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Bericht des

Schweiz. Bundesgerichtes an die hohe Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahr 1875.

(Vom 6. April 1876.)

Herr Präsident!

Hochgeachtete Herren!

Gemäß Art. 24 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 27. Juni 1874 beehren wir uns hiemit, Ihnen Bericht über die Bundesrechtspflege nach ihren verschiedenen Richtungen zu erstatten:

L Allgemeiner Theil.

Die Mitglieder des neuen Bundesgerichtes hielten ihre erste Sitzung in Lausanne, dem offiziellen und bleibenden Sitze dieser eidgenössischen Gerichtsbehörde, am 12. Januar 1875.

Herr Präsident Blumei- leitete diese Installation, sowie die ganze neue Organisation mit derjenigen Thatkraft und Hingebung, von denen er bereits so zahlreiche Beweise abgelegt hatte.

Wir lebten der Hoffnung, daß dieser Beamte noch lange Jahre unseren Sitzungen vorstehen und seinem neuen Amte jene reiche Erfahrung und jene gründliche Kenntniß der eidgenössischen Angelegenheiten widmen könne, die ihn unter Allen auszeichneten.

720 Ein jäher Tod entriß am 12. November diesen hervorragenden Bürger unserer Liebe und Verehrung.

Die ganze Schweiz theilte unsern Schmerz und legte einen Kranz von Immortellen auf jenes Grab in Glarus, wo er jetzt in Frieden ruht, inmitten des dankbaren Volkes, welchem er sein Leben gewidmet hatte.

Vom 4. Januar 1875 an hatten die in einer Präliminarsitzung am o. Dezember 1874 in Lausanne gewählten Kanzleibeamten von den Räumlichkeiten, welche die Gemeinde Lausanne im frühern Stadt-Casino eingerichtet hatte, Besitz genommen und ihre ordentlichen Verrichtungen begonnen.

Dieses Gebäude, welches bis zur Beendigung des für den definitiven Sitz unseres Gerichtes in Aussicht genommenen Baues, als provisorisches Lokal dienen soll, entspricht dieser Bestimmung; es ist für seinen Zweck besonders eingerichtet und eben so sorgfältig als comfortabel möblirt worden, Dank den wohlwollenden und freigebigen Anordnungen der Gemeindebehörden von Lausanne.

Der Audienzsaal, die Cauzlei nebst den dazu gehörigen Räumen, der Commissionssaal, das Archiv, das Cabinet des Präsidenten, sind gut eingerichtet und entsprechen den gegenwärtigen Bedürfnissen.

Das Gleiche kann jedoch nicht gesagt werden von der Bibliothek und vom Arbeitszimmer der Richter, welche, in einem einzigen Räume vereinigt, für die tägliche Arbeit keineswegs genügenden Platz gewähren. Ueberdieß muß bemerkt werden, daß die Heizungsvorrichtungen dieser sämmtlichen Räumlichkeiten ziemlich mangelhaft sind und einen Verbrauch an Heizungsmaterial erfordern, der zum erzielten Resultat außer allem Verhältnisse steht.

Auf die Einladung des Bundesrathes vorn 23. April 1875, einen genauen Vorbericht über den Umfang des künftigen Bundesgerichtsgebäudes zu erstatten, haben wir uns beeilt, ein vollständiges Programm derjenigen Anforderungen aufzustellen, welche uns nöthig schienen, um eine nicht nur für die heutigen Bedürfnisse, sondern, angesichts der durch die Bundesverfassung in Aussicht genommenen neuen Bundesgesetze, auch für diejenigen der Zukunft genügende Einrichtung zu sichern. Wir haben zu diesem Behufe eiuen Genfer Architekten zu Rathe gezogen und nach einer eingehenden Prüfung der uns vorgelegten Zeichnungen und Einzelnpläne unterm 16. August vorigen Jahres das Ergebniß unserer Berathungen dem Bundesrathe mitgetheilt. Diese Zuschrift ist bis heute
unbeantwortet geblieben.

Wir haben indessen erfahren, daß die Stadtbehörden von Lausanne sich mit der Frage der Erstellung des neuen Gebäudes beschäftigen, und wir bezweifeln nicht, daß der ßundesrath uns recht bald einladen werde, die begonnenen Unterhandlungen wiederum aufzu-

721 nehmen und ein definitives Gutachten über die von den Gemeindsbehörden vorgeschlagenen Bauplätze abzugeben.

Da die Bundesversammlung uns bei Anlaß der Festsetzung des Budgets für das Jahr 1876 einen Crédit behufs Publikation der Urtheile des Bundesgerichtes seit Anfang 1875 bewilligt hat, so glauben wir, uns einer Auseinandersetzung der von uns entschiedenen wichtigen Streitigkeiten und Rechtsfragen enthalten zu sollen.

Wir verweisen auf dieses offizielle Publikationsorgan, welches Ihnen besser, als wir es im gegenwärtigen Bericht zu thun im Stande wären, ein vollständiges und treues Bild unserer richterlichen Thätigkeit geben wird.

II.

Es erübrigt uns, Herr Präsident, hochgeachtete Herren, Ihnen noch die statistischen Uebersichten vorzulegen.

Im Laufe des Jahres 1875 gingen im Ganzen beim Bundesgerichte ein : 772 Rekurse resp. Streitsachen, nämlich : v o m alten Bundesgericht übergeben .

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140 durch den Bundesrath Übermacht, seit dem 7. Oktober erhobene Rekurse .

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29 Neue Rekurse, direkt eingereicht mit dem 1. Januar bis zum 31. Dezember 603 Summa 772 Von diesen 772 Rekursen müssen 585 als Rekurse resp. Streitsachen civilrechtlicher und 187 als Rekurse staatsrechtlicher Natur bezeichnet werden.

A. Streitigkeiten civilrechtlicher Natur.

Die oben angeführten 585 Rekurse zerfallen in 50 Prozesse über civilrechtliche Streitfragen und 535 Rekurse gegen Beschlüsse der eidgenössischen Schatzungskommissionen, betreffend Expropriationen für Eisenbahnen.

1. Von den 50 Civilstreitigkeiten wurden 22 durch Urtheile des Bundesgerichtes und 6 durch Vergleich unter den Parteien erledigt; 22 befanden sich am 31. Dezember noch im Stadium der Instruktion, nämlich 5 Ehescheidungssachen, welche in Anwendung des Bundesgesetzes vom 8. Februar 1862 über gemischte Ehen anhängig gemacht worden waren und sämmtlich vor Ende Februar 1876 entschieden wurden.

722 5 wichtige Prozesse zwischen der Gotthardbahngesellschaft und den Unternehmern ihrer Tessinerlinien, welche dem Bundesgerichte, gestützt auf eine Bestimmung der Pflichteuhefte jener Gesellschaft, unterbreitet worden sind; 10 Prozesse von Privaten oder Gemeinden gegen Kantone ; l Prozeß von zwei privilegirten Aktionären gegen die Westbahngesellschaft ; l Prozeß zwischen zwei Gemeinden verschiedener Kantone, eine Bürgerrechtsfrage betreffend.

2. Von den 535 Rekursen in Expropriationssachen wurden erledigt: 40 durch Urtheil des Bundesgerichtes; 297 durch Annahmserklärung der Anträge des Instruktionsrichters oder der bundesgerichtlichen Instruktionskommission durch die Parteien; 84 durch Vergleich unter den Parteien und Rückzug; 114 befinden sich noch im Stadium der Instruktion.

Diese Rekurse beziehen sich auf sämmtliche auf Schweizergebiet im Bau begriffene Eisenbahnen, beziehungsweise auf die Tessinerlinien der Gotthardbahn, die Nordostbahnlinien, linksufrige Zurichseebahn, Centralbalm, Aargauische Südbahn, Nationalbahn, Langenthal-Wauwylbahn, Gäubahn, Ouchy-Lausanne-Eaux-de-Bret, Broye-Transversale und Suisse-Occidentale.

Eine Commission, bestehend aus drei Mitgliedern unseres Gerichtes, wurde gemäß Art. 28 des Bundesgesetzes vom 1. Mai 1850 betreffend Abtretung von Privatrechten, speziell mit der Beaufsichtigung der eidg. Schatzungskommissionen, welche in erster Instanz über die für abgetretene Privatrechte zu leistenden Entschädigungen zu entscheiden haben, beauftragt.

Nach den Anträgen dieser Commission sind mehrere Beschlüsse gefaßt worden, hauptsächlich um die Schätzungen zu beschleunigen und eine schnellere Zufertigung der Urtheile der eidg. Schatzungskommissionen an die betreffenden Eigenthiimer herbeizuführen.

3. Am 2. Dezember reichte die Basler Handelsbank bei dem Bundesgericht ein Begehren um Zwangsliquidation der Bahngesellschaft Bern-Luzern ein. Dasselbe gründete sich darauf, daß die halbjährigen Coupons des von der genannten Bahn erhobenen Hypothekaranleihens ersten Ranges im Betrage von 10 Millionen Franken zur Verfallzeit nicht bezahlt worden seien.

Wir ordneten sofort eine Versammlung der Gläubiger dieses Anleihens an, um denselben gemäß Art. 15 des Bundesgcsetzes vom 24. Juni 1874 das Liquidationsbegehren vorzulegen.

723 Das Weitere über diese Frage gehört dem Jahre 1876 an und wird einen der Hauptgegenstände des Berichtes bilden, welchen wir Ihnen über das zweite Jahr unserer Thätigkeit vorzulegen haben werden.

B. Staatsrechtliche Streitigkeiten.

Von den 187 staatsrechtlichen Streitigkeiten sind 129 durch Urtheil des Gerichtes und 30 durch Ineompetenzerklärung oder Nichteintreten erledigt worden; 28 sind noch in der Instruktion begriffen.

Unter den 129 vom Gericht erlassenen staatsrechtlichen Entscheidungen compariren zwölf Erkenntnisse betreffend Auslieferung, welche gemäß Art. 58 des Gesetzes über Organisation der Bundesrechtspflege in Fällen, wo die Anwendbarkeit internationaler Verträge durch die Angeklagten oder Verurtheilten bestritten worden war, erlassen worden sind.

Dieselben wurden gefällt auf Begehren von : 1) Frankreich, 3 Fälle.

a. Begehren vom 22. Januar 1875 gegen Auguste Nanton aus Avignon wegen Unterschlagung und betrügerischem Bankerott. Auslieferung bewilligt durch Urtheil vom 9. Februar 1875.

b. Begehren vom 14. Mai und vom 22. Juli 1875 gegen den Engländer Francis Stanley, verfolgt wegen Betrugs, Auslieferung bewilligt durch Urtheile vom 20. Mai und 2. August 1875.

c. Begehren vom 20. August 1875 gegen Arthur Benjamin Millaud aus Marseille, verfolgt wegen betrügerischem Bankerott. Auslieferung bewilligt durch Urtheil vom 14. Oktober 1875.

2) Württemberg, l Fall.

Begehren vom 15. März 1875 gegen Albert Lutz aus Teinach, verfolgt wegen Theilnahme an einem Morde. Auslieferung bewilligt durch Urtheil vom 29. März 1875.

3) Großherzogthum Baden, 2 Fälle.

a. Begehren vom 1. Mai 1875 gegen Magnus Wehrle aus Möhrenbach, verfolgt wegen Unterschlagung. Auslieferung verweigert durch Urtheil vom 20. Mai 1875.

724 b. Begehren vom 6. Juni und 19. Juli 1875 gegen Karl Mörch aus Pforzheim, Kaufmann in Karlsruhe, wegen Betrugs und Unterschlagung. Dein ersten Auslieferungsbegehren entsprochen durch Urtheil vom 2. August; das zweite zurückgewiesen durch Urtheil vom 16. August 1875.

4) Bayern, 2 Fälle.

a. Begehren vom 16. Juli 1875 gegen Anna Kreutzberg, geborne Settele, aus Boraxleben, Fürstenthum SchwarzburgRudolstadt, verfolgt wegen Kuppelei. Auslieferung bewilligt durch Urtheil vom 2. August 1875.

&. Begehren vom 17. Juni 1875 gegen Ruppert Nagler von Augsburg, verfolgt wegen falschen Zeugnisses resp. falscher Versicherung an Eidesstatt Auslieferung bewilligt durch Urtheil vom 25. Juni 1875.

5) dem deutschen Reiche, l Fall.

Begehren vom 20. Mai und 22. Juni 1875 gegen Friedrich August Otto Sternagel von Halberstadt (Preußen) wegen verschiedenen Unterschlagungen.

Auslieferung bewilligt durch Urtheil vom 2. Juli 1875.

6) Italien, l Fall.

Begehren vom 4. Juli 1875 gegen Jean Baptiste Nicolini, Italiener, angeklagt, 100,000 Franken zum Nachtheile der englischen Baugesellschaft zu Turin, deren Sekretär er war, unterschlagen zu haben. Auslieferung bewilligt durch Urtheil vom 9. September 1875.

Wir bemerken dabei, daß eine gewisse Anzahl der staatsrechtlichen Rekurse sich deutlich als Versuche unglücklicher, von den obersten Kantonalbehörden abgewiesener Querulanten darstellten, welche die Existenz des Bundesgerichtes benutzen wollten, um ihren unbegründeten, oder gar widerrechtlichen Ansprüchen zum Siege zu verhelfen. Auf diese trölerhaften Rekurrenten haben wir nicht ermangelt, die Bestimmungen des Art. 62 des Gesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege in Anwendung zu bringen, welcher uns ermächtigt, in solchen Fällen den Rekurrenten eine Gerichtsgebühr zu Händen der Bundeskasse aufzuerlegen.

C. Strafrechtspflege.

Das Bundesgericht hatte im Laufe des Jahres 1875 auf dem Gebiete der Strafrechtspflege weder Beschlüsse zu fassen, noch ein Urtheil zu fällen.

725 Unsere Funktionen waren sonach auf die Besetzung der drei Kammern beschränkt, welche vorkommendenfalls für diesen Theil der Bundesrechtspflege in Thätigkeit zu treten haben.

Zur Erledigung der oben angeführten Geschäfte hat unser Gericht im Jahre, 1875 100 ordentliche und außerordentliche Sitzungen gehalten. In der Regel finden wöchentlich zwei ordentliche Sitzungen statt, und zwar am Freitag und Samstag ; die andern Tage werden dem Aktenstudiunt und den durch die Prozeßgesetze vorgesehenen Instruktionshaadluügen -gewidmet.

Bevor wir diesen Bericht schließen, müssen wir Sie, hochgeachtete Herren, noch darauf aufmerksam machen, daß wir es absichtlich unterlassen, Wünsche über Aenderungen auszusprechen, welche vielleicht sowohl bei dem Bundesgesetze über die Organisation der Bundesrechtspflege, als bei demjenigen über das Verfahren bei dem Bundesgerichte angemessen erscheinen könnten.

Wir halten nämlich dafür, daß erst die Ergebnisse der Erfahrung und das Inkrafttreten der wichtigen, im Artikel 64 der Bundesverfassung vorgesehenen Bundesgesetze abzuwarten seien, bevor wir bestimmte Anträge Ihrer Erwägung unterbreiten.

Mit Hochachtung.

Lausanne,|,den 6. April 1876.

Im Namen des Schweiz. Bundesgerichtes: Der P r ä s i d e n t : Der G e r i c h t s s c h r e i b e r :

J. Eoguin.

Bnndesblatt. 28. Jahrg. Bd. n.

Dr E. de Weise.

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27.05.1876

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