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Bundesversammlung.

Die gesetzgebenden Räte der Eidgenossenschaft sind am 7. Dezember 1925, vormittags 10% Uhr, zur ersten Session der XXVII, Legislaturperiode zusammengetreten.

Im Nationalrate eröffnete Herr Dr. Carl Eigenmann, von Homburg, in Mullheim (Thurgau), geboren im Jahre 1849, als Alterspräsident die Sitzung mit folgender Ansprache; Geehrte Herren Nationalräte!

Wiedergewählte und Neugewählte!

Gemäss Art. 3 des Geschäftsreglements des Nationalrates hat in der ersten auf die Integralerneuerung folgende Sitzung das älteste Mitglied den Vorsitz zu führen. Nachdem zwei ältere Ratsmitglieder, als der Sprechende ist, seit der letzten Sitzung mit Tod abgegangen sind, fällt ihm die Ehre zu, die heutige Sitzung zu eröffnen. Es ist bisher Usus gewesen, dass das Alterspräsidium seine Funktionen mit einigen Betrachtungen über die wichtigsten Aufgaben des Rates in der künftigen Legislaturperiode eingeleitet hat. Dabei konnte man bemerken, dass diese Eröffnungsreden meistens etwelchen politischen Beigeschmack hatten, je nach der Partei, welcher der betreffende Alterspräsident angehörte. Ich gedenke, mich heute bei meinen Betrachtungen jeglicher politischer Färbung zu enthalten und mich ganz frei und unabhängig auszusprechen, selbst auf die Gefahr hin, dass das, was ich sage, nicht allgemein gefällt. Glücklicherweise gibt es ja über die Eröffnungsreden im Rate keine Diskussion. Der Wert einer Rede liegt ja nicht in deren Schönheit und Gefälligkeit, massgebend ist deren Inhalt bzw. die Wahrheit des letztern.

Meine Herren! Wir sind, wie das schon das Wort Nationalrat sagt, die Vertreter der Nation bzw. des gesamten Volkes, und wir haben bei unserer parlamentarischen Tätigkeit das Wohl der Gesamtheit im Auge zu behalten. Dieser Auffassung entspricht denn auch der Inhalt der für die Ratsmitglieder bestehenden Eides- bzw. Gelübdeformel. Wir leben in einer Zeit der Partei- und Interessepolitik. Die alten historischen Parteien wurden zurückgedrängt; sie haben sich zum Teil gespalten und neue Parteien sind auf den Plan getreten ; kurzum, es besteht eine ganz hübsche Sammlung von Parteigebilden. Sie alle machen darauf Anspruch, es mit dem Volke gut, ja häufig am besten zu meinen. Unter diesen Verhältnissen sollte man glauben, unser Volk müsse ausserordentlich glücklich sein, und es bleibe für unser Land nicht mehr sehr viel zu
wünschen. Statt dessen müssen wir beobachten, dass vielenorts Unzufriedenheit besteht. Versprechen und Erfüllen sind eben zwei ganz verschiedene Dinge. Die Erfahrung hat bis jetzt nicht gezeigt, und sie wird es auch in Zukunft nicht zeigen, dass die Parteizersplitterung und die öfters einseitige Interessepolitik dem Ganzen förderlich sind. Diese Verhältnisse bedingen für die Regierung einen unsichern Boden und schwächen ihren Standpunkt. Es ist

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das eine Tatsache, die nicht nur in unserm Lande, sondern auch in andern Staaten zu beachten ist. Es sind in der Schweiz in den letzten Dezennien grosse ^Aufgaben gelöst worden, namentlich auch in sozialer Beziehimg. Ich erinnere an die Fabrikgesetzgebung und an deren Ausbau in beäug auf die Arbeitszeit sowie hinsichtlich Kinder- und Nachtarbeit in don Fabriken. Ich erinnere ferner an die Einführung der Kranken- und Unfallversicherung, an das Bundesgesetz über die Arbeit bei den Transportanstalten und an verschiedenes anderes. .Alles das hat "unserm Lande grosse Opfer aulerlegt. Nachdem gestern der grosse Versicherungsgedanke beim Volke Gnade gefunden, werden in nicht zu ferner Zeit neue grosse Opier hinzukommen. Hoffen wir, dass es möglich ist, die Mittel zur Durchführung dieses grossen Werkes bereitzustsllen. Alle Hilfsbegebi'on wurden jeweils genau geprüft und in weitgehendster Weise berücksichtigt. Gleichwohl hört man aus gewissen Kreisen Vorwürfe, der Staat kümmere sich um die soziale Fürsorge zu wenig, und es fehlt auch nicht an neuen Forderungen nach dieser Eichtung. So fragt man sich unwillkürlich: Ist es überhaupt möglich, diese sozialen Forderungen je einmal zu befriedigen? Ich überlasse es Ihnen, die Antwort auf diese Frage zu geben. Ich erlaube mir aber bei dieser Gelegenheit die weitere Frage: Ist es möglich und wahrscheinlich, durch die Erfüllung der weitestgehenden sozialen Eef ormen dem Volke das wahre Glück und die wahre Zufriedenheit zu bringen ?

Die Erfahrung beweist eher das Gegenteil. Der Widerwille zur Arbeit hat zugenommen, Sparsamkeit und häuslicher Sinn schwinden mehr und mehr, Luxus und Vergnügen machen sich breit. Die moralischen Eigenschaften des Bürgers finden in manchen Kreisen nicht mehr die gebührende Würdigung.

Der schöne, -wahre Spruch: «Bete und arbeite» ist obsolet geworden. Ich will mit diesen Bemerkungen nur sagen, dass man wohl mit der sozialen Fürsorge zu weit gehen kann. Sie soll nicht dazu führen, die Initiative des einzelnen zur Selbsthilfe zu lahmen und sich rein auf die staatliche Hilfe zu verlassen.

Das wäre eine fehlerhafte Praxis. Gewiss gibt es Verhältnisse, in denen der Staat unterstützend und hilfebringend einspringen muss. Er hat dazu die Pflicht, und er hat diese Pflicht bisher auch erfüllt, z. B. vorab in der Unterstützung bei der Arbeitslosigkeit,
die sich ja in nächster Zukunft wieder geltend zu machen scheint. Ein weiser. Haushalt mit den Staatsmitteln wird es ermöglichen, da zu helfen, wo es nötig ist, aber man soll nicht zu weit gehen und unnütze Ausgaben vermeiden. Schon die regelmässigen Ausgaben des Bundes erfordern hohe Summen. Ich erinnere an die Militärjasten, denen wir im Interesse einer wirksamen Landesverteidigung und der Aufrechterhaltung der Ordnung im Innern nicht ausweichen können. Wie wären wir dagestanden während des letzten Krieges ohne eine geschulte Armee? Ungeheure Opfer hat der Schutz des Landes erfordert, und es ist geradezu staunenswert, wie glatt die Tilgung der Mobilisationsschuld sich abwickelt, dank der willigen und prompten Bezahlung der Kriegs- und Kriegsgewinnsteuer, Ein gewisser finanzieller Wohlstand hatte dabei seine wohltätige Wirkung. Hierin liegt ein Fingerzeig, diesen finanziellen Wohlstand zu hüten, zu bewahren und zu heben. Aber auch zu den

599 Staatseinnahmen müssen wir Sorge trageü. Die Speisung der Bundesfinanzen geschieht zur Hauptsache durch die Zölle; indessen sind die Zölle nicht allein von Bedeutung für die Bundeskasse, sondern sie fallen ebensosehr in Betracht für den Schutz der Inlandsproduktion und für die Exportmöglichkeit. Eine richtige Zollpolitik ist daher für ein Land von ganz eminenter Bedeutung. Wir stehen vor der Beratung eines neuen Zolltarifs, und schon beziehen die einzelnen Interessegruppen Kampfstellung; speziell sind es die Konsumenten, welche niedere Lobensmittelzölle verlangen, wogegen die Landwirtschaft auf einen angemessenen Schutz ihrer Produkte, bei denen es sich ja hauptsächlich um Lebensmittel handelt, besteht. Industrie und Gewerbe wollen ebenfalls nicht der ausländischen Konkurrenz preisgegeben werden und begehren entsprechende Zollansätze. Ein zu weitgehender Schutz der einen Gruppe bedingt aber sehr oft «ine Benachteiligung einer andern Gruppe ; daraus folgt, dass man bei Beratung des Zolltarifs den Grundsatz wird hochhalten müssen: «Leben und leben lassen.» Man wird gegenseitig Bücksicht walten lassen müssen, und jede Partei wird Konzessionen machen müssen. Nur so ist eine zweckmässige und glückliche Lösung dieser so wichtigen Frage in unserm Parlament zu erhoffen.

Aber nicht nur bei der Lösung dieser Frage, sondern auch bei vielen andern Traktanden sollte der Blick aufs Ganze mehr zur Geltung gelangen und die Partei- und Interessenpolitik mehr zurücktreten. In dieser Beziehung haben die Wahlen nach dem Proporzsystem entschieden keinen günstigen Einfluss. Das bekennen selbst Leute, die seinerzeit den Proporz provoziert und -warm für denselben eingestanden sind. Die Abgeordneten in den Eat werden häufig aus den Reihen der ausgeprägtesten Parteimänner gewählt und kommen oft mit einer einseitigen Gesinnung in das Parlament. Bei diesen Verhältnissen sind Tlei bürgen unvermeidlich, und ob dabei den Interessen des Ganzen gedient ist, ist eine andere Frage, die ich hier nicht weiter ausspinnen will.

Das erste Erfordernis für die gedeihliche Entwicklung eines Staatswesens ist der innere Friede eines Landes; gleich wie in der Familie der Grundsatz: «Friede ernährt und Unfriede zerstört» gilt, so trifft derselbe in noch höherm Masse für dea Staat zu. Man sollte sich daher hüten, im Volke Unfrieden zu
stiften oder zu schüren, sind doch hin und wieder bei einer solchen Handlungsweise persönliche Interessen und Vorteile mit im Spiele.

Diese Betrachtungen enthalten meine Anschauungen mit Bezug auf die .Zustände, wie sie in unserm Parlamente wünschbar wären.

Meine Herren! Ich bitte Sie, meine offene Aussprache zu entschuldigen.

Ich wage nicht zu hoffen, dass meine Ausführungen allzu grosse Beachtung und Würdigung finden, aber möglicherweise erwahrt sich doch auch hier der Spruch : «Sernper aliquid haeret», das heisst: «Es bleibt immer etwas hängen.» Im übrigen ist mein innigster Wunsch der, dass unsere Arbeit in der heute beginnenden neuen Legislaturperiode eine erspriessliche, dem Volke und dem Lande Segen bringende sein möge. Mit diesem Wunsche erkläre ich die erste Sitzung der 27. Legislaturperiode als eröffnet.

.

600 Herren Nationalräte!

Bevor wir übergehen zu den eigentlichen Traktanden, liegt mir noch ob, eine Pietätspflicht zu erfüllen und zweier seit der letzten Sitzung verstorbener Batsmitglieder ehrend zu gedenken.

Unter dem 7. Oktober ist ganz unerwartet in seinem Heimatorte Schwanden Nationalrat Eduard Blumer, Landammann des Kantons Glarus, einem Schlaganfall erlegen. Mit Blumer ist einer der Wägsten und Besten im Lande von uns geschieden, der sich nicht bloss um seinen Eeimatkanton, sondern um die ganze Eidgenossenschaft bleibende Verdienste erworben hat.

Nationalrat Blumer wurde arn 10. Februar 1848 in Thon-Schwanden als Sohn eines Industriellen, nämlich des Schulvogtes Peter Blumer-Zweifel, geboren. Dort verlebte er eine sonnige Jugendzeit und besuchte die Schulen seiner Heimatgemeinde. Nach deren Absolvierung begab er sich zur weitern Ausbildung an die Kantonsschule St. Gallen, wo er als Mitschüler den nachmaligen Staatsmann Regierungsrat und Nationalrat Theodor Curti kennen lernte und mit ihm innigste Freundschaft schloss. Nachdem sich der Verblichene für den kaufmännischen Beruf entschieden hatte, kam er nach Ancona zu der weitbekannten Firma Blumer & Jenny in die Lehre, wo er verschiedene Jahre zubrachte. Nach Schwanden zurückgekehrt, betätigte er sich zunächst im Geschäfte seines Vaters, gründete dann aber im Jahre 1867 mit zwei seiner Brüder die Baumwolldruckerei im Wyden, welches Geschäft er in kurzer Zeit zu höchster Blüte brachte. Es kann nicht befremden, dass die Mitbürger Blumers sehr bald auf den jungen, äusserst fleissigen und intelligenten Mann aufmerksam wurden; schon mit 24 Jahren wurde er in den Landrat gewählt und zu einer grossen Zahl anderer Ämter herbeigezogen. Es heisst in einem Nekrologe : was Schwanden an Ehrenämtern zu vergeben hatte, wurde Blumer anvertraut. Es dürfte nicht meine Aufgabe sein, alle die Ämter aufzuzählen, welchedemselben vom Kanton übertragen wurde. Es sei nur bemerkt, dass er während beinahe 4 Jahrzehnten und bis zu seinem Tode die hohe Stellung als Landammann innehatte. Das Glarnervolk schaute zu seinem Landammann auf wie zu seinem N/ater, und es hatte dazu alle Veranlassung; denn er war wirklich ein treubesorgter Vater seines Volkes. Er bewirkte die Umstellung der Kantonsverfassung auf demokratischen Boden, führte die Alters- und Invalidenversicherung
ein ; der Bau der Sernftalbahn und der Klausen-strasse sind hauptsächlich seiner Initiative zu verdanken. Dabei leitete Blumer das Schifflein der glarnerischen Finanzen mit grossem Geschick und sicherer Hand; der Finanzhaushalt dieses Kantons gilt als musterhaft.

Die Tätigkeit und Wirksamkeit Blumers auf eidgenössischem Boden beginnt mit seinem Eintritt in den Ständerat im Jahre 1877. Dem eidgenössischen Parlament gehörte Blumer mit einem Unterbruch in den Jahren 1888 bis 1900 bereits ein halbes Jahrhundert an. Wie bereits bemerkt zunächst als Ständerat und von 1900 an als Nationalrat. Er war im Parlament ein einflussreiches, hochangesehenes Mitglied. Früher mit seinem Freunde Theodor Curti

601 demokratischen Grundsätzen folgend, bekannte er sich später als sogenannter «Wilder»; er konnte sich nicht entschliessen, einer bestimmten Fraktion beizutreten, er wollte vielmehr freie Bahn haben. Das Ansehen Blumers im Nationalrat geht besonders auch daraus hervor, dass, als es sich seinerzeit um eine Ersatzwahl in den Bundesrat für Herrn Hauser handelte, auch der Name Blumer nebst andern im Vordergrund stand und dass ihn der Bat im Jahre 1919 zum Präsidenten des 1. Proporzparlamentes -wählte. Der Verstorbene war kein Viel- und kein Schönredner, er blieb bei der Sache. Seine Voten waren aber überaus logisch und klar. Als Industrieller betätigte sich Blumer im Rate vornehmlich in Handels- und Zollangelegenheiten. Er war ein einflussreiches Mitglied der Zollkommission und wurde unter anderem vom Bundesrate als Delegierter bei internationalen Zollverhandlungen abgeordnet; er hat dabei unsprm Lande äusserst wertvolle Dienste geleistet. In andern zahlreichen Kommissionen wirkte Blumer als Mitglied und öfter als Präsident. Er hatte ein warmes Herz für die Schwachen und Hilfsbedürftigen, und bei der Arbeiterschutzgesetzgebung war er ein eifriger Befürworter. Noch 8 Tago vor seinem Tode hat er im Nationalrat über eine Vorlage zur Unterstützung der notleidenden Bandweberei Baselland referiert und dieselbe empfohlen.

Mit Landammann Blumer ist ein grosser Staatsmann dahingegangen, ein engeres und weiteres Vaterland trauert um diesen edlen Charakter. Er war, wie Herr Nationalrat Meier in seiner Grabrede sagte, eine echte Persönlichkeit, deren kein Land, kein Staat ihrer zuviele hat. Wohl ist Nationalrat Landammann Blumer gestorben, aber die Früchte seiner Arbeit leben fort und sichern ihm ein bleibendes, ehrendes Andenken, Ziemlich genau l Monat später als Landammann Blumer, nämlich am 8. November, ist Nationalrat Hermann Greulich, und zwar ebenfalls an den Folgen eines Schlaganfalls, gestorben. Ein inhaltsreiches und arbeitsreichem Leben ist damit erloschen. Es ist über Hermann Greulich und dessen Wirken während seiner Krankheit, bei und nach der Leichenfeier soviel gesprochen und geschrieben worden, dass es kaum möglich ist, wesentlich Neues über ihn zu sagen.

Hermann Greulich, von seinen Gesinnungsgenossen nur Papa Greulich genannt, war deutscher Herkunft; er wurde am 2. April 1842 in Breslau geboren,
als einziger Sohn von in einfachen Verhältnissen lebenden Eltern. Der aufgeweckte Knabe besuchte zunächst die Armenschule seines Geburtsortes, und er erhielt von seiner frommen Mutter eine sehr religiöse Erziehung. Die Jugendzeit Greulichs war eine harte. Schon früh verlor er seinen Vater und hatte mit seiner braven Mutter unter verschiedenen Entbehrungen schwere Zeiten durchzumachen. Schon als 14jähriger Junge kam er zu einem Buchbinder in die Lehre; bei 14stündiger Arbeitszeit fand er nebenbei noch Zeit, fleissig die Presse zu lesen und sich etwas mit Politik zu beschäftigen. Die radikalen Ideen, welche der Lehrling entwickelte, befriedigten den Lehrmeister nicht besonders. Alle diese Umstände dürften wohl dazu beigetragen haben9 in dem

02 jungen Greulich sozialistische Ideen zu nähren und ihn zu veranlassen, die entschiedensten Vorsätze zu fassen für eine Besserung der Verhältnisse der arbeitenden Klasse zu wirken. Als 20jähriger zog Greulich in die Fremde, arbeitete zunächst in einigen deutschen Ortschaften, um sich dann 1865 nach Zürich zu wenden, -woselbst damals die grossen Kämpfe zwischen den bestehenden politischen Parteien wogten. Ohne auf Einzelheiten einzutreten, sei hier nur bemerkt, dass Greulich sofort eine umfassende agitatorische Tätigkeit entwickelte; er schloss sich dem Grütliverein an, gründete verschiedene gewerk-scbaftliche Organisationen und mit dem verstorbenen Vogelsanger zusammen die sozialdemokratische Partei Zürichs und als deren Organ die «Tagwacht», welche er eine Zeitlang redigierte. Er betätigte sich namentlich auch auf statistischem Gebiete, wurde Chef des statistischen Bureaus Zürichs und 1887 schweizerischer Arbeitersokretär. Es ist nicht verwunderlich, dass die Betätigung Greulich« in politischen Fragen und namentlich auch seine Beredtsamkeit ihm den Weg in die Behörden öffnete. Wir sehen ihn 1890 im Kantonsrat, 1892 im Grossen Stadtrat. In den Nationalrat wurde er im Jahre 1902 gewählt, und mit Unterbrach der Legislaturperiode 1905--1908 gehörte er demselben bis an sein Lebensende an; 1919 und 1922 führte er den Vorsitz als Alterspräsident. Im Nationalrate galt Greulich längere Zeit als Führer der sozialdemokratischen Partei, und er hat es verstanden, diese Führung auf richtigem Geleise zu halten und trotzdem für die Interessen der Arbeiterschaft ausgiebig zu wirken. Er war kein Freund von kommunistischen und bolschewistischen Ideen. Er war auch kein ausgesprochener Antimilitarist, das zeigt insbesondere auch seine Stellungnahme zum revolutionären Putsch von 1918.

Er sagte damals «das Kind muss erst ausgetragen sein, bevor die Gewalt als Geburtshelferin der Neuzeit angerufen werden kann»; Gewaltleute, meinte er, sind kleingläubige Leute. Dieser Standpunkt trug Greulich die Achtung der bürgerlichen Parteien ein. Er zeugt von einem friedfertigen Zuge.

Freilich war der Einfluss von Papa Greulich in seiner Partei in der letzten Zeit nicht mehr so gross wie damals, als man noch von einer Kapelle Greulich sprach. Der Zuwachs zur Partei brachte jüngere Kräfte und neue Streiter, die sich in den
Vordergrund drängten. Dass Greulich der Vater der schweizerischen Sozialdemokratie ist und dass er für dieselbe seine ganze Kraft einsetzte, bleibt unbestritten, und dieses Verdienst kann ihm niemand absprechen. Man muss staunen, welch reichliche Kenntnisse sich der ehemalige Buchbindergeselle in der sozialen wissenschaftlichen Literatur erwarb; er war Autodidakt, aber er überragte manchen Wissenschaftler mit seinen Kenntnissen. Wenn wir unsere TBlicke im Saale umherschweifen lassen und sie namentlich nach dem Berge dort hinten richten, so vermissen wir dort jenen Charakterkopf mit peinem weissen "Vollbarte, Papa Greulich dominiert dort nicht mehr, wir vermissen ihn mit "Wehmut. Der trauernden Arbeiterschaft schliesst sich auch der Rat an und auch bei diesem ist dem Verstorbenen ein treues Andenken gesichert.

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Nach Beeidigung des Eates wurde als Präsident gewählt: Herr Dr. Emil Hofmann, von Kreuzungen und Weiningen, in Frauenfeld, bisher Vizepräsident.

Am 9. Dezember wählte der Nationalrat zum Vizepräsidenten Herrn Bobert G r i m m , von Hinwil, in Bern.

Im Ständerate eröffnete der abtretende Präsident, Herr Andermatt, die Session mit folgender Ansprache: Meine Herren Ständeräte!

Bevor wir auf die Behandlung dor Traktanden eintreten, möchte ich vorerst .der Freude Ausdruck verleihen über die wuchtige Annahme des Verfassungsartikels betreffend die Alters-, Hinterbliebenen- und Invalidenversicherung.

Damit hat das Schweizervolk den Grundstein gelegt zu einem sozialen GrossAverke, das dem Lande zum Segen gereichen wird. An die Behörden tritt nun die Aufgabe, auf diesem Grundstein die festen Quadern des Versicherungsgebäudes aufzubauen, angepasst der Eigenart unserer Eidgenossenschaft.

Sodann, meine Herren Ständeräte, obliegt mir die schmerzliche Pflicht, derjenigen Mitglieder zu gedenken, die seit unserer Herbstsitzung das Zeitliche .gesegnet haben. Am Ständerate ist der Todesengel diesmal schonend vorübergegangen, dagegen hat er zwei markante Gestalten des Nationalrates sich auserkoren.

Am 7. Oktober erlag in Schwanden (Glarus) Nationalrat und Landammann Eduard Blumer einem Schlaganfall. Eine Woche vorher hatte er noch im Nationalrate über die Hilfsaktion zugunsten der Seidenbandweber in Baselland in voller geistiger Büstigkeit und mit der ihm eigenen Wärme referiert. Nach Hause zurückgekehrt, befiel ihn ein leichtes Unwohlsein, das er bald überwunden glaubte. Emsig ging er wieder seinen amtlichen und privaten Geschäften .nach. Da packte ihn die kalte Hand des Todes und riss ihn mitten aus seinen Plänen, seinem Schaffen für Volk und Familie heraus. Landammann Blumor ist in den Sielen gestorben.

Nationalrat Blumer ist den 10. Februar 1848 in Schwanden geboren, wo sein Vater eine Baurnwolldruokerei betrieb. Der Knabe besuchte die Volksschule seiner Heimatgemeinde und bezog dann die Kantonsschule in St. Gallen.

Es war eine bewegte Zeit, in welche diese Mittelschuljahre fielen. In St. Gallen gingen damals die politischen Wogen oft hoch. Der junge Student verfolgte eifrig den Gang der Ereignisse. Noch kurz vor seinem Tode hat er uns jene Tage anschaulich geschildert. Hier in St. Gallen war es auch,
wo Blumer mit dein üachmaligen sanktgallisehen Staatsmanne Theodor Curti für das spätere Leben treue Freundschaft schloss. Zur weitern Ausbildung als Kaufmann begab sich Blumer nach. Ancona. In seine Heimat zurückgekehrt, trat er in das väterliche Geschäft, das er mit seinen Brüdern ausbaute und erweiterte und das seine Druckereierzeugnisse bis weit ins Morgenland spedierte.

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Obwohl Kaufmann und tüchtiger Kaufmann, war Eduard Blumer für dieÖffentlichkeit bestimmt. Schon im Jahre 1872 -wurde er in den glamischen Landrat gewählt, wo er bald die Führung der Opposition gegen die damals herrschende Begierungspartei übernahm. Im Jahre 1879 wählte ihn die Landßgemeinde in den Ständerat, dem er bis 1888 angehörte. In diesem Jahre wurdeBlumer Landammann des Kantons Glarus, der ihn schon einige Jahre vorher in seine Eegierung berufen hatte. Im Jahre 1900 wurde Blumer in den Nationalrat gewählt, dem er ununterbrochen' bis zu seinem Tode angehörte und 1920 präsidierte.

Meine Herren Ständeräte! Bin Leben reich an Arbeit und reich an Erfolgen hat mit Eduard Blumer zu pulsieren aufgehört.

Im Kanton Glarus hat Blmner durch ein Menschenalter hindurch die Zügel der Eegierung straff in den Händen gehalten und Land und Volk auf eine Entwicklungsstufe geführt, um die es andere Kantone beneiden. Mit überlegener Autorität und mit vornehmer Würde hat er jeweilen die Landsgemeinde geleitet. Nicht nur die geistigen Interessen -- die Hebung der Volksschule und die religiöse Verinnerlichung -- lagen ihm am Herzen, er hat auch auf dem.

Gebiete der materiellen Wohlfahrt für seinen Kanton Grosses und Bleibende» geschaffen. Vor allem sorgte er für die Gesundung und Festigung der kantonalen Finanzen. Diese sind die Vorbedingung für die gedeihliche Entwicklung jedes Staatswesens. Dann ging er an die Schaffung grosser Werke. Ich möchte nur drei nennen, die mit seinem Namen unzertrennlich verbunden sind : die Klausenstrasse, die Sernftalbahn und die Alters- und Invalidenversicherung.

Man hat Landammann Blumer den «ungekrönten König» von Glarus genannt. Damit darf aber keineswegs die Vorstellung verbunden werden, als ob Blumer die Volkssouveränität missachtet hätte. Im Gegenteil, Blumer war ein glühender Verteidiger der Demokratie und nur deren Auswüchsen abhold.

Noch einige Worte mit Bezug auf Blumers Stellung in -der Eidgenossenschaft.

Als Industrieller hat Eduard Blumer sich vornehmlich mit Angelegenheiten; der Handels-, Verkehrs- und Zollpolitik beschäftigt, in denen er wie kein zweiter zu Hause war. Mit Geschick vertrat er die Schweiz bei den Handelsvertragsunterhandlungen mit den Nachbarstaaten. Sodann widmete er sich vornehmlich Finanzfragen, die ihm als kantonaler Finanzdirektor geläufig
waren. Vor allem aber lagen ihm die Probleme der Sozialpolitik am Herzen.

Eine Unsumme von Arbeit hat er in den Kommissionen und im Rate für die Arbeiterschutzgesetzgebung und die soziale Fürsorgeversicherung aufgewendet.

Für die Schwachen und Hilfsbedürftigen trat er jederzeit mit eigener Wärme ein. Blumer war Delegierter des Bundesrates an der internationalen Arbeiterschutzkonferenz in Berlin.

Bewahren wir dem glühenden Patrioten, dem unermüdlichen für das Volks* wohl arbeitenden Magistraten, dem edlen Philanthropen ein lebendiges Andenken.

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Meine Herren Ständeräte!

Einen Monat später, Sonntag den 8. November, starb in Zürich NationaJrat Hermann Greulich, der Senior des Nationalrates, der zweimal als Alterspräsident dessen Legislaturperiode eröffnete und dem heute wiederum diese ,,Ehre zuteil geworden wäre, so er noch unter den Lebenden weilte.

Hermann Greulich war den 9, April 1842 in Breslau geboren. In seiner Vaterstadt erlernte er das Buchbinderhandwerk, durchwanderte als Buchbindergeselle Deutschland und Österreich und kam 1865 nach Zürich, wo er sich bleibend niederliess. Greulich schloss sich in Zürich Karl Bürkli an, der ihn mit den sozialistischen Ideen Fouriers bekannt machte. Die beiden, Greulich und Bürkli, gründeten die Zürcher Sektion der I. Internationale.

Mit Salomon Vögeli, Dr. Locher und andern beteiligte sich Hermann Greulich an der demokratischen Bewegung dea Kantons Zürich am Ausgang der sechziger Jahre. Von 1869--1880 war er Kedaktor der neugegründeten «Zürcher Tagwacht», dabei eifrig bei Gründung von Arbeitervereinen und Gewerkschaften sich betätigend. Von 1884--1887 stand Greulich dem kantonalen statistischen Bureau des Kantons Zürich als Chef vor und hatte hier Gelegenheit, sich in alle Details der Staatsverwaltung einzuarbeiten. Doch stärker als die Neigung zur Statistik und sozialwissenschaftlichem Studium war in Hermann Greulich der Hang zum Agitator und streitbaren Journalisten. Am Ostermontag 1887 -wurde Greulich in Aarau vom schweizerischen Arbeiterbunde als schweizerischer Arbeitersekretär gewählt, welches Amt er bis 1918 innehatte. In dieser Stellung konnte Greulich so recht seine organisatorischen und rhetorischen Fähigkeiten entfalten, im Dienste der Arbeiterschaft, vorab der sozialistischen. Als nach dem Generalstreik 1918 der Arbeiterbund zusammenbrach, übernahm Greulich das Sekretariat des Gewerkschaftsbundes.

Hfrmann Greulich wurde 1892 in den Grossen Stadtrat von Zürich gewählt, den er 1904 und 1905 präsidierte. Er gehörte seit 1890 dem zürcherischen Kantonsrate und seit 1902 dem Nationalrate an.

Mit Hermann Greulich ist wohl die populärste Gestalt der schweizerischen Arbeiterführer, ein Koryphäe des internationalen Sozialismus, aus dem Lebe» geschieden.

Hermann Greulich war Autodidakt und hat als solcher eine erstaunMche Fülle sozialistischen Wissens in sich aufgenommen. In den Schriften
Marx', Engels und Lassalles war er wie kein zweiter zu Hause. Er hat selbst eine Abhandlung über die materialistische Geschichtsauffassung geschrieben, die in viele Sprachen übersetzt wurde. Greulich erschöpfte sich aber nicht in der Theorie, er war ein geborener Praktiker, der mit temperamentvoller, oft pathetischer Bade die Arbeitermassen faszinierte.

Hermann Greulich glaubte an die sozialistischen Ideen. Er glaubte an das kommende sozialistische Zukunftsreich, Und trotzdem -- oder vielleicht gerade deshalb -- war er gegenüber den Meinungen anderer loyal. Ich entsinne mich

606 noch gut eines Passus der Rede, die Greulich anlässlich der Beratung der Revision von Art. 41 des Fabrikgesetzes hielt und der folgendermassen lautete: «Ich habe seit langer Zeit niemals persönliche Feindschaften gepredigt, oder gutgeheissen zwischen Arbeitern und Fabrikanten. Ich habe sets gesagt : Schaut, die Fabrikanten stehen auch unter wirtschaftlichem Zwang, unter gegenseitiger Konkurrenz. Sie sind auch Menschen wie wir Arbeiter, es gibt gute und minder gute, alles durcheinandergewürfelt, aber nicht nur bei den.

andern, sondern auch bei uns.» Hermann Greulich lebte, darbte und stritt mit nie versagender Energie und Willenskraft und in ehrlicher Überzeugung für das Wohl der Arbeiterklasse,, die, wie wir, ihm ein gutes Andenken bewahren wird.

Ich ersuche Sie, zu Ehren der beiden verstorbenen Nationalräte sich von Ihren Sitzen zu erheben.

Zum Präsidenten des Ständerates wurde sodann gewählt der bisherige Vizepräsident, Herr Dr. G o t t f r i e d Keller, von und in Aarau; zumVizepräsidenten; Herr Dr. Eobert Schöpfer, von und in Solothurn; zu Stimmenzählern die Herren Laely und Riva, die bisherigen.

An Stelle des zurückgetretenen Herrn Dr. Viktor Scherer ist Herr Eugen Wullschleger, von Basel und Vordemwald, in den Ständerat eingetreten.

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