zu 00.416 Parlamentarische Initiative Mehrwertsteuersätze für die AHV/IV (SGK-NR) Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 6. Juli 2000 Stellungnahme des Bundesrates vom 6. September 2000

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, zum Bericht vom 6. Juli 2000 der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates betreffend Mehrwertsteuersätze für die AHV/IV nehmen wir nach Artikel 21quater Absatz 4 des Geschäftsverkehrsgesetzes (GVG) nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

6. September 2000

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates

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Der Bundespräsident: Adolf Ogi Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

2000-1936

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

Am 18. Mai 2000 reichte Nationalrat Paul Rechsteiner anlässlich der Beratung der Botschaft des Bundesrates zur 11. AHV-Revision (00.014) in der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) den Antrag für eine Kommissionsinitiative ein, die verlangt, dass die für die AHV/IV erhobenen Mehrwertsteuerprozente vollumfänglich diesen Sozialversicherungen zugute kommen müssen. Mit einem Streichungsantrag zu Artikel 2 Absatz 2 und Absatz 3, zweiter Satz des Bundesbeschlusses über die Anhebung der Mehrwertsteuersätze für die AHV/IV vom 20. März 19981 ­ welcher seit 1. Januar 1999 in Kraft ist ­ will diese Initiative den für den Bund bestimmten Anteil an diesem Steuerertrag aufheben. Die Kommission stimmte dem Antrag mit 16 zu 5 Stimmen zu. Eine Minderheit beantragt, der Parlamentarischen Initiative keine Folge zu geben und nicht auf die Vorlage einzutreten.

2

Stellungnahme des Bundesrates

2.1

Stellungnahme zum Vorschlag der Kommissionsmehrheit

2.1.1

Grundsätzliches

Die Modalitäten zur Realisierung des für die AHV/IV verfassungsrechtlich verankerten Mehrwertsteuerprozentes, mit welchem demografiebedingte Finanzierungsprobleme dieser Sozialwerke abgefedert werden sollen, waren sowohl im Bundesrat wie im Parlament Gegenstand einlässlicher Erörterungen. Diese führten bezüglich der Mittelverwendung im Parlament zum deutlichen Mehrheitsbeschluss, dass auch der Bund einen ­ zweckgebundenen ­ Anteil am Ertrag dieser Zusatzeinnahmen erhalten soll: Dieser Ertragsanteil wird vollumfänglich zur Mitfinanzierung der dem Bund durch die demografiebedingten Mehrkosten entstehenden Zusatzbelastung eingesetzt und stellt somit eine für die Sicherung der AHV/IV wichtige Finanzierungsgrundlage dar.

Dieser Entscheid, der sowohl für die Sicherung der Finanzierungsgrundlagen der AHV/IV wie für die Stabilisierung der Belastung des Bundes mit seinen Ausgabenanteilen an diesen Versicherungen grundlegend ist, ist erst zwei Jahre alt: Aus der Sicht des Bundesrates hat die Situation seither keine Änderung erfahren, welche ein Abrücken von dieser Regelung zu rechtfertigen vermöchte.

Im Gegenteil, den Entscheid rückgängig zu machen, würde den intensiven Bemühungen zur Sanierung und Stabilisierung der Bundesfinanzen, und damit dem klaren Verfassungsauftrag in diesem Bereich, zuwiderlaufen. Wie im Kommissionsbericht in der Stellungnahme der Kommissionsminderheit (Ziff. 4.2) und in Ziffer 6 über die Auswirkungen auf das Finanzierungssystem zutreffend dargelegt wird, sind die nachteiligen Auswirkungen für den Bund erheblich: Der Wegfall des Bundesanteils am geltenden «Demografieprozent» hätte für den Bund jährliche Mindereinnahmen von durchschnittlich rund 400 Millionen Franken zur Folge. Dieser Einnahmenaus1

BBl 1998 1469

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fall würde einen beträchtlichen Teil des mit dem Stabilisierungsprogramm 1998 zur Erreichung des Haushaltsziels 2001 vom Parlament gutgeheissenen Entlastungseffektes wieder zunichte machen.

Wenn die Absage an einen Ertragsanteil für den Bund nach Ansicht der Kommissionsmehrheit auch für die künftig geplanten Mehrwertsteuererhöhungen zu Gunsten von AHV/IV gelten soll, welche in der Botschaft zur 11. AHV-Revision vorgeschlagen werden, würde dem Bund ab dem Jahr 2004 bereits über eine Milliarde Franken entgehen (d.h. der Ertragsanteil auf dem geltenden Demografieprozent sowie derjenige, der gemäss 11. AHV-Revision ab 2003 auf einem zusätzlichen halben Mehrwertsteuerprozentpunkt für die AHV und auf einem Prozentpunkt für die IV vorgesehen ist). Mit der Erhebung des ungefähr ab 2006 vorgesehenen zusätzlichen Mehrwertsteuerprozentes für die AHV würden sich die jährlichen Mindereinnahmen des Bundes dann auf rund 1,5 Milliarden Franken belaufen.

Der Bundesrat erinnert daran, dass bereits nach dem geltenden Recht namhafte Beiträge von Bund und Kantonen zur Finanzierung der AHV und IV beitragen. Das Konzept des Bundesrates zur finanziellen Konsolidierung der AHV und der IV, wie es in der Botschaft zur 11. AHV-Revision konkretisiert ist, beinhaltet explizit auch eine Stabilisierung der Belastung des Bundes (vgl. dazu Ziff. 6.1 der Botschaft vom 2. Februar 2000; BBl 2000 1865). Die Verankerung einer zweckgebundenen Einnahme des Bundes in der Verfassung, mittels eines Mehrwertsteuer-Ertragsanteils, ist von grosser Bedeutung: Bisher fehlte es nämlich an einer grundsätzlichen, nachhaltigen Finanzierung des Bundesbeitrags, obwohl die Belastung des Bundes mit diesen Kosten jährlich in absoluten wie in relativen Zahlen zunahm. Dies erklärt sich dadurch, dass die Ausgaben von AHV und IV rascher angewachsen sind als die Steuereinnahmen der öffentlichen Hand.

Die bisherigen zweckgebundenen Einnahmen des Bundes aus Alkohol und Tabak reichen bei weitem nicht: 1970 wurden 90 Prozent der Bundesbeiträge an AHV/IV/EL durch diese zweckgebundenen Einnahmen gedeckt. 1998 waren es nur noch 26 Prozent. Bezogen auf die AHV allein reichten Tabak- und Alkoholsteuereinnahmen bis 1972 zur Deckung des Bundesbeitrags aus; danach sank der Anteil bis 1998 auf einen Deckungsanteil von 36,6 Prozent und stieg nach der Erhöhung der
Tabaksteuer per 1. Januar 1999 auf 41,5 Prozent.

Die Zuerkennung eines zweckgebundenen Bundesanteils am Mehrwertsteuerertrag ist mit dem Verfassungswortlaut (Bundesverfassung Art. 130 Abs. 3) durchaus vereinbar, wenn auch dort nicht explizit erwähnt: Die Bestimmung zur Erhebung des Mehrwertsteuerprozents setzt voraus, dass die Finanzierung der AHV/IV aus demografischen Gründen nicht mehr gewährleistet ist. Da diese Finanzierung nicht ausschliesslich aus Beiträgen der Versicherten und ihrer Arbeitgebenden, sondern auch aus einem namhaften Beitrag der öffentlichen Hand sichergestellt wird, lässt es der Verfassungswortlaut zu, dass mit dem Ertrag des «Mehrwertsteuer-Demografieprozents» ­ einer Bundessteuer ­ auch die demografiebedingte Mehrbelastung des Bundes ganz oder teilweise abgedeckt wird. Andernfalls droht eine finanzielle Mehrbelastung des Bundes, welche die Finanzierung dieser Einnahmequelle der AHV (und der IV) gefährden könnte.

Im Vorfeld der Einführung des Demografieprozents stand auch eine Variante zur Diskussion, wonach der Ertrag aus der Erhöhung der Mehrwertsteuer vollumfänglich der AHV zu Gute gekommen, aber der Bundesanteil an den Ausgaben der AHV gesenkt worden wäre. Die Versicherung hätte dann einen grösseren Anteil ihrer

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Ausgaben mit Mitteln zu finanzieren, die nicht automatisch von den Leistungen abhängig wären (Anteil der Einnahmen in Mehrwertsteuerprozenten). Nach der schliesslich beschlossenen Variante partizipiert der Bund im Umfang seines Finanzierungsanteils am Ertrag des Mehrwertsteuer-Demografieprozents und hat diese Einnahmen zweckgebunden für die Erfüllung seiner Verpflichtungen gegenüber der AHV einzusetzen. Die getroffene Lösung ist für die AHV vorteilhaft: Der Bund trägt damit weiterhin zur Finanzierung des demografisch bedingten Kostenanstiegs in der AHV bei.

Ohne diesen Bundesanteil am Mehrwertsteuer-Ertrag müssten zur Kompensation entweder ein neues Sparprogramm für den Bund erstellt, der Bundesbeitrag an die AHV gesenkt oder neue Defizite im Bundeshaushalt in Kauf genommen werden.

Zwischen dem Sanierungsziel für den Bundeshaushalt und der finanziellen Konsolidierung der AHV/IV besteht ein latenter Zielkonflikt: Genausowenig wie sich der Bund seiner Verantwortung für die Finanzierung der AHV/IV entziehen kann, kann eine Verletzung des Sanierungsziels für den Bundeshaushalt in Kauf genommen werden. Der Bundesrat weist darauf hin, dass Volk und Stände am 7. Juni 1998 mit der Zustimmung zum Bundesbeschluss über Massnahmen zum Haushaltsausgleich vom 19. Dezember 1997 eine Änderung der Bundesverfassung (vgl. BBl 1997 IV 1608) gutgeheissen haben, wonach der Ausgabenüberschuss des Bundes im Jahr 2001 auf 2 Prozent der Einnahmen abgebaut sein muss. Ohne Bundesanteil am Mehrwertsteuerertrag ist dieses Ziel kaum realisierbar.

2.1.2

Formelle Bemerkungen zur Begründung der Kommissionsmehrheit

Zu den Erwägungen der Kommissionsmehrheit in Ziffer 4.1 des Berichts sind zwei inhaltliche Bemerkungen anzubringen: Die Kommissionsmehrheit ist der Auffassung, mit der vollumfänglichen, direkten Zuweisung der Mehrwertsteuer an den Ausgleichsfonds der AHV könne dazu beigetragen werden, rascher wieder auf den gesetzlich vorgeschriebenen, aber heute nicht mehr erreichten Deckungsgrad einer ganzen Jahresausgabe zu kommen. Eine solche Aufstockung des Ausgleichsfonds der AHV (der gegenwärtig 79% der Jahresausgaben beträgt) würde indessen erhebliche zusätzliche Mittel benötigen: Bis zum Jahr 2010 müsste der Fondsstand um ungefähr 10 Milliarden Franken aufgestockt werden. Falls dieser Betrag im Zeitraum zwischen 2003 und 2010 finanziert werden müsste, wären für jedes Jahr in diesem Zeitraum etwa 1,3 Milliarden Franken zum zusätzlichen (demografiebedingten) Finanzierungsbedarf hinzuzufügen. Dies entspricht ungefähr 0,6 Mehrwertsteuer-Prozentpunkten. Nach Auffassung des Bundesrats, die sich mit Expertenmeinungen deckt, kann der Ausgleichsfonds der AHV seine Aufgaben aber auch mit einem tieferen Deckungsgrad in der Höhe von 70 Prozent optimal erfüllen. In einem System der Umlagefinanzierung wie bei der AHV ist es nicht sinnvoll, eine über den optimalen Betrag hinausgehende Reserve zu erwirtschaften. Daher sollte in der 11. AHV-Revision die gesetzlich vorgeschriebene Höhe des Ausgleichsfonds der AHV auf 70 Prozent reduziert werden.

Der Bunderat teilt die Begründung der Kommissionsmehrheit in Ziffer 4.1 des Berichts nicht, wonach mit der integralen Zuführung des zusätzlichen Mehrwertsteuerprozentes in den Ausgleichsfonds der AHV die Finanzierung transparent ausgestaltet werde, indem der Bundesbeitrag wieder in Prozent der Gesamtausgaben ausge5228

wiesen werde. Er weist darauf hin, dass der Bundesbeitrag seit 1969 in Prozenten der Gesamtausgaben festgelegt wird. Der Bundesbeitrag ist auch nach dem 1. Januar 1999 klar als fester Prozentanteil an den Ausgaben der AHV definiert, der Bund verfügt nun aber über eine neue, zusätzliche zweckgebundene Einnahmenquelle zur Deckung seiner Verpflichtungen gegenüber der AHV. Die Zuweisung eines Ertragsanteils der Mehrwertsteuer an den Bund hatte keine Änderung seines Beitragsanteils zur Folge.

2.2

Fazit

Der Bundesrat hält an der Berechtigung des Entscheids für eine Bundesbeteiligung an den für die AHV/IV bestimmten Mehrwertsteuereinnahmen fest. Für die finanzielle Sicherung der AHV/IV hat er dem Parlament mit der Botschaft zur 11. AHVRevision ein tragfähiges Gesamtkonzept unterbreitet, das eine Zusatzfinanzierung durch eine schrittweise Erhöhung der Mehrwertsteuer enthält, welche für die Wirtschaft, die Unternehmen und die Haushalte tragbar ist, das aber auch gewichtige, möglichst sozial ausgestaltete Einsparungen bei den Leistungen der AHV und Mehreinnahmen auf der Beitragsseite vorsieht.

Der Bundesrat kommt zum Schluss, dass der Vorschlag der Kommissionsmehrheit das mit dem Bundesbeschluss vom 20. März 1998 über die Anhebung der Mehrwertsteuersätze für die AHV/IV von den eidgenössischen Räten gutgeheissene Konzept zur Bewältigung der demografiebedingten Mehrkosten bei AHV und IV in Frage stellt. Gleichzeitig wird damit die vom Bundesrat mit der 11. AHV-Revision vorgesehene Verankerung dieses Konzeptes in der Verfassung abgelehnt. Für den Bund würde sich aus dem Vorschlag der Kommissionsmehrheit eine gravierende finanzielle Verschlechterung von heute 400 Millionen Franken pro Jahr bis zu über 1,5 Milliarden pro Jahr ab 2006 ergeben.

Der Bundesrat ist der Meinung, dass der Vorschlag der Kommissionsmehrheit sowohl aus sozialpolitischen wie finanzpolitischen Überlegungen abzulehnen ist. Er unterstützt daher die Kommissionsminderheit (Ziff. 4.2 des Berichts) und deren Antrag auf Nichteintreten auf diese Vorlage.

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