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Bundesblatt

Bern, den 12. November 1973

125. Jahrgang Band II

Nr. 45 Erscheint wöchentlich. Preis : Inland Fr. 68- im Jahr, Fr. 38.- im Halbjahr, Ausland Fr. 82im Jahr, zuzüglich Nachnahme- und Postzustellungsgebühr. Inseratenverwaltung: Permedia, Publicitas-Zentraldienst für Periodika, Hirschmattstrasse 36, 6002 Luzern, Tel. 041/23 66 66 # S T #

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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Behandlung des Volksbegehrens vom 1. Dezember 1971 für die Straflösigkeit der Schwangerschaftsunterbrechung (Vom 17. Oktober 1973)

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, Am 1. Dezember 1971 wurde ein Volksbegehren für die Straflösigkeit der Schwangerschaftsunterbrechung eingereicht. Dann wird verlangt, dass die Bundesverfassung durch den folgenden Artikel 65bis zu ergänzen sei: Wegen Schwangerschaftsunterbrechung darf keine Strafe ausgefallt werden.

Das Volksbegehren enthält eine Rückzugsklausel, wonach die Initianten befugt sind, es zugunsten eines Gegenvorschlages der Bundesversammlung oder vorbehaltlos zurückzuziehen. Mit Verfügung vom 27. Dezember 1971 stellte die Bundeskanzlei fest, dass das Volksbegehren 59 904 gültige Unterschriften aufweise und formell zustande gekommen sei (BB17977 II2034).

Die Notwendigkeit einer Überprüfung der Gesetzesbestimmungen über die Bestrafung der Abtreibung und die straflose Unterbrechung der Schwangerschaft im Rahmen der weiteren Revisionen des Schweizerischen Strafgesetzbuches ist vom Justiz- und Polizeidepartement bereits vor längerer Zeit bejaht worden. Die Lancierung des Volksbegehrens veranlasste es dann, der von ihm im Einvernehmen mit uns im September 1971 bestellten Expertenkommission für die Revision des Strafgesetzbuches die Weisung zu erteilen, als erstes die einschlägigen Artikel 118 bis 121 StGB in Beratung zu ziehen.

Die durch das Volksbegehren in Gang gekommene allgemeine Auseinandersetzung um eine neue gesetzliche Regelung der Schwangerschaftsunterbrechung löste übrigens noch weitere Vorstösse aus : 1973-826 Bundesblatt 125 Jahrg Bd II

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Am 14. Dezember 1971 beschloss der Grosse Rat des Kantons Neuenburg eine Standesinitiative an die Bundesversammlung, worin die Aufhebung der Artikel 118 bis 121 StGB über die Schwangerschaftsunterbrechung beantragt wird.

Sie wurde am 28. Februar 1972 von den eidgenössischen Räten dem Bundesrat zum Bericht überwiesen.

Den gegenteiligen Standpunkt verficht die an die eidgenössischen Räte gerichtete Petition «Ja zum Leben - Nein zur Abtreibung». Die Petition, die am 13. September 1972 eingereicht wurde, verlangt die Aufrechterhaltung und Festigung der geltenden Gesetzesbestimmungen.

Zwischen diesen Auffassungen lassen sich in der öffentlichen Auseinandersetzung noch zwei weitere Hauptrichtungen feststellen. Die eine tritt für eine Fristenlösung ein. Die andere möchte die Skala der Gründe für eine straflose Schwangerschaftsunterbrechung mehr oder weniger erweitert sehen. Diese fand auch in einem parlamentarischen Vorstoss ihren Niederschlag. Nationalrat Eng ersuchte in einer Motion den Bundesrat, die Artikel 118 bis 121 StGB so zu , ändern, dass neben der medizinischen auch die eugenische und die juristische oder ethische Indikation Berücksichtigung finden, die Zahl der illegalen Abtreibungen eingedämmt und eine gleichmässige Handhabung der gesetzlichen Bestimmungen erreicht werden kann. Die Motion wurde mit Rücksicht auf die im Gang befindlichen Revisionsarbeiten in ein Postulat umgewandelt und am 25. Juni 1973 vom Nationalrat angenommen (Amtl. Bull. Nationalrat 1973 S. 858 ff.).

Die Expertenkommission prüfte vom November 1971 bis Februar 1973 in 13 Sitzungen alle sich anbietenden Lösungsmöglichkeiten.

Für den unveränderten Fortbestand oder gar eine-Verschärfung des geltenden Rechts sprach sich in der Kommission niemand aus. Auch die im Volksbegehren und in der Standesinitiative des Kantons Neuenburg vorgeschlagene Lösungen, die auf die Aufhebung jeder Vorschrift über die Strafbarkeit der Abtreibung zielen, wurden als sachlich unannehmbar bezeichnet; dies aus dem einhelligen Willen, das keimende Leben nach wie vor strafrechtlich zu schützen.

Im übrigen beschloss die Kommission, in der sich die Anhänger einer Fristenlösung und die Mitglieder, die für eine Indikationenlösung eintreten, ungefähr die Waage hielten, dem Justiz- und Polizeidepartement drei Vorschläge zu unterbreiten, eine Fristenlösung,
eine Indikationenlösung ohne soziale Indikation und ein? Indikationenlösung mit sozialer Indikation.

Am 10. Juli 1973 unterbreitete das Justiz- und Polizeidepartement mit unserer Ermächtigung die drei Vorschläge der Expertenkommission den Kantonen, den in der Bundesversammlung vertretenen politischen Parteien und den interessierten Organisationen zur Vernehmlassung. Die Bedeutsamkeit des Gegenstandes des Vernehmlassungsverfahrens und der Umstand, dass dieses teilweise in die Ferienzeit fiel, bedingte eine Vernehmlassungsfrist bis Ende Oktober 1973.

Wir beabsichtigen, auf der Gesetzesstufe eine Vorlage über die straflose Unterbrechung der Schwangerschaft und die Abtreibung auszuarbeiten. Dabei sollen nicht nur die Erkenntnisse der Expertenkommission, sondern auch die

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Ergebnisse des VernehmlassungsVerfahrens Berücksichtigt werden. Die Vorschläge der Kantone und der interessierten, Kreise verdienen eine sorgfaltige Prüfung. Wir werden daher erst Anfang 1974 in der Lage sein, Ihnen die Revisionsvorlage zu unterbreiten. Gleichzeitig werden wir Ihnen auch Bericht und Antrag zum Volksbegehren stellen können, ebenso zur Standesinitiative des Kantons Neuenburg. Dieses Vorgehen ermöglicht den eidgenössischen Räten, die drei Vorlagen, die denselben Gegenstand betreff en,l zusammen zu behandeln.

Da das Volksbegehren in der Form eines ausgearbeiteten Entwurfs gestellt ist, müsste es nach Artikel 27 Absatz l des Geschäftsverkehrsgesetzes vom 23. März 1962 (RS 171.11) innerhalb von drei Jahren von der Bundesversammlung behandelt werden. Dabei hätte der Bundesrat der Bundesversammlung spätestens ein Jahr vor Ablauf dieser Frist Bericht und Antrag zu unterbreiten.

Sofern der Bundesrat infolge besonderer Verhältnisse dazu nicht in der Lage ist, hat er die Bundesversammlung hierüber zu benachrichtigen ; diese kann sodann die dreijährige Frist zur Behandlung des Volksbegehrens gegebenenfalls um ein weiteres Jahr verlängern (Art. 29 des Geschäftsverkehrsgesetzes).

Wie aus den vorstehenden Ausführungen hervorgeht, ist der Bundesrat der Auffassung, dass er der Bundesversammlung seinen Antrag zum Volksbegehren für die Straflösigkeit der Schwangerschaftsunterbrechung nicht innerhalb der für ihn am 1. Dezember 1973 ablaufenden Frist vorlegen kann. Die dreijährige Frist zur Beschlussfassung in den eidgenössischen Räten dürfte im vorliegenden Fall ebenfalls zu kurz bemessen sein, da die Gesetzesvorlage am 1. Dezember 1974 kaum durchberaten sein wird.

Wir beantragen Ihnen daher, die am 1. Dezember 1974 ablaufende Frist zur Beschlussfassung über das Volksbegehren vom 1. Dezember 1971 für die Straflösigkeit der Schwangerschaftsunterbrechung in1 Anwendung von Artikel 29 Absatz 3 des Geschäftsverkehrsgesetzes um ein Jahr zu verlängern.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

Bern, den 17. Oktober 1973 Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident : Bonvin Der Bundeskanzler : Huber

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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Behandlung des Volksbegehrens vom 1. Dezember 1971 für die Straflosigkeit der Schwangerschaftsunterbrechung (Vom 17. Oktober 1973)

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12.11.1973

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