zu 18.440 Parlamentarische Initiative Befristete Verlängerung der Zulassungsbeschränkung nach Artikel 55a KVG Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 30. August 2018 Stellungnahme des Bundesrates vom 17. Oktober 2018

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Zum Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 30. August 20181 betreffend die parlamentarische Initiative 18.440 «Befristete Verlängerung der Zulassungsbeschränkung nach Artikel 55a KVG» nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

17. Oktober 2018

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Alain Berset Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

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Ausgangslage

Nach Artikel 55a des Bundesgesetzes vom 18. März 19942 über die Krankenversicherung (KVG) hat der Bundesrat bis zum 30. Juni 2019 die Möglichkeit, die Zulassung von Ärztinnen und Ärzten, die in Praxen, Einrichtungen oder im ambulanten Bereich von Spitälern zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) tätig sind, einzuschränken. In der Verordnung vom 3. Juli 20133 über die Einschränkung der Zulassung von Leistungserbringern zur Tätigkeit zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung hat der Bundesrat den Kantonen grosse Freiheiten bei der Gestaltung des Zulassungsbeschränkungssystems gelassen. Diese Regulierung war zwischen dem 1. Januar 2001 und dem 31. Dezember 2011 ­ in unterschiedlichen Formen ­ elf Jahre lang gültig. Ihre Aufhebung per 1. Januar 2012 führte auf dem Markt zu einer massiven Zunahme der Zahl der frei praktizierenden Ärztinnen und Ärzte, weshalb per 1. Juli 20134 Artikel 55a KVG in seiner heutigen Fassung und per 5. Juli 20135 die oben erwähnte Ausführungsverordnung in Kraft gesetzt wurden. Um den Kantonen eine dauerhafte Lösung für die Steuerung des Leistungsangebots im ambulanten Bereich anzubieten, legte der Bundesrat dem Parlament die Botschaft vom 18. Februar 20156 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (Steuerung des ambulanten Bereichs) (15.020) vor.

Die Vorlage wurde im Parlament schnell dahingehend abgeändert, dass sie auf die Verlängerung der bereits geltenden Zulassungsbeschränkung begrenzt wurde, dieses Mal jedoch ohne Befristung. Am 18. Dezember 2015 wurde die Vorlage vom Nationalrat in der Schlussabstimmung abgelehnt. Infolgedessen beschloss das Parlament am 17. Juni 2016, die Gültigkeit von Artikel 55a KVG um drei weitere Jahre bis zum 30. Juni 2019 zu verlängern, indem es der parlamentarischen Initiative 16.401 der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats (SGK-N) «Verlängerung der Gültigkeit von Artikel 55a KVG» vom 22. Januar 2016 Folge gab. Es hat seinen Entscheid mit dem Auftrag an den Bundesrat ergänzt, bis zum 30. Juni 2017 einen Gesetzesentwurf in die Vernehmlassung zu schicken, der auf dem Postulat 16.3000 der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerats (SGK-S) «Alternativen zur heutigen Steuerung der Zulassung von Ärztinnen und Ärzten» vom 12. Januar 2016 und der
Motion der SGK-N 16.3001 «Gesundheitssystem. Ausgewogenes Angebot durch Differenzierung des Taxpunktwertes» vom 22. Januar 2016 beruht.

Der Bericht des Bundesrats vom 3. März 2017 in Erfüllung des Postulats 16.3000 nimmt eine Bestandsaufnahme zur Versorgungsproblematik und -steuerung in der Schweiz vor. Weiter wird Bilanz über die Zulassungsbeschränkung gezogen, und es werden hierfür mögliche Alternativen evaluiert. Die Alternativen wurden im Sep2 3 4 5 6

SR 832.10 SR 832.103 AS 2013 2065 AS 2013 2255 BBl 2015 2317

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tember 2016 von Vertreterinnen und Vertretern der wichtigsten Akteure des ambulanten Bereichs im Rahmen von drei halbtägigen Workshops, die von Experten des Gesundheitsbereichs moderiert wurden, ausführlich diskutiert.

Unter Berücksichtigung der Ergebnisse des Berichts vom 3. März 2017 und der vom 5. Juli bis zum 25. Oktober 2017 durchgeführten Vernehmlassung hat der Bundesrat am 9. Mai 20187 die Botschaft zur Teilrevision des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (Zulassung von Leistungserbringern) (18.047) zuhanden des Parlaments verabschiedet. Die beantragte Neuregelung ermöglicht eine dauerhafte Lösung für die Zulassung der Leistungserbringer im ambulanten Bereich.

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Stellungnahme des Bundesrates

Die Prämien für die OKP machen einen immer grösseren Anteil am Haushaltsbudget aus. Diese Entwicklung hat erhebliche soziale Auswirkungen: Immer mehr Personen sind nicht mehr in der Lage, ihre Prämien regelmässig zu bezahlen, dies trotz der Tatsache, dass immer mehr Versicherte Prämienverbilligungen erhalten. Da die ambulanten Leistungen mehr als 70 Prozent der Kosten in der OKP ausmachen, wird immer klarer, dass eine Lösung zur Steuerung dieses Bereichs unvermeidbar ist.

Ende 2016 hat das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) eine Gruppe von 14 Expertinnen und Experten aus Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz mit medizinischem und gesundheitsökonomischen Hintergrund aus Forschung und Verwaltung eingesetzt. Ihr Auftrag war es, nationale und internationale Erfahrungen zur Steuerung des Mengenwachstums auszuwerten und möglichst rasch umsetzbare kostendämpfende Massnahmen zur Entlastung der OKP vorzuschlagen. In ihrem Bericht vom 24. August 20178 empfiehlt die Expertengruppe unter anderem, die Zulassungssteuerung beizubehalten, um die Ärztedichte zu stabilisieren oder sogar zu reduzieren (Massnahme 20). Dadurch soll die Inanspruchnahme von ambulanten Leistungen verringert werden.

Schon in seiner Stellungnahme zur parlamentarischen Initiative 16.401 der SGK-N vom 6. April 20169 hatte der Bundesrat betont, dass mit der beantragten befristeten Verlängerung von Artikel 55a KVG ein Instrument weitergeführt werde, welches die Kostenentwicklung im ambulanten Bereich zwar eindämmen könne, jedoch nicht die Qualität des Versorgungsangebots in den Vordergrund stelle. Die Erfahrungen der Kantone zeigen des Weiteren, dass die aktuelle Zulassungsbeschränkung kaum geeignet ist, um das bestehende Angebot zu reduzieren, die Qualität der Versorgung zu verbessern oder die Ansiedlung von Leistungserbringern in peripheren Regionen mit Versorgungsproblemen zu fördern.10 Die dem Parlament am 9. Mai 2018 überwiesene Botschaft zur Teilrevision des Bundesgesetzes über die Kranken7 8 9 10

BBl 2018 3125 Der Bericht der Expertengruppe ist abrufbar unter www.bag.admin.ch > Versicherungen > Krankenversicherung > Kostendämpfung.

BBl 2016 3525 Rüefli, Christian; Huegli, Eveline und Berner, Delia (2016). Umsetzung von Art. 55a KVG durch die Kantone. Bern: Büro Vatter. Der Bericht ist abrufbar unter www.bag.admin.ch > Das BAG > Publikationen > Forschungsberichte > Forschungsberichte Kranken- und Unfallversicherung.

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versicherung (Zulassung von Leistungserbringern) (18.047) nimmt diese Punkte auf, erhöht die Anforderungen an die zulasten der OKP tätigen Leistungserbringer und will die Qualität und die Wirtschaftlichkeit der von ihnen erbrachten Leistungen steigern. Gleichzeitig wird den Kantonen ein wirksameres Instrument zur Kontrolle des Leistungsangebots zur Verfügung gestellt. Der Bundesrat erachtet die neue Regelung zudem als wichtigen Schritt hin zu einer einheitlichen Finanzierung von stationären und ambulanten Leistungen, wie sie derzeit im Parlament diskutiert wird (pa. Iv. Humbel 09.528 «Finanzierung der Gesundheitsleistungen aus einer Hand.

Einführung des Monismus»).

Die heute bestehende Regelung in Artikel 55a KVG betreffend die Zulassungsbeschränkung läuft am 30. Juni 2019 aus. Damit ein nahtloser Übergang von der bestehenden zur neuen Regelung der Zulassungsbeschränkung möglich ist, muss das Parlament in der Wintersession 2018 die Vorlage 18.047 beraten und entsprechende Entscheide treffen. Ziel muss es sein, eine langfristige und dauerhafte Lösung für den ambulanten Bereich zu finden, um das mehrmals verlängerte Provisorium endlich beenden zu können. Ist die Beratung der Vorlage 18.047 im oben erwähnten Zeitraum nicht möglich oder wird eine rückwirkende Inkraftsetzung nicht ins Auge gefasst, entsteht eine Lücke bezüglich der Zulassungsbeschränkung. Um eine solche Lücke und das damit verbundene Risiko einer massiven Zunahme von frei praktizierenden Ärztinnen und Ärzte zulasten der OKP im ambulanten Bereich zu vermeiden, kann einer befristeten Verlängerung von Artikel 55a KVG um nochmals zwei Jahre zugestimmt werden. Das mögliche Eintreten eines Zeitraumes ohne Zulassungsbeschränkungssystem ab dem 1. Juli 2019 ist keine Option. Der Bundesrat betont jedoch, dass parallel zur erneuten Verlängerung von Artikel 55a KVG die Detailberatung der Vorlage 18.047 umgehend an die Hand genommen werden muss, damit eine Gesundheitsversorgung von hoher Qualität erreicht und die Kostenentwicklung gezielt eingedämmt werden kann.

Mit der Weiterführung von Artikel 55a KVG wird die Ausnahmeregelung in Absatz 2 beibehalten, wonach kein Bedürfnisnachweis erforderlich ist für Personen, die mindestens drei Jahre an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte gearbeitet haben. Der Bundesrat hat in der
parlamentarischen Debatte mehrmals darauf hingewiesen, dass diese Ausnahmeregelung dem Abkommen vom 21. Juni 199911 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (FZA) und dessen Anhängen widersprechen kann, namentlich was das allgemeine Diskriminierungsverbot betrifft.12 Dieselben Bedenken kamen in den Sitzungen des Gemischten Ausschusses zum FZA zum Ausdruck, in denen die EU die Bestimmung als indirekt diskriminierend kritisierte.

Unter diesem Gesichtspunkt ist darauf hinzuweisen, dass gemäss der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) eine indirekt diskriminierende innerstaatliche Bestimmung zulässig ist, wenn sie objektiv gerechtfertigt ist.13 Als zulässige Rechtfertigungsgründe sind im EU-Recht die öffentliche Ordnung, die 11 12 13

SR 0.142.112.681, hier Anhang III AB 2013 N 963 ff.; AB 2013 S 559 ff.

Siehe z. B. EuGH, Urteil Kraus, vom 31.3.1993, Rs. C-19/92, ECLI:EU:C:1993:125, Urteil Gebhard vom 30.11.1995, Rs. C-55/94, ECLI:EU:C:1995:411.

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öffentliche Sicherheit und die öffentliche Gesundheit vorgesehen. Zudem hat der EuGH anerkannt, dass auch zwingende Gründe des Allgemeininteresses (z.B. die konkrete Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des finanziellen Gleichgewichts eines Systems der sozialen Sicherheit) indirekte Diskriminierungen rechtfertigen können,14 was die Schweiz unter anderem auch im Gemischten Ausschuss zum FZA als Rechtfertigung für ihr Vorgehen vorbrachte.

In seinem Urteil vom 8. März 2018 hat das Bundesverwaltungsgericht hierzu entschieden, dass Artikel 55a Absatz 2 KVG in der gegenwärtigen Form eine gerechtfertigte indirekte Diskriminierung darstellt. Namentlich hält es fest, dass sich die Regelung mit der Sicherstellung der öffentlichen Gesundheit, wie der Gewährleistung einer bezahlbaren Gesundheitsversorgung, der Patientensicherheit und der Qualitätssicherung des schweizerischen Gesundheitssystems rechtfertigen lasse und diesbezüglich verhältnismässig erscheine. Zudem betont das Bundesverwaltungsgericht, dass die Ausnahmeregelung lediglich befristet sei und für die Kantone bei der Umsetzung der Zulassungsbeschränkung ein Spielraum besteht.15 Es ist trotzdem darauf hinzuweisen, dass die Verlängerung von Artikel 55a KVG von der EU wohl erneut beanstandet werden wird.

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Anträge des Bundesrates

Der Bundesrat beantragt Zustimmung zum Entwurf der SGK-NR.

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EuGH, Urteil Petersen vom 11.9.2018, Rs. C-228/07, ECLI:EU:C:2008:494; Urteil Kohll vom 28.4.1998, Rs. C-158/96, ECLI:EU:C:1998:171.

Urteil des Bundesverwaltungsgerichts C-4852/2015 vom 8. März 2018, E. 9.6.

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