04.039 Botschaft über die Volksinitiative «Für einen zeitgemässen Tierschutz (Tierschutz ­ Ja!)» vom 7. Juni 2004

Sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen die Botschaft über die Volksinitiative «Für einen zeitgemässen Tierschutz (Tierschutz ­ Ja!)». Wir beantragen Ihnen, die Initiative Volk und Ständen mit der Empfehlung auf Ablehnung zur Abstimmung zu unterbreiten.

Sofern Sie die Botschaft1 vom 9. Dezember 2002 zur Revision des Tierschutzgesetzes als indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative einstufen, können wir dies unterstützen.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

7. Juni 2004

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Joseph Deiss Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

1

BBl 2003 657

2004-0691

3283

Übersicht Die Initiative verlangt eine Änderung von Artikel 80 der Bundesverfassung (BV).

Gemäss dem Initiativtext soll der Bund wie bisher damit beauftragt werden, Vorschriften über den Tierschutz zu erlassen. Der Bund soll dabei Grundsätze einhalten, die in neun Abschnitten des Initiativtextes aufgeführt sind. Die Initiative will den Vollzug den Kantonen zuweisen, verlangt aber, dass der Bund den kantonalen Vollzug regelt und bindet diese Bestimmung an zwei als «Grundsätze» bezeichnete einschränkende Regeln.

Der heutige Artikel 80 BV beauftragt den Bund, Vorschriften über den Schutz der Tiere zu erlassen; er enthält eine Liste der sechs Bereiche, die der Bund zu regeln hat, und weist den Vollzug weitgehend den Kantonen zu. Der Artikel überlässt es den gesetzgebenden Behörden, den Umfang des Schutzes, der den Tieren zukommen soll, und die Details des Vollzugs festzusetzen. Die eidgenössischen Räte haben gestützt auf diesen Verfassungsartikel 1978 das Tierschutzgesetz erlassen, der Bundesrat die Tierschutzverordnung. Das Gesetz wird derzeit revidiert: Der Bundesrat hat die entsprechende Botschaft am 9. Dezember 2002 beschlossen.

Die Aufteilung der Tierschutzregelungen nach den dafür geeigneten gesetzgeberischen Niveaus ­ der Regelungsbereich in der BV, der Schutzumfang im Gesetz und die direkt anwendbaren Handlungsanweisungen in der Verordnung ­ erlaubt es, den staatlichen Tierschutz innert nützlicher Zeit den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen anzupassen und der sich ändernden Einstellung der Bevölkerung zum Tierschutz Rechnung zu tragen.

Die Volksinitiative schlägt einen anderen Ansatz vor: Sie enthält eine Liste von Grundsätzen, von denen sich der Bund beim Erlass der Tierschutzgesetzgebung leiten lassen müsste. Diese Grundsätze umfassen zum grossen Teil Anforderungen, die heute schon im Tierschutzgesetz und seiner Verordnung enthalten sind oder mit der Revision des Tierschutzgesetzes dem Parlament vorgeschlagen werden und bewegen sich auf verschiedenem gesetzgeberischem Niveau. Sie wirken lückenhaft und arbiträr.

Problematisch ist, dass die Initiative mehrere internationale Vertragswerke verletzt: Das Verbot des Transits und des Exports lebender Schlachttiere verletzt das Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Güter- und
Personenverkehr auf Schiene und Strasse (genauer den Anhang 6 dieses Abkommens), das Importverbot für Tiere und Waren, die im Ausland nicht nach den Grundsätzen des schweizerischen Tierschutzrechts gehalten bzw. hergestellt worden sind, verletzt einerseits das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen GATT 1994 der WTO, andererseits die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie den UN-Pakt II. Die Prüfung der Frage, ob damit die Voraussetzungen für eine teilweise Ungültigkeitserklärung gemäss Artikel 139 Absatz 3 BV erfüllt sind, hat gezeigt, dass die verletzten Vertragsteile nicht «zwingende Bestimmungen des Völkerrechts» im Sinne von Artikel 139 Absatz 3 BV sind, die Verbote der Initiative somit vom Parlament nicht

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ungültig erklärt werden können, obschon eine Annahme der Initiative in diesen Punkten für das ganze Land gravierende Auswirkungen haben könnte.

Der Bundesrat ist der Ansicht, dass sich die heutige Verfassungsregelung über den Tierschutz bewährt hat. Mit seiner Botschaft zur Revision des Tierschutzgesetzes hat er eine Modernisierung des Vollzugs eingeleitet. Er schlägt deshalb vor, die Initiative «Für einen zeitgemässen Tierschutz (Tierschutz ­ Ja!)» ohne direkten Gegenvorschlag abzulehnen. Er würde es unterstützen, wenn die Räte seine Botschaft zur Revision des Tierschutzgesetzes als indirekten Gegenvorschlag einstufen.

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Inhalt Übersicht

3284

1 Formelles 3287 1.1 Wortlaut der Initiative 3287 1.2 Zustandekommen 3288 1.3 Gültigkeit 3288 1.3.1 Einheit der Form 3288 1.3.2 Einheit der Materie 3288 1.3.3 Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht 3289 1.3.3.1 Grundsätzliches 3289 1.3.3.2 Verbot des Transits und des Exports lebender Schlachttiere (in der Initiative vorgeschlagen als Art. 80 Abs. 2 Bst. c BV) 3289 1.3.3.3 Importverbot für Tiere und Waren, die im Ausland nicht nach den Grundsätzen des schweizerischen Tierschutzrechts gehalten bzw. hergestellt worden sind (in der Initiative vorgeschlagen als Art. 80 Abs. 2 Bst. i BV) 3290 1.3.3.4 Der Begriff des zwingenden Völkerrechts 3292 2 Die Wahl der Regelungsstufe

3293

3 Zum Begriff der «Grundsätze»

3295

4 Geltende Rechtsordnung in der Schweiz

3296

5 Kommentare zu den vorgeschlagenen Bestimmungen der Initiative

3297

6 Würdigung der Initiative 6.1 Allgemeines 6.2 Der internationale Bezug 6.3 Übersicht über die verletzten Völkerrechtsnormen 6.3.1 Europäische Menschenrechtskonvention 6.3.2 UN-Pakt II 6.3.3 GATT/WTO 6.3.4 Abkommen mit der EG über den Güter- und Personenverkehr auf Schiene und Strasse 6.4 Finanzielle und personelle Auswirkungen 6.5 Volkswirtschaftliche Auswirkungen

3306 3306 3307 3308 3308 3309 3309 3310 3311 3311

7 Haltung des Bundesrates 7.1 Allgemeines 7.2 Bezug zur laufenden Revision des Tierschutzgesetzes 7.3 Die Frage eines Gegenvorschlags

3312 3312 3313 3315

8 Schlussfolgerungen

3315

Bundesbeschluss über die Volksinitiative «Für einen zeitgemässen Tierschutz (Tierschutz ­ Ja!)» (Entwurf)

3317

3286

Botschaft 1

Formelles

1.1

Wortlaut der Initiative

Die Volksinitiative lautet: Die Bundesverfassung vom 18. April 1999 wird wie folgt geändert: Art. 80

Tierschutz

Der Bund erlässt Vorschriften über den Tierschutz; er sorgt für den Schutz des Wohlbefindens und der Würde der Tiere als Mitgeschöpfe und empfindungsfähige Lebewesen.

1

2

Der Bund lässt sich insbesondere von folgenden Grundsätzen leiten: a.

Tiere sind ihren Bedürfnissen entsprechend zu halten und schonend zu behandeln.

b.

Nutztieren und anderen Haustieren ist die Möglichkeit zu geben, sich regelmässig im Freien zu bewegen.

c.

Tiertransporte sind auf das Nötigste zu beschränken und müssen von ausgebildeten Personen begleitet sein. Der Transit und Export von lebenden Schlachttieren ist verboten.

d.

Das Töten von Tieren muss durch einen vernünftigen Grund gerechtfertigt sein und darf nur durch ausgebildete Personen vorgenommen werden. Das Schlachten von Tieren ohne Betäubung vor dem Blutentzug ist verboten.

e.

Versuche an Tieren dürfen nicht zu schweren oder anhaltenden Schmerzen oder Leiden führen. Tierversuche müssen so weit als möglich durch Alternativmethoden ersetzt werden.

f.

Wildtiere sind in einem Umfeld zu halten, das ihrem natürlichen Lebensraum weitgehend entspricht. Es dürfen nur Tierarten importiert und gehalten werden, deren Bedürfnisse in Gefangenschaft erfüllt werden können.

g.

Der Handel mit Tieren jeder Art ist bewilligungspflichtig und bedarf eines Fähigkeitsausweises.

h.

Zuchtziele und Zuchtmethoden müssen die Gesundheit und das Wohlbefinden der Elterntiere und ihrer Nachkommen gewährleisten.

i.

Tiere und tierische Erzeugnisse dürfen nur in die Schweiz eingeführt werden, wenn ihre Haltung bzw. Herstellung im Ausland nicht gegen die Grundsätze der eidgenössischen Tierschutzgesetzgebung verstösst.

3287

Der Bund regelt und beaufsichtigt den Vollzug durch die Kantone, so weit das Gesetz ihn nicht dem Bund vorbehält. Er beachtet dabei namentlich folgende Grundsätze:

3

a.

Die Kantone betreiben für den Vollzug zentrale Fachstellen für Tierschutz.

b.

In Strafverfahren wegen Tierquälerei oder anderer Verstösse gegen die Tierschutzgesetzgebung vertritt ein Tierschutzanwalt die Interessen der geschädigten Tiere.

1.2

Zustandekommen

Der «Schweizer Tierschutz (STS)» (Geschäftsführer: Dr. Hans-Ulrich Huber, Dornacherstrasse 101, Postfach, 4008 Basel) reichte am 23. Juli 2003 mit 117 113 gültigen Unterschriften die Volksinitiative «Für einen zeitgemässen Tierschutz (Tierschutz ­ Ja!)» ein. Die Bundeskanzlei stellte mit Verfügung vom 14. August 20032 fest, dass die Initiative zustande gekommen ist. Die Initiative enthält eine Rückzugsklausel, welche das aus acht Personen bestehende Initiativkomitee ermächtigt, die Volksinitiative vorbehaltlos mit absoluter Mehrheit zurückzuziehen.

Die Übersetzungen des Initiativtextes waren vor dem Beginn der Unterschriftensammlung von den Sprachdiensten der Bundeskanzlei bereinigt worden3.

1.3

Gültigkeit

1.3.1

Einheit der Form

Nach Artikel 139 Absätze 2 und 3 und Artikel 194 Absatz 3 der Bundesverfassung4 ist eine Volksinitiative auf Teilrevision der BV nur in der Form der allgemeinen Anregung oder des ausgearbeiteten Entwurfs zulässig. Mischformen sind nicht gestattet. Die Volksinitiative «Für einen zeitgemässen Tierschutz (Tierschutz ­ Ja!)» ist als vollständig ausgearbeiteter Entwurf abgefasst. Das Gebot der Einheit der Form ist somit erfüllt.

1.3.2

Einheit der Materie

Das Gebot der Einheit der Materie nach Artikel 139 Absatz 3 und 194 Absatz 2 BV will sicherstellen, dass mit einem Initiativbegehren nicht mehrere, sachlich nicht zusammenhängende Fragen zur Abstimmung gelangen. Damit soll die freie, unverfälschte Willensbildung bei der Abstimmung gewährleistet werden.

Das Thema der Initiative «Für einen zeitgemässen Tierschutz (Tierschutz ­ Ja!)» ist ausschliesslich der Schutz der Tiere. Diese sollen durch eine Reihe von konkreten Handlungsanweisungen geschützt werden. Der Grundsatz der Einheit der Materie ist somit gewahrt.

2 3 4

BBl 2003 5936 BBl 2002 492; FF 2002 472; FF (i) 2002 438 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV; SR 101).

3288

1.3.3

Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht

1.3.3.1

Grundsätzliches

Artikel 139 Absatz 3 sowie 194 Absatz 2 BV schreiben vor, dass die Volksinitiativen auf Teilrevision der Bundesverfassung die Bestimmungen des zwingenden Völkerrechts nicht verletzen dürfen. Gemäss Artikel 139 Absatz 3 BV muss die Bundesversammlung eine Initiative, die zwingende Bestimmungen des Völkerrechts verletzt, ganz oder teilweise ungültig erklären. Es ist daher zu prüfen, ob eine Initiative oder Teile davon zwingendes Völkerrecht verletzen.

Zwei der in der Initiative vorgeschlagenen Bestimmungen würden nach Meinung des Bundesrates bei ihrer Annahme mehrere bedeutende Staatsverträge verletzen. Es handelt sich um folgende Bestimmungen:

1.3.3.2

Verbot des Transits und des Exports lebender Schlachttiere (in der Initiative vorgeschlagen als Art. 80 Abs. 2 Bst. c BV)

Die Initiative fordert ein Verbot des Transits und des Exports lebender Schlachttiere.

Der Import solcher Tiere soll hingegen offenbar zulässig bleiben.

Die Durchfuhr lebender Tiere der Rinder-, Schaf-, Ziegen- und Schweinegattung ist heute nur im Bahn- und Luftverkehr gestattet5. Die Durchfuhr sowie die Ein- und Ausfuhr lebender Schlachttiere ­ wenigstens von Schweinen und Geflügel ­ ist aber durch das Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Güter- und Personenverkehr auf Schiene und Strasse6 indirekt ermöglicht (nähere Erläuterung in Ziff. 5, Bemerkung zu Abs. 2 Bst. c). Ein Transitverbot könnte nur getreulich umgesetzt werden, wenn dieses Abkommen bzw. dessen Anhang 67 geändert würde. Gemäss Artikel 55 Absatz 3 des Abkommens könnte der Anhang 6 durch Beschluss des Gemischten Landverkehrausschusses Gemeinschaft/Schweiz8 geändert werden. Dieser äussert sich «in gegenseitigem Einvernehmen»9.

Das Transit- und Ausfuhrverbot für lebende Schlachttiere könnte somit nur mit der Zustimmung des Gemischten Ausschusses, das bedeutet mit dem Einverständnis der EU, umgesetzt werden. Der Bundesrat erachtet es als richtig, auf diese Konsequenz des für sich allein gesehen als marginal einzustufenden Begehrens aufmerksam zu machen.

Das Transitverbot verstösst darüber hinaus gegen Artikel V des Allgemeinen Zollund Handelsabkommens (GATT 1994), der die Freiheit der Durchfuhr garantiert.

Das Exportverbot für Schlachttiere verstösst gegen Artikel XI GATT 1994. Dieser Artikel verbietet in seiner Ziffer 1 mengenmässige Ausfuhrbeschränkungen. Allerdings ist es wenig wahrscheinlich, dass ein Staat diese Vertragsverletzung bei den 5 6 7 8 9

Art. 59 Abs. 2 Verordnung über die Ein-, Durch- und Ausfuhr von Tieren und Tierprodukten (EDAV; SR 916.443.11).

SR 0.740.72 Die Anhänge bilden gemäss Artikel 56 des Abkommens Bestandteil des Abkommens.

Art. 51 des Abkommens Art. 51 Abs. 1 des Abkommens

3289

zuständigen Instanzen einklagen würde, da die Schweiz praktisch keine Schlachtviehexporte kennt.

1.3.3.3

Importverbot für Tiere und Waren, die im Ausland nicht nach den Grundsätzen des schweizerischen Tierschutzrechts gehalten bzw. hergestellt worden sind (in der Initiative vorgeschlagen als Art. 80 Abs. 2 Bst. i BV)

Mit dieser Bestimmung wird der Anspruch erhoben, den Geltungsbereich des schweizerischen Tierschutzgesetzes über die Grenzen hinaus zu erweitern; das Territorialprinzip würde für Tiere und tierische Erzeugnisse durchbrochen, wenigstens für Tiere und tierische Erzeugnisse, die von den betroffenen Ländern in die Schweiz exportiert werden sollen.

Die Realisierung einer solchen Verfassungsbestimmung könnte eine Verletzung des GATT-Abkommens10, das vom WTO-Abkommen11 übernommen worden ist, darstellen. Nach Artikel XI Absatz 1 des GATT-Abkommens ist die Errichtung von Verboten und Beschränkungen für die Ein- und Ausfuhr von Erzeugnissen untersagt.

Gemäss Artikel XX Buchstabe b des GATT-Abkommens ist jedoch eine beschränkende Massnahme zulässig, wenn diese «für den Schutz des Lebens oder der Gesundheit von Personen und Tieren oder die Erhaltung des Pflanzenwuchses erforderlich» ist. Ein Importverbot wie in der Initiative vorgeschlagen verletzt das Verbot mengenmässiger Beschränkungen gemäss Artikel XI GATT 1994 und das Gebot der Inländergleichbehandlung gemäss Artikel III GATT 1994. Artikel XVI Absatz 5 des WTO-Abkommens schliesst einen Vorbehalt im Sinne des vorgeschlagenen Artikels 80 Absatz 2 Buchstabe i BV in jedem Fall aus.

Gemeint ist in Artikel XX GATT, dass der Schaden an Personen und Tieren bzw.

am Pflanzenwuchs des Einfuhrlandes auftreten muss und dass eine Einfuhrbeschränkung das einzige Mittel ist, diesen Schaden abzuwenden. Diese Kriterien treffen auf Tiere und tierische Erzeugnisse, die im Ausland im Widerspruch zu den Grundsätzen des schweizerischen Tierschutzrechts gehalten bzw. hergestellt worden sind, eindeutig nicht zu. Detailliertere Überlegungen zu Inhalt und Folgen der vorgeschlagenen Bestimmung der Initiative finden sich in Ziffer 5, Bemerkung zu Abs. 2 Bst. i.

Das GATT-Abkommen ist als Bestandteil des WTO-Abkommens eines der wichtigsten internationalen Vertragswerke. Verletzungen seiner Bestimmungen geben den klagenden Staaten die Möglichkeit, Retaliationsmassnahmen gegen die Schweiz zu ergreifen oder Kompensationen in Form von Geldzahlungen auszuhandeln, sofern die Schweiz sich auch nach einer Niederlage vor einem WTO-Panel oder dem Appellate Body weigert, die vertragswidrigen Bestimmungen zu ändern.

Ein Austritt aus der WTO ist keine realistische Option. Sie hätte für die
schweizerische Wirtschaft überaus gravierende Folgen. Der Bundesrat erachtet es als richtig, auf diese möglichen Folgen bei einer Umsetzung der Initiativbestimmung aufmerksam zu machen.

10 11

Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen (GATT; SR 0.632.21).

Vgl. Art. XI des Abkommens vom 15. April 1994 zur Errichtung der Welthandelsorganisation; SR 0.632.20.

3290

Das vorgeschlagene Verbot verletzt auch die Europäische Menschenrechtskonvention12. Es untersagt nämlich auch die Einfuhr von Fleisch von Tieren, die rituell, d.h.

ohne Betäubung vor dem Blutentzug, geschlachtet worden sind. Dies ist für die Religionsgemeinschaften, denen religiöse Vorschriften nur den Konsum von Fleisch gestatten, das von Tieren stammt, die nicht betäubt worden sind, von Bedeutung.

Die rituelle Schlachtung ist in der Schweiz verboten13. Das Fleisch für die muslimischen und jüdischen Glaubensgemeinschaften wird seit langem eingeführt. Eine spezifische Einfuhrregelung wurde im Rahmen der Agrarpolitik 2007 in Artikel 9 Absatz 1 des Tierschutzgesetzes eingefügt14 und ist am 1. Januar 2004 in Kraft getreten, ohne dass dagegen das Referendum ergriffen worden wäre.

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte15 besteht gestützt auf die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Artikel 9 EMRK der Anspruch, sich gemäss den Vorschriften der eigenen Religion ernähren zu können. Im beurteilten Fall hatte eine jüdische Gemeinschaft, die besonders strenge Anforderungen an die koschere Fleischgewinnung stellt, den französischen Staat vergeblich um eine Bewilligung zum rituellen Schlachten ersucht. Der Gerichtshof erachtete die Möglichkeit, das gemäss solchen Vorschriften produzierte Fleisch aus Belgien importieren zu können, als ausreichend.

Das vorgeschlagene Einfuhrverbot würde ­ kombiniert mit dem Verbot der rituellen Schlachtung ­ die Fleischversorgung der muslimischen und jüdischen Gemeinschaften verunmöglichen. Damit stellten sich ernsthafte Probleme im Lichte von Artikel 9 EMRK (allein oder in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot des Artikels 14 EMRK). Dasselbe gilt mit Bezug auf die gleichartigen Garantien von Artikel 18 (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) und 2 Absatz 1 (akzessorisches Diskriminierungsverbot) des UN-Paktes II16. Es wäre demzufolge nicht auszuschliessen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf Beschwerde hin die Verletzung von Artikel 9 EMRK, allein oder in Verbindung mit deren Artikel 14, feststellen würde.

Die EMRK verbietet nachträgliche Vorbehalte17. Indes ist sie kündbar18. Die politischen Konsequenzen einer Kündigung der EMRK würden allerdings sehr schwer wiegen. Dies umso mehr, als ein unmittelbarer,
auf die Kündigung folgender Neubeitritt zur EMRK, verbunden mit einem Vorbehalt im Sinne der Initiative, einer zweckwidrigen Rechtsausübung gleichkäme, mit anderen Worten rechtsmissbräuchlich wäre19. Darüber hinaus würde die Schweiz als Verteidigerin der Menschenrechte international unglaubwürdig. Der Bundesrat erachtet es als richtig, auf diese mögliche Konsequenz der Umsetzung des Einfuhrverbots aufmerksam zu machen.

12 13 14 15

16 17 18 19

Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK; SR 0.101).

Art. 20 TSchG AS 2003 4181 Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 27. Juni 2000 in Sachen Cha'are Shalom Ve Tsedek gegen Frankreich, publiziert in: Recueil des arrêts et décisions de la Cour européenne des droits de l'homme 2000-VII.

Internationaler Pakt vom 16. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte; SR 0.103.2.

Art. 57 EMRK Art. 58 EMRK BGE 118 Ia 487 f.

3291

1.3.3.4

Der Begriff des zwingenden Völkerrechts

Artikel 139 Absatz 3 BV schreibt vor, dass eine Initiative, die «zwingende Bestimmungen des Völkerrechts» verletzt, von der Bundesversammlung ganz oder teilweise ungültig zu erklären ist. Zu prüfen ist, ob die internationalen Abkommen, die gemäss obenstehenden Erläuterungen durch die Initiative verletzt werden, «zwingendes Völkerrecht» (ius cogens) sind.

Im Vordergrund steht die Frage, ob das Einfuhrverbot für Tiere und tierische Erzeugnisse, die im Ausland nicht nach den Grundsätzen des schweizerischen Tierschutzrechts gehalten bzw. hergestellt worden sind, mit zwingendem Völkerrecht in Einklang steht. Man kann davon ausgehen, dass es eine Verletzung der WTOVerpflichtungen darstellt. Unbestritten (und durch das zitierte Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes erhärtet) ist, dass es die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt. Damit würde es auch den UN-Pakt II verletzen.

«Eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts (ius cogens) ist gemäss der Wiener Vertragsrechtskonvention20 .»21 In der Botschaft22 zur revidierten Bundesverfassung umschreibt der Bundesrat, was er als zwingendes Völkerrecht einstuft, nämlich «z.B. die Verbote von Folter, Genozid, Sklaverei, notstandsfeste Garantien der EMRK». Wenn solche Normen staatsvertragsrechtlich verankert sind, kann sich der einzelne Staat aufgrund ihres zwingenden Charakters auch durch Kündigung nicht von ihrer Berücksichtigung entbinden.

Der Bundesrat hatte sich in seiner Botschaft23 vom 22. Juni 1994 über die Volksinitiativen «für eine vernünftige Asylpolitik» und «gegen die illegale Einwanderung» ausführlich zur Frage geäussert, welche inneren Voraussetzungen völkerrechtliche Normen erfüllen müssen, die als «zwingend» bezeichnet werden24: «Man zählt sie zum internationalen ordre public (...). Zwingendes Völkerrecht beruht auf Völkergewohnheitsrecht, kann aber auch als Völkervertragsrecht ausgestaltet sein. Es hat Regeln zum Inhalt, von denen sich die Staaten durch eine Kündigung der völkerrechtlichen Verträge, in denen sie verankert sind, nicht befreien
können. (...) Ein Rechtsstaat kann sich nicht über völkerrechtliche Normen hinwegsetzen, die international als elementare Bestimmungen zum Schutz fundamentalster Grundrechte und des humanitären Völkerrechts verstanden werden und die unabhängig von der Ratifikation oder Kündigung der entsprechenden völkerrechtlichen Verträge einen für alle Rechtsstaaten verbindlichen Charakter aufweisen.» Bis heute ist der Begriff des zwingenden Völkerrechts in der schweizerischen Gesetzgebung nicht näher umschrieben worden. Die Wissenschaft hat in der Zwischenzeit den Begriff des «faktisch zwingenden Völkerrechts» vorgeschlagen25, mit welchem völkerrechtliche Verpflichtungen bezeichnet werden sollen, die für die 20 21 22 23 24 25

Wiener Übereinkommen vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge; SR 0.111.

Zitat aus: Yvo Hangartner/Andreas Kley, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich, 2000, S. 225.

BBl 1997 I 1, insbesondere S. 433.

BBl 1994 1486 ff.

A.a.O.1495 f., mit Literaturverweisen.

Dazu mit Bezug auf die vorliegende Volksinitiative: Yvo Hangartner, Rechtsprobleme des Schächtverbots, Allgemeine Juristische Praxis 9/2002, 1022 ff.

3292

Schweiz von so überragender Bedeutung sind, dass deren Aufkündigung faktisch nicht in Frage kommt. Solches Völkerrecht sollte gleich behandelt werden wie das ius cogens, das in Artikel 139 Absatz 3 BV als Grund für eine Ungültigkeitserklärung angeführt ist.

Davon wird abgesehen. Die Ungültigkeitserklärung eines Initiativbegehrens steht in einem Konkurrenzverhältnis zum Recht der Stimmbürgerinnen und -bürger, zu vorgeschlagenen Änderungen ihrer Verfassung Stellung zu nehmen. Dieses Recht ist ausserordentlich hoch zu bewerten. Von ihm soll nur in absolut zwingenden Fällen abgewichen werden. Das bedeutet, dass es auszuschliessen ist, neue Ungültigkeitsgründe, die nicht zweifelsfrei in der Verfassung selber verankert sind, einzuführen.

Sicher ist es stossend, wenn durch die hier behandelte Volksinitiative ein Verfassungsartikel vorgeschlagen wird, der gleichzeitig WTO-Verpflichtungen und die Europäische Menschenrechtskonvention sowie den UN-Pakt II verletzt. Diese Vertragswerke haben einen Rang, der ihre Kündigung durch die Schweiz faktisch ausschliesst. Allein, zwingendes Völkerrecht im Sinne von Artikel 139 Absatz 3 BV sind sie nicht.

Falls das Einfuhrverbot der Volksinitiative in Kraft tritt, hat die Schweiz faktisch zwei Möglichkeiten: Sie könnte darauf verzichten, die fragliche Verfassungsbestimmung anzuwenden, oder sie setzt sie um und verletzt damit völkerrechtliche Normen. Beides verbietet sich für einen Rechtsstaat: Bei der Wahl der ersten Möglichkeit würde das Prinzip verletzt, dass die Behörden Verfassungsrecht tatsächlich anzuwenden haben; die Realisierung der zweiten Möglichkeit würde dem Ansehen unseres Landes zweifelsohne Schaden zufügen.

Falls durch die Verletzung internationalen Vertragsrechts betroffene Staaten (im Falle des GATT/WTO) oder Private (im Falle der EMRK) bei den zuständigen Instanzen Klage einreichen und die Schweiz die nachfolgenden Verfahren verliert, bliebe als Ausweg entweder eine erneute Änderung der BV oder das Inkaufnehmen von u.U. schwerwiegenden Retaliationsmassnahmen. Ein Austritt aus den betroffenen internationalen Abkommen mit nachfolgenden Verhandlungen über einen Wiederbeitritt ist auszuschliessen.

Der Bundesrat erachtet es als wichtig, die eidgenössischen Räte auf diese Konsequenzen einer allfälligen Annahme der Initiative hinzuweisen.

2

Die Wahl der Regelungsstufe

Der heutige Artikel 80 der Bundesverfassung beauftragt den Bund zur Gesetzgebung im Bereich des Tierschutzes. Er umschreibt die Bereiche, die zu regeln sind, nämlich: ­

die Tierhaltung und die Tierpflege;

­

die Tierversuche und die Eingriffe am lebenden Tier;

­

die Verwendung von Tieren;

­

die Einfuhr von Tieren und tierischen Erzeugnissen;

­

den Tierhandel und die Tiertransporte;

­

das Töten von Tieren.

3293

Die Verfassung äussert sich nicht zur Qualität des mit der Gesetzgebung anzustrebenden Tierschutzes, d.h. über das Mass des Schutzes, den die Menschen den Tieren zukommen lassen müssen. Das Schutzniveau ist durch den Gesetzgeber zu bestimmen. Dieser ist dem Auftrag mit dem Tierschutzgesetz von 1978 nachgekommen, insbesondere mit dessen Grundsatzartikel26, der für die im Gesetz nachfolgenden Bestimmungen und für die direkt umzusetzenden Anweisungen der Tierschutzverordnung das Schutzniveau vorgibt. Nur diese klare Abstufung ­ Regelungsbereich in der Verfassung, Regelungshöhe im Gesetz ­ erlaubt es, innert nützlicher Frist auf die Veränderungen der öffentlichen Einstellung zum Tierschutz zu reagieren. Würde die Verfassung nämlich auch das Schutzniveau, also die Regelungshöhe, vorschreiben, dann wäre für jede zukünftige Über- oder Unterschreitung dieses Niveaus eine Verfassungsänderung notwendig.

Genau dies hätte die Volksinitiative zur Folge. Ihr detaillierter Katalog an Schutzvorschriften erlaubt einerseits zwar keine Unterschreitung des durch die neue Verfassungsbestimmung vorgegebenen Schutzniveaus, andererseits aber auch keine Überschreitung, die angesichts der Veränderungen in der öffentlichen Wahrnehmung des Tierschutzes und der Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse denkbar wäre. Die Tierschutzgesetzgebung würde so allenfalls die heutige Einstellung des Schweizervolkes zum Tierschutz widerspiegeln, jedoch ohne erneute Verfassungsänderung keine Weiterentwicklung zulassen.

Ein anerkannter Grundsatz verlangt, dass die Verfassung die Basis und die Grenzen der Gesetzgebung festlegt, dass in Gesetzen die sachlichen Grundsätze des durch die Verfassung abgegrenzten Regelungsbereichs bestimmt werden, die in den darauf aufbauenden Verordnungen direkt umsetzbar gemacht werden.

Die Volksinitiative zeigt ein eigenwilliges Verständnis dafür, was in einer Verfassung geregelt werden soll. Mit ihr sollen Bestimmungen in das Grundgesetz eingefügt werden, welche dieser hohen Regelungsstufe nicht entsprechen. Zahlreiche Volksinitiativen hatten in jüngerer Zeit teilweise oder vollständig Bestimmungen auf Gesetzes- oder Verordnungsstufe zum Gegenstand27. Sie sind gelegentlich Ausfluss der Tatsache, dass die Schweiz keine Gesetzesinitiative kennt, d.h. keine Möglichkeit, mittels Unterschriftensammlung
auf die Gestaltung eines Gesetzes einzuwirken. Die vorliegende Volksinitiative enthält vorwiegend Regelungen, die nicht einmal in ein Gesetz gehören, sondern in eine bundesrätliche oder departementale Verordnung. Bei der Diskussion der vorgeschlagenen Bestimmungen wird im Detail darauf zurückzukommen sein.

Verfassungswesentlichkeit ist keine Gültigkeitsvoraussetzung für eine Volksinitiative. So lange keine Vorschrift darüber besteht, was materiell als Verfassungsrecht gelten kann, bleibt es den Initianten eines Volksbegehrens und letztlich den Stimmberechtigten und den Ständen überlassen, welche Materie sie in der BV regeln

26

27

Artikel 2 TSchG lautet: 1 Tiere sind so zu behandeln, dass ihren Bedürfnissen in bestmöglicher Weise Rechnung getragen wird.

2 Wer mit Tieren umgeht, hat, soweit es der Verwendungszweck zulässt, für deren Wohlbefinden zu sorgen.

3 Niemand darf ungerechtfertigt einem Tier Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen oder es in Angst versetzen.

Vgl. Ehrenzeller/Mastronardi/Schweizer/Vallender (Hrsg.), St.Galler Kommentar, Zürich/Basel/Genf, 2002, Vorbemerkungen zu Art. 138­142 Rz. 5 ff.

3294

wollen. Der Bundesrat erachtet es aber als wesentlich, die eidgenössischen Räte auf die problematische Regelungsstufe der vorliegenden Initiative hinzuweisen.

3

Zum Begriff der «Grundsätze»

Die heutige Verfassungsbestimmung in Artikel 80 BV enthält keine Grundsätze, sondern weist dem Bund einzig die Aufgabe zu, im Bereich des Tierschutzes zu legiferieren. Bisher konnten als Grundsätze die Rahmenbedingungen des Artikels 2 TSchG verstanden werden; danach sind Tiere «so zu behandeln, dass ihren Bedürfnissen in bestmöglicher Weise Rechnung getragen wird», beim Umgang mit ihnen ist «für deren Wohlbefinden zu sorgen», und einem Tier dürfen nicht ungerechtfertigt «Schmerzen, Leiden oder Schäden» zugefügt und es darf nicht in Angst versetzt werden. Der Revisionsentwurf28 des TSchG bringt diese Grundsätze in überarbeiteter und um den Begriff der «Würde» erweiterten Form in Artikel 4 wieder.

Die Initiative nimmt hier einen radikalen Systemwechsel vor. Mit Ausnahme des ersten Satzes in Absatz 1 («Der Bund erlässt Vorschriften über den Tierschutz») besteht sie praktisch nur aus Grundsätzen, die von der nachgeordneten Gesetzgebung umzusetzen wären. Dazu gehören Anweisungen, für welche bisher die Gesetzesstufe oder sogar die Stufe der bundesrätlichen oder departementalen Verordnung als angemessen betrachtet wurde. So wurde ­ um drei Beispiele zu nennen ­ die Vorschrift (Abs. 2 Bst. b der Initiative), wonach Nutztiere und andere Haustiere «sich regelmässig im Freien» bewegen können müssen, für Rindvieh in der Tierschutzverordnung (Art. 18) nach Ansicht des Bundesrates stufengerecht geregelt; der gewerbsmässige Tierhandel ist durch das Gesetz (Art. 8 TSchG) einer Bewilligungspflicht unterstellt; der Einbezug der Tierzucht unter das Tierschutzrecht ist im Rahmen des Gen-Lex-Verfahrens durch die Schaffung von Artikel 7a TSchG29 erfolgt. Bei der Diskussion der einzelnen Punkte der Initiative ist auf die Stufengerechtheit ihrer Vorschläge zurückzukommen.

Die Initiative benennt ihre Vorschläge von Absatz 2 als «Grundsätze». Auch wenn bisher Detailregelungen wie die oben angeführten nicht unter diesen Begriff subsumiert wurden, hätte eine Annahme der Initiative zur Folge, dass die neun Grundsätze strikte und ohne Ausnahme umgesetzt werden müssten. Letzteres ist vor allem bei der Umsetzung von Absatz 2 Buchstabe i (Importverbot) von Bedeutung: Bei jeder Einfuhr eines Tieres oder eines tierischen Erzeugnisses müsste der Nachweis erbracht werden, dass die Tiere, von denen die Produkte stammen, den anderen
Grundsätzen des neuen Verfassungsartikels entsprechen, nämlich dass sie die Gelegenheit hatten «sich regelmässig im Freien zu bewegen» (Bst. b) und dass sie vor der Schlachtung betäubt waren (Bst. d). So lange unsere hauptsächlichen Handelspartner nicht Regelungen einführen, die den Grundsätzen von Absatz 2 des Initiativtextes entsprechen, müssten die Einfuhren von tierischen Produkten wohl generell verboten oder an Bedingungen geknüpft werden, denen das Tierschutzrecht unserer Handelspartner nicht nachkommt. Der Begriff der Grundsätze würde so durch den vorgeschlagenen Verfassungsartikel ad absurdum geführt: Was als Instrument zum Schutz der schweizerischen Tiere gedacht war, kann sich als wirtschaftlicher Hemmschuh mit sehr weit gehenden Konsequenzen erweisen.

28 29

BBl 2003 657 AS 2003 4803

3295

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Geltende Rechtsordnung in der Schweiz

Die Schweiz besitzt nach dem Urteil eines Mitglieds des Initiativkomitees «eines der besten und fortschrittlichsten Tierschutzgesetze der Welt»30. Die Entwicklung, die zu diesem Gesetzeswerk führte, begann vor über 100 Jahren, als das Schweizervolk 1893 ­ gegen den Antrag von Bundesrat und Parlament ­ ein Schächtverbot in die Bundesverfassung einfügte. Bis 1973 blieb dies die einzige Verfassungsbestimmung im Bereich des Tierschutzes. Einzelne Tierschutzfragen waren aber schon früh in Gesetzen geregelt, so mit dem Artikel 264 des Strafgesetzbuches, der Tierquälerei unter Strafe stellte, und mit Einzelbestimmungen im Strassenverkehrsrecht und in der ehemaligen Eidgenössischen Fleischschauverordnung.

Der Tierschutz blieb bis in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts weitgehend Sache der Kantone. Zürich, Freiburg, Waadt und Genf verfügten schon vor der Schaffung eines schweizerischen Tierschutzrechts über eigene Tierschutzgesetze.

Mit dem 1973 in die BV eingefügten Tierschutzartikel 25bis wurde dem Bund die Kompetenz für eine gesetzliche Regelung des Tierschutzes auf Bundesebene übertragen. In der heutigen BV ist die inhaltlich gleiche Bestimmung als Artikel 80 enthalten. Gestützt auf den verfassungsmässigen Auftrag erliessen die eidgenössischen Räte am 9. März 1978 das Tierschutzgesetz31, das nach einer Referendumsabstimmung am 1. Juli 1981 zusammen mit der Tierschutzverordnung32 in Kraft trat.

Am 5. November 1993 publizierte die Geschäftsprüfungskommission des Ständerates einen Inspektionsbericht unter dem Titel «Vollzugsprobleme im Tierschutz»33.

Darin kritisierte die Kommission Mängel bei der Umsetzung des Gesetzes. Der Bundesrat erklärte sich in seiner Stellungnahme vom 26. Januar 199434 bereit, die im Inspektionsbericht vorgebrachten Empfehlungen mittels einer Revision der Tierschutzverordnung umzusetzen. Diejenigen Kommissionsempfehlungen, die auf Verordnungsstufe realisiert werden konnten, fanden 1997 Eingang in eine Revision der Verordnung. Es zeigte sich aber, dass auch eine Gesetzesrevision notwendig sein würde, um neue Vollzugsinstrumente einzuführen. Der Bundesrat stellte in seinem Bericht «Vollzugsprobleme im Tierschutz»35 vom 8. September 1999 eine solche Revision in Aussicht. Am 9. Dezember 2002 verabschiedete der Bundesrat die diesbezügliche Botschaft.

Der Ständerat beschloss am
24. September 2003, die Beratungen zu dieser Botschaft zu sistieren, bis die bundesrätliche Botschaft zur Volksinitiative «Für einen zeitgemässen Tierschutz (Tierschutz ­ Ja!)» vorliegt.

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Zitat aus: Brigitta Rebsamen-Albisser, Der Vollzug des Tierschutzrechts durch Bund und Kantone, Diss., 1993 (Verlag Haupt, Bern/Stuttgart/Wien, 1994), S. 1.

TSchG, SR 455 TSchV, SR 455.1 BBl 1994 I 618 BBl 1994 I 646 BBl 1999 9484

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Kommentare zu den vorgeschlagenen Bestimmungen der Initiative

Absatz 1 Der erste Absatz des Initiativtextes übernimmt zunächst den Absatz 1 von Artikel 80 BV, erteilt also dem Bund ebenfalls einen Gesetzgebungsauftrag. Dann folgt sofort der Zweck dieser Gesetzgebungstätigkeit. Dieser findet sich heute in Artikel 1 Absatz 1 TSchG, wo als Zweck des Gesetzes angeführt ist, dass es dem «Schutz und Wohlbefinden» des Tieres dient. Im bundesrätlichen Revisionsentwurf TSchG ist der Zweck in Artikel 1 etwas ausführlicher umschrieben36; nicht zuletzt diente hier Artikel 1 des deutschen Tierschutzgesetzes37 als Vorbild.

Die schweizerische Bundesverfassung kennt beide Regelungsansätze, nämlich den reinen Gesetzgebungsauftrag mit der Abgrenzung des Regelungsbereichs wie in Artikel 80 (Tierschutz) oder 96 (Wettbewerbspolitik) wie auch den Gesetzgebungsauftrag mit den Gestaltungsregeln, nach denen sich die Gesetzgebung auszurichten hat wie in Artikel 104 (Landwirtschaft) oder 119 (Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie im Humanbereich).

Der Initiativtext will das «Wohlbefinden» und die «Würde» des Tieres schützen.

Dieses Ziel deckt sich mit demjenigen des Entwurfs TSchG38.

Als Begründung für den Schutzauftrag führt der Initiativtext an, dass Tiere «Mitgeschöpfe und empfindungsfähige Lebewesen» seien. Der Begriff des «Mitgeschöpfs» findet sich auch in Artikel 1 des Entwurfs TSchG und in Artikel 1 des deutschen Tierschutzgesetzes. Hingegen ist über die Empfindungsfähigkeit von Tieren zu wenig bekannt, als dass der Begriff des «empfindungsfähigen Lebewesens» gleichstufig in einem Gesetzes- oder gar Verfassungstext auftauchen müsste. Der Bundesrat hat deshalb nach Auswertung der Vernehmlassung darauf verzichtet, das Schutzobjekt Tier so zu definieren.

Der Bundesrat ist der Ansicht, dass der Zweck einer Gesetzgebung nicht zwingend in die Verfassung gehört, sondern sinnvollerweise am Anfang des Spezialgesetzes stehen kann.

Absatz 2 Während Artikel 80 BV im Absatz 2 die Bereiche aufführt, in welchen der Bund gesetzgeberisch tätig werden muss, führt die Initiative hier eine Reihe von Grundsätzen auf, an welchen sich die Gesetzgebung zu orientieren hätte.

Die Grundsätze des Initiativtextes erwecken den Eindruck, sie seien teilweise recht arbiträr ausgelesen worden. Zwei Beispiele mögen diese Ansicht illustrieren: Einziger Grundsatz für die Haltung von «Nutztieren und anderen Haustieren» ist die Vorschrift eines regelmässigen Auslaufs. Über Haltungsbedingungen, Pflege und

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«Mit diesem Gesetz soll, angesichts der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf, dessen Würde und Wohlergehen geschützt werden.» «Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.» Der Entwurf TSchG wählt den Begriff «Wohlergehen». Dieser umfasst den iterativen Umgang mit Tieren zutreffender als das stationäre «Wohlbefinden».

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Ernährung der Tiere, also über die Kernanforderungen der Tierhaltung, enthält die Initiative keine Regeln.

Dass Tiertransporte «von ausgebildeten Personen begleitet sein» müssen, ist lobenswert, aber über die Art und Weise, wie solche Transporte durchzuführen sind (Be- und Entladen, Transportmittel, Besatzdichte), äussert sich die Initiative nicht.

Die Grundsätze der Initiative sind auf unterschiedlichem gesetzgeberischem Niveau angesiedelt. Der Bundesrat legt hier dar, dass diese Anweisungen insgesamt die Anforderungen an eine Verfassung kaum erfüllen. Zu den einzelnen Punkten äussert er sich wie folgt: Buchstabe a Die vorgeschlagene Bestimmung über die Tierhaltung ist zweigeteilt. Im ersten Teil verlangt sie, dass Tiere ihren Bedürfnissen entsprechend zu halten, im zweiten Teil, dass sie schonend zu behandeln sind.

Der erste Teil stammt aus Artikel 2 Absatz 1 TSchG, der sinngemäss in den Entwurf TSchG (Art. 4 Abs. 1 Bst. a) übernommen wurde.

Der zweite Teil ist eine vereinfachte Ausführung von Artikel 2 Absatz 3 TSchG, der sinngemäss in den Artikel 4 Absatz 2 des Entwurfs TSchG übernommen worden ist.

Allerdings leuchtet nicht ein, weshalb die grundsätzliche Bestimmung des geltenden Gesetzes im Initiativtext so stark verkürzt worden ist, dass der umfassende Anspruch des Tieres auf eine Behandlung ohne Schmerzen, Leiden, Schäden, Angst oder Verletzung der Würde nicht mehr ersichtlich ist. Es fällt auf, dass sich die Initiative nur auf einen Ausschnitt aus den Grundsätzen beschränkt, die Artikel 4 des Entwurfs TSchG enthält.

Buchstabe b Die einzige Anweisung zur Haltung von «Nutztieren» und «anderen Haustieren», die der Initiativtext enthält, ist, dass sich diese regelmässig im Freien bewegen können müssen. Unklar ist, wie die Initiative den Begriff «andere Haustiere» definiert. In Artikel 12 der heutigen Tierschutzverordnung wird festgehalten, dass alle üblichen Nutztiere als «Haustiere» gelten, aber auch die Haushunde, Hauskatzen und Hausgeflügel. Es ist nicht klar, wo die Initiative hier die Grenzen setzt, oder ob beispielsweise im Haushalt lebende Hamster auch zu den «anderen Haustieren» gehören.

Der Anspruch auf angemessene Ernährung und Pflege muss als überlebensnotwendig für das Tier eingestuft werden. Beschäftigung, Bewegungsfreiheit und Unterkunft sowie Bewegung im Freien kann dagegen
als sinnvoll für das Wohlergehen des Tieres betrachtet werden. Wenn die Initiative einen Anspruch aus dieser zweiten Gruppe als einzigen Grundsatz für die Haltung von Nutz- und Haustieren postuliert, dann verlagert sie in nicht nachvollziehbarer Weise die Gewichte.

Der Anspruch auf regelmässige Bewegung im Freien wird für jene Tierarten, bei denen dies sinnvoll ist, nicht bestritten. Der Bundesrat hat 1997 in Artikel 18 TSchV angeordnet, dass sich Rindvieh, das angebunden gehalten wird, während mindestens 90 Tagen pro Jahr ausserhalb des Stalls bewegen können muss. Die RAUS-

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Verordnung39 verfolgt ebenfalls die Zielsetzung, allen Nutztieren einen regelmässigen Auslauf im Freien zu gewähren, und verbindet dieses Ziel mit finanziellen Anreizen. Derartige Detailvorschriften gehören eindeutig in eine Verordnung; das Verfassungsniveau ist hier kaum angemessen.

Buchstabe c In diesem Abschnitt werden zwei verschiedene Sachen geregelt, einerseits die Tiertransporte, andererseits der Transit und Export lebender Schlachttiere.

Tiertransporte wären danach «auf das Nötigste» zu beschränken. Dieser Grundsatz ist nicht bestritten, allerdings divergieren die Ansichten über das «Nötigste» stark.

Gemeint ist möglicherweise die maximale Dauer der Transporte. Unser kleines Land lässt sich diesbezüglich nicht mit den grossflächigen Nachbarstaaten oder gar mit dem Binnenverkehr in der EU vergleichen, wo Tiertransporte mehrere Tage dauern können. Trotzdem hält es der Bundesrat für notwendig, die tierschützerischen Rahmenbedingungen der Tiertransporte (Platzanspruch der Tiere, Ein- und Ausladen, Ausbildung des Transportpersonals) festzuhalten; er schlägt deshalb einen entsprechenden Auftrag in Artikel 13 Entwurf TSchG vor. Mit Ausnahme der Beschränkung «auf das Nötigste» enthält die Initiative indes keine tierschützerischen Bedingungen für Tiertransporte.

Gemäss Initiativtext sollen Tiertransporte «von ausgebildeten Personen begleitet sein». Diese Regelung wird nicht bestritten. Allerdings gehört sie nicht auf das Verfassungsniveau. Der Bundesrat soll mit Artikel 13 des Entwurfs TSchG die Ermächtigung erhalten, die Anforderungen an die Ausbildung des mit Tiertransporten betrauten Personals zu regeln. Dies soll auf der viel angemesseneren Ebene der Verordnung geschehen.

Die Initiative will den Transit und den Export lebender Schlachttiere verbieten. Der Import solcher Tiere bliebe offenbar zulässig. Ein Transit- und Ausfuhrverbot ist problematisch, da es gleichzeitig gegen das Abkommen mit der EG über den Güterund Personenverkehr auf Schiene und Strasse40 und den Artikel V des GATT 1994 verstösst.

Das Abkommen mit der EG enthält zwar keine Spezialbestimmungen über den Tiertransit. Hingegen regelt dessen Anhang 6 die Ausnahme vom Nacht- und Sonntagsfahrverbot für Transporte von Schlachtschweinen und Geflügel. Dies lässt den indirekten Schluss zu, dass solche Transporte im Import, Export
und im Transit generell zulässig sind.

Eine Annahme und Umsetzung der Initiative hätte zur Folge, dass das Abkommen mit dem Transit- und Ausfuhrverbot ergänzt werden müsste. Falls die EU dazu nicht Hand bietet, müsste für eine getreuliche Umsetzung der neuen Verfassungsbestimmung das Abkommen in extremis gekündigt und anschliessend neu verhandelt werden. Diese «Lösung» könnte nur mit der Kündigung aller bilateralen Abkommen verbunden werden, da diese eine Kündigung einzelner Teile ausschliessen. Die Folgen für die Schweiz wären unabsehbar.

Das Transitverbot verstösst aber auch gegen Artikel V («Freiheit der Durchfuhr») GATT 1994. Mit Ausnahme der «Anmeldung bei der zuständigen Zollstelle» lässt 39 40

Verordnung des EVD vom 7. Dezember 1998 über den regelmässigen Auslauf von Nutztieren im Freien, SR 910.132.5.

SR 0.740.72

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diese Bestimmung keine weiteren quantitativen Beschränkungen des Transitverkehrs zu.

Schlachttiertransite durch die Schweiz finden heute praktisch keine statt. Aus Gründen der Tierseuchenpolizei und des Tierschutzes schreibt die Verordnung über die Ein-, Durch- und Ausfuhr von Tieren und Tierprodukten41 in Artikel 59 Absatz 4 vor, dass Transite mit Tieren der Rinder-, Schaf-, Ziegen- und Schweinegattung nur im Bahn- oder Luftverkehr durchgeführt werden dürfen. Diese Bestimmung hat zur Folge, dass die Schweiz von den Lastwagen, welche Schlachttiere transportieren, umfahren wird. Schlachttiertransite durch die Schweiz sind deshalb seit vielen Jahren kein tierschützerisches Problem. Ihr ausdrückliches Verbot durch eine neue Verfassungsbestimmung könnte aber durchaus ein ernsthaftes Problem, allerdings ein politisches, nicht ein tierschützerisches, schaffen.

Auch das Exportverbot für Schlachttiere verbietet einen Sachverhalt, den die Schweiz kaum kennt. Lebende Nutztiere werden praktisch nur zu Zuchtzwecken, nicht zur Schlachtung, ausgeführt. Ein Exportverbot, wie es die Initiative verlangt, verletzt Artikel XI des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT). Dieser Artikel lässt grundsätzlich «Zölle, Steuern oder andere Abgaben» auf Exporte zu, nicht aber mengenmässige Beschränkungen, also Ausfuhrverbote, ausser wenn solche eines der in Ziffer 2 des Artikel XI enthaltenen Kriterien erfüllen. Lebende Schlachttiere erfüllen keine dieser Kriterien.

Da derzeit praktisch keine Schlachttierexporte stattfinden, hätte möglicherweise kein Staat ein Interesse daran, eine Verletzung des Abkommens bei den zuständigen Instanzen einzuklagen. Ein Exportverbot würde es allerdings der schweizerischen Landwirtschaft verunmöglichen, auf allfällige Marktveränderungen ­ die eine Nachfrage nach schweizerischem Schlachtvieh erzeugen könnten ­ zu reagieren.

Buchstabe d Das schweizerische Tierschutzrecht schützt das Leben der Tiere nicht. Es gibt aber die tierschützerischen Leitplanken vor, nach welchen das Töten von Tieren zu erfolgen hat. Dies ist vor allem bei der Schlachtung und am Ende von Tierversuchen von Bedeutung.

Die Initiative verlangt nun, dass das Töten von Tieren «durch einen vernünftigen Grund» zu rechtfertigen sei. Dieser Begriff ist offen für alle möglichen Interpretationen. Ist das Töten männlicher
Küken bei der Legehennenproduktion «vernünftig»?

Ist es die Jagd und die Sportfischerei? Ist die Schädlingsbekämpfung «vernünftig»?

Auch der Begriff der «Tiere», der hier verwendet wird, ist interpretationsbedürftig.

Meint er die Wirbeltiere, wie es das deutsche Tierschutzgesetz in seinen Bestimmungen über das Töten tut, oder fallen darunter auch Wirbellose, die ja unbestrittenermassen auch Tiere sind?

Im Weiteren dürften Tiere nur von «ausgebildeten Personen» getötet werden. Ausnahmen sind nicht vorgesehen. Auch hier drängt sich eine Interpretation auf. Der Bundesrat geht davon aus, dass dort, wo besondere Ansprüche bestehen, eine besondere Ausbildung verlangt werden soll, beispielsweise beim Schlachten oder bei Tierversuchen. Er erachtet es aber als übertrieben, etwa für die Schädlingsbekämpfung auf dem privaten Grundstück eine Ausbildung zu verlangen.

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EDAV; SR 916.443.11

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Die vorgeschlagene Regelung, wonach das Schlachten von Tieren ohne Betäubung vor dem Blutentzug verboten ist, war seit 1893 Gegenstand von Artikel 25bis BV.

1973 wurde sie aus der Verfassung entfernt und 1978 als Artikel 20 in das neu geschaffene Tierschutzgesetz eingefügt. Am Verbot der rituellen (betäubungslosen) Schlachtung wird im Entwurf TSchG (Art. 19) festgehalten. Dieses Verbot soll gemäss Initiative nun wieder auf die Verfassungsstufe gehoben werden.

Dies ist aber offenbar nicht das einzige Ziel dieser Initiativbestimmung. Das geltende Verbot gilt nämlich nur für die Schlachtung von Säugetieren, nicht aber von anderen Tieren, die der menschlichen Ernährung dienen (Fische, Geflügel). Indem die Initiative die Betäubungspflicht ganz allgemein für «das Schlachten von Tieren» verlangt, würde auch die Schlachtung von Fischen und Geflügel der Betäubungspflicht unterstellt.

Die Ausweitung der allgemeinen Betäubungspflicht auf Geflügel wird seit einiger Zeit diskutiert. Tatsächlich wird der grösste Teil der Geflügelproduktion heute nach einer elektrischen Betäubung entblutet. Nur gelegentlich werden geringe Mengen von Poulets, vorab für die Versorgung jüdischer Gemeinden, noch ohne Betäubung geschlachtet. Der Bundesrat beabsichtigt nicht, diese Möglichkeit zur Selbstversorgung mit rituell geschlachtetem Geflügelfleisch zu verbieten. Er hat deshalb darauf verzichtet, eine entsprechende Ausweitung des Geltungsbereichs des bisherigen Betäubungsgebotes im Entwurf TSchG vorzuschlagen.

Der Bundesrat stuft zudem das Gebot des Betäubens vor dem Blutentzug als konkrete Handlungsanweisung ein, für welche die Verfassungsstufe nicht angepasst ist.

Buchstabe e Tierversuche werden seit der Schaffung des Tierschutzgesetzes öffentlich diskutiert.

Drei Volksinitiativen, von denen eine vom Schweizer Tierschutz STS lanciert worden war, verlangten ein Verbot von Tierversuchen auf Verfassungsebene. Alle drei wurden vom Volk abgelehnt.

Die mit der Initiative vorgeschlagene Regelung strebt ein Teilverbot an: Versuche, die bei Tieren «zu schweren und anhaltenden Schmerzen oder Leiden führen», sowie Versuche, die durch Alternativmethoden ersetzt werden können, dürften in der Schweiz nicht mehr durchgeführt werden.

Gemäss dem geltenden Gesetz muss beim Entscheid, ob ein Versuch bewilligt wird oder nicht, eine
Güterabwägung zwischen dem Nutzen eines Versuchs und den zugefügten Schmerzen und Leiden erfolgen (Unerlässlichkeit; Art. 13 TSchG).

In schwerbelastenden Tierversuchen (Schweregrad 3) werden in der Schweiz noch 3,6 Prozent der verwendeten Tiere eingesetzt (Zahlen von 2002). Die kantonalen Bewilligungsorgane prüfen bei jedem Gesuch, ob die Belastung des Tieres zur Erreichung des Versuchszwecks notwendig ist und ob der Zweck nicht auch mit einer evolutiv niedriger stehenden Tierart erreicht werden könnte. Alle erteilten Bewilligungen werden dem Bundesamt für Veterinärwesen vorgelegt, das prüft, ob sie den Kriterien der Unerlässlichkeit entsprechen. Damit wird angestrebt, dass keine Tiere in Versuchen Belastungen erleiden, die nicht notwendig zum Erreichen des Versuchsziels sind.

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Mit dem gleichen Verfahren prüfen die Bewilligungsbehörden auch, ob ein Versuch wirklich mit Tieren durchgeführt werden muss, oder ob sich dafür andere, tierlose Methoden (sog. Alternativmethoden) eignen. Der Bund fördert die Erforschung und Validierung solcher Methoden seit langem.

Mittelfristig wird angestrebt, die Zahl der schwerbelastenden Versuchstiere noch stärker zu reduzieren und in jeder Kategorie von Versuchen die maximale Zahl von Alternativmethoden einzusetzen. Ein gänzlicher Ersatz von Tierversuchen ist heute nicht denkbar. Teilverbote bringen in diesem Bereich nichts; sie hätten einzig zur Folge, dass schwerbelastende Versuche an Instituten jenseits der Landesgrenze durchgeführt würden.

Buchstabe f Die Haltung von Tieren ist im geltenden Gesetz mit allgemeinen Grundsätzen geregelt (Art. 3 ff. TSchG). Ergänzend dazu enthält die Verordnung detaillierte Vorschriften, welche Tierarten in welchem Umfeld zu halten sind. Auch der Entwurf TSchG will an diesem Prinzip festhalten (vgl. dessen Art. 6).

Die Initiative schlägt für die Wildtiere eine Haltungsform vor, der grundsätzlich zugestimmt werden kann. Es ist aber schwer einzusehen, weshalb einzig für die Wildtiere eine allgemeine Haltungsvorschrift in der Verfassung stehen soll, für andere Tiere (Nutztiere, Heimtiere, Versuchstiere) jedoch nicht.

Zusätzlich verlangt die Initiative eine Einfuhrbeschränkung, nach welcher nur solche Tiere (Wildtiere?) importiert und gehalten werden dürften, «deren Bedürfnisse in Gefangenschaft erfüllt werden können». Diese Bestimmung bedarf der Auslegung, da selbst in Fachkreisen nicht immer klar ist, welches die Bedürfnisse von Tieren sind. Ist beispielsweise einem Wildtier, das in der Natur weite Strecken zurücklegt, um seine Nahrung zu suchen, zumutbar, in einem Zoogehege zu leben, wo es ausreichend gefüttert wird und vor natürlichen Feinden geschützt ist?

Es ist festzuhalten, dass dieser Grundsatz der Initiative ausschliesslich die tierschützerischen Aspekte des Wildtierimports umfasst. Viele Wildtierarten sind heute schon gemäss dem Übereinkommen über den internationalen Handel mit gefährdeten Arten freilebender Tiere und Pflanzen42, das für unser Land seit 1975 gilt, vom Import ausgeschlossen.

Buchstabe g Heute ist der gewerbsmässige Handel mit Tieren bewilligungspflichtig (Art. 8 Abs. 1 TSchG);
dies soll auch in Zukunft so bleiben (Art. 11 Entwurf TSchG). Da das Gesetz seinen Geltungsbereich auf Wirbeltiere beschränkt (Art. 1 Abs. 2 TSchG), gilt diese Bewilligungspflicht präziser ausgedrückt für den gewerbsmässigen Handel mit Wirbeltieren.

Die Initiative möchte diese Regel nicht nur auf Verfassungsebene heben, sondern auch erheblich verschärfen. Nicht nur der gewerbsmässige Wirbeltierhandel, sondern «der Handel mit Tieren jeder Art» soll bewilligungspflichtig werden. Ausnahmen sind nicht vorgesehen. Damit wird nicht nur der gelegentliche Wirbeltierhandel bewilligungspflichtig, sondern auch der Handel mit Würmern (etwa für die Fischerei) oder Insekten (etwa als Terrarienfutter). Eine tierschützerische Begründung für eine solche Erschwernis des freien Handels wird nicht gegeben.

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SR 0.453

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Die Einschränkung wird noch verschärft durch die in der Initiative enthaltene Vorschrift, wonach jede Person, die mit «Tieren jeder Art» handelt, einen Fähigkeitsausweis benötigt. Dies kann zu ebenso absurden Situationen führen wie sie im vorherigen Absatz beschrieben wurden, nämlich dass auch jene Personen, welche nur gelegentlich mit Tieren handeln oder die mit Tieren handeln, auf welche das heutige Tierschutzgesetz nicht anwendbar ist, einen Fähigkeitsausweis erwerben müssen.

Buchstabe h Die eidgenössischen Räte haben im Verlauf des Gen-Lex-Verfahrens den neuen Artikel 7a in das TSchG eingefügt43, der das gleiche Anliegen wie der von der Initiative vorgeschlagene Text verfolgt. Tatsächlich sieht Artikel 80 BV keine Bundesregelung über die Tierzucht vor; erst mit Artikel 120 Absatz 2 BV wurde 1992 eine Grundlage geschaffen, die den Bund ermächtigt, «Vorschriften über den Umgang mit Keim- und Erbgut von Tieren ...» zu erlassen.

Während der neue Artikel 7a TSchG in Absatz 1 die Zuchtregelung als Verbot formuliert44, legt der Vorschlag der Initiative ein positives Ziel fest.

Da die Initiative keine Änderung des Artikels 120 BV verlangt, handelt es sich bei ihrem Buchstaben h um eine Konkretisierung des Gesetzgebungsauftrags von Artikel 120 Absatz 2 BV. Dass ein Verfassungsauftrag in einem anderen Artikel in der Verfassung konkretisiert wird, ist zumindest ungewöhnlich.

Buchstabe i Laut dem Initiativtext soll ein Einfuhrverbot für Tiere gelten, die im Ausland nicht gemäss den Grundsätzen der schweizerischen Tierschutzgesetzgebung gehalten worden sind, sowie ein Einfuhrverbot für tierische Erzeugnisse, die im Ausland nicht gemäss den Grundsätzen der schweizerischen Tierschutzgesetzgebung hergestellt worden sind. Es handelt sich hier um den Versuch, den Geltungsbereich des schweizerischen Tierschutzrechts über die Landesgrenzen auszuweiten, nämlich für die Tiere und Güter, die vom Ausland in die Schweiz exportiert werden sollen.

Dahinter steht möglicherweise die Einsicht, dass das schweizerische Tierschutzrecht in gewissen Punkten strenger ist als dasjenige unserer hauptsächlichen Handelspartner.

Unter das Verbot fielen nicht nur Erzeugnisse, deren Herstellung im Ausland schon bisher gelegentlich zu Diskussionen Anlass gab, wie beispielsweise Stopflebern oder Batterieeier, sondern auch solche
des alltäglichen Konsums oder Gebrauchs wie französische Käse, italienische Salami, Eierteigwaren oder Lederschuhe. Vom Einfuhrverbot wäre insbesondere auch das Halal- und Koscherfleisch betroffen, das für die Bedürfnisse der Angehörigen der muslimischen und der jüdischen Religionsgemeinschaften eingeführt wird.

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Die neuen Artikel 7a und 7b (letzterer regelt die Zucht mit gentechnischen Methoden) sollen zusammen mit dem revidierten TSchG in Kraft treten.

«Die Anwendung natürlicher sowie künstlicher Zucht- und Reproduktionsmethoden darf bei den Elterntieren und bei den Nachkommen keine durch das Zuchtziel bedingten oder damit verbundenen Schmerzen, Leiden, Schäden oder Verhaltensstörungen verursachen; vorbehalten bleiben die Bestimmungen über Tierversuche.»

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Ein solches Verbot hätte gravierende Auswirkungen. Für einzelne Tierkategorien dürfte es zwar möglich sein, die Haltungsart im Ausland zu kontrollieren, beispielsweise für Nutztiere, die zu Zuchtzwecken in die Schweiz eingeführt werden, und für Schlachttiere. Bei anderen Kategorien ist ein solcher Nachweis kaum zu erbringen, beispielsweise bei Zierfischen.

Problematischer wird es bei tierischen Erzeugnissen. Da die Initiative den Begriff nicht eingrenzt, muss jede Ware einbezogen werden, die aus Tieren hergestellt wird, also Fleisch und Fleischwaren, Tierfutter, Leder und daraus hergestellte Schuhe, Taschen, Möbel und Kleider, Wolle und daraus hergestellte Kleidungsstücke, Rindersamen, Eier, Milch und Milcherzeugnisse. Zwei Beispiele mögen die Folgen skizzenhaft darstellen: ­

Zu den Grundsätzen, die von der Initiative aufgestellt werden, gehört, dass sich Nutztiere «regelmässig im Freien» bewegen können müssen (Abs. 2 Bst. b des Initiativtextes). Für die Einfuhr von französischem CamembertKäse müsste somit nachgewiesen werden, dass sich alle Kühe, deren Milch zu diesem Käse verarbeitet wird, der anschliessend in die Schweiz exportiert werden soll, regelmässig im Freien aufhalten. Für die Einfuhr von italienischem Salami müsste nachgewiesen werden, dass alle Schweine, deren Fleisch und Speck zu Würsten verarbeitet wurde, die in die Schweiz ausgeführt werden sollen, sich ebenfalls regelmässig im Freien aufgehalten haben.

Beide Nachweise könnten kaum erbracht werden, da jeweils nicht nur eine einzige Kuh bzw. ein einziges Schwein den Rohstoff für die erwähnten Produkte liefert, sondern in der Regel grosse Produktionschargen mit Milch bzw. Fleisch einer gewissen Zahl von Tieren verarbeitet werden. Es ist zwar vorstellbar, dass beispielsweise französische und italienische Produzenten wegen des Exports von Käsen bzw. Würsten in die Schweiz auf privatwirtschaftlicher Basis ihre Produktionsregeln der schweizerischen Tierschutzgesetzgebung anpassen würden.

Allerdings muss heute davon ausgegangen werden, dass die exportierenden Staaten ein schweizerisches Einfuhrverbot nicht einfach hinnehmen würden.

Als vor rund 12 Jahren im Zusammenhang mit einer Motion45 ein schweizerisches Einfuhrverbot für Stopflebern diskutiert wurde, regte sich in Frankreich lautstarker Widerstand mit der Androhung von Gegenmassnahmen.

Falls die von einem Exportverbot betroffenen Staaten sich an die WTOInstanzen richten würden, wäre damit zu rechnen, dass die Schweiz auf ihre neue Verfassungsbestimmung zurückkommen müsste, wenn sie nicht gravierende Gegenmassnahmen in Kauf nehmen will.

­

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Als zweites Beispiel ist der Spezialfall der Einfuhr von Fleisch rituell geschlachteter Tiere anzuführen, d.h. Fleisch von Tieren, die vor dem Entbluten nicht betäubt worden sind. Nach der Einführung des Schächtverbots in der BV wurde die Einfuhr von solchem Fleisch jahrzehntelang praktiziert, ohne dass dafür eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage vorhanden war.

Im Zusammenhang mit der Vorlage für die Agrarpolitik 2007 haben die eidgenössischen Räte eine spezielle Einfuhrregelung in Artikel 9 Absatz 1 des Tierschutzgesetzes aufgenommen46, die es den Angehörigen der muslimischen und der jüdischen Glaubensgemeinschaften ermöglicht, Fleisch, das 91.3338 Motion Maeder vom 3. Oktober 1991, Importverbot für Stopfleber.

AS 2003 4181

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nach den Vorschriften ihrer Glaubensgemeinschaften gewonnen wurde, zu importieren. Das Einfuhrverbot der Initiative würde diese Möglichkeit aufheben.

Absatz 3 Nach dem Initiativtext bleibt der Vollzug Sache der Kantone. Dies kann indirekt aus seiner Formulierung geschlossen werden «Der Bund regelt und beaufsichtigt den Vollzug durch die Kantone ...».

Artikel 80 BV weist in Absatz 3 den Vollzug der Tierschutzvorschriften den Kantonen zu, «soweit das Gesetz ihn nicht dem Bund vorbehält». Das TSchG hat dem Bund nur wenige Vollzugsaufgaben zugewiesen, nämlich gemäss Artikel 33 Absatz 3 TSchG den Vollzug an der Zollgrenze, das Bewilligungsverfahren für Aufstallungssysteme und Stalleinrichtungen sowie die Überwachung des internationalen Handels mit Tieren und tierischen Produkten. Dazu kamen im Verlauf der Zeit verschiedene kleinere Aufgaben, die nur von einer zentralen Behörde wahrgenommen werden können, wie die Erstellung einer jährlichen Tierversuchsstatistik (Art. 19a TSchG), die Förderung der tierschutzrelevanten Forschung oder die Prüfung der Tierversuchsbewilligungen im Hinblick auf die Behördenbeschwerde (Art. 26a TSchG).

Die Initiative verlangt eine aktivere Rolle des Bundes, indem sie ihm neu die Aufgabe zuweist, den kantonalen Vollzug zu regeln und zu beaufsichtigen. Er hat seine Oberaufsichtspflicht schon bisher, gestützt auf Artikel 35 TSchG, wahrgenommen und seine Kraft darauf konzentriert, einen einheitlichen Vollzug der Tierschutzgesetzgebung in allen Kantonen zu erreichen.

Neu und ungewöhnlich ist der Auftrag an den Bund den kantonalen Vollzug zu regeln. Unter dem Vollzug von Bundesrecht versteht man die Realisierung aller Massnahmen, welche in den Kantonen zur Umsetzung und Wirksamkeit des Bundesrechts beitragen, namentlich die Organisation der kantonalen Vollzugsbehörden, die Ausarbeitung von Entscheidungsverfahren, die Organisation von Rechtsmittelund Zwangsvollstreckungsverfahren etc. Soll sich die Regelungskompetenz des Bundes auch auf diese Aspekte des Vollzugs erstrecken, so würde sich die Umsetzung von Bundesrecht durch die Kantone nurmehr auf die reine Rechtsanwendung beschränken. Dies stünde in einem Widerspruch zu Artikel 46 BV, dessen Absatz 247 möglichst zurückhaltende Eingriffe in die kantonale Organisationshoheit postuliert.

Die beiden nachfolgenden Abschnitte der
Initiative stehen in einem unklaren Zusammenhang mit der Bundesaufgabe der Regelung und Überwachung des kantonalen Vollzugs. Der Bund soll dabei Grundsätze beachten, welche jedoch als Aufgaben der Kantone formuliert sind und in deren Organisationshoheit fallen. Es sind also die Kantone, welche die beiden Abschnitte umzusetzen hätten.

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«Der Bund belässt den Kantonen möglichst grosse Gestaltungsfreiheit und trägt den kantonalen Besonderheiten Rechnung.»

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Buchstabe a Die Initiative schlägt hier vor, was Artikel 32 des Entwurfs TSchG in etwas ausführlicherer Art ebenfalls einführen möchte, nämlich eine kantonsweise Konzentration des Vollzugs, der heute in einigen Kantonen noch auf mehrere Stellen der Verwaltung verteilt ist.

Derartige Organisationsvorschriften gehören nicht auf die Verfassungsebene, sondern eindeutig in ein Gesetz.

Buchstabe b Nicht nur in verwaltungstechnischen Belangen will die Initiative in die kantonale Organisationshoheit hineinwirken, sondern auch in die Organisation des kantonalen Strafprozesses. Ein «Tierschutzanwalt» soll in den kantonalen Strafverfahren wegen Verstössen gegen die Tierschutzgesetzgebung die Interessen der geschädigten Tiere vertreten.

Von den umliegenden Staaten kennt keiner die Institution des «Tierschutzanwalts»; die Regierung des Fürstentums Liechtenstein hat im Frühjahr 2004 in einem Vernehmlassungsentwurf zur Revision des Tierschutzgesetzes die Schaffung dieser neuen Institution vorgeschlagen.

Der Kanton Zürich hat in seinem Tierschutzgesetz von 1991 eine solche Stelle geschaffen. Kein Kanton ist seither diesem Beispiel gefolgt. Der Bundesrat hat davon abgesehen, mit dem Revisionsentwurf des TSchG den Kantonen eine solche Stelle vorzuschreiben. Jeder Kanton ist frei, seine Strafprozessorganisation diesbezüglich zu ergänzen.

Der Bundesrat liess sich aber auch vom Gedanken leiten, dass eine Vorschrift, welche von den Kantonen die Einrichtung der Stelle eines «Tierschutzanwalts» verlangt, eine Misstrauensbezeugung gegenüber den kantonalen Gerichten darstellen könnte. Es trifft zu, dass Tiere in einem Strafprozess nicht Parteirechte wahrnehmen können; aber auch die Umwelt, der Wald oder die Gewässer können bekanntlich nicht selber wegen Verletzung der jeweiligen Spezialgesetzgebung vor Gericht auftreten.

6

Würdigung der Initiative

6.1

Allgemeines

Der Bundesrat hält an der heutigen Grundkonzeption fest, nach welcher in der Verfassung nur die Kompetenz zur Regelung des Tierschutzes enthalten sein soll.

Die inhaltlichen Regelungen gehören in das Gesetz und die Verordnung. So kann sichergestellt werden, dass auf Entwicklungen in der öffentlichen Einstellung zum Tierschutz innert nützlicher Frist und mit vertretbarem Aufwand reagiert werden kann.

Der Bundesrat anerkennt, dass ein anderes Grundkonzept rechtlich möglich ist.

Danach könnten die inhaltlichen Leitplanken des staatlichen Tierschutzes auch in der Verfassung stehen. Der Initiativtext ist dazu aber nicht geeignet; er enthält viele Detailregelungen ohne ersichtliche Systematik, lässt indes ausgerechnet die Grundsätze, nach denen sich die nachgeordnete Gesetzgebung zu orientieren hätte, vermissen.

3306

Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Volksinitiative durchführbar wäre. Bei einem Teil ihrer Forderungen muss diese Frage nicht speziell geprüft werden, da sie bereits Gegenstand des geltenden Tierschutzrechts oder des bundesrätlichen Entwurfs TSchG sind. Speziell bei den Forderungen, die internationales Recht verletzen, kann aber festgehalten werden, dass auch diese Bestimmungen durchführbar wären, allerdings unter Inkaufnahme allfälliger Gegenmassnahmen, wie sie in den Kapiteln über die Völkerrechtskonformität der Initiative dargelegt werden. Es liegt an den Stimmberechtigten zu entscheiden, ob sie bereit sind, im Rahmen einer Güterabwägung schwerwiegende wirtschaftliche und politische Folgen für die Erreichung von an sich nicht zentralen Tierschutzanliegen in Kauf zu nehmen.

6.2

Der internationale Bezug

Eine Annahme der Volksinitiative durch Volk und Stände hätte gravierende Auswirkungen. Diese lägen nicht in erster Linie in den notwendigen Anpassungen des Tierschutzgesetzes (wie oben dargelegt, enthalten dieses und seine Verordnung bereits einen Teil der von der Initiative verlangten Regelungen), sondern im internationalen Vertragsrecht.

Der Gesetzgeber ist gehalten, die Verfassungsbestimmungen getreulich und vollständig umzusetzen. Das würde bedeuten, dass u.a. folgende Bestimmungen in das Tierschutzgesetz eingefügt werden müssten: ­

Transitverbot für Schlachttiere;

­

Exportverbot für Schlachttiere;

­

Einfuhrverbot für Tiere und tierische Erzeugnisse, die nicht gemäss den Grundsätzen des schweizerischen Tierschutzgesetzes gehalten bzw. produziert worden sind.

Der Gesetzgeber würde damit internationales Recht verletzen. Das Land hätte die diesbezüglichen Konsequenzen zu tragen. Es kann nicht damit gerechnet werden, dass unsere Handelspartner die neuen Einschränkungen widerspruchslos hinnehmen würden. Die EU-Behörden beobachten die Transitregelungen unseres Landes aufmerksam und würden möglicherweise eine neue Beschränkung nicht akzeptieren, sogar wenn diese keine unmittelbare Praxisänderung zur Folge hätte.

Das Ausfuhrverbot für lebende Schlachttiere verletzt zwar internationales Recht, würde aber bei seiner Umsetzung ausschliesslich die schweizerische Landwirtschaft bestrafen, die auf eine mögliche zukünftige Nachfrage aus dem Ausland nicht reagieren dürfte.

Es sind aber insbesondere die neuen Einfuhrbeschränkungen, die dramatische Konsequenzen haben könnten. Die meisten unserer wichtigen Handelspartner sind Lieferanten von tierischen Erzeugnissen wie Fleisch, Fleischwaren, Käse, Leder, Wolle. Sind diese Länder nicht willens, für ihre Exporte in die Schweiz den Nachweis zu erbringen, dass die Tiere, von denen die Erzeugnisse stammen, gemäss den Grundsätzen des schweizerischen Tierschutzgesetzes gehalten waren, so steht ihnen die Eröffnung eines Verfahrens vor der WTO offen. Dort müsste die Schweiz nachweisen, dass beispielsweise französischer Käse (Import 2003: 10 882 Tonnen) oder italienische Lederschuhe (Import 2003: für 382 Mio. Fr.) das «Leben oder die Ge-

3307

sundheit von Personen und Tieren oder die Erhaltung des Pflanzenwuchses»48 in unserem Land schädigen. Dieser Nachweis wird nicht gelingen.

Die Schweiz würde sich zusätzlich exponieren, weil sie die Einfuhr von rituell geschlachtetem Fleisch verbieten müsste, d.h. Fleisch von Tieren, die vor dem Blutentzug nicht betäubt waren. Diese neue gesetzliche Bestimmung könnte gleichzeitig vor den Organen der WTO (durch die exportierenden Länder wegen Verletzung des GATT) und dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (durch betroffene Personen) eingeklagt werden. Die Ergebnisse solcher Klagen sind voraussehbar: Das Risiko, dass die Schweiz vor beiden Instanzen verlieren würde, ist beträchtlich. Wenn sie die angefochtene Bestimmung weiterhin aufrechterhalten möchte, hat sie die entsprechenden Gegenmassnahmen zu tragen.

Eine Güterabwägung zwischen dem tierschützerischen Ziel der Verfassungsänderung und deren möglichen Folgen für das ganze Land zeigt deutlich die Disproportionalität zwischen Anlass und Folgen.

Das Tierschutzgesetz hat das Ziel, das Los der Tiere in der Schweiz zu verbessern.

Das Einfuhrverbot könnte dazu nichts beitragen, da es nicht auf schweizerische Tiere anwendbar ist, sondern auf solche, die in anderen Staaten gehalten werden, wo das schweizerische Tierschutzrecht nicht gilt.

Sicher ist es anerkennenswert, sich bei anderen Staaten dafür einzusetzen, dass sie ihr Tierschutzniveau dem hohen schweizerischen Niveau anpassen. Ein Einfuhrverbot für Tiere und tierische Erzeugnisse, die diesem schweizerischen Anspruch nicht genügen, ist aber das falsche Instrument. Der Bundesrat setzt darauf, dass Verbesserungen im Tierschutz durch intensive Mitarbeit in internationalen Gremien, vorab im Europarat, erreicht werden können.

Der Europarat hat in fünf Konventionen seine Vorstellungen vom Tierschutz kodifiziert. Die Schweiz erfüllt diese Konventionen weitgehend mit ihrer geltenden Tierschutzgesetzgebung. Darüber hinaus ist sie autonom in der Gestaltung ihres nationalen Tierschutzrechts.

Die bilateralen Verträge mit der EU betreffen den Tierschutz nicht.

6.3

Übersicht über die verletzten Völkerrechtsnormen

In den Kommentaren zu den vorgeschlagenen Bestimmungen der Initiative (Ziff. 5) und in der obenstehenden Ziffer 6.2 wird dargelegt, welche Bestimmungen bei ihrer Annahme völkerrechtlichen Verträge verletzen könnten. Die Zahl der möglichen Völkerrechtsverletzungen und die Verschiedenheit der davon betroffenen Vertragswerke lässt es angebracht erscheinen, einen Überblick zu geben.

6.3.1

Europäische Menschenrechtskonvention

Das Einfuhrverbot für Tiere und tierische Erzeugnisse, die nicht nach den Grundsätzen des schweizerischen Tierschutzrechts gehalten bzw. produziert worden sind, umfasst auch Halal- und Koscherfleisch, d.h. Fleisch, das gemäss den religiösen 48

Art. XX Bst. b Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen (GATT; SR 0.632.21).

3308

Vorschriften der muslimischen und jüdischen Glaubensgemeinschaften von Tieren stammt, die vor der Entblutung nicht betäubt worden sind. Das Verbot würde die Versorgung der genannten Religionsgemeinschaften mit so hergestelltem Fleisch verunmöglichen.

Damit würde das Verbot gegen den Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstossen. Diese Ansicht wird durch ein neueres Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte49 geteilt. Möglicherweise verstiesse das Verbot auch gegen das Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK) des gleichen Abkommens.

Würde der Gerichtshof feststellen, dass die EMRK durch das Verbot verletzt ist, müsste sich die Schweiz verpflichten, einen Zustand herzustellen, der dem EMRK wieder entspricht, d.h. sie müsste die Einfuhr von Halal- und Koscherfleisch wieder zulassen. Dazu wäre eine Verfassungsänderung notwendig.

Die Schweiz könnte sich dem Urteil durch einen Austritt aus der EMRK entziehen.

Die Kündigung mit anschliessenden Verhandlungen über einen Neubeitritt mit einem Vorbehalt, der die Beibehaltung des Einfuhrverbots ermöglichen würde, müsste als rechtsmissbräuchlich bezeichnet werden (vgl. oben Ziff. 1.3.3.3).

6.3.2

UN-Pakt II

Das in Ziffer 6.3.1 aufgeführte Einfuhrverbot würde auch gegen die Artikel 2 Absatz 1 (akzessorisches Diskriminierungsverbot) und 18 (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) des UN-Paktes II verstossen.

Der gemäss Teil IV dieses Abkommens eingesetzte Ausschuss für Menschenrechte kann Verletzungen von Rechten, die sich aus dem UN-Pakt II ableiten, zwar feststellen, aber nicht sanktionieren.

Das Abkommen ist revidierbar; gemäss seinem Artikel 51 kann jeder Vertragsstaat eine Änderung vorschlagen. Ob aber ein schweizerischer Vorschlag auf die Anpassung des UN-Paktes II im Sinne der Forderungen der vorliegenden Volksinitiative sinnvoll wäre, kann hier nicht erörtert werden.

Der UN-Pakt II ist gemäss herrschender Lehrmeinung50 nicht kündbar.

6.3.3

GATT/WTO

Folgende Forderungen der Initiative würden das Vertragswerk der WTO, insbesondere das GATT 1994, verletzen: ­

49

50

Das Einfuhrverbot für Tiere und tierische Erzeugnisse, die nicht nach den Grundsätzen des schweizerischen Tierschutzrechts gehalten bzw. produziert worden sind. Das Verbot wäre ein Verstoss gegen Artikel III GATT 1994 (Gebot der Inländergleichbehandlung), Artikel XI GATT 1994 (Verbot

Arrêt de la Cour européenne des droits de l'homme du 27 juin 2000 dans l'affaire Cha'are Shalom Ve Tsedek contre la France, publié dans: Recueil des arrêts et décisions de la Cour européenne des droits de l'homme 2000-VII.

Vgl. Ehrenzeller/Mastronardi/Schweizer/Vallender (Hrsg.), St.Galler Kommentar, Art. 139 BV, Rz 10.

3309

mengenmässiger Beschränkungen) und Artikel XX GATT 1994 (Beschränkungen im internationalen Handel).

­

Das Transitverbot für lebende Schlachttiere würde gegen Artikel V GATT 1994 (Freiheit der Durchfuhr) verstossen.

­

Das Exportverbot für Schlachttiere würde gegen Artikel XI GATT 1994 (Beseitigung der mengenmässigen Beschränkungen) verstossen.

Gegen die schweizerischen Massnahmen könnten andere Mitglieder der WTO Einspruch erheben. Die WTO kennt ein ausgeklügeltes Verfahren der Streitbeilegung (im Anhang 2 des WTO-Abkommens), das u.U. Vergeltungsmassnahmen zulassen kann, welche die schweizerische Exportwirtschaft im selben Mass schädigen könnte wie das schweizerische Einfuhrverbot die Wirtschaft der Exportländer schädigen könnte.

Das WTO-Abkommen ist revidierbar. Gemäss seinem Artikel X kann jedes Mitglied Änderungen vorschlagen. Ob ein Vorschlag, der den schweizerischen Tierschutzstandards weltweite Gültigkeit verschaffen möchte, Aussichten auf Erfolg hätte, steht hier nicht zur Diskussion.

Falls die Schweiz im Rahmen des Streitbeilegungsverfahrens nicht auf die oben angeführten Vertragswidrigkeiten zurückkommen möchte, steht ihr der Rücktritt aus der WTO offen.

6.3.4

Abkommen mit der EG über den Güter- und Personenverkehr auf Schiene und Strasse

Das Transit- und Exportverbot für lebende Schlachttiere verletzt das Abkommen über den Güter- und Personenverkehr mit der EG, aus dessen Anhang 6 («Ausnahmen von der Gewichtsbegrenzung und vom Nacht- und Sonntagsfahrverbot»), wo für Schlachtschweine und Geflügel Ausnahmen vorgesehen werden, geschlossen werden kann, dass solche Transite und Exporte generell (nämlich während der Zeiträume, in denen kein Nacht- und Sonntagsfahrverbot gilt) auch zulässig wären.

Ein Transit- und Exportverbot müsste bei einer Annahme der Volksinitiative ausdrücklich ausgesprochen werden.

Eine Änderung des Güter- und Personenverkehrsabkommens ist gemäss Artikel 55 des Abkommens möglich; eine Änderung des Anhangs 6 kann der Gemischte Ausschuss51 vornehmen. Allerdings schreibt das Abkommen vor, dass sich der Ausschuss «in gegenseitigem Einvernehmen» äussert. Ob die EU zu einer Aufnahme des Transitverbots Hand bieten würde, kann hier nicht erörtert werden.

Die sektoriellen Abkommen im Rahmen der bilateralen Abkommen sind bekanntlich nicht einzeln kündbar. Eine sog. Guillotineklausel bindet sie aneinander. Wenn die Schweiz das Landverkehrsabkommen künden möchte, muss sie alle Bestandteile der bilateralen Verträge künden.

51

Gemischter Landverkehrsausschuss Gemeinschaft/Schweiz, Art. 51 des Abkommens.

3310

6.4

Finanzielle und personelle Auswirkungen

Ein Teil der Forderungen der Initiative ist bereits im geltenden Gesetz und seiner Verordnung bzw. im Revisionsentwurf für das Gesetz enthalten, bringt also keine neuen Vollzugsaufgaben. Dies betrifft auch die Organisation des Vollzugs in Bund und Kantonen.

Dem Bund entstehen bei einer Annahme der Initiative keine wiederkehrenden Aufwendungen.

Neu ist, dass die Kantone die Stelle eines Tierschutzanwalts schaffen müssten, der in Strafverfahren wegen Verstössen gegen die Tierschutzgesetzgebung die Interessen der geschädigten Tiere zu vertreten hat.

Die Kosten, die den Kantonen dadurch entstehen würden, können nur schwer beziffert werden. Anhand der folgenden Zahlen kann höchstens approximativ abgeschätzt werden, welcher Aufwand auf welchen Kanton zukommen wird: Im Jahr 2002 wurden dem BVET von den Kantonen 337 Strafverfahren im Bereich des Tierschutzes gemeldet (2001: 296 Verfahren). Rund ein Drittel davon stammte aus dem Kanton Zürich, die restlichen zwei Drittel verteilten sich mehr oder weniger regelmässig auf die anderen Kantone, mit recht hohen Zahlen in St. Gallen, Aargau, Bern, Luzern und Basel-Stadt. Der Kanton Zürich hat im Jahr 2003 rund 60 000 Franken für die Entschädigung des Rechtsanwalts in Tierschutzstrafsachen aufgewendet. Auch die Kantone mit nur vereinzelten Tierschutz-Straffällen müssten ihre Strafprozessordnung ändern und einen Tierschutzanwalt bestimmen.

6.5

Volkswirtschaftliche Auswirkungen

Ein guter Teil der Forderungen der Initiative ist heute schon durch das TSchG oder die TSchV erfüllt oder bildet Bestandteil der bundesrätlichen Revisionsvorlage des TSchG. In diesen Bereichen hätte eine Annahme der Initiative keine zusätzlichen volkswirtschaftlichen Auswirkungen. Hingegen muss hier auf einige wirtschaftliche Probleme verwiesen werden, die direkt oder indirekt aus einer Umsetzung der Initiative erwachsen würden: Die Tendenz der Initiative, das Schutzniveau der Tiere zu erhöhen, ist aus volkswirtschaftlicher Sicht bedenklich. Jede neue Tierschutzmassnahme verteuert die Produktion und damit die Preise der entsprechenden Produkte. Der Nationalrat hat mit der Überweisung der Motion 99.312252 einem Auflagenmoratorium für den landwirtschaftlichen Tierschutz zugestimmt, nicht zuletzt mit der Absicht, Wettbewerbsverzerrungen im Vergleich mit ausländischen Produzenten zu verhindern. Der Bundesrat hat seinen Revisionsentwurf für das TSchG auf dieses Moratorium ausgerichtet; er ist der Ansicht, dass ein verbesserter Vollzug mit neuen Instrumenten letztlich den Tieren mehr bringe als neue Schutzanordnungen, für welche das bestehende Instrumentarium keine Garantie eines strikten und rechtsgleichen Vollzugs bieten kann.

Der forschenden Industrie und den Hochschulen entstehen mit der Annahme der Initiative neue Kosten durch das inländische Verbot schwerbelastender Tierversuche, die ins Ausland verlegt werden müssen.

52

99.3122, Landwirtschaftliches Auflagenmoratorium, vom Nationalrat als Motion angenommen, vom Ständerat als Postulat überwiesen.

3311

Es sind aber vor allem die von der Initiative verlangten Handelsrestriktionen, die bei ihrer Umsetzung gravierende volkswirtschaftliche Auswirkungen hätten. Einerseits müssten die Konsumentinnen und Konsumenten für tierische Erzeugnisse höhere Preise bezahlen, da die einheimische Wirtschaft nur bedingt in der Lage wäre, die massiven Einfuhrausfälle zu kompensieren und sich dadurch der Markt verknappen könnte, andererseits hätten die zu erwartenden Gegenmassnahmen der Exportländer direkte Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit schweizerischer Exportprodukte; ein so behinderter Wettbewerb könnte negative Auswirkungen auf das schweizerische Wirtschaftswachstum haben.

7

Haltung des Bundesrates

7.1

Allgemeines

Die staatlichen Vorschriften über den Tierschutz stehen von jeher in einem Spannungsfeld zwischen den Ansprüchen der Personen, welche Tiere nutzen, und derjenigen, welche die Tiere von schädigenden Einflüssen des Menschen schützen wollen. Seit die Schweiz ein Tierschutzgesetz erlassen hat, also seit mehr als 25 Jahren, fokussiert sich diese Spannung auf die Regelungsdichte und das Schutzniveau dieser Gesetzgebung.

Bundesrat und Parlament haben versucht, einen gangbaren Mittelweg zu finden zwischen Tiernutzung und Tierschutz. Der staatliche Tierschutz soll einerseits die Tiere vor unzumutbarem Leiden bewahren, andererseits die Lasten für die Tiernutzer, insbesondere aus Landwirtschaft und Forschung, tragbar gestalten.

Verschiedene Anläufe haben gezeigt, dass zwischen den beiden Zielen nur in seltenen Fällen ein Kompromiss möglich ist. Ein solcher hätte sich beispielsweise bei der parlamentarischen Beratung der Volksinitiative «zur drastischen und schrittweisen Einschränkung der Tierversuche (Weg vom Tierversuch!)»53 abzeichnen können, als die Räte als indirekten Gegenvorschlag den sechsten Abschnitt des Tierschutzgesetzes («Tierversuche») verschärften; trotzdem insistierte das Initiativkomitee auf einer Volksabstimmung, die es verlor.

Der Bundesrat hat seine Botschaft vom 9. Dezember 2002 zur Revision des Tierschutzgesetzes auf der Maxime aufgebaut: Keine Senkung oder Anhebung des Schutzniveaus, dafür Verbesserung des Vollzugs mit neuen Instrumenten. Er konnte sich dabei auf den Inspektionsbericht54 vom 5. November 1993 der Geschäftsprüfungskommission des Ständerates berufen, aber auch die von den Räten als Postulat überwiesene Motion 99.3122, die ein Auflagenmoratorium für die Landwirtschaft fordert. Trotzdem verlangten in der Vernehmlassung Tierschutzorganisationen zum Teil erhebliche Erhöhungen des Schutzniveaus.

Der Bundesrat anerkennt, dass die Tierschutzorganisationen eine Haltung vertreten, die das Tier in das Zentrum stellt. Auch wenn diese Haltung oft von der gewachsenen Einstellung vieler Menschen zum Tier als Nahrungsmittellieferant und als Arbeitshilfe abweicht, findet sie in der Bevölkerung eine recht grosse Verankerung.

53 54

BBl 1992 III 723; die Initiative wurde am 16. Februar 1992 mit 1 117 236 Nein gegen 864 898 Ja abgelehnt.

BBl 1994 I 618

3312

7.2

Bezug zur laufenden Revision des Tierschutzgesetzes

Die Volksinitiative ist nicht die Antwort auf die Botschaft des Bundesrates vom 9. Dezember 2002 zur Revision des Tierschutzgesetzes. Die Unterschriftenliste zur Initiative wurde am 29. November 2001 bei der Bundeskanzlei eingereicht, also während der Vernehmlassungsfrist zum Vorentwurf der Revision des Tierschutzgesetzes.

Mit seiner Botschaft vom 9. Dezember 2002 zur Revision des Tierschutzgesetzes nimmt der Bundesrat die Anregungen der Geschäftsprüfungskommission und einer Arbeitsgruppe sowie die Ergebnisse eines grossangelegten Vernehmlassungsverfahrens auf und legt den eidgenössischen Räten einen ausgewogenen Vorschlag vor, wie das Gesetz den modernen Ansprüchen an den Tierschutz genügen könnte. Der Bundesrat ist sich bewusst, dass sein Vorschlag von Tierschutzorganisationen kritisiert wird; der staatliche Tierschutz ist aber immer ein Mittelweg zwischen der Optimierung der Tierhaltung und den Ansprüchen derjenigen Personen, welche Tiere halten und nutzen.

In einer Mitteilung vom Februar 2003 stellt der Schweizer Tierschutz STS «Kernforderungen» auf, die er «als Ausgangspunkt und Diskussionsbasis für die vom Schweizer Tierschutz STS angestrebte Zusammenarbeit mit den gesetzgebenden Behörden im laufenden Revisionsverfahren» einstuft.

Diese «Kernforderungen» laut der STS-Mitteilung können wie folgt beurteilt werden:

55

­

Aufnahme der «Würde des Tieres» in das Tierschutzgesetz: Dies ist in Artikel 1 des Revisionsentwurfs geschehen.

­

Ausbau von Ausbildung und Information: Diese Forderung ist nicht Gegenstand der Initiative. Ausbildung und Information wird durch Artikel 5 des Revisionsentwurfs ermöglicht.

­

Förderung der Freilandhaltung von Nutztieren: Der Auslauf ist gemäss Artikel 18 TSchV seit 1997 für Rindvieh, das angebunden gehalten wird, obligatorisch. Er wird seit 1993 über die Landwirtschaftsgesetzgebung durch finanzielle Anreize gefördert und ist seit 1998 auch Gegenstand der RAUSVerordnung des EVD, die auf alle Nutztierarten anwendbar ist.

­

Bewilligung der Aufstallungssysteme auch für Pferdehaltungen: Diese Forderung ist nicht Gegenstand der Initiative.

­

Aufnahme eines Zuchtartikels: Die eidgenössischen Räte haben im Rahmen der Schaffung des Gentechnikgesetzes am 21. März 2003 einen neuen Artikel 7a in das TSchG eingefügt, der dieses Anliegen erfüllt; der neue Artikel war schon Bestandteil der bundesrätlichen Botschaft vom 1. März 200055.

­

Tierschutzkonforme Importe: Gemeint ist, dass die Haltung bzw. Herstellung von ausländischen Tieren und tierischen Produkten, die in die Schweiz ausgeführt werden sollen, nach den Regeln des schweizerischen Tierschutzrechts erfolgen müsse. Diese «Kernforderung» wird strikte abgelehnt.

BBl 2000 2391

3313

­

Regelung des Imports von Koscher- und Halalfleisch im Landwirtschaftsgesetz: Der Schweizer Tierschutz STS macht mit dieser Kernforderung einen Rückzieher in Bezug auf seine Volksinitiative, die ein Importverbot stipuliert. Tatsächlich haben die eidgenössischen Räte im Rahmen der Agrarpolitik 2007 am 20. Juni 200356 eine Einfuhrregelung in Artikel 9 Absatz 1 TSchG eingefügt.

­

Beschränkung von Tiertransporten: Der Bundesrat ist gemäss Artikel 10 Absatz 2 TSchG beauftragt, den tierschutzkonformen Tiertransport zu regeln. Er hat dies in den Artikeln 52­56 der TSchV ausführlich getan. Der Revisionsentwurf des Gesetzes sieht zudem vor, dass der Bundesrat «die Anforderungen an die Ausbildung des mit der Beförderung betrauten Personals regeln» kann.

­

Tierversuche: Konkretisierung des «unerlässlichen Masses», Verbot von schwerstbelastenden Versuchen: Der Bundesrat hat das unerlässliche Mass von Tierversuchen schon 1991 in Artikel 61 TSchV geregelt. Dieses ist nicht Gegenstand der Initiative. Schwerbelastende Versuche werden nach dieser Regelung nur noch durchgeführt, wo solche tatsächlich unerlässlich sind.

Ein Teilverbot von Tierversuchen ist abzulehnen.

­

Tiere töten nur durch ausgebildetes Personal; Betäubungspflicht für alle Schlachttiere: Der erste Teil dieser Kernforderung kann und soll nicht erfüllt werden (siehe Ziff. 5.2.4); der zweite Teil ist für Säugetiere bereits im geltenden TSchG (Art. 20 Abs. 1) erfüllt. Für andere Tierarten, die der menschlichen Ernährung dienen (Fische, Geflügel), wird eine generelle Betäubungspflicht abgelehnt (vgl. Ziff. 5.2.4).

­

Gesamtschweizerische Gültigkeit von Tierhalteverboten: Diese ist durch Artikel 21 Absatz 2 des Revisionsentwurfs vorgesehen. Die Initiative enthält keine derartige Forderung.

­

Einsetzen von Tierschutzanwälten: Der Bundesrat will davon absehen, in die kantonale Strafprozesshoheit einzugreifen. Jeder Kanton ist heute schon berechtigt, eine solche Funktion zu schaffen.

­

Schaffung kantonaler Tierschutzfachstellen: Der Revisionsentwurf sieht in Artikel 32 je eine zentrale kantonale Fachstelle für den Vollzug vor. Diese soll allerdings sinnvollerweise eine kantonale Verwaltungsstelle unter kantonstierärztlicher Leitung sein und nicht «selbständig und unabhängig arbeiten».

­

Zielvereinbarung und Leistungsauftrag als neue Vollzugsinstrumente: Solche Instrumente sind nicht Gegenstand der Initiative. Diese neuen Instrumente sind in den Artikeln 36 und 37 des Revisionsentwurfs enthalten.

Es fällt auf, dass ein Teil dieser Kernforderungen des STS im Widerspruch zur der STS-Volksinitiative stehen oder dort nicht erwähnt sind. Am auffälligsten ist dies bei der Forderung nach einer Importregelung für Koscher- und Halalfleisch.

Wenn davon ausgegangen wird, dass die laufende Revision des Tierschutzgesetzes in der vom Bundesrat vorgeschlagenen Form gutgeheissen wird, dann ist festzustellen, dass ein grosser Teil der Forderungen des STS, handle es sich um jene der 56

AS 2003 4181

3314

Volksinitiative oder um jene der «Kernforderungen» vom Februar 2003, darin enthalten sind. Jene Forderungen, die nach der Auffassung des Bundesrates nicht Bestandteil der Bundesverfassung, des Gesetzes oder der Verordnung werden können, sollen aus den in Ziffer 5 dargelegten Gründen nicht übernommen werden, teils weil sie internationales Recht verletzen, teils wegen ihrer Zusatzbelastung für die kantonalen Vollzugsorgane oder aus anderen sachlich gerechtfertigten Gründen.

7.3

Die Frage eines Gegenvorschlags

Der Bundesrat hat die Frage geprüft, ob als Alternative zur Initiative ein Gegenvorschlag auf Verfassungsstufe zu erarbeiten sei. Er kommt zum Schluss, dass darauf zu verzichten sei.

In Ziffer 2 hat der Bundesrat dargelegt, weshalb er die heutige Regelung, nämlich die Erteilung einer Gesetzgebungskompetenz in der Bundesverfassung und die Regelung des Umfangs sowie des Niveaus des Tierschutzes in Gesetz und Verordnung, als richtig erachtet. Er betrachtet auch die in Artikel 80 Absatz 2 BV aufgeführten Regelungsbereiche als ausreichend, um alle notwendigen Aspekte des Tierschutzes umfassend und sinnvoll zu regeln.

In Bezug auf einen indirekten Gegenvorschlag sind dem Bundesrat die Hände gebunden. Artikel 73 Absatz 3 des Bundesgesetzes vom 13. Dezember 2002 über die Bundesversammlung verbietet es dem Bundesrat, einen Beratungsgegenstand, den er im Parlament eingebracht hat, zurückzuziehen. Der Bundesrat hat seine Botschaft über die Revision des Tierschutzgesetzes mehr als ein halbes Jahr vor der Einreichung der Volksinitiative beschlossen. Er darf diese Botschaft nicht mehr zurückziehen.

Es ist indessen in Betracht zu ziehen, dass diese Vorlage einen grossen Teil der Anliegen der Volksinitiative auf Gesetzesstufe umsetzt. Die wenigen Begehren der Initiative, die darin nicht enthalten sind, werden aus formalen Gründen (vor allem wegen Verletzung von Völkerrecht, aber auch wegen Eingriffen in die kantonale Organisationshoheit) oder aus sachlichen Überlegungen abgelehnt. Die Gründe dafür sind in Ziffer 5 einzeln aufgeführt.

Würde der Bundesrat beauftragt, einen indirekten Gegenvorschlag auf Gesetzesstufe auszuarbeiten, so würde dieser voraussichtlich nicht anders aussehen als der Revisionsvorschlag, der sich in parlamentarischer Beratung befindet. Der Bundesrat schlägt den Räten deshalb vor, den Gesetzesentwurf vom 9. Dezember 2002 als indirekten Gegenvorschlag zur Initiative einzustufen.

8

Schlussfolgerungen

Der Tierschutz ist in Artikel 80 BV auf eine Art geregelt, die es dem Gesetzgeber ermöglicht, das Niveau des Schutzes, der den Tieren zukommen soll, auf der adäquaten gesetzlichen Ebene, nämlich im Tierschutzgesetz und in der Tierschutzverordnung zu bestimmen.

Die Volksinitiative «Für einen zeitgemässen Tierschutz (Tierschutz ­ Ja!)» möchte dieses Regelungsprinzip umstossen und die Regelungsbereiche durch eine Reihe von Grundsätzen ersetzen, nach denen sich die nachfolgende Gesetzgebung auszurichten 3315

hätte. Diese Grundsätze wirken recht arbiträr ausgelesen und umfassen nicht einmal alle Grundsätze, die schon im Tierschutzgesetz von 1978 enthalten sind. Teilweise werden Handlungsanweisungen als Grundsätze bezeichnet, die heute auf Verordnungsniveau geregelt sind, teilweise verletzen diese Grundsätze Völkerrecht, teilweise sind sie aus anderen, sachlichen Gründen abzulehnen.

Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die Initiative «Für einen zeitgemässen Tierschutz (Tierschutz ­ Ja!)» ohne direkten Gegenvorschlag abzulehnen ist. Wenn die Räte in der Vorlage vom 9. Dezember 2002 zur Revision des Tierschutzgesetzes einen indirekten Gegenvorschlag zur Initiative sehen wollen, so kann sich der Bundesrat dieser Haltung anschliessen.

3316