04.018 Botschaft über die Gewährleistung der Verfassung des Kantons Graubünden vom 5. März 2004

Sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen hiermit den Entwurf zu einem einfachen Bundesbeschluss über die Gewährleistung der Verfassung des Kantons Graubünden mit dem Antrag auf Zustimmung.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

5. März 2004

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Joseph Deiss Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

2003-2485

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Übersicht Nach Artikel 51 Absatz 1 der Bundesverfassung gibt sich jeder Kanton eine demokratische Verfassung. Diese bedarf der Zustimmung des Volkes und muss revidiert werden können, wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten es verlangt. Nach Absatz 2 des gleichen Artikels bedürfen die Kantonsverfassungen der Gewährleistung des Bundes. Die Gewährleistung wird erteilt, wenn die Kantonsverfassung dem Bundesrecht nicht widerspricht. Erfüllt eine kantonale Verfassung diese Anforderungen, so ist die Gewährleistung zu erteilen; erfüllt eine kantonale Verfassungsnorm eine dieser Voraussetzungen nicht, so ist die Gewährleistung zu verweigern.

Die Stimmberechtigten des Kantons Graubünden haben in den Volksabstimmungen vom 18. Mai und vom 14. September 2003 die totalrevidierte Kantonsverfassung angenommen. Die neue Verfassung präsentiert sich sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht als ein neuzeitliches Grundgesetz. Sie weist eine klare Systematik auf, und der Text ist den wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten unserer Zeit angepasst. Die Verfassung zeichnet sich ausserdem durch materielle Neuerungen aus, die dazu beitragen, dass sie mehr als nur eine Nachführung darstellt. Dazu gehören das Bekenntnis zur Dreisprachigkeit, die Verstärkung der regionalen Zusammenarbeit, der Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit sowie Vereinfachungen bei den Zuständigkeiten für die Rechtsetzung. Hervorzuheben ist ausserdem die grundlegende Neuordnung der politischen Rechte, die namentlich folgende Punkte umfasst: Wechsel vom obligatorischen zum fakultativen Referendum; Senkung der Unterschriftenzahl für Initiativen; Kompetenz der Gemeinden, Ausländerinnen und Ausländern das Stimm- und Wahlrecht zu gewähren; Verdoppelung des Betrags für das obligatorische Finanzreferendum; Ermöglichung von Grundsatz- und Variantenabstimmungen.

Die Prüfung hat ergeben, dass sämtliche Verfassungsartikel die Voraussetzungen für die Gewährleistung erfüllen. In dieser Botschaft wird daher im Einzelnen lediglich auf Bestimmungen eingegangen, die in einem direkten Verhältnis zu bundesrechtlich geregelten Materien stehen.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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1 Geschichtlicher Werdegang der Totalrevision

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2 Aufbau und Inhalt der Verfassung

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3 Voraussetzungen für die Gewährleistung 3.1 Allgemeines 3.2 Annahme durch das Volk 3.3 Revidierbarkeit 3.4 Demokratische Verfassung 3.5 Bundesrechtmässigkeit 3.5.1 Allgemeines 3.5.2 Aufbau und Gliederung des Kantons 3.5.3 Grundrechte 3.5.4 Öffentliche Aufgaben 3.5.5 Behördenorganisation und Verfahren 3.6 Zusammenfassung

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4 Verfassungsmässigkeit

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Bundesbeschluss über die Gewährleistung der Verfassung des Kantons Graubünden (Entwurf)

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Verfassung des Kantons Graubünden

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Botschaft 1

Geschichtlicher Werdegang der Totalrevision

In der Volksabstimmung vom 28. September 1997 beschlossen die Stimmberechtigten des Kantons Graubünden, ihre Verfassung vom 2. Oktober 1892 einer Totalrevision zu unterziehen. Zur Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfes setzte die Regierung eine 30 Mitglieder umfassende Kommission ein. Im Rahmen eines breiten Vernehmlassungsverfahrens hatten die Bevölkerung und interessierte Organisationen die Gelegenheit, sich zum Entwurf der Verfassungskommission zu äussern. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse arbeitete die Regierung einen Vorentwurf für eine neue Verfassung aus. Der Grosse Rat hat die neue Verfassung im Jahre 2002 während vier Sessionen beraten und schliesslich mit 90 zu einer Stimme beschlossen, sie den Stimmberechtigten zu unterbreiten. Da sich während der parlamentarischen Beratungen der Wahlmodus als Stein des Anstosses erwies, entschied der Grosse Rat, den Stimmberechtigten eine Variante vorzulegen, die es ermöglicht, sich für die Beibehaltung des bisherigen Wahlsystems (Majorzsystem) auszusprechen oder das neue «Bündner Modell» zu wählen. Der Grosse Rat wählte für die Abstimmung das gleiche Vorgehen wie bei einem Gegenvorschlag zu einer Initiative. Eine klare Mehrheit sprach sich für die beiden Hauptfragen aus. Die Variante «Kantonsverfassung und Majorzsystem» erhielt 26 814 Ja gegen 13 368 Nein, die Variante «Kantonsverfassung und Bündner Modell» erhielt 26 622 Ja gegen 13 195 Nein. Was die Stichfrage betrifft, so erhielt das «Bündner Modell» eine sehr knappe Mehrheit von 12 Stimmen (20 441 Stimmen gegen 20 429). Eine Nachzählung der Stimmen, die auf Grund einer Beschwerde erfolgte, liess das Pendel mit einem Unterschied von 24 Stimmen auf die Seite des Majorzsystems ausschlagen. Mit einer Beschwerde gegen die Nachzählung konfrontiert, annullierte die Regierung diese und ordnete eine zweite Volksabstimmung über die Stichfrage an. Schliesslich siegte der Status quo: Dem Majorzsystem wurde in der Abstimmung vom 14. September 2003 gegenüber dem «Bündner Modell» mit 16 498 gegen 14 318 Stimmen der Vorzug gegeben.

Mit Schreiben vom 26. September 2003 ersucht die Staatskanzlei des Kantons Graubünden um die eidgenössische Gewährleistung.

2

Aufbau und Inhalt der Verfassung

Mit der neuen Verfassung wurde eine bürgerfreundliche Staatsorganisation angestrebt, eine effiziente Ordnung der Zuständigkeiten auf allen staatlichen Ebenen (Kanton, Regionen, Gemeinden) sowie demokratische und gleichzeitig sach- und zeitgerechte Entscheidverfahren. Die neue Verfassung ist den Bedürfnissen der heutigen Zeit angepasst und in einer für die Bürgerinnen und Bürger verständlichen Sprache formuliert und strukturiert. Im Vergleich zur Verfassung von 1892 stellt das neue Grundgesetz mehr als nur eine formale Verbesserung dar. Die wichtigsten materiellen Neuerungen können wie folgt zusammengefasst werden: ­

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Die Dreisprachigkeit wird klar bekräftigt; das Deutsche, das Rätoromanische und das Italienische werden als gleichwertige Landes- und Amtssprachen anerkannt; die Minderheitssprachen (Rätoromanisch und Italienisch) werden

geschützt, und die Autonomie der Gemeinden und der Kreise bei der Bestimmung ihrer Amts- und Schulsprachen wird ausdrücklich verankert.

­

Die politischen Rechte werden verstärkt und mit verschiedenen Massnahmen aufeinander abgestimmt. Die Gemeinden haben die Möglichkeit, Ausländerinnen und Ausländern in Gemeindeangelegenheiten das Stimmrecht sowie das aktive und das passive Wahlrecht zu verleihen. Eine bestimmte Anzahl von Gemeinden kann eine Initiative einreichen, womit dünn besiedelte Gebiete und Randregionen gestärkt werden. Mit dem Wechsel vom obligatorischen zum fakultativen Referendum wird die Zahl der notwendigen Unterschriften gesenkt. Aus Gründen der Kohärenz wird die Höhe der dem Finanzreferendum unterstehenden Beträge verdoppelt. Schliesslich kann das Parlament künftig Grundsatz- sowie Variantenabstimmungen beschliessen.

­

Die regionale Zusammenarbeit wird verstärkt.

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Die Rechtsgrundlage für die Suspendierung und die Amtsenthebung von Behördenmitgliedern wird in der Verfassung verankert.

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Die Gesetzgebungskompetenzen werden vereinfacht. Auf Grund des Wechsels zum fakultativen Referendum wird die Verordnungskompetenz des Grossen Rates eingeschränkt und damit die direkte Demokratie gestärkt.

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Die Unabhängigkeit der Justiz wird gestärkt.

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Mit dem Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit wird der Rechtsschutz der Bürgerinnen und Bürger gestärkt.

­

Die Gemeindeautonomie wird künftig in der Verfassung ausdrücklich verankert.

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Die wichtigsten und längerfristigen Aufgaben des Staates werden aufgeführt; dazu gehören namentlich die dezentrale Besiedlung des Kantons und der Schutz der dünn besiedelten Gebiete und der Randregionen.

Im Gegensatz zur alten enthält die neue Verfassung eine Präambel, die den Geist der Verfassung zum Ausdruck bringt und eine Leitlinie für die staatliche Tätigkeit darstellt. Die folgenden 107 Artikel sind in 10 Titel unterteilt: Allgemeine Bestimmungen und Grundsätze des staatlichen Handelns, Grundrechte und Sozialziele, Politische Rechte, Behörden und Gerichte, Gliederung des Kantons, Öffentliche Aufgaben, Finanzordnung, Staat und Kirchen, Änderung der Kantonsverfassung sowie Schlussbestimmungen.

Im ersten Titel (Art. 1­6) wird der Kanton Graubünden als freiheitlicher, demokratischer und sozialer Rechtsstaat definiert, es werden die Beziehungen zum Bund, zu den Kantonen und zum Ausland festgelegt, die Sprachen des Kantons geregelt, die Gewaltentrennung und Gewaltenhemmung verankert sowie die Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns festgelegt und der Grundsatz der individuellen Verantwortlichkeit festgehalten.

Der zweite Titel (Art. 7 und 8) garantiert die Grundrechte im Rahmen der Bundesverfassung und der für die Schweiz verbindlichen internationalen Abkommen.

Ausserdem werden Verfahrensgarantien und Rechtsschutz gewährleistet.

Der dritte Titel (Art. 9­20) regelt die politischen Rechte. Er bestimmt das Stimmund Wahlrecht sowie die Grundsätze im Bereich der Wahlen und Abstimmungen. Er 1111

behandelt das Initiativ- und das Referendumsrecht und anerkennt die Rolle der politischen Parteien.

Der vierte Titel (Art. 21­59) führt die Wählbarkeitsvoraussetzungen, die Fälle der Unvereinbarkeit und der Immunität sowie die Amtsdauer für die verschiedenen Funktionen auf. Er legt Organisation und Aufgaben des Parlaments (Grosser Rat), der Regierung und der Gerichte fest. Er regelt ausserdem die Ausübung der Mitwirkungsrechte im Bund (Wahl des Ständerats, Kantonsreferendum und Standesinitiative).

Der fünfte Titel (Art. 60­74) legt die Grundsätze der Organisation des Kantons fest.

Es werden die Gemeindearten aufgezählt (Politische Gemeinden und Bürgergemeinden), die allgemeinen Grundsätze für den Zusammenschluss von Gemeinden festgelegt und die interkommunale Zusammenarbeit gefördert. Die Gemeindeautonomie wird verankert; es werden die Organe genannt, über die eine Gemeinde verfügen muss, und es wird der Umfang der Aufsicht des Staates über die Gemeinden und über die Träger der interkommunalen Zusammenarbeit festgelegt. Im gleichen Titel werden ferner die territoriale Aufteilung des Kantons in Bezirke und Kreise konkretisiert sowie die Schaffung von Regionalverbänden ermöglicht. Stellung, Aufgaben und Organisation der Bezirke, der Kreise und der Regionalverbände sowie die Aufsicht über sie werden summarisch festgelegt.

Der sechste Titel (Art. 75­92) ist den öffentlichen Aufgaben gewidmet. Er enthält zunächst die allgemeinen Grundsätze und präzisiert die öffentlichen Aufgaben danach in folgenden Bereichen: Gewährleistung der öffentlichen Ordnung; Raumplanung, Umwelt, Energie, Verkehr und Telekommunikation; Wirtschaft; Soziales, Gesundheit und Familie; Bildung, Kultur und Freizeit; internationale Zusammenarbeit.

Der siebte Titel (Art. 93­97) ist der Finanzordnung gewidmet. Der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit wird verankert, es werden die Steuerkompetenzen des Kantons und der Gemeinden festgelegt sowie die Grundsätze der Besteuerung und des Finanzausgleichs festgehalten. Die Finanzaufsicht wird dem Grossen Rat übertragen, der durch ein unabhängiges Kontrollorgan untersützt wird.

Im achten Titel (Art. 98­100) werden die evangelisch-reformierte und die römischkatholische Kirche öffentlich-rechtlich anerkannt. Im Rahmen des kantonalen Rechts wird ihnen Autonomie zuerkannt, namentlich
können sie von ihren Mitgliedern Steuern erheben.

Der neunte Titel (Art. 101) enthält die Bestimmungen über Total- und Teilrevision der Verfassung.

Im zehnten Titel (Art. 102­107) sind die Übergangs- und die Schlussbestimmungen festgelegt.

3

Voraussetzungen für die Gewährleistung

3.1

Allgemeines

Nach Artikel 51 Absatz 1 der Bundesverfassung (BV) gibt sich jeder Kanton eine demokratische Verfassung. Diese bedarf der Zustimmung des Volkes und muss revidiert werden können, wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten es verlangt.

Nach Absatz 2 des gleichen Artikels bedürfen die Kantonsverfassungen der Gewähr1112

leistung des Bundes. Die Gewährleistung wird erteilt, wenn die Kantonsverfassung dem Bundesrecht nicht widerspricht. Erfüllt eine kantonale Verfassung diese Anforderungen, so ist die Gewährleistung zu erteilen; erfüllt eine kantonale Verfassungsnorm eine dieser Voraussetzungen nicht, so ist die Gewährleistung zu verweigern.

3.2

Annahme durch das Volk

Die neue Bündner Verfassung wurde dem Volk am 18. Mai 2003 zur Abstimmung unterbreitet; die Abstimmung über die Variante wurde am 14. September 2003 wiederholt. Die Stimmberechtigten des Kantons Graubünden haben die neue Verfassung angenommen (vgl. Ziff. 1).

Artikel 51 Absatz 1 BV, der die Zustimmung des Volkes zur Kantonsverfassung verlangt, ist daher erfüllt.

3.3

Revidierbarkeit

Artikel 101 regelt in Verbindung mit den Artikeln 9 und 12 der neuen Verfassung das Verfahren der Verfassungsrevision. Die Totalrevision oder die Teilrevision der Kantonsverfassung kann sowohl vom Grossen Rat als auch vom Volk verlangt werden (Art. 101 Abs. 3). Nach Artikel 12 Absatz 1 können 4000 Stimmberechtigte eine Teil- oder Totalrevision der Verfassung verlangen. Die freie Revidierbarkeit der Verfassung im Sinne von Artikel 51 Absatz 1 BV ist damit sichergestellt.

3.4

Demokratische Verfassung

Eine kantonale Verfassung genügt den Anforderungen an die demokratische Ausgestaltung, wenn sie ein gewähltes Parlament vorsieht und den Grundsatz der Gewaltenteilung beachtet (BBl 1997 I 218). Nach Artikel 39 Absatz 1 BV fällt die Regelung der Ausübung der politischen Rechte auf kantonaler Ebene in die Kompetenz der Kantone. Bei der Ausübung dieser Kompetenz sind die Kantone jedoch verpflichtet, gewisse materielle bundesrechtliche Regelungen zu beachten, so namentlich den Gleichheitsgrundsatz nach Artikel 8 BV und den Grundsatz des allgemeinen und gleichen Stimm- und Wahlrechts (BBl 2001 2489; BGE 129 I 185 ff.; Ulrich Häfelin/Walter Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 5. Auflage, Zürich 2001, Rz. 1016). Bei der Verwirklichung des Grundsatzes der Gewaltenteilung besteht ein grosser Gestaltungsspielraum; die Art und Weise, wie die Kantone diesen Grundsatz in ihrem Verfassungsrecht verwirklichen, fällt denn auch in ihre Kompetenz (BBl 1995 I 977).

Artikel 11 Ziffer 1 der neuen Verfassung sieht vor, dass die Mitglieder des Grossen Rates sowie deren Stellvertreterinnen und Stellvertreter vom Volk, d.h. von allen Personen, die nach Artikel 9 stimmberechtigt sind, gewählt werden. Nach Artikel 9 der Bündner Verfassung steht das Stimmrecht auf kantonaler Ebene den im Kanton wohnhaften Schweizerinnen und Schweizern zu, die das 18. Altersjahr zurückgelegt haben und nicht wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind (Abs. 1 und 2). Das Stimmrecht der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer wird im Gesetz geregelt (Abs. 3).

1113

Artikel 9 Absatz 1 der neuen Verfassung entspricht der fast in allen Kantonen geltenden Regelung, die faktisch durch Artikel 39 Absatz 3 BV vorgegeben wird, wonach die Ausübung der politischen Rechte in mehr als einem Kanton untersagt ist.

Unter den politischen Rechten, welche die neue Verfassung den Stimmberechtigten des Kantons Graubünden zugesteht, sind neben dem Recht, die Mitglieder des Grossen Rates zu wählen (Art. 11 Ziff. 1), das Recht, die Mitglieder der Regierung (Art. 11 Ziff. 2) und die Vertretung des Kantons Graubünden im Ständerat (Art. 11 Ziff. 3) sowie weitere Behördenmitglieder (Art. 11 Ziff. 4­8) zu wählen, das Recht, eine Verfassungs- oder Gesetzesinitiative oder eine andere Initiative zu einem Beschluss zu ergreifen (Art. 12), sowie das obligatorische (Art. 16) und das fakultative (Art. 17) Referendum zu erwähnen.

Die in den Artikeln 21 ff. festgelegte Behördenorganisation des Kantons Graubünden (vgl. dazu auch Ziff. 3.5.5) entspricht in allen Teilen dem Grundsatz der Gewaltenteilung, der überdies ausdrücklich verankert wird (Art. 4).

Nach Artikel 27 Absatz 2 der Verfassung des Kantons Graubünden erfolgt die Wahl des Grossen Rates nach dem Mehrheitswahlverfahren und nach Artikel 27 Absatz 3 bilden die Kreise die Wahlkreise. Die Stimmberechtigten haben es in der Variantenabstimmung, die am 14. September 2003 wiederholt wurde, abgelehnt, vom bisherigen Majorzwahlsystem abzurücken und das von der Regierung vorgeschlagene «Bündner Modell», das ein Mischsystem von Majorz- und Proporzmerkmalen enthielt, verworfen. Neben dem Kanton Graubünden kennt nur der Kanton Appenzell Innerrhoden ein reines Majorzverfahren für die Wahl der Mitglieder des Parlaments; einige Kantone haben ein Mischverfahren (so namentlich Appenzell Ausserrhoden, wo die Gemeinden das Proporzverfahren einführen können [Art. 71 Abs. 4 der Kantonsverfassung von Appenzell Ausserrhoden, SR 131.224.1] und Uri, wo das Proporzsystem nur gilt, wenn drei oder mehr Landräte in einer Gemeinde zu wählen sind [Art. 88 Abs. 1 der Kantonsverfassung von Uri, SR 131.21]) oder sie sehen ein Proporzverfahren vor. Nach bisheriger Praxis und herrschender Lehre (BGE 129 I 185 ff., E. 3.1; Yvo Hangartner und Andreas Kley, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 2000, S. 578, Rz. 1418;
Vincent Martenet, L'autonomie constitutionnelle des cantons, Basel/Genf/München 1999, S. 359 ff.; Pierre Tschannen, Stimmrecht und politische Verständigung: Beiträge zu einem erneuerten Verständnis von direkter Demokratie, Basel und Frankfurt am Main 1995, S. 40, Rz. 57; Tomas Poledna, Wahlrechtsgrundsätze und kantonale Parlamentswahlen, Zürich 1988, S. 135) verbietet das Bundesrecht es den Kantonen nicht, für die Parlamentswahlen ein reines Majorzsystem festzulegen. Allerdings wird in der Literatur auch auf die Nachteile des Majorzsystems hingewiesen. So führt Kölz (Probleme des kantonalen Wahlrechts, Darstellung und kritische Betrachtung der Gesetzgebung und der bundesgerichtlichen Praxis, ZBl, 88, 1997, S. 1 ff., 37) aus, auch wenn das Mehrheitswahlverfahren nicht als undemokratisch bezeichnet werden könne, führe es doch zu einer Nichtberücksichtigung sehr grosser Teile der Wählerschaft und zu einer schlechten Verwirklichung des Repräsentationsgedankens, der gerade für die Wahl des Parlaments oberste Richtlinie sein sollte. Kölz stellt diese Auswirkungen anschliessend am Beispiel von Graubünden dar (a.a.O., S. 37). Nach Tschannen sollte gar «in die Verfassungsauslegung einfliessen, dass sich seit der Entstehung von Art. [a]6 BV das Verhältniswahlrecht als landesweiter Standard herausgebildet hat und nach allgemeiner Auffassung nunmehr darstellt, was die verfassungsrechtlich gebotenen
schen Formen> (Art. 6 Abs. 2 Bst. b [a]BV) vom kantonalen Wahlrecht fordern» (Tschannen, a.a.O., S. 500, Rz. 751). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Festlegung des Majorzsystems für kantonale Wahlen zwar als bundesrechtlich zulässig erachtet wird, in der Literatur aber auch kritisiert wird und in dieser Frage vereinzelt auch eine Praxisänderung verlangt wird. Insofern ist die Verfassungsmässigkeit des Majorzsystems für Parlamentswahlen als rechtlich zweifelhaft einzustufen. Bisher ist kantonalen Verfassungsbestimmungen, die das Mehrheitsverfahren für Parlamentswahlen vorsehen, immer vorbehaltlos die Gewährleistung erteilt worden. Eine Änderung dieser Praxis sollte aus Gründen von Treu und Glauben nicht ohne Ankündigung erfolgen. Unter diesen Umständen ist die Gewährleistung für Artikel 27 Absatz 2 der Verfassung des Kantons Graubünden zu erteilen.

Artikel 51 Absatz 1 BV, der von den Kantonen eine demokratische Verfassung verlangt, ist damit eingehalten.

3.5

Bundesrechtmässigkeit

3.5.1

Allgemeines

Bei der Prüfung einer totalrevidierten Kantonsverfassung auf ihre Übereinstimmung mit dem Bundesrecht stellt sich insbesondere das Problem, dass eine kantonale Grundordnung, die im Wesentlichen auf einige Jahrzehnte hinaus konzipiert ist, an der (vor allem auf Gesetzesebene) sich rascher ändernden Gesamtordnung des Bundes gemessen werden muss. Es ist daher nicht auszuschliessen, dass die neue Kantonsverfassung einzelne Bestimmungen enthält, die durch neues Bundesrecht später in ihrer Bedeutung geschmälert oder gar gegenstandslos gemacht werden können.

Der Kanton kann in Gebieten, die unter eine ausschliessliche Bundeskompetenz fallen, keine Regelungen vornehmen. Er darf dagegen Aufgaben wahrnehmen, die von einer umfassenden, jedoch nicht voll ausgeschöpften Bundeskompetenz erfasst werden. Solche kantonalen Verfassungsnormen haben dann neben dem Bundesrecht eine stärker eingeschränkte Bedeutung, als nach ihrem Wortlaut geschlossen werden könnte; solange sie aber im Rahmen einer bundesrechtskonformen Auslegung eine kantonale Restkompetenz wahrnehmen, müssen sie als bundesrechtmässig gewährleistet werden.

3.5.2

Aufbau und Gliederung des Kantons

Die neue Verfassung nennt als territoriale Einheiten des Kantons die Bezirke, Kreise und die Gemeinden (Art. 60 ff.). Artikel 62 Absatz 1 zweiter Satz ermöglicht es dem Kanton, die Gemeinden zur Zusammenarbeit zu verpflichten. Die einzelnen Gemeinden werden in der Verfassung nicht aufgeführt, auch deren Anzahl wird nicht bestimmt und deren Gebiet nicht umschrieben. Die Regelung des Zusammenschlusses der Gemeinden wird an den Gesetzgeber delegiert (Art. 63). Die Gemeindeautonomie hingegen, deren Umfang durch das kantonale Recht bestimmt wird, wird in der Verfassung ausdrücklich gewährleistet (Art. 65). Die einzelnen Bezirke, die Gerichtssprengel für die Zivil- und Strafgerichtsbarkeit sind (Art. 71), sowie die zu jedem Bezirk gehörenden Kreise, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind und diejenigen Aufgaben erfüllen, die ihnen vom Kanton oder von den Gemeinden 1115

übertragen werden (Art. 70), werden in der Verfassung namentlich genannt (Art. 68). Die Verfassung bestimmt die notwendigen Organe der Gemeinden, Kreise und Regionalverbände (Art. 66 und 73), legt die Grundsätze der Aufsicht fest (Art. 67 und 74) und weist dem Gesetzgeber die Regelung weiterer Bereiche zu, so die Gewährleistung der politischen Mitwirkungsrechte bei der interkommunalen Zusammenarbeit (Art. 62 Abs. 2) und die Rechtsstellung der Bezirke (Art. 71 Abs. 2).

Alle diese Bestimmungen liegen im Bereich der kantonalen Organisationskompetenz und enthalten nichts, was dem Bundesrecht zuwiderläuft.

3.5.3

Grundrechte

Nach Lehre und Rechtsprechung haben die Grundrechte der Kantone so weit selbständige Bedeutung, als sie einen über das Bundesrecht hinausgehenden Schutz gewähren (Andreas Auer/Giorgio Malinverni/Michel Hottelier, Droit constitutionnel suisse, vol. II: Les droits fondamentaux, Bern 2000, S. 40 ff.; Vincent Martenet, L'autonomie constitutionnelle des cantons, Basel 1999, S. 420 ff.; BGE 121 I 267, 269; 119 I 53, 55). Das bedeutet, dass die Kantone die gleichen Rechte wie der Bund garantieren oder auch darüber hinausgehen können. Es bedeutet aber auch, dass die Gewährleistung dort nicht erteilt werden darf, wo der Kanton mit ausdrücklicher und zwingender Vorschrift einen geringeren Schutzumfang festlegt, als dies der Bund mit seinen Grundrechten tut.

Bezüglich der Grundrechte, Sozialziele und der Rechtsstaatsgarantien (Verfahrensgarantien und Rechtsschutz) beschränkt sich die Verfassung des Kantons Graubünden auf einen Hinweis auf das übergeordnete Recht, die Bundesverfassung und die für die Schweiz verbindlichen internationalen Abkommen (Art. 7 und 8).

3.5.4

Öffentliche Aufgaben

Nach den Artikeln 3 und 43 BV haben die Kantone alle Kompetenzen, die nicht durch die Bundesverfassung dem Bund übertragen werden. Das Bundesrecht verlangt für die kantonale Gesetzgebung keine ausdrückliche Grundlage in der Kantonsverfassung. Die Mehrheit der Kantone verzichtet denn auch auf eine abschliessende Verankerung der staatlichen Aufgaben und der entsprechenden Gesetzgebungskompetenzen in der Kantonsverfassung. Die Verfassung des Kantons Graubündens folgt in dieser Hinsicht den Verfassungen der Kantone Bern, Uri, Solothurn, Glarus und Waadt (SR 131.21, 131.214, 131.221, 131.217 und 131.231), die aus Gründen der Klarheit, der Rechtssicherheit und zur Kompetenzaufteilung zwischen Staat und Gemeinden einen Katalog von Aufgaben enthalten, die der Staat und die Gemeinden zu erfüllen haben. Dieser Aufgabenkatalog richtet sich an den Gesetzgeber, der diese Aufgaben im Gesetz unter Beachtung der bundesrechtlichen Bestimmungen zu konkretisieren hat. Die Verfassung des Kantons Graubünden zählt die wichtigsten, längerfristig wahrzunehmenden Aufgaben auf, zu denen die Gewährleistung der öffentlichen Ordnung, die Raumplanung, die Umwelt, die Energie, der Verkehr, die Telekommunikation, die Wirtschaft, der Sozialbereich, die Gesundheit und die Familie, die Bildung, die Kultur und die Freizeit sowie die internationale Zusammenarbeit gehören.

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Die Regelungen im sechsten Titel der Verfassung des Kantons Graubünden enthalten keine bundesrechtswidrigen Bestimmungen, auch wenn mehrere der aufgeführten Aufgabenbereiche sich mit Bundeskompetenzen überschneiden, wie beispielsweise im Bereich der Infrastrukturversorgung (Art. 82), der Wirtschaftspolitik (Art. 84), der Integration (Art. 86) und der humanitären Hilfe (Art. 92 Abs. 2). Auch in Bereichen, in denen der Bund legiferiert hat, verbleiben den Kantonen wichtige Vollzugsaufgaben und Restkompetenzen; die Erwähnung dieser Aufgaben lässt sich daher auch mit der Informationsfunktion begründen.

3.5.5

Behördenorganisation und Verfahren

Die Bestimmungen über Zusammensetzung, Zuständigkeiten und Organisation der kantonalen und der kommunalen Behörden sowie die für ihre Tätigkeit vorgesehenen Verfahren tragen den Erfordernissen des Bundesrechts ausreichend Rechnung.

Die für die Besetzung von Behördenstellen eingeführten Wählbarkeitsvorausetzungen und Ausschlussgründe (Art. 21 und 22) sind bundesrechtskonform. Der Grundsatz der Gewaltenteilung ist in Artikel 4 ausdrücklich verankert und wird durch die Bestimmungen über die Unvereinbarkeit (Art. 22) sowie durch die Kompetenzaufteilung zwischen Grossem Rat, Regierungsrat und richterlichen Behörden (Art. 30 ff., 42 ff. und 54 ff.) verwirklicht. Die Einstellung im Amt und die Amtsenthebung werden auf Gesetzesstufe geregelt (Art. 21 Abs. 3).

Die Bestimmungen über das Gesetzgebungsverfahren, die dem Grossen Rat ­ unter Vorbehalt des fakultativen (Art. 17) und des obligatorischen Referendums (Art. 16) ­ die Befugnis zum Erlass von Gesetzen und Verordnungen sowie zum Abschluss internationaler und interkantonaler Verträge, die nicht in die ausschliessliche Kompetenz der Regierung fallen (Art. 45 Abs. 2), erteilen, genügen den in Artikel 51 Absatz 1 erster Satz BV festgelegten Anforderungen an eine demokratische Ausgestaltung. Bezüglich der Aufteilung der Kompetenzen zwischen Legislative und Exekutive ist festzuhalten, dass der Grosse Rat die generell-abstrakten wichtigen Bestimmungen in Form des Gesetzes erlässt und, soweit die Form des Gesetzes nicht vorgeschrieben ist und er durch Gesetz ausdrücklich dazu ermächtigt ist, Verordnungen erlassen kann (Art. 31 Abs. 1 und 32 Abs. 1), während die Regierung ermächtigt ist, weniger wichtige Bestimmungen in Form der Verordnung zu erlassen (Art. 45 Abs. 1). Als wichtige und daher in der Form des Gesetzes vom Grossen Rat zu erlassende Bestimmungen gelten diejenigen, für welche die Verfassung die Form des Gesetzes vorsieht, sowie eine Reihe weiterer Materien, deren Umschreibung sich eng an Artikel 164 Absatz 1 BV anlehnt (Art. 31 Abs. 2).

Die Regelung der Zuständigkeit der gerichtlichen Instanzen im Bereich der Zivilund der Strafgerichtsbarkeit erfolgt auf Verfassungsstufe in summarischer Weise (Art. 54), während die Zuständigkeit des Verwaltungs- und Verfassungsgerichts ausführlicher geregelt wird (Art. 55).

In Artikel 3 der Verfassung des Kantons
Graubünden werden die Landes- und Amtssprachen des Kantons geregelt. Deutsch, Rätoromanisch und Italienisch werden als gleichwertige Landes- und Amtssprachen des Kantons anerkannt (Abs. 1).

Kanton und Gemeinden werden verpflichtet, zur Erhaltung und Förderung der rätoromanischen und der italienischen Sprache Massnahmen zu ergreifen (Abs. 2).

Absatz 3 ermächtigt Gemeinden und Kreise, ihre jeweiligen Amts- und Schulspra1117

chen zu bestimmen. Sie haben dabei mit dem Kanton zusammenzuwirken, auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung zu achten und auf die angestammten sprachlichen Minderheiten Rücksicht zu nehmen. Die Bestimmung lehnt sich an die Regelung von Artikel 70 BV an und enthält nichts dem Bundesrecht Widersprechendes.

Die Organisationsbestimmungen der Verfassung des Kantons Graubünden liegen im Rahmen der kantonalen Organisationskompetenz (Art. 3 und 39 Abs. 1 BV) und verletzen keine Bestimmungen des Bundesrechts.

3.6

Zusammenfassung

Die Verfassung des Kantons Graubünden vom 18. Mai und 14. September 2003 erfüllt die Anforderungen von Artikel 51 Absatz 2 zweiter Satz BV; es ist ihr deshalb die Gewährleistung zu erteilen.

4

Verfassungsmässigkeit

Die Bundesversammlung ist nach den Artikeln 51 und 172 Absatz 2 BV zuständig, die Kantonsverfassungen zu gewährleisten.

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