18.037 Bericht zur Abschreibung der Motion 11.3811 Darbellay «Rechtslücke in der Unfallversicherung schliessen» vom 28. März 2018

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Mit diesem Bericht beantragen wir Ihnen, den folgenden parlamentarischen Vorstoss abzuschreiben: 2014

M

11.3811

Rechtslücke in der Unfallversicherung schliessen (N 11.9.13, Darbellay; S 19.3.14; N 3.6.14)

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

28. März 2018

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Alain Berset Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

2018-0423

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Bericht 1

Ausgangslage und die politischen Vorstösse

Am 31. März 2011 zeigte der Fernsehsender der französischen Schweiz Radio Télévision Suisse einen Beitrag über einen 18-jährigen Lehrling, der als 15-Jähriger nach einem Mountainbike-Unfall eine Schulterluxation erlitten hatte.

Während seiner Lehrzeit als Automechaniker kam es zu einem Rückfall. Da bei seinem ursprünglichen Unfall während seiner Jugendzeit nicht der Unfallversicherer gemäss dem Bundesgesetz vom 20. März 19811 über die Unfallversicherung (UVG) leistungspflichtig war, fiel dieser Rückfall in den Zuständigkeitsbereich der Krankenversicherung gemäss dem Bundesgesetz vom 18. März 19942 über die Krankenversicherung (KVG). Der Arbeitgeber kam aufgrund seiner Lohnfortzahlungspflicht gemäss dem Obligationenrecht3 (OR) für eine begrenzte Zeit für den Lohn auf (Art. 324a). Die Arbeitsunfähigkeit dauerte jedoch länger, sodass der Lehrling während vier Monaten ohne Lohn auskommen musste, da die in der gegebenen Konstellation zuständige Krankenversicherung kein obligatorisches Taggeld vorsieht.

Die Politik wurde auf diesen Umstand aufmerksam. Es wurden in dieser Angelegenheit eine Interpellation (11.3474 Comte «Unfallversicherung greift nicht bei Rückfällen nach einer früheren Verletzung. Gesetzeslücke schliessen») und eine Motion (11.3811 Darbellay «Rechtslücke in der Unfallversicherung schliessen») eingereicht.

1.1

Interpellation Comte (11.3474)

Am 31. Mai 2011 reichte Raphaël Comte (Ständerat, FDP, NE) die Interpellation «Unfallversicherung greift nicht bei Rückfällen nach einer früheren Verletzung.

Gesetzeslücke schliessen» ein. Aus seiner Sicht werden Personen, die einen Unfall während der Jugend erlitten haben, bei einem Rückfall aufgrund dieser Verletzung während der Erwerbstätigkeit von der Gesetzgebung im Stich gelassen werden.

Sowohl Unfall- als auch Krankenversicherung würden sich aus der Verantwortung stehlen, mit der Begründung, der Rückfall sei nicht versichert, da er Folge eines Unfalls sei, der nicht vom UVG gedeckt sei.

In seiner Antwort auf die Interpellation hat der Bundesrat insbesondere ausgeführt, dass im Gegensatz zu anderen Erwerbsausfallrisiken, die Folgen einer vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit nach dem geltenden Recht in der Schweiz nicht durch eine obligatorische Sozialversicherung abgedeckt seien. Bei einem Rückfall oder einer Spätfolge eines Jugendunfalls sei aufgrund der zum Zeitpunkt des Jugendunfalls fehlenden UVG-Deckung der Krankenversicherer leistungspflichtig. Entsprechend werde der Erwerbsausfall wie bei einer Arbeitsunfähigkeit im Krankheitsfall nicht durch eine obligatorische Sozialversicherung 1 2 3

SR 832.20 SR 832.10 SR 220

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kompensiert. Ein ausreichender Versicherungsschutz für einen Grossteil der unselbstständig Erwerbstätigen könne jedoch mittels einer freiwilligen Taggeldversicherung gewährleistet werden. Trotzdem müsse davon ausgegangen werden, dass der Versicherungsschutz von unselbstständig Erwerbstätigen wahrscheinlich vor allem in kleineren Betrieben Lücken aufweise.

Weil mit dem Abschluss einer Kollektiv-Taggeldversicherung die bestehende Lücke geschlossen werden kann, erachtete es der Bundesrat als nicht notwendig, neue gesetzliche Bestimmungen im Bereich der Sozialversicherungen vorzuschlagen.

1.2

Motion Darbellay (11.3811)

Am 22. September 2011 reichte Christophe Darbellay (Nationalrat, CVP, VS) die Motion 11.3811 «Rechtslücke in der Unfallversicherung schliessen» ein. Mit dieser sollte der Bundesrat beauftragt werden, eine Änderung des UVG vorzunehmen, um zu garantieren, dass Taggelder auch in Fällen bezahlt werden, in denen die Erwerbsunfähigkeit auf einen Rückfall oder Spätfolgen eines Unfalles zurückgehen, den die versicherte Person als Jugendlicher oder Jugendliche erlitten hatte.

In seiner Antwort auf die Motion hat der Bundesrat unter anderem dargelegt, dass er sich in jüngster Vergangenheit mehrmals gegen die Einführung einer obligatorischen Taggeldversicherung in der Krankenversicherung beziehungsweise für Unfälle, die nicht durch das UVG gedeckt sind, ausgesprochen habe (vgl. Motion 10.3821 Humbel und Interpellation 11.3474 Comte). Die Einführung eines Obligatoriums würde bedeuten, dass sämtliche bestehenden Taggeldversicherungen in ein solches überführt werden müssten. Damit würde ein Prämienvolumen von mehreren Milliarden Franken neu dem Sozialversicherungsbereich unterstellt.

Er führte weiter aus, die Lücke der fehlenden Taggeldzahlungen bei einem Rückfall oder einer Spätfolge eines Jugendunfalls könne vom Arbeitgeber auf freiwilliger Basis durch den Abschluss einer Kollektiv-Taggeldversicherung gemäss KVG oder gemäss Versicherungsvertragsgesetz vom 2. April 19084 (VVG) geschlossen werden. Zudem sei der Arbeitgeber gemäss den zwingenden arbeitsvertraglichen Bestimmungen des OR verpflichtet, den Lohn während einer begrenzten Zeit weiterbezahlen.

Entsprechend beantragte der Bundesrat die Ablehnung der Motion.

1.2.1

Änderung des Motionstextes

Aufgrund der Einwände des Bundesrates zu einer Regelung im UVG hat der Ständerat am 19. März 2014 eine Änderung beschlossen und den Text der Motion wie folgt angepasst: «Der Bundesrat wird beauftragt, eine Änderung des UVG und/oder gegebenenfalls anderer einschlägiger Bestimmungen vorzunehmen, um zu garantieren, dass Tag4

SR 221.229.1

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gelder auch in solchen Fällen bezahlt werden, in denen die Erwerbsunfähigkeit durch Rückfälle oder Spätfolgen einer Verletzung begründet ist, welche die versicherte Person als Jugendlicher erlitten hat.» Der Nationalrat hat der geänderten Motion am 3. Juni 2014 zugestimmt.

2

Problemanalyse und Vorgehensweise

2.1

Geltendes Recht

Alle in der Schweiz beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind obligatorisch gegen Unfälle nach dem UVG versichert. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die mehr als 8 Stunden wöchentlich arbeiten, sind auch gegen Nichtberufsunfälle versichert. Leistungen nach dem UVG werden bei Rückfällen und Spätfolgen eines Unfalls allerdings nur dann gewährt, wenn bereits zum Zeitpunkt des Unfalls eine Deckung nach dem UVG bestanden hat.

Alle Personen, die nicht nach dem UVG gegen Unfälle versichert sind (z.B. ein Kind, ein Student oder eine Hausfrau), haben eine Unfalldeckung über die Krankenversicherung, weil die soziale Krankenversicherung auch Leistungen bei Unfall gewährt, soweit dafür keine Unfallversicherung aufkommt. Führt ein Unfall, bei dem die Krankenversicherung leistungspflichtig war, zu einem Rückfall oder einer Spätfolge, so fallen die betreffenden Kosten zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung an und zwar auch bei Versicherten, die gestützt auf eine unselbstständige Erwerbstätigkeit in der Zwischenzeit neu nach dem UVG versichert sind und somit die Unfalldeckung bei ihrer Krankenkasse sistiert haben.

Die Heilungskosten für Rückfälle und Spätfolgen sind sozialversicherungsrechtlich gedeckt und zwar unabhängig davon, ob das KVG oder das UVG leistungspflichtig ist. Bei einer Leistungspflicht des KVG muss die versicherte Person jedoch im Rahmen der Kostenbeteiligung (Franchise und Selbstbehalt) einen Teil der Heilungskosten selbst tragen, während das UVG diese ohne Belastung der versicherten Person deckt.

Anders verhält es sich beim Erwerbsausfall. Wenn der Unfall, der zu Rückfällen oder Spätfolgen führt, nicht durch das UVG gedeckt war, können keine Taggelder aus dem UVG beansprucht werden. Das KVG seinerseits sieht keine obligatorischen Taggeldzahlungen vor. Dies hat zur Folge, dass eine versicherte Person, die wegen eines Rückfalles oder einer Spätfolge eines Jugendunfalles arbeitsunfähig wird, einer erwerbstätigen Person gleichgestellt ist, die krankheitsbedingt arbeitsunfähig wird. In beiden Fällen ist der Lohnersatz bei einer Arbeitsunfähigkeit grundsätzlich nur über die arbeitsvertragliche Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers für eine beschränkte Zeit gesichert. Allenfalls verpflichten Gesamt- oder Normalarbeitsverträge den Arbeitgeber zum Abschluss einer
Kollektiv-Taggeldversicherung, die über die gesetzliche Lohnfortzahlungspflicht hinausgeht. Dauert die auf einen nicht UVG-versicherten Jugendunfall zurückzuführende Arbeitsunfähigkeit länger als die Lohnfortzahlungspflicht nach dem OR beziehungsweise nach Gesamt- oder Normalarbeitsvertrag, so muss die versicherte Person ohne Lohnersatz auskommen.

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2.2

Vorgehensweise in diesem Bericht

In einem ersten Schritt (Ziff. 2.3) erfolgt eine Analyse der Fragen, die sich aus der Forderung der Motion nach Bezahlung von Taggeld bei Erwerbsausfall aufgrund von Rückfällen oder Spätfolgen von Jugendunfällen ergeben. Weiter wird auf die Problematik der Abgrenzung zwischen Krankheit und Unfall (Ziff. 2.4) und auf das Rückwärtsversicherungsverbot (Ziff. 3) eingegangen.

In einem zweiten Schritt wird untersucht, in welchen Sozialversicherungszweigen, die bereits Taggeldzahlungen als Leistungskategorie vorsehen, eine Einführung von Taggeldzahlungen bei Erwerbsausfall wegen Rückfällen oder Spätfolgen von Jugendunfällen möglich wäre (Ziff. 5).

2.3

Fragen zur Ausgestaltung der Taggeldzahlungen

2.3.1

Arbeitsvertragliche Lohnfortzahlungspflicht

Der Arbeitgeber ist aufgrund des Arbeitsvertragsrechts gemäss Artikel 324a OR für eine beschränkte Zeit verpflichtet, den Lohn weiterhin zu bezahlen, wenn die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer aufgrund eines Unfalls oder einer Krankheit in unverschuldeter Weise der Arbeit fernbleibt. Sofern das Arbeitsverhältnis mehr als drei Monate dauerte (Erfüllung der Karenzfrist) oder für mehr als drei Monate eingegangen wurde, richtet sich die Dauer der Lohnfortzahlung nach der Anzahl Dienstjahre ab dem zweiten Dienstjahr und dies nach unterschiedlichen Berechnungsskalen. So existieren die Basler-, die Berner- und die Zürcher-Skala. Im 8. Dienstjahr beispielsweise besteht gemäss Zürcher-Skala ein Lohnanspruch von 14 Wochen, während die Basler- und die Berner-Skala einen Lohnanspruch von 12 Wochen vorsehen. Weiter wird durch vertragliche Regelungen, insbesondere in Gesamtarbeitsverträgen, häufig die gesetzliche Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers ausgeweitet. Die Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers gegenüber der Arbeitnehmerin oder dem Arbeitnehmer ist je nach Konstellation (Dauer des Arbeitsverhältnisses, regionale Unterschiede, Vorhandensein und Inhalt der Gesamtarbeitsverträge usw.) unterschiedlich ausgestaltet.

2.3.2

Anknüpfungszeitpunkt

Fraglich ist, ob die in der Motion vorgeschlagene Taggeldzahlung bei Rückfällen und Spätfolgen von Jugendunfällen erst zum Zuge kommen soll, wenn die Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers abgelaufen ist oder aber bereits unmittelbar nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit. Würde an den Zeitpunkt nach Ablauf der arbeitsvertraglichen Lohnfortzahlungspflicht angeknüpft, ergäben sich aufgrund der unterschiedlichen Verhältnisse bezüglich der Leistungsdauer und bezüglich der finanziellen Auswirkungen sehr unterschiedliche Resultate. Sieht ein Gesamtarbeitsvertrag beispielsweise eine Lohnfortzahlungspflicht über eine Versicherung für 720 Tage vor, ergäbe sich ein Aufschub von praktisch zwei Jahren, während es bei einer Taggeldzahlung unmittelbar nach der arbeitsvertraglichen Lohnfortzahlungspflicht 2357

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gemäss OR mitunter nur zu einem Aufschub von wenigen Wochen käme. Zudem müssten in jedem Einzelfall die konkreten arbeitsvertraglichen Verhältnisse abgeklärt und die unterschiedlich langen Lohnfortzahlungsfristen ermittelt werden.

Da die Taggeldzahlung bei Rückfällen oder Spätfolgen eines Jugendunfalls im Sozialversicherungsrecht eingeführt werden soll, sollte der Anknüpfungspunkt für alle Versicherten einheitlich geregelt sein. Wenn den unterschiedlichen Lohnfortzahlungsfristen gänzlich ausgewichen und ein für alle Versicherten egalitäres System eingeführt werden soll, müsste der Beginn der Taggeldzahlungen für Rückfälle oder Spätfolgen von Jugendunfällen auf den Zeitpunkt des Beginns der diesbezüglichen Arbeitsunfähigkeit festgelegt werden. Mit andern Worten: Das Taggeld wäre ab dem ersten Tag unter Ausblendung der konkreten arbeitsvertraglichen Lohnfortzahlungspflicht zu erbringen, was mit einer entsprechend hohen finanziellen Belastung der Versicherung verbunden wäre. Um diese Konsequenz zu mildern und dennoch eine einheitliche Regelung zu gewährleisten, könnte eine Karenzfrist vorgesehen werden.

2.3.3

Leistungsdauer

Neben dem Zeitpunkt des Leistungsbeginns stellt sich auch die Frage nach der Dauer von Taggeldzahlungen: Soll das Taggeld über eine im Voraus bestimmte maximale Dauer geschuldet sein oder soll sich die Leistungsdauer in jedem Fall nach der Dauer der (Teil-)Arbeitsunfähigkeit richten? Wenn dabei eine Regelung analog zum UVG gewählt würde, müsste die Taggeldzahlung so lange andauern, bis entweder die volle Arbeitsfähigkeit wieder erlangt ist oder von der Fortsetzung der ärztlichen Behandlung keine namhafte Besserung des Gesundheitszustandes mehr erwartet werden kann und der Rentenanspruch beginnt (Art. 16 Abs. 2 und 19 Abs. 1 UVG). Unter dieser Prämisse könnte der Taggeldanspruch unter Umständen mehrere Monate oder sogar Jahre andauern.

2.3.4

Leistungsumfang

Weiter stellt sich die Frage nach dem Ansatz für die Höhe der Taggeldzahlung.

Entsprechend der Arbeitslosenversicherung könnte ein Prozentsatz von 70 oder 80 Prozent des versicherten Verdienstes definiert werden, je nachdem ob eine Unterhaltspflicht gegenüber Kindern besteht oder nicht. Es wäre jedoch auch ein einheitlicher Prozentsatz von 80 Prozent wie in anderen Sozialversicherungszweigen möglich. Je nach Einkommensniveau und Beschäftigungsgrad würden die Taggeldzahlungen dennoch sehr unterschiedlich ausfallen. Zudem stellt sich die Frage nach einer allfälligen Plafonierung des maximal versicherten Verdienstes. In der obligatorischen Unfallversicherung beläuft sich der höchstversicherte Verdienst auf 148 200 Franken (Art. 22 Abs. 1 der Verordnung vom 20. Dez. 19825 über die Unfallversicherung, UVV), während er in der Militärversicherung 152 276 Franken beträgt (Art. 15 Abs. 1 der Verordnung vom 10. Nov. 19936 über die Militärver5 6

SR 832.202 SR 833.11

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sicherung). In den meisten Sozialversicherungszweigen wird der versicherte Verdienst der Unfallversicherung als Referenzgrösse genommen, weshalb diese Regelung naheliegen würde.

2.3.5

Leistungskategorien

Die Motion verfolgt die Absicht, dass der Verdienstausfall wegen einer Arbeitsunfähigkeit, die auf eine Spätfolge oder einen Rückfall aus einem Jugendunfall zurückzuführen ist, mit einem Taggeld ausgeglichen werden soll. Dabei kann nicht ausser Acht gelassen werden, dass die Arbeitsunfähigkeit ihrerseits regelmässig mit einer Behandlungsbedürftigkeit einhergeht. Die versicherte Person, die in den Genuss des Taggeldes kommen soll, befindet sich also meistens auch in einer medizinischen Behandlung. Damit ergibt sich das Problem, dass praktisch ausnahmslos gleichzeitig zwei Leistungskategorien betroffen sind, zum einen das Taggeld als Ausgleich für den durch die Arbeitsunfähigkeit bedingten Verdienstausfall und zum andern die Kostenübernahme für die erforderliche Heilbehandlung. Da der Jugendunfall über das KVG gedeckt war, müssen konsequenterweise auch spätere, auf den gleichen Unfall zurückzuführende Heilungskosten von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung übernommen werden, während das Taggeld von einer anderen Sozialversicherung zu entschädigen wäre. Es ergibt sich mithin die Situation, dass im gleichen Kontext stets zwei verschiedene Sozialversicherungen leistungspflichtig werden, soweit die Sozialversicherung, die für das Taggeld aufkommen soll, nicht auch für die erforderliche Heilbehandlung einzustehen hat, was die Motion so nicht vorsieht. Definitionsgemäss erlischt der Taggeldanspruch mit der Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit, was in der Regel nach Abschluss einer erfolgreichen Heilbehandlung der Fall ist. Aufgrund dieser Abhängigkeit ergibt sich das Erfordernis, dass sich die beiden involvierten Sozialversicherungen in jedem Einzelfall zu koordinieren haben, was mit einem erheblichen administrativen Aufwand verbunden wäre.

2.3.6

Altersgrenze für die Anspruchsberechtigung

Schliesslich stellt sich die Frage, ob die mit der Motion angeregten Taggeldzahlungen einer Altersbeschränkung unterliegen sollen, konkret, ob die Taggeldzahlungen bei einem Rückfall oder einer Spätfolge eines Jugendunfalls für die ganze Dauer des Erwerbslebens bis zur Pensionierung oder nur bis zu einem gewissen Alter erbracht werden sollen. Bei einer jungen Person, die womöglich noch bei den Eltern wohnt, ist der Bedarf weniger gross als bei einer älteren Person, die unter Umständen für den Unterhalt einer Familie aufzukommen hat.

2.3.7

Datenlage

Eine besondere Schwierigkeit bei der Umsetzung der Motion liegt im Umstand, dass keine Erhebungen und Daten zur Anzahl potenzieller Leistungsansprecher existieren. Wo auch immer angesetzt wird, zeigt sich, dass es keine differenzierte Erfas2359

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sung oder Ausscheidung der gesundheitlichen Beeinträchtigung nach ihrer Ursache (Krankheit/Unfall) und ihrem Potenzial, im weiteren Lebensverlauf zu Spätfolgen oder Rückfällen zu führen, gibt.

Auf der Ebene der Versicherung ist festzustellen, dass die Krankenversicherung auch für Leistungen bei Unfall einzustehen hat, soweit dafür keine Unfallversicherung aufzukommen hat, was bei Jugendunfällen in aller Regel zutrifft (Art. 1a Abs. 2 Bst. b KVG). Obwohl die Krankenversicherung zwischen Unfall und Krankheit unterscheidet und sich daher die Anzahl gedeckter Krankheiten und Unfälle erheben liesse, könnten diese Daten keinen Aufschluss darüber geben, wie viele Jugendunfälle eingetreten sind, die das Potenzial haben, im späteren Erwerbsleben zu einem Rückfall oder zu Spätfolgen zu führen. Es bedürfte hierzu einer speziellen Auswertung. Selbst das Resultat einer entsprechend aufwendigen Erhebung wäre jedoch nicht aussagekräftig, denn jede Krankenkasse verfügt nur über Angaben zu Leistungsfällen, die sich während der Versicherungszeit bei ihr zugetragen haben.

Wenn ein mit einem Jugendunfall belasteter Versicherter die Kasse wechselt, erhält die Nachfolgekasse davon keine Kenntnis; weil sie den Versicherten im Rahmen des Obligatoriums ohne Vorbehalt aufnehmen muss, hat die Vorgeschichte keine Bedeutung. Mit dem Wechsel des Krankenversicherers geht denn auch die Leistungspflicht für Rückfälle oder Spätfolgen aus Vorschädigungen auf den neuen Versicherer über.

Im Rahmen einer Erhebung über Versicherte mit einer Vorbelastung aus einem Jugendunfall würde die Nachfolgekasse ihren neuen Versicherten folglich als unbelastet registrieren, obwohl dies nicht den Tatsachen entspricht. Mit andern Worten: Es ist auf Seiten der Versicherer nicht möglich, verlässliche Angaben zur Anzahl potenzieller Leistungsansprecher zu erhalten.

Weiter haben auch die Arbeitgeber keine Kenntnis darüber, wie viele Angestellte in ihrer Jugend einen Unfall erlitten haben, der geeignet ist, während des Berufslebens zu Spätfolgen oder Rückfällen zu führen. Im Rahmen von Anstellungsgesprächen werden keine entsprechenden regelmässigen Erhebungen gemacht. Es bleibt auch auf dieser Ebene offen, wie viele Fälle von Verletzungen als Ursache von Jugendunfällen latent vorliegen, die zu einem späteren Zeitpunkt einen Taggeldanspruch aufgrund
eines Rückfalls oder einer Spätfolge auslösen könnten.

Letztlich wissen einzig die Direktbetroffenen, dass sie einen erheblichen Jugendunfall erlitten haben. Um eruieren zu können, wie viele solcher Fälle existieren, müsste eine Volksbefragung durchgeführt werden. Dabei dürften jedoch selbst die Unfallopfer nicht in der Lage sein abzuschätzen, ob sie wegen des Jugendunfalls im Berufsalltag einen Rückfall oder Spätfolgen erleiden werden. Selbst eine gross angelegte Erhebung würde hier zu keinen verlässlichen Resultaten führen.

Gestützt auf Nachfragen in Kreisen der Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter ist festzustellen, dass keine einschlägigen Fälle bekannt sind. Es ist daher zu vermuten, dass es sich letztlich nur um Einzelfälle handelt. Der Motionstext sieht jedoch den Schutz für die gesamte unselbstständig erwerbstätige Bevölkerung vor. Die Regulierung würde also potenziell einen grossen Teil der Bevölkerung betreffen, es käme aber nur in Einzelfällen vor, dass Leistungen beansprucht werden könnten.

2360

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2.3.8

Erstes Fazit

Der Motionstext lässt verschiedene, für die Bestimmung der Leistungen entscheidende Fragen offen. Unabhängig davon, welcher Leistungsbeginn, welche Leistungsdauer, welche Altersgrenze für die Anspruchsberechtigung und welcher massgebende Prozentwert des versicherten Verdienstes und des maximal versicherten Verdienstes festgelegt würden, ist davon auszugehen, dass es sich um Einzelfälle handeln würde. Es müsste also eine neue Regulierung geschaffen werden, die nur in Einzelfällen dazu führen würde, dass Leistungen in Anspruch genommen werden könnten.

2.4

Abgrenzung zwischen Krankheit und Unfall

Die Motion verlangt, dass Taggelder auch in Fällen bezahlt werden, in denen die Erwerbsunfähigkeit durch Rückfälle oder Spätfolgen einer Verletzung begründet ist, welche die versicherte Person als Jugendliche erlitten hat. Man kann sich fragen, ob damit lediglich Verletzungen im Sinne von Unfallfolgen oder auch gesundheitliche Beeinträchtigungen gemeint sind, die auf eine Krankheit zurückgehen. Rückfälle und Spätfolgen werden im Unfallversicherungsbereich in Artikel 11 UVV ausdrücklich erwähnt. Im Rahmen der Kausalität, d.h. wenn Rückfälle und Spätfolgen nachweislich auf frühere UVG-versicherte Unfälle zurückgehen, sind sie gedeckt und werden entschädigt. Im Krankenversicherungsbereich werden Rückfälle lediglich in Artikel 69 KVG im Zusammenhang mit der freiwilligen Taggeldversicherung erwähnt. In der freiwilligen Taggeldversicherung kann bei Krankheiten, die erfahrungsgemäss zu einem Rückfall führen können, ein Versicherungsvorbehalt angebracht werden (Art. 69 Abs. 1 KVG).

Da Rückfälle und Spätfolgen primär im Kontext des Unfallversicherungsrechts bekannt sind, ist davon auszugehen, dass lediglich Verletzungen aufgrund von Unfällen Gegenstand der Motion sein sollen. Auch hier ist der Wortlaut der Motion, wie bereits bezüglich der unzutreffenden Terminologie «Erwerbsunfähigkeit», nicht eindeutig. Wäre die Arbeitsunfähigkeit im konkreten Fall des Lehrlings krankheitsbedingt gewesen, hätte er nach Ablauf der begrenzten Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers gemäss OR ebenso einen Lohnausfall erlitten, da im KVG keine obligatorischen Taggeldzahlungen vorgesehen sind. Wenn nun bei Rückfällen und Spätfolgen eines Jugendunfalls Taggeldzahlungen eingeführt werden sollen, werden Unfallfolgen gegenüber den Auswirkungen einer Krankheit bevorzugt behandelt.

Gründe für eine entsprechende Ungleichbehandlung sind keine ersichtlich, zumal bereits unter dem geltenden Recht Unfälle gegenüber den Krankheiten grundsätzlich privilegiert sind. So hat die nach dem UVG versicherte Person für die Heilbehandlung keine Kostenbeteiligung bestehend aus Selbstbehalt und Franchise zu erbringen. Eine kranke Person hingegen hat für die Heilbehandlung nach dem KVG im Rahmen der Kostenbeteiligung selbst aufzukommen.

Da davon auszugehen ist, dass bei einer Umsetzung der Motion Taggeldzahlungen lediglich bei Rückfällen und
Spätfolgen von Jugendunfällen geleistet werden sollen, ergeben sich erhebliche Abgrenzungsprobleme. Denn in jedem Fall müsste eine mitunter sehr heikle Kausalitätsabklärung vorgenommen werden, um Konsequenzen 2361

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eines Unfalles von denjenigen einer Krankheit zu unterscheiden. Die Notwendigkeit dieser Differenzierung gestaltet sich deshalb besonders schwierig, weil für gesundheitliche Beeinträchtigungen in der Jugendzeit, für welche die Krankenversicherung in der Leistungspflicht stand, keine Unterscheidung zwischen Krankheit und Unfall vorgenommen wurde, da sie leistungsrechtlich ohne Bedeutung war. Insofern dürften die betreffenden Akten für die erforderliche Kausalitätsbeurteilung ungenügend oder zu lückenhaft sein, sodass nachträglich nicht beurteilt werden kann, ob die aktuellen Beeinträchtigungen tatsächlich auf einen lange zurückliegenden Unfall zurückzuführen oder anderer Natur sind. Zudem dürften die massgebenden Akten aus der Jugendzeit in vielen Fällen gar nicht mehr vorhanden sein.

3

Rückwärtsversicherungsverbot

Im Sozialversicherungsrecht gelten grundsätzlich dieselben Prinzipien wie in jeder anderen Versicherung. Die Sozialversicherung ist ein Instrument zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen bestimmter Risiken. Möglichst viele von einem Risiko potenziell Betroffene schliessen sich zu einer Gemeinschaft zusammen, indem sie Prämien in einen gemeinsamen Pool einbringen, damit die versicherte Person, bei der sich die Gefahr verwirklicht, einen Anspruch auf zum Voraus bestimmte oder bestimmbare Leistungen hat. Die potenziell Betroffenen sorgen mittels der Versicherung selber für künftige Schäden vor.

Bereits eingetretene Schäden sollen in der Regel von der Versicherung nicht erfasst sein. In Artikel 9 VVG wird dieser versicherungsrechtliche Grundsatz, der auch Versicherungsprinzip genannt wird, dahingehend verdeutlicht, dass der Versicherungsvertrag nichtig ist, wenn im Zeitpunkt des Abschlusses der Versicherung die Gefahr schon eingetreten war. Dabei handelt es sich um das sogenannte «Rückwärtsversicherungsverbot».

In den Urteilen 8C_324/2007 vom 12. Februar 2008 (Erw. 4.1) und 8C_293/2009 vom 23. Oktober 2009 (Erw. 6.3) hat das Schweizerische Bundesgericht festgehalten, dass das UVG keine Bestimmungen über die Modalitäten des Zustandekommens des Versicherungsvertrages zwischen Versicherer und Arbeitgeber enthält. Die mit der Existenz des Versicherungsvertrages nach Artikel 59 Absatz 2 UVG zusammenhängenden Fragen sind somit nicht regelt. Aus diesem Grund soll das in Artikel 9 VVG stipulierte «Rückwärtsversicherungsverbot» als Träger eines allgemeingültigen Grundprinzips per Analogie auch im Bereich der Versicherungsverträge gemäss Artikel 59 Absatz 2 UVG und somit auch im Sozialversicherungsrecht Anwendung finden. Im Urteil 8C_257/2013 vom 25. September 2013 (Erw. 3.2) hat das Schweizerische Bundesgericht weiter ausgeführt, dass es zum Wesen einer Versicherung gehört, dass die Deckung nach Eintritt des befürchteten Ereignisses nicht neu begründet oder erhöht werden kann. Gemäss Artikel 9 VVG sind die im Privatversicherungsrecht gegen diesen Grundsatz verstossenden Verträge nichtig.

Ausnahmen von diesem Rückwärtsversicherungsverbot bräuchten eine gesetzliche Grundlage.

Mit Bezug auf Lehre und Rechtsprechung zeigt sich also, dass die Motion eine gesetzliche Ausnahme zum Rückwärtsversicherungsverbot verlangt. Denn die Mo2362

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tion will, dass die Folgen eines Ereignisses, das zu einem Zeitpunkt eingetreten ist, als noch keine Versicherung mit einem Schutz gegen Erwerbsausfall bestand, später von einer entsprechenden Versicherung übernommen werden sollen.

4

Unfallversicherung

4.1

Allgemein

Die Motion fordert «eine Änderung des UVG und/oder gegebenenfalls anderer einschlägiger Bestimmungen, um zu garantieren, dass Taggelder auch in Fällen bezahlt werden, in denen die Erwerbsunfähigkeit durch Rückfälle oder Spätfolgen einer Verletzung begründet ist, welche die versicherte Person als Jugendliche erlitten hat». Ihrem Wortlaut entsprechend regt die Motion primär eine Regelung im UVG an.

4.2

Versicherte Personen

Die in der Schweiz beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, einschliesslich der Heimarbeiterinnen und Heimarbeiter, der Lernenden, Praktikantinnen und Praktikanten, Volontärinnen und Volontäre sowie der in Lehr- oder Invalidenwerkstätten tätigen Personen sind obligatorisch nach dem UVG versichert (Art. 1a Abs. 1 Bst. a UVG). Weiter sind die arbeitslosen Personen obligatorisch nach dem UVG versichert (Art. 1a Abs. 1 Bst. b UVG).

4.3

Umfang und Finanzierung der Taggelder

Die Höhe des Taggeldes in der obligatorischen Unfallversicherung beträgt bei voller Arbeitsunfähigkeit 80 Prozent des versicherten Verdienstes (Art 17 Abs. 1 erster Satz UVG). Der Höchstbetrag des versicherten Verdienstes beläuft sich aktuell auf 148 200 Franken pro Jahr und auf 406 Franken pro Tag (Art. 22 Abs. 1 UVV). Bei teilweiser Arbeitsunfähigkeit wird das Taggeld entsprechend gekürzt (Art 17 Abs. 1 zweiter Satz UVG).

Die UVG-Versicherer wenden zur Finanzierung der Taggelder das Bedarfsdeckungsverfahren an (Art. 90 Abs. 1 UVG).

Die Unfallversicherung wird durch Prämien der Arbeitnehmerinnen und Arbeitsnehmer und der Arbeitgeber finanziert (Art. 91 Abs. 1 und 2 UVG). Die gesetzliche Konzeption sieht vor, dass der Arbeitgeber die Prämien der Berufsunfallversicherung (BU) zu tragen hat, während die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer die Prämien für die Nichtberufsunfall-Versicherung (NBU) zu finanzieren hat. Arbeitsvertragliche Absprachen zugunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind dabei vorbehalten.

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4.4

Umsetzung der Motion im UVG

Folgende Punkte sprechen gegen die Umsetzung der Motion im UVG: ­

Bei Unfällen während der Jugendzeit ist die Zuständigkeit der obligatorischen Krankenpflegeversicherung nach dem KVG gegeben. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb im Rahmen der späteren beruflichen Aktivität die Zuständigkeit zum UVG wechseln sollte. Ein solcher Zuständigkeitswechsel ist umso weniger zu verstehen, als Personen, die zwar an Rückfällen und Spätfolgen eines Jugendunfalls leiden, jedoch keiner UVG-versicherten Tätigkeit nachgehen, weiterhin nur in den Genuss von Leistungen nach dem KVG kommen.

­

Eine Regelung für die im Unfallzeitpunkt nicht in der Unfallversicherung versicherten Personen im UVG wäre systemfremd, da die Übernahme von Rückfällen und Spätfolgen von Unfällen aus der Jugendzeit zu einer Deckungserweiterung führen würde. Diese Deckungserweiterung hätte zur Folge, dass auch Leistungen für Schadenereignisse erbracht werden müssten, die sich vor Aufnahme einer UVG-unterstellten Erwerbstätigkeit ereignet hatten. Damit würde eine gesetzliche Ausnahme des Rückwärtsversicherungsverbots geschaffen.

­

Gemäss Artikel 324a OR besteht eine gesetzliche Lohnfortzahlungspflicht, die geeignet ist, den Erwerbsausfall aus Rückfällen und Spätfolgen über eine gewisse Zeitdauer aufzufangen, ohne dass hierzu über eine Deckungserweiterung im UVG eine Verlagerung in die Unfallversicherung erforderlich ist.

­

Es würden neue Ungerechtigkeiten und Ungleichbehandlungen geschaffen, indem nur die Konsequenzen aus Jugendunfällen nachträglich über das UVG versichert sein sollen, während Rückfälle oder Spätfolgen, die beispielsweise auf Unfälle zurückgehen, die sich während eines Arbeitsunterbruches (Sabbatical, Kindererziehung) ereignet haben, nicht erfasst würden.

­

Bereits innerhalb des UVG würde sich eine intrasystemische Ungerechtigkeit ergeben. Nur wer mindestens 8 Stunden pro Woche arbeitet, ist ebenfalls gegen Nichtberufsunfälle versichert. Wer weniger arbeitet, ist lediglich gegen Berufsunfälle versichert. Somit besteht bei einem Freizeitunfall eines UVG-Versicherten, der weniger als 8 Stunden pro Woche arbeitet, kein Anspruch auf Leistungen des UVG. Da die Taggelder bei Rückfällen und Spätfolgen von Jugendunfällen in jedem Fall ausgerichtet würden, wären die Jugendunfälle, bei denen noch gar keine UVG-Deckung bestand, sogar gegenüber den Freizeitunfällen eines Versicherten, der nicht gegen Nichtberufsunfälle versichert ist, privilegiert. Eine solche systemwidrige Privilegierung der nicht UVG-versicherten Jugendunfälle gegenüber den Freizeitunfällen der UVG-Versicherten, die weniger als 8 Stunden pro Woche arbeiten, ist in keiner Weise zu rechtfertigen. Sie würde gegen das verfassungsmässige Rechtsgleichheitsgebot (Art. 8 Abs. 1 BV) verstossen.

­

Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus dem Umstand, dass in der Unfallversicherung zwischen Berufs- und Nichtberufsunfällen unterschieden und eine jeweils getrennte Rechnung geführt wird. Es stellt sich damit die Frage,

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welcher Kategorie die nachträglich zu deckenden Konsequenzen eines Jugendunfalles zuzurechnen sind. Dabei gilt es zu beachten, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die weniger als 8 Stunden pro Woche tätig sind, nur über eine BU- nicht aber über eine NBU-Versicherung verfügen.

Soll es trotz der von der Motion geforderten UVG-Deckung nicht neue «Verliererinnen und Verlierer» geben, müsste eine ausschliessliche Deckung über die BU statuiert werden. Damit wäre jedoch ebenso die ausschliessliche Prämienpflicht der Arbeitgeber verbunden (Art. 91 Abs. 1 UVG).

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­

Auch bezüglich der Finanzierung würden sich Probleme ergeben, da die Unfallversicherung über risikogerechte Prämien finanziert wird. Da die Anzahl der möglichen Fälle und damit das zu tragende Risiko völlig offen und nicht verlässlich abzuschätzen sind, lässt sich keine korrekte Prämienkalkulation vornehmen. Eine zusätzliche Schwierigkeit bildet dabei der Umstand, dass die Motion die Dauer, während deren Rückfälle und Spätfolgen von Jugendunfällen geltend gemacht werden können, nicht begrenzt. Mit andern Worten lassen sich entsprechende Ansprüche von allen UVG-versicherten Personen bis zu ihrer Pensionierung und im Rahmen von Artikel 19 UVG sogar darüber hinaus geltend machen.

­

Die Deckung von Jugendunfällen in der Unfallversicherung würde die Schaffung einer neuen Versichertenkategorie mit entsprechender Leistungsausdehnung bedeuten. Die Mehrleistungen hätten eine Prämienerhöhung zur Folge, die ­ sofern über die BU eine Deckung aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gewährleistet werden soll ­ von den Arbeitgebern zu tragen wäre, was eine Zusatzbelastung der Betriebe zur Folge hätte.

­

Die Einführung von Taggeldzahlungen bei Rückfällen und Spätfolgen von Jugendunfällen hätte einen massiven administrativen Mehraufwand zur Folge. Da lediglich Unfallfolgen gedeckt werden sollen, wären komplexe Kausalitätsabklärungen notwendig, um sicherzustellen, dass es sich bei der aktuellen gesundheitlichen Beeinträchtigung tatsächlich um eine Konsequenz eines Jugendunfalles handelt. Dabei müsste auf alte und eventuell nicht mehr auffindbare KVG-Akten zurückgegriffen werden, die nicht mit der erwünschten Genauigkeit darlegen, ob die fragliche Gesundheitsschädigung auf einen Unfall oder eine Krankheit zurückzuführen war, was die Kausalitätsbeurteilung zusätzlich erschwert. Im UV-Bereich wird bei der Anmeldung eines Unfalls immer eine Unfallmeldung ausgefüllt, bei der der Unfallhergang geschildert werden muss. Aufgrund dieser Angaben entscheidet der Unfallversicherer, ob der Unfallbegriff gemäss Artikel 4 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 20007 über den Allgemeinen Teils des Sozialversicherungsrechts (ATSG) erfüllt ist und eine Leistungspflicht besteht.

Nicht zu vernachlässigen ist im Übrigen der Umstand, dass viele der UVGVersicherten aus dem Ausland stammen und ihre Jugendzeit dort verbracht haben. Der Rückgriff auf medizinische Akten aus der Jugendzeit dürfte sich in diesen Fällen umso schwieriger gestalten.

SR 830.1

2365

BBl 2018

­

4.5

Die Regelung der Rückfälle und Spätfolgen von Jugendunfällen im UVG würde zu einer Zunahme von prozessualen Verfahren führen. Aufgrund der komplexen Kausalitätsabklärungen würde im Resultat lediglich eine Scheinlösung geschaffen. Denn die aktuelle Gesundheitsschädigung müsste nach dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit auf ein Unfallereignis in der Jugendzeit zurückzuführen sein. Aufgrund nicht mehr vorhandener medizinischer Akten respektive eines unvollständigen medizinischen Dossiers würde der Kausalitätsnachweis oftmals an mangelnden Beweisen scheitern. Mit andern Worten bliebe der Versicherte im konkreten Einzelfall trotz der Umsetzung der Motion ohne Taggeldleistungen.

Fazit

Die Motion verlangt, dass primär im UVG eine Taggeldzahlung für Fälle vorgesehen wird, in denen die Arbeitsunfähigkeit durch Rückfälle oder Spätfolgen eines Jugendunfalles bedingt ist. Wie Ziffer 4.4 zeigt, ist das UVG nicht geeignet, die von der Motion geforderte Taggeldversicherung aufzunehmen. Eine entsprechende Umsetzung liesse sich nur in Abweichung vom Rückwärtsversicherungsverbot realisieren. Gleichzeitig käme es zu verschiedenen systemischen Inkohärenzen. Von der neuen Taggeldversicherung könnten zudem nur jene Personen profitieren, die zum Zeitpunkt des Rückfalls oder der Spätfolge eines Jugendunfalles auch UVG-versichert sind. Schliesslich bleibt offen, wer die nicht abschätzbare Prämienerhöhung finanzieren soll, ob sie über die Prämie für die Berufsunfallversicherung von der Arbeitgeberseite oder über die Prämie der Nichtberufsunfallversicherung von der Arbeitnehmerseite getragen werden soll. Um verfassungswidrige Rechtsungleichheiten zu vermeiden, dürfte die Erweiterung der Versicherungsdeckung nicht nur auf Rückfälle oder Spätfolgen eines Jugendunfalls beschränkt werden.

Wenn die Motion nicht im UVG umgesetzt werden soll, stellt sich die Frage, welcher andere Sozialversicherungszweig hierfür in Frage kommt. Weil es nicht angezeigt scheint, eine Taggeldversicherung in einem Sozialversicherungszweig zu realisieren, der diese Leistungskategorie nicht kennt, sollen all jene Sozialversicherungszweige, die ein Taggeld in ihrem Leistungskatalog vorsehen, einer Überprüfung unterzogen werden, unter Berücksichtigung der Vor- und Nachteile, der Systemgerechtigkeit, der administrativen Probleme und der Finanzierungsaspekte.

2366

BBl 2018

5

Weitere Sozialversicherungszweige mit Taggeldleistungen

5.1

Krankenversicherung

5.1.1

Allgemein

Das KVG regelt die soziale Krankenversicherung. Diese umfasst die obligatorische Krankenpflegeversicherung, welche die Heilbehandlungskosten und die Kosten für die Pflege übernimmt, sowie eine freiwillige Taggeldversicherung (Art. 1a Abs. 1 KVG).

5.1.2

Versicherte Personen

Jede Person mit Wohnsitz in der Schweiz muss sich innert drei Monaten nach der Wohnsitznahme oder der Geburt in der Schweiz für Krankenpflege versichern oder von ihrem gesetzlichen Vertreter beziehungsweise ihrer gesetzlichen Vertreterin versichern lassen (Art. 3 Abs. 1 KVG).

5.1.3

Umfang und Finanzierung der Taggelder

In der sozialen Krankenversicherung ist die Taggeldversicherung freiwillig. Sie kann als Einzel- oder Kollektivversicherung abgeschlossen werden. Der Versicherer vereinbart mit der Versicherungsnehmerin oder dem Versicherungsnehmer das versicherte Taggeld. Dabei kann die Deckung auf Krankheit und Mutterschaft beschränkt werden (Art. 72 Abs. 1 KVG).

Die Finanzierung der Taggelder erfolgt mittels Prämienzahlungen der Versicherten (Art. 76 KVG). Die Versicherer können in der Kollektivversicherung von der Einzelversicherung abweichende Prämien vorsehen. Diese sind so festzusetzen, dass die Kollektivversicherung mindestens selbsttragend ist (Art. 77 KVG).

5.1.4

Umsetzung der Motion im KVG

Folgende Punkte sprechen gegen die Umsetzung der Motion im KVG: ­

Die Einführung eines obligatorischen Taggeldes bei Rückfällen und Spätfolgen eines Jugendunfalls als neue Leistungskategorie in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP), finanziert über die Kopfprämien, wäre aufgrund des nicht abschätzbaren Leistungsvolumens (Anzahl Fälle, Dauer und Höhe der Leistungen) und des offenen Finanzierungsbedarfs nicht praktikabel. Da die Kopfprämie in den letzten Jahren in einem beunruhigenden Ausmass gestiegen ist und stark im politischen Fokus steht, erscheint es nicht angezeigt, eine neue Leistungskategorie für einen Spezialfall zu kreieren, was zu einer weiteren Erhöhung der Kopfprämien führen würde. Die Umsetzung der Motion über eine weitere Leistungskategorie im Leistungs2367

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katalog der OKP hätte zudem zur Folge, dass die Kopfprämie aller Versicherten steigen würde, unabhängig davon ob sie berufstätig sind oder nicht.

Eine entsprechende Lösung erscheint von vornherein als ungeeignet.

­

Das KVG kennt lediglich eine freiwillige Taggeldversicherung (Art. 67 ff.

KVG). Der Lohnausfall bei Rückfällen und Spätfolgen von Jugendunfällen kann somit bereits heute mit einer kollektiven Krankentaggeldversicherung nach dem KVG versichert werden, da die soziale Krankenversicherung auch bei Unfall Leistungen gewährt, soweit dafür keine Unfallversicherung aufkommt (Art. 1a Abs. 2 Bst. b KVG) und der Taggeldversicherer auf einen Vorbehalt für frühere Krankheiten und Unfälle verzichtet (Art. 69 KVG).

Die gesetzlich vorgesehene freiwillige Taggeldversicherung könnte für Rückfälle und Spätfolgen von Jugendunfällen obligatorisch erklärt werden.

Als Obligatorium könnte sie von jeder Arbeitnehmerin und jedem Arbeitnehmer als Einzelversicherung abgeschlossen werden, mit einer individuellen Prämienbelastung der versicherten Person selbst. Sie könnte aber auch als obligatorische Kollektivversicherung durch den Arbeitgeber für sich und seine Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abgeschlossen werden. In diesem Fall stellt sich die Frage, wer die Prämien tragen soll, ob der Arbeitgeber alleine oder allenfalls mit einer Beteiligung der versicherten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. In jedem Fall würde ein solches Obligatorium zu einer finanziellen Zusatzbelastung der Arbeitgeber und damit des Werkplatzes Schweiz führen. Im Falle einer Prämienbeteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer würde es zu einer Einbusse beim Nettolohn kommen.

­

Mit der Umsetzung der Motion über eine Taggeldversicherung im KVG würde eine paradoxe Situation geschaffen. Wenn im System des KVG eine spezifische obligatorische Unfalltaggeldversicherung für Rückfälle und Spätfolgen von Jugendunfällen vorgesehen würde, während bei Krankheit eine Taggeldzahlung nach wie vor lediglich freiwillig bleiben würde, käme dies einer Systemwidrigkeit gleich. Diese wäre umso flagranter, als selbst verunfallte Personen, die lediglich über eine Unfalldeckung nach dem KVG verfügen, keinen Taggeldanspruch geltend machen könnten.

­

Ein weiteres Paradoxon würde darin liegen, dass beim Abschluss einer freiwilligen Taggeldversicherung nach dem KVG ein Versicherungsvorbehalt für bestehende Krankheiten und für frühere Krankheiten, die erfahrungsgemäss zu Rückfällen führen können, angebracht werden kann (Art. 69 Abs. 1 KVG). Diese Möglichkeit eines Versicherungsvorbehalts gilt auch für frühere Unfälle. Mit einer obligatorischen Taggeldversicherung für Rückfälle und Spätfolgen von Jugendunfällen müsste speziell für die Kategorie von Rückfällen und Spätfolgen aus einem früheren Ereignis (Jugendunfall) ein Versicherungsvorbehalt ausgeschlossen werden.

­

Die Einführung eines obligatorischen Taggeldes bei Rückfällen und Spätfolgen eines Jugendunfalls würde eine Privilegierung der Unfälle gegenüber den Krankheiten darstellen. Innerhalb der sozialen Krankenversicherung ist eine Privilegierung der Unfälle gegenüber den Krankheiten kaum zu rechtfertigen.

2368

BBl 2018

­

Wie bei der Umsetzung der Motion in einem anderen Versicherungszweig ergäbe sich auch bei einer Verankerung im KVG die Notwendigkeit einer Kausalitätsabklärung in jedem Einzelfall. Damit wäre ein erheblicher administrativer Mehraufwand für die KVG-Versicherer verbunden, da unter Umständen auf jahrzehntealte medizinische Akten zurückgegriffen werden müsste, die möglicherweise gar nicht mehr vorhanden oder inhaltlich unklar sind.

5.2

Erwerbsersatzordnung

5.2.1

Allgemein

Die Erwerbsersatzordnung (EO) gemäss dem Erwerbsersatzgesetz vom 25. September 19528 (EOG) kompensiert den Verdienstausfall von Personen, die Militär-, Zivilschutz- oder Zivildienst leisten. Zudem kompensiert die EO seit dem 1. Juli 2005 den Verdienstausfall erwerbstätiger Mütter während höchstens 14 Wochen mit einer Mutterschaftsentschädigung.

5.2.2

Versicherte Personen

Das EOG enthält keine eigenen Bestimmungen zum Kreis der versicherten Personen. Betreffend die Beitragspflicht verweist Artikel 27 Absatz 1 EOG auf das Bundesgesetz vom 20. Dezember 19469 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG). Der Kreis der beitragspflichtigen Versicherten und Arbeitgeber richtet sich somit nach dem AHVG. Wer in der AHV beitragspflichtig ist, untersteht auch der Beitragspflicht in der EO.

5.2.3

Umfang und Finanzierung der Taggelder

Die EO richtet ausschliesslich Geldleistungen aus. Dabei handelt es sich um Taggelder als Erwerbsersatz für Dienstleistende. Dieser Erwerbsersatz besteht aus einer Grundentschädigung (Art. 4 und 9­11 EOG), Kinderzulagen (Art. 6 und 13 EOG), Zulagen für Betreuungskosten (Art. 7 EOG) und Betriebszulagen (Art. 8 und 15 EOG). Weiter richtet die EO eine Mutterschaftsentschädigung (Art. 16b­16h EOG) aus.

Die Grundentschädigung während eines Dienstes beträgt grundsätzlich 80 Prozent des durchschnittlichen vordienstlichen Erwerbseinkommens (Art. 10 Abs. 1 EOG).

War die dienstleistende Person vor Beginn des Dienstes nicht erwerbstätig, so berechnet sich die tägliche Grundentschädigung je nach Art des Dienstes aus einem Mindestbetrag in Prozent des Höchstbetrags (Art. 10 Abs. 2 und 16 EOG). Aktuell

8 9

SR 834.1 SR 831.10

2369

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beläuft sich der Höchstbetrag der Gesamtentschädigung auf 245 Franken pro Tag (Art. 16a EOG).

Die Kinderzulage beträgt für jedes Kind 8 Prozent des Höchstbetrages der Gesamtentschädigung (Art. 13 EOG), während die Betriebszulage 27 Prozent des Höchstbetrages der Gesamtentschädigung beträgt (Art. 15 EOG).

Die Mutterschaftsentschädigung wird als Taggeld ausgerichtet. Dieses beträgt 80 Prozent des durchschnittlichen Erwerbseinkommens, das vor Beginn des Entschädigungsanspruchs erzielt wurde (Art. 16e EOG). Die Mutterschaftsentschädigung beträgt höchstens 196 Franken pro Tag (Art. 16f Abs. 1 erster Satz EOG).

Die EO ist eine Versicherung, die ausschliesslich durch die Beiträge der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite finanziert wird Für die Bemessung der Beiträge sind die Bestimmungen des AHVG sinngemäss anwendbar. Der Bundesrat setzt die Höhe der Beiträge unter Berücksichtigung von Artikel 28 EOG fest. Die Beiträge vom Einkommen aus einer Erwerbstätigkeit dürfen jedoch 0,5 Prozent nicht übersteigen (Art. 27 Abs. 2 EOG). Im Ausgleichsfonds der Erwerbsersatzordnung werden alle auf dem EOG beruhenden Einnahmen und Leistungen gutgeschrieben oder belastet (Art. 28 Abs. 1 EOG). Der Bestand der flüssigen Mittel und der Anlagen des Ausgleichsfonds darf in der Regel nicht unter 50 Prozent einer Jahresausgabe sinken (Art. 28 Abs. 3 EOG).

Die Lohnbeiträge der Versicherung wurden per 1. Januar 2011 aufgrund der seit der Einführung der Mutterschaftsentschädigung im Jahre 2005 erzielten Ausgabenüberschüsse von 0,3 Prozent auf 0,5 Prozent erhöht. Per 1. Januar 2016 konnte der EO-Beitragssatz von 0,5 auf 0,45 Prozent gesenkt werden, da die Reserven des EO-Fonds Ende 2015 wieder mindestens 50 Prozent einer Jahresausgabe betrugen.

5.2.4

Umsetzung der Motion im EOG

Folgende Punkte sprechen gegen die Umsetzung der Motion im EOG: ­

Die EO schafft einen finanziellen Ausgleich bei arbeitsfähigen dienstpflichtigen Personen (in Militär, Zivilschutz oder -dienst) und bei Müttern nach der Geburt eines Kindes. Der Erwerbsausfall ist in der EO die Folge von gesetzlich vorgeschriebenen Situationen (wie Militärdienst) oder eines vom Gesetz vorgeschriebenen Arbeitsverbots bei Mutterschaft. Die EO sichert jedoch nicht die finanziellen Folgen einer Arbeitsunfähigkeit ab und ist keine allgemeine Erwerbsausfallsversicherung.

­

Eine Regelung für die im Unfallzeitpunkt nicht in der Unfallversicherung versicherten Personen im EOG wäre systemfremd; es fehlt ein versicherungsrechtlicher Konnex. Eine Deckung für Unfallfolgen im EOG könnte sich nicht auf die bisherigen verfassungsrechtlichen Grundlagen des EOG (Art. 59 Abs. 4, Art. 61 Abs. 4 und Art. 116 Abs. 3 und 4 BV) stützen.

­

Es käme zu einer intrasystemischen Ungerechtigkeit: Der Anspruch für Frauen auf Mutterschaftsentschädigung besteht nur dann, wenn sie während der neun Monate unmittelbar vor der Niederkunft der obligatorischen

2370

BBl 2018

AHV/IV/EO unterstellt und zudem während einer bestimmten Mindestdauer erwerbstätig waren. Demgegenüber würden Jugendunfälle voraussetzungslos einen Leistungsanspruch auslösen. Eine solche systemwidrige Privilegierung ist in keiner Weise zu rechtfertigen.

­

Die Motion begrenzt die Dauer, während deren Rückfälle und Spätfolgen von Jugendunfällen geltend gemacht werden könnten, nicht. Auch dies würde zu einer intrasystemischen Ungerechtigkeit führen: Im Fall der Mutterschaftsentschädigung ist der Anspruch auf 14 Wochen beschränkt, trotz immer wieder geäusserten Forderungen nach einer Verlängerung des Mutterschaftsurlaubes. Diese Privilegierung liesse sich gegenüber den beitragszahlenden Müttern nicht rechtfertigen.

­

Sowohl bei Dienstleistenden wie auch bei Müttern wird eine Arbeitsverhinderung abgegolten, ohne dass eine Arbeitsunfähigkeit vorliegt. Die Übernahme einer Leistungspflicht bei Arbeitsunfähigkeit in der EO würde ein Novum darstellen.

­

Zudem sind die EO-Durchführungsstellen mit der Beurteilung von medizinischen Problemstellungen und heiklen Kausalitätsfragen nicht vertraut. Die Durchführungsorgane der EO wären nicht in der Lage, die Rechtmässigkeit der Ansprüche zu überprüfen. Die Gefahr des Rechtsmissbrauchs wäre gross, wie die Erfahrungen in Armee und Zivilschutz gezeigt haben.

­

KVG-Akten müssten jahrelang aufbewahrt werden, um später das Unfallereignis im Jugendalter dokumentieren zu können. Damit wäre ein erheblicher administrativer Mehraufwand verbunden, da unter Umständen auf jahrzehntealte medizinische Akten zurückgegriffen werden müsste, die möglicherweise gar nicht mehr vorhanden oder inhaltlich unklar sind.

­

Durch die Übernahme des Erwerbsausfalls für nicht durch das UVG versicherte Unfallfolgen könnten Fehlanreize zuungunsten der EO entstehen, indem die EO vermehrt für die Deckung solcher Schäden beigezogen würde.

­

Eine weitere Ausdehnung des Aufgabenbereiches würde die Erwerbsersatzordnung finanziell zusätzlich belasten. Die Lohnbeiträge der Versicherung mussten bereits per 1. Januar 2011 aufgrund der seit der Einführung der Mutterschaftsentschädigung im Jahre 2005 erzielten Ausgabenüberschüsse von 0,3 Prozent auf 0,5 Prozent erhöht werden. Im Übrigen haben der Bundesrat und das Parlament Vorstösse, welche die Übernahme von weiteren Aufgaben durch die EO forderten, durchwegs abgelehnt.

­

Die EO ist eine Versicherung, die ausschliesslich durch die Beiträge der Arbeitnehmer- und der Arbeitgeberseite finanziert wird. Am 2. September 2015 hat der Bundesrat mit Wirkung per 1. Januar 2016 eine Senkung des EO-Beitragssatzes von 0,5 auf 0,45 Prozent beschlossen, da die Reserven des EO-Fonds Ende 2015 wieder den gesetzlichen Mindestanforderungen einer halben Jahresausgabe entsprechen. Diese Senkung gilt für die nächsten fünf Jahre und wird voraussichtlich den Erhalt der Mindestreserven erlauben. Bei der Übernahme einer weiteren Leistungskategorie im EOG könnte der Erhalt des Bestandes der Mindestreserve jedoch nicht garantiert werden.

2371

BBl 2018

­

Zusätzliche Aufgaben, deren finanzielle Folgen zudem nicht abschätzbar sind, würden eine Zusatzfinanzierung in unbekannter Höhe bedingen, welche die Wirtschaft belasten würde.

5.3

Arbeitslosenversicherung

5.3.1

Allgemein

Das System der sozialen Sicherheit in der Schweiz kennt keine Einheitskasse und keine Einheitsversicherung. Vorgesehen sind verschiedene Sozialversicherungen mit ihrem spezifischen Versicherungsziel (AHV, KVG, berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge, Invalidenversicherung etc.). Mit dem Arbeitslosenversicherungsgesetz vom 25. Juni 198210 (AVIG) werden Erwerbsausfälle aus arbeitsmarktlichen Gründen versichert. Nicht versichert sind hingegen Erwerbsausfälle aus gesundheitlichen Gründen (vorbehältlich die zeitlich befristete Deckung nach Art. 28 AVIG).

Die Arbeitslosenversicherung nach dem AVIG will den versicherten Personen einen angemessenen Ersatz garantieren für Erwerbsausfälle aufgrund von Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, schlechtem Wetter oder Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers. Zudem will die Arbeitslosenversicherung Arbeitslosigkeit verhüten, bestehende Arbeitslosigkeit bekämpfen und die rasche und dauerhafte Eingliederung von arbeitslosen Personen in den Arbeitsmarkt fördern (Art. 1a AVIG).

5.3.2

Versicherte Personen

Versichert ist, wer für die Arbeitslosenversicherung beitragspflichtig ist. Der Arbeitslosenversicherung sind gemäss AVIG alle unselbstständig tätigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer angeschlossen (Art. 2 AVIG).

5.3.3

Umfang und Finanzierung der Taggelder

Die Arbeitslosenversicherung richtet eine Entschädigung im Falle von arbeitsmarktlich bedingter Arbeitslosigkeit in Form von Taggeldern aus (Art. 7 Abs. 2 AVIG).

Versichert wird somit das Risiko Arbeitslosigkeit, d.h. der Erwerbsausfall im Falle von Arbeitslosigkeit und nicht das Risiko eines unfall- oder krankheitsbedingten Erwerbsausfalls. Bei den übrigen Leistungsarten (Kurzarbeitsentschädigung, Schlechtwetterentschädigung, Insolvenzentschädigung) werden keine Taggelder ausgerichtet.

Grundsätzlich beträgt ein volles Taggeld 80 Prozent des versicherten Verdienstes.

Die versicherte Person erhält zudem einen Zuschlag, der den auf den Tag umgerechneten gesetzlichen Kinder- und Ausbildungszulagen entspricht, auf die sie Anspruch 10

SR 837.0

2372

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hätte, wenn sie in einem Arbeitsverhältnis stände (Art. 22 Abs. 1 AVIG). Dieser Zuschlag wird nur ausbezahlt, soweit die Kinderzulagen dem Versicherten während der Arbeitslosigkeit nicht ausgerichtet werden und für dasselbe Kind kein Anspruch einer erwerbstätigen Person besteht (Art. 22 Abs. 1 Bst. a und b AVIG).

Ein Taggeld in der Höhe von 70 Prozent des versicherten Verdienstes erhalten unter anderem Versicherte, die keine Unterhaltspflicht gegenüber Kindern unter 25 Jahren haben (Art. 22 Abs. 2 AVIG).

Der Höchstbetrag des versicherten Verdienstes entspricht demjenigen der obligatorischen Unfallversicherung (Art. 23 Abs. 1 zweiter Satz AVIG), also 148 200 Franken pro Jahr und 406 Franken pro Tag (Art. 22 Abs. 1 UVV).

Die Versicherung wird finanziert durch Beiträge der Arbeitgeber und der Versicherten. Beide Seiten tragen den Beitragssatz von 2,2 Prozent bis zum Höchstbetrag des versicherten Verdienstes je zur Hälfte (Art. 3 Abs. 1 und 2 AVIG). Der Höchstbetrag des versicherten Verdienstes beläuft sich seit dem 1. Januar 2016 auf 148 200 Franken. Weiter wird die Arbeitslosenversicherung durch eine Beteiligung des Bundes im Umfang von 0,159 Prozent der von der Beitragspflicht erfassten Lohnsumme an den Kosten für die Vermittlung und arbeitsmarktliche Massnahmen (Art. 90a Abs. 1 AVIG) und mit Vermögenserträgen des Ausgleichsfonds (Art. 90 AVIG) finanziert.

Im Jahr 2011 ist die 4. Revision des AVIG in Kraft getreten. Die Beiträge auf dem massgeblichen Jahreslohn bis zum Höchstbetrag des versicherten Verdienstes wurden von 2,0 Prozent auf 2,2 Prozent erhöht. Seit dem 1. Januar 2016 wird das Solidaritätsprozent ohne Obergrenze auf einem Jahreseinkommen ab 148 200 Franken erhoben (Solidaritätsprozent; Art. 90c Abs. 1 AVIG).

5.3.4

Umsetzung der Motion im AVIG

Folgende Punkte sprechen gegen die Umsetzung der Motion im AVIG: ­

In der Arbeitslosenversicherung haben Versicherte Anspruch auf Leistungen, wenn sie die Anspruchsvoraussetzungen nach Artikel 8 AVIG erfüllen.

Die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt unter anderem, wer ganz oder teilweise arbeitslos ist (Art. 10 AVIG), wer einen anrechenbaren Arbeitsausfall erlitten hat, der einen Verdienstausfall zur Folge hat und mindestens zwei aufeinander folgende volle Arbeitstage dauert (Art. 11 Abs. 1 AVIG) und wer vermittlungsfähig ist (Art. 15 AVIG). Weiter muss die Beitragszeit erfüllt sein (Art. 13 AVIG).

Die Zahlung von Taggeldern bei Rückfällen und Spätfolgen von Jugendunfällen durch die Arbeitslosenversicherung würde bedeuten, dass ein nicht durch die Arbeitslosenversicherung im Sinne von Artikel 114 BV zu deckender und somit systemfremder Schaden gedeckt würde. Zudem müssten zwei der wichtigsten Anspruchsvoraussetzungen, nämlich eine Arbeitslosigkeit und eine Vermittlungsfähigkeit, für diese neue Leistungskategorie ausser Kraft gesetzt werden.

2373

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­

Die Motion will eine Versicherungslücke für diejenigen Personen schliessen, die im Arbeitsprozess sind, wegen eines Rückfalls oder einer Spätfolge eines Jugendunfalls arbeitsunfähig werden und mit der arbeitsvertraglichen Lohnfortzahlungspflicht nicht für die ganze Dauer ihres Arbeitsausfalles lohnmässig entschädigt werden. Diese Personen erfüllen das Kriterium der Arbeitslosigkeit nicht, da sie entgegen der gesetzlichen Definition von Artikel 10 AVIG in einem Arbeitsverhältnis stehen. Vor diesem Hintergrund wäre es systemfremd, wenn die Arbeitslosenversicherung im Rahmen der Umsetzung der Motion Taggeldleistungen für nicht arbeitslose Personen erbringen müsste.

­

Eine gleiche Inkompatibilität ergibt sich unter dem Aspekt der Vermittlungsfähigkeit. Eine wesentliche Anspruchsvoraussetzung in der Arbeitslosenversicherung stellt die Vermittlungsfähigkeit nach Artikel 15 AVIG dar. Um vermittlungsfähig zu sein, muss die arbeitslose Person bereit, in der Lage und berechtigt sein, eine zumutbare Arbeit anzunehmen. Bei einer Arbeitsunfähigkeit liegt keine Vermittlungsfähigkeit vor, da die gesundheitliche Situation einen Arbeitseinsatz gerade verhindert. Würde eine Taggeldzahlung bei Rückfällen und Spätfolgen von Jugendunfällen in der Arbeitslosenversicherung eingeführt, hätte dies zur Folge, dass die Versicherung Leistungen erbringen müsste, obwohl aufgrund einer Arbeitsunfähigkeit keine Vermittlungsfähigkeit vorliegt. Auch unter diesem Gesichtspunkt würde eine offenkundige Systemwidrigkeit geschaffen.

­

Die arbeitslosen Personen sind obligatorisch gegen Nichtberufsunfälle bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) versichert. Es fragt sich, ob man die Taggeldzahlungen bei einem Rückfall oder einer Spätfolge eines Jugendunfalls bei der Suva als Unfallversichererin für die arbeitslosen Personen anbinden könnte. Problematisch wäre jedoch, dass nicht nur über die Suva versicherte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Genuss von Taggeldzahlungen bei einem Rückfall oder einer Spätfolge eines Jugendunfalls kämen, sondern auch Personen, die über einen Privatversicherer UVG-versichert sind. Das Risiko für nachträgliche Konsequenzen von Jugendunfällen würde sich auf die Suva als einziger Versichererin konzentrieren, was nicht zu rechtfertigen ist. Die Prämien der Unfallversicherung der arbeitslosen Personen müssen risikogerecht ausgestaltet sein, um die zu erwarteten Aufwendungen zu decken. Eine Beurteilung des Risikos, wenn die Anzahl der Fälle, die Dauer und die Höhe der Leistungen nicht abschätzbar sind, wäre kaum möglich. Zudem hätten arbeitsunfähige Personen, die aufgrund eines Rückfalls oder einer Spätfolge eines Jugendunfalls Taggelder von der Suva erhalten würden, keine NBU-Prämien an die Versicherung von arbeitslosen Personen bezahlt, da sie keine Arbeitslosigkeit aufweisen und somit nicht wie die Arbeitslosen in der Prämienpflicht der Arbeitslosenversicherung stehen. Dies würde eine Verletzung des Äquivalenzprinzips (Verhältnis zwischen Leistungen und Prämie) darstellen.

­

Auch bei einer Umsetzung der Motion in der Unfallversicherung der arbeitslosen Personen würde sich die Problematik des administrativen Mehraufwandes durch die Notwendigkeit einer Kausalitätsbeurteilung im jedem Ein-

2374

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zelfall ergeben. Die Organe der Arbeitslosenversicherung sind mit der Beurteilung von medizinischen Problemstellungen und heiklen Kausalitätsfragen nicht vertraut. Sie verfügen weder über die entsprechenden Ressourcen noch über die erforderlichen medizinischen Fachkräfte.

­

Die oftmals unvollständigen oder fehlenden medizinischen Akten aus der Jugendzeit würden auch hier zu beweisrechtlich ungünstigen Entscheidungen zum Nachteil der versicherten Person führen.

­

Die Erhöhung der Beitragsprozente auf 2,2 Prozent und die Erhebung des Solidaritätsprozents zeigen, dass die Arbeitslosenversicherung finanzielle Probleme hat. Unter diesen Umständen erscheint es nicht angezeigt, die Arbeitslosenversicherung mit der Aufnahme einer zusätzlichen, systemfremden Leistung zu belasten.

5.4

Invalidenversicherung

5.4.1

Allgemein

Die Invalidenversicherung will die Invalidität mit geeigneten, einfachen und zweckmässigen Eingliederungsmassnahmen verhindern, vermindern oder beheben, die verbleibenden ökonomischen Folgen der Invalidität im Rahmen einer angemessenen Deckung des Existenzbedarfs ausgleichen (Eingliederung vor Rente) und zu einer eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Lebensführung der betroffenen Versicherten beitragen (Art. 1a des Bundesgesetzes vom 19. Juni 195911 über die Invalidenversicherung, IVG).

5.4.2

Versicherte Personen

Versichert sind Personen, die nach dem AHVG obligatorisch oder freiwillig versichert sind (Art. 1b IVG).

5.4.3

Umfang und Finanzierung der Taggelder

Die Invalidenversicherung richtet unter anderem Taggelder aus (Art. 22 ff. IVG).

Grundsätzlich beträgt die Grundentschädigung 80 Prozent des letzten ohne gesundheitliche Einschränkung erzielten Erwerbseinkommens, jedoch nicht mehr als 80 Prozent des Höchstbetrags des Taggeldes nach Artikel 24 Absatz 1 IVG. Dieser Artikel verweist auf den Höchstbetrag des Taggelds nach dem UVG, der sich auf 406 Franken beläuft (Art. 22 Abs. 1 UVV).

Die Grundentschädigung beträgt 30 Prozent des Höchstbetrags des Taggeldes für Versicherte, die das 20. Altersjahr vollendet haben und ohne Invalidität nach abgeschlossener Ausbildung eine Erwerbstätigkeit aufgenommen hätten (Art. 23 Abs. 2 11

SR 831.20

2375

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IVG). Höchstens 30 Prozent des Höchstbetrags des Taggeldes beträgt die Grundentschädigung für Versicherte in der erstmaligen beruflichen Ausbildung und für Versicherte, die das 20. Altersjahr noch nicht vollendet haben und noch nicht erwerbstätig gewesen sind, wobei der Bundesrat die Höhe der Grundentschädigung festsetzt (Art. 23 Abs. 2bis IVG).

Die Invalidenversicherung wird durch Beiträge der Arbeitgeber und der Versicherten finanziert (Art. 2 und 3 IVG), durch Beiträge des Bundes, durch Einnahmen, die sich aus der für die Versicherung bestimmten Anhebung der Mehrwertsteuersätze ergeben, durch die Zinsen des Ausgleichsfonds und durch Einnahmen aus dem Rückgriff auf haftpflichtige Dritte (Art. 77 IVG).

Am 27. September 2009 haben Volk und Stände der Zusatzfinanzierung zugestimmt und sich somit für eine befristete Erhöhung der Mehrwertsteuer von 7,6 auf 8 Prozent im Zeitraum von 2011 bis 2017 ausgesprochen, um die langfristige Sanierung des Sozialwerkes sicherzustellen. Weiter wurde die Rechnung der IV ab dem 1. Januar 2011 von jener der AHV getrennt. Der Bundesrat hat mittlerweile die 6. IV-Revision erarbeitet. Die Ausgaben sollen noch weiter gesenkt werden, um zusätzlich zur Sanierung der IV beizutragen.

5.4.4

Umsetzung der Motion im IVG

Folgende Punkte sprechen gegen die Umsetzung der Motion im IVG: ­

Die Invalidenversicherung ist darauf ausgerichtet, eine Invalidität zu verhindern, zu vermindern oder zu beheben. Anspruch auf IV-Taggeld haben Versicherte erst, wenn sie das 18. Altersjahr vollendet haben. Versicherte haben während der Durchführung von Eingliederungsmassnahmen Anspruch auf ein Taggeld, wenn sie an wenigstens drei aufeinanderfolgenden Tagen wegen der Massnahmen verhindert sind, einer Arbeit nachzugehen, oder in ihrer gewohnten Tätigkeit zu mindestens 50 Prozent arbeitsunfähig sind. Der Anspruch auf IV-Taggeld erlischt spätestens am Ende des Monats, in dem der Anspruch auf eine Alters- oder Invalidenrente entsteht (Art. 22 Abs. 4 IVG).

Bei der mit der Motion geforderten Taggeldzahlungen bei Rückfällen und Spätfolgen von Jugendunfällen geht es nicht darum, die Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, wieder herzustellen oder zu erhalten (Art. 8 Abs. 3 IVG). Die potenziellen Bezügerinnen und Bezüger eines Taggelds bei einem Rückfall oder einer Spätfolge eines Jugendunfalls stehen in einem Arbeitsverhältnis, weisen lediglich eine vorübergehende Arbeitsunfähigkeit auf und sind damit aus Sicht der IV voll eingegliedert. Die mit der Motion geforderte Taggeldzahlung soll bei einer vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit einen allfälligen Lohnausfall, der nach Ablauf der Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers entsteht, ausgleichen.

Da diese Personen voll eingegliedert sind, wäre eine Umsetzung der Motion im IVG systemfremd.

2376

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­

Die erforderlichen Kausalitätsabklärungen würden auch hier einen besonderen administrativen Mehraufwand bedingen. Denn die Invalidenversicherung ist im Unterschied zur Unfallversicherung keine kausale, sondern eine finale Versicherung. Das bedeutet, dass die Ursache der gesundheitlichen Beeinträchtigung für die Anspruchsberechtigung auf Leistungen irrelevant ist. Die IV erbringt Massnahmen und Leistungen unabhängig davon, welches die konkrete Ursache der gesundheitlichen Beeinträchtigung ist und ob die Gefährdung oder Benachteiligung der Erwerbsfähigkeit auf einen Unfall oder eine Krankheit zurückzuführen ist. Bei einer Umsetzung der Motion im IVG würde eine neue Aufgabe auf die Durchführungsorgane zukommen. Diese müssten komplexe Kausalitätsabklärungen durchführen, weil der Taggeldanspruch bei einem Rückfall oder einer Spätfolge eine unfallbedingte Vorbelastung aus der Jugendzeit bedingt. Eine solche Aufgabe würde in der Invalidenversicherung als finaler Versicherung eine Systemwidrigkeit darstellen.

­

Beitragspflichtig in der IV sind die in den Artikeln 3 und 12 AHVG genannten Versicherten und Arbeitgeber (Art. 2 IVG). Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind ab dem 1. Januar nach dem 17. Geburtstag beitragspflichtig (Art. 3 Abs. 2 Bst. a AHVG). Zum Zeitpunkt eines Jugendunfalls waren die Betroffenen also in den meisten Fällen noch nicht IV-beitragspflichtig.

Wenn später im Erwerbsleben ein Rückfall oder eine Spätfolge eines Jugendunfalls auftritt, der von der IV über ein Taggeld zu entschädigen ist, würde dies einen Verstoss gegen das Versicherungsprinzip beziehungsweise gegen das Rückwärtsversicherungsverbot darstellen.

­

Am 27. September 2009 haben sich Volk und Stände für eine befristete Erhöhung der Mehrwertsteuer von 2011 bis 2017 und damit für die langfristige Sanierung der IV ausgesprochen. Weil die Zusatzfinanzierung per Ende 2017 ausläuft, würde es den Sanierungsbestrebungen zuwiderlaufen, wenn in der IV eine neue Leistungspflicht eingeführt würde.

6

Fazit und Antrag auf Abschreibung

6.1

Fazit

Zusammengefasst sprechen folgende Punkte gegen die Umsetzung der Motion in einem der überprüften Sozialversicherungsbereiche: ­

Die Ursächlichkeit des Jugendunfalls für die aktuelle Arbeitsunfähigkeit muss gemäss dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erbracht werden. Fehlende oder unvollständige Akten werden sich im Rahmen der Kausalitätsbeurteilung regelmässig zum Nachteil der versicherten Person auswirken, indem ihr keine Taggeldleistungen zugesprochen werden. Die regelmässig schwierige Akten- und Beweislage führt dazu, dass auch bei einer Umsetzung der Motion in vielen Fällen die Spätfolgen von Unfällen von Jugendlichen nicht bezahlt würden. Die Notwendigkeit einer Kausalitätsbeurteilung in jedem Einzelfall

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kombiniert mit einer schwierigen Ausgangslage, was die medizinischen Vorakten betrifft, würde unweigerlich zu einer Zunahme von gerichtlichen Verfahren führen. Weil die versicherte Person die Beweislast, d.h. die Konsequenzen eines nicht zu erbringenden Beweises trägt, würde es oftmals zu unerfüllten Hoffnungen kommen. Insofern besteht das Risiko, dass die Umsetzung der Motion den Eindruck einer falschen Sicherheit weckt.

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Bei der Überprüfung der Sozialversicherungszweige, die Taggelder als Leistungskategorie vorsehen, zeigt sich, dass die Übernahme von Rückfällen und Spätfolgen von Unfällen aus der Jugendzeit zu einer Deckungserweiterung führen würde. Dabei erscheint problematisch, dass die betroffene Person zum Zeitpunkt des Jugendunfalls bei keinem der überprüften Sozialversicherungszweige für Taggeldleistungen versichert oder beitragspflichtig war.

Aus diesem Grund stellt die nachträgliche Deckung von Rückfällen und Spätfolgen von Jugendunfällen und eine daran anknüpfende Taggeldberechtigung eine Abweichung vom Versicherungsprinzip dar. Weil die (Spät-)Folgen eines Ereignisses versichert würden, das sich zu einem Zeitpunkt ereignet hatte, als noch kein entsprechender Versicherungsschutz begründet war. Es läge eine Ausnahme zum Rückwärtsversicherungsverbot vor, die einer gesetzlichen Grundlage bedürfte.

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Die Zahlung von Taggeldern bei Rückfällen und Spätfolgen von Jugendunfällen durch einen der überprüften Sozialversicherungszweige würde bedeuten, dass von wesentlichen Anspruchsvoraussetzungen (z.B. Arbeitslosigkeit, Vermittlungsfähigkeit, Kausalität in einer finalen Versicherung) abgewichen würde und damit Systemwidrigkeiten in den einzelnen Versicherungszweigen geschaffen würden.

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Die Einführung von Taggeldzahlungen bei Rückfällen und Spätfolgen von Jugendunfällen hätte für die jeweiligen Durchführungsstellen der überprüften Sozialversicherungszweige einen erheblichen administrativen Mehraufwand zur Folge. Da bei der Umsetzung der Motion lediglich Rückfälle und Spätfolgen von Unfällen gedeckt werden sollen, wären komplexe Kausalitätsabklärungen notwendig, um entscheiden zu können, ob es sich bei der aktuellen gesundheitlichen Schädigung tatsächlich um eine Folge eines Jugendunfalles handelt.

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Die betroffenen Durchführungsorgane sind in den meisten Fällen mit der Beurteilung von medizinischen Problemstellungen und heiklen Kausalitätsfragen nicht vertraut. Zudem fehlen ihnen die entsprechenden Ressourcen und medizinischen Fachkräfte. Dieses Manko birgt das Risiko von Missbräuchen und der Schaffung von falschen Anreizen.

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Weil die Arbeitsunfähigkeit aufgrund eines Jugendunfalles regelmässig mit einer Behandlungsbedürftigkeit einhergeht, steht nicht allein der von der Motion geforderte Taggeldanspruch, sondern ebenso der Ersatz von Kosten für die Heilbehandlung zur Diskussion. Soweit die Sozialversicherung, die für das Taggeld aufkommen soll, nicht ebenso für die erforderliche Heilbehandlung einzustehen hat, was die Motion nicht explizit vorsieht, werden immer zwei verschiedene Sozialversicherungszweige für die unterschied-

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lichen Leistungen (Taggeld, Heilungskosten) parallel zu einander in den Schadenfall involviert sein, was zusätzlichen administrativen Aufwand verursacht und die Abwicklung aufgrund der erforderlichen Koordination kompliziert.

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Im Rahmen der zwingend erforderlichen Kausalitätsbeurteilung wirkt sich erschwerend aus, dass auf alte und eventuell nicht mehr auffindbare medizinische Akten zurückgegriffen werden muss. Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihre Jugendzeit im Ausland verbracht haben, stellt dies ein besonders grosses Problem dar. Selbst wenn die erforderlichen Akten auch nach Jahrzehnten noch vorhanden sein sollten, erweisen sich diese möglicherweise als unvollständig oder nicht aussagekräftig, da in der Jugendzeit der Unterscheidung zwischen Krankheit und Unfall keine Bedeutung zukam. In Ermangelung einer anderen Unfallversicherung stand die Leistungspflicht des KVG-Versicherers regelmässig fest, weshalb sich eine Differenzierung nach der Ursache einer gesundheitlichen Beeinträchtigung erübrigte.

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Es erscheint evident, dass jeder Leistungsausbau zusätzliche Einnahmen voraussetzt. Ohne entsprechende Mehreinnahmen wären alle geprüften Sozialversicherungszweige nicht in der Lage, zusätzliche Leistungen zu erbringen. Die damit verbundenen Belastungen der Wirtschaft und der privaten Haushalte wären aus Sicht des Bundesrates nicht opportun.

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Die Analyse der verschiedenen Sozialversicherungszweige, die Taggeldleistungen kennen, führt zum Schluss, dass es keine überzeugende Lösung für die Umsetzung der Motion gibt. Vielmehr käme es zu Abweichungen von grundlegenden Prinzipien des Versicherungs- und Sozialversicherungsrechts sowie zu Systemwidrigkeiten. Damit würde eine weitgehende Überforderung der zuständigen Behörden einhergehen, indem in jedem Einzelfall aufwendige Kausalitätsbeurteilungen vorgenommen werden müssten, die in gewissen Zweigen sachfremd sind und für die es an den personellen und fachlichen Ressourcen fehlt. Dies würde andererseits dem Missbrauch Vorschub leisten und Fehlanreize schaffen.

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Letztlich steht zu vermuten, dass nur wenige Einzelfälle betroffen sind. Es müsste also eine Regulierung geschaffen werden, die potenziell einen grossen Teil der Bevölkerung betrifft, dann aber nur in Einzelfällen effektiv zu Leistungen führt.

6.2

Ungerechtigkeiten im Sozialversicherungsrecht

Im Sozialversicherungssystem existieren häufig Sachverhalte, die Lücken im System offenbaren. Erleidet beispielsweise eine Mutter, die zugunsten der Kinderbetreuung für einige Jahre nicht erwerbstätig ist, einen Unfall während dieser Zeit, erhält sie nach Wiederaufnahme einer unselbstständigen Tätigkeit bei einem Rückfall oder einer Spätfolge kein Taggeld. Dieselbe Lücke besteht bei einem nichterwerbstätigen Studenten, der während des Studiums einen Unfall erleidet und dem später als Arbeitnehmer bei einem Rückfall oder einer Spätfolge ebenfalls kein Taggeldan2379

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spruch zusteht. Diese Lücken würden weiterhin bestehen, auch bei einer Schliessung der Lücke des fehlenden Taggeldanspruchs bei Rückfällen und Spätfolgen von Jugendunfällen. Es wäre nicht nachvollziehbar, dass die eine Lücke geschlossen wird, während andere Lücken in vergleichbaren Situationen weiterhin bestehen bleiben.

6.3

Generelle Erwerbsausfallversicherung als alternativer Lösungsvorschlag

Ein umfassender, kausalitätsunabhängiger Versicherungsschutz bezüglich Erwerbsausfall könnte lediglich durch ein entsprechendes Obligatorium für alle Erwerbstätigen garantiert werden. Im Rahmen parlamentarischer Vorstösse, die eine Gesetzesänderung zur Einführung einer generellen Erwerbsausfallversicherung zum Inhalt hatten, stellte der Bundesrat fest, dass der Erwerbsausfall auch ohne eine obligatorische Versicherung weitgehend durch Taggeldversicherungen abgedeckt wird und dass sich die geltende Regelung, die insbesondere auf sozialpartnerschaftlichen Lösungen basiert, für den überwiegenden Teil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wie auch der Arbeitgeber grundsätzlich bewährt hat. Nach Auffassung des Bundesrates ist die Taggeldversicherung im bestehenden Rahmen beizubehalten.

Diese Haltung hat er in seiner Stellungnahme zur Motion 10.3821 Humbel («Wirksame Taggeldversicherung bei Krankheit») unter Hinweis auf seine Antworten auf die Interpellation 10.3498 Robbiani («Taggeld. Mehr Gewicht für das KVG«) und seine Stellungnahme zur Motion 10.3500 Robbiani («Risikogemeinschaften bei der Taggeldversicherung«) bekräftigt. Es bestand kein Anlass zu einer anderen Beurteilung, zumal die Einführung einer obligatorischen Erwerbsausfallversicherung mit erheblichen Kostenfolgen verbunden wäre, die der Bundesrat als nicht vertretbar erachtet. Entsprechend lehnte er alle parlamentarischen Vorstösse zur Einführung einer generellen Erwerbsausfallversicherung ab.

Eine obligatorische Erwerbsausfallversicherung würde bedeuten, dass die bestehenden Taggeldversicherungen in ein Obligatorium überführt werden müssten. Ein solches Obligatorium sowie die Angleichung der Verträge ­ beispielsweise an die im Bereich der Unfallversicherung gewährten Leistungen ­ lassen einen bedeutenden finanziellen Mehrbedarf erwarten. Diese Mehrbelastung bezüglich Prämien müsste von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert werden. Eine solche erhebliche, finanzielle Mehrbelastung der Wirtschaft und der privaten Haushalte erachtet der Bundesrat weder als opportun noch zumutbar.

6.4

Antrag auf Abschreibung der Motion

Aufgrund der durchgeführten Analyse und der aufgezeigten Inkompatibilitäten bei der Realisierung einer Taggeldzahlung für Rückfälle und Spätfolgen von Jugendunfällen in allen geprüften Sozialversicherungszweigen beantragt der Bundesrat die Abschreibung der Motion.

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