr. 102 und 128 des IAO und in der Europäischen Ordnung der Sozialen Sicherheit des Europarats nicht ausdrücklich vorgesehen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass diese Fälle sehr selten sind und dass die Ergänzung in Artikel 21 Absatz 5 E-ATSG nötig ist, um den stossenden Sachverhalt zu vermeiden, dass eine Person, die sich einem Strafvollzug entzieht, gegenüber einer Person, die ihre Strafe verbüsst, bevorteilt ist.

5.3

Erlassform

Nach Artikel 164 Absatz 1 BV sind alle wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen in der Form eines Bundesgesetzes zu erlassen. Die vorliegenden Änderungen erfolgen demzufolge im normalen Gesetzgebungsverfahren.

5.4

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Die Vorlage ist von der Ausgabenbremse nicht betroffen.

5.5

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

Die Vorlage sieht folgende Rechtsetzungsdelegationen an den Bundesrat vor: ­

Durchführung internationaler Sozialversicherungsabkommen; Bestimmung der Stellen, die die Aufgaben gemäss den Erlassen in der für die Schweiz verbindlichen Fassung von Anhang II FZA und anderen internationalen Abkommen über die soziale Sicherheit wahrnehmen (Art. 75a E-ATSG); 1661

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­

Infrastruktur für die Durchführung: Bestimmung der zuständigen Bundesstellen für die Erstellung und den Betrieb der Infrastruktur zum Zweck des elektronischen Datenaustausches mit dem Ausland (Art. 75b E-ATSG);

­

Finanzierung der Infrastruktur; Regelung der Gebühren für den Anschluss an die Infrastruktur zum Zweck des elektronischen Datenaustausches mit dem Ausland und deren Benutzung (Art. 75c E-ATSG).

5.6

Datenschutz

Der Datenschutz ist von den folgenden Massnahmen betroffen, wobei die massgebenden datenschutzrechtlichen Grundsätze eingehalten werden: ­

Schaffung der erforderlichen gesetzlichen Grundlage in Artikel 32 Absatz 3 E-ATSG für den notwendigen innerstaatlichen Datenaustausch für die Erfüllung von Aufgaben im Rahmen von internationalen Abkommen. Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit erfordert es, dass sich der Datenaustausch auf das beschränkt, was zur Erfüllung der in den jeweiligen Abkommen vorgesehenen Aufgaben nötig ist. Der Bundesrat soll deshalb die Einzelheiten regeln (vgl. Ziff. 2).

­

Auf Verordnungsstufe sollen zudem auch die im Rahmen des EESSI geplanten nationalen Informationssysteme, insbesondere deren Zweck, die Art und der Umfang der Datenbearbeitung und der Datenbekanntgabe sowie die Datensicherheit geregelt werden. Bei Informationssystemen, welche die Bekanntgabe besonders schützenswerter Daten oder von Persönlichkeitsprofilen im Abrufverfahren oder die Bearbeitung von besonders schützenswerte Personendaten vorsehen, sind weitere Regelungen auf Gesetzesstufe vorzusehen, um den datenschutzrechtlichen Vorgaben zu genügen.

­

Ebenfalls im Rahmen der Durchführung internationaler Sozialversicherungsabkommen soll einerseits mit der neuen Bestimmung in Artikel 75b Absatz 2 E-ATSG die notwendige gesetzliche Grundlage für das erforderliche Abrufverfahren zwischen den Durchführungsstellen und den nationalen Zugangsstellen geschaffen werden. Andererseits soll mit den vorgesehenen neuen Bestimmungen in den Artikeln 66a Absatz 1 Buchstabe d E-IVG sowie 66b Absatz 2ter E-IVG die erforderlichen gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden für die aufgrund zwischenstaatlicher Vereinbarungen nötigen Bekanntgabe medizinischer Daten von Sozialversicherungsorganen an die ZAS sowie für den vorgesehenen Zugriff der IV-Stellen und AHVAusgleichskassen per Abrufverfahren auf das Informationssystem der ZAS für die zur Aufgabenerfüllung erforderlichen Daten.

1662

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Abkürzungsverzeichnis AB

Amtliches Bulletin (der Bundesversammlung)

AHV

Alters- und Hinterlassenenversicherung (nach dem AHVG)

AHVG

Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung; SR 831.10

ALPS

Applicable Legislation Platform Switzerland

ATSG

Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts; SR 830.1

ATSV

Verordnung vom 11. September 2002 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts; SR 830.11

AVIG

Bundesgesetz vom 25. Juni 1982 über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung (Arbeitslosenversicherungsgesetz); SR 837.0

BBl

Bundesblatt

BGE

Bundesgerichtsentscheid

BGG

Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz); SR 173.110

BSV

Bundesamt für Sozialversicherungen

BV

Bundesverfassung; SR 101

BVG

Bundesgesetz vom 25. Juni 1982 über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge; SR 831.40

DSG

Bundesgesetz vom 19. Juni 1992 über den Datenschutz; SR 235.1

EG

Europäische Gemeinschaft

ELG

Bundesgesetz vom 6. Oktober 2006 über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung; SR 831.30

EOG

Bundesgesetz vom 25. September 1952 über den Erwerbsersatz für Dienstleistende und bei Mutterschaft (Erwerbsersatzgesetz); SR 834.1

EU

Europäische Union

EWG

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

FamZG

Bundesgesetz vom 24. März 2006 über die Familienzulagen (Familienzulagengesetz); SR 836.2

FLG

Bundesgesetz vom 20. Juni 1952 über die Familienzulagen in der Landwirtschaft; SR 836.1

FZA

Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (Freizügigkeitsabkommen); SR 0.142.112.681 1663

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IV

Invalidenversicherung (nach dem IVG)

IVG

Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung; SR 831.20

IV-Stelle

Durchführungsstelle der Invalidenversicherung

IVV

Verordnung vom 17. Januar 1961 über die Invalidenversicherung; SR 831.201

KVG

Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung; SR 832.10

MV

Militärversicherung (nach dem MVG)

MVG

Bundesgesetz vom 19. Juni 1992 über die Militärversicherung; SR 833.1

OR

Obligationenrecht; SR 220

ParlG

Bundesgesetz vom 13. Dezember 2002 über die Bundesversammlung (Parlamentsgesetz); SR 171.10

RINA

Reference Implementation for a National Application

RVOG

Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21. März 1997; SR 172.010

SGK-S

Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates

SR

Systematische Sammlung des Bundesrechts (Systematische Rechtssammlung)

SWAP

Swiss Web Application Pension

UV

Unfallversicherung (nach UVG)

UVG

Bundesgesetz vom 20. März 1981 über die Unfallversicherung; SR 832.20

VwVG

Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz); SR 172.021

ZAS

Zentrale Ausgleichsstelle (des Bundes)

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