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Aus den Verhandlungen der schweizerischen Bundesversammlung,

Am 4. Dezember 1876 sind die gesezgebenden Räthe der Eidgenossenschaft zu ihrer ordentlichen Wintersession zusammen getreten.

Der Präsident des Nationalrathes, Herr Landammami A. 0.

A e p l i , von St. Gallen, eröffnete die Verhandlungen mit folgender Ansprache : Meine Herren Nationalräthe !

Indem ich Sie beim Beginn unserer ordentlichen Wintersession in der Bundesstadt willkommen heiße, habe ich Sie zunächst aufmerksam zu machen, daß im Personalbestande unseres Rathes neue Aenderungen eingetreten sind.

Zu dem Verluste, den wir im Laufe dieses Jahres in der Person des Herrn Joh. Romedi aus Graubünden zu beklagen hatten, dessen bereits in lezter Junisizung ehrend gedacht worden ist, hat sich durch unerwarteten Rüktritt derjenige des Herrn Dr. Joh. Jos. Zemp aus Luzern gesellt. Sie werden diesen Collegen, dessen nüchternen und klaren Einblik in die Gegenstände unserer Berathung Sie wiederholt schäzen gelernt, nur ungern vermissen. Der Tod hat uns einen andern Collegen geraubt, der durch eine lange Reihe von Jahren eine wahre Zierde dieser Versammlung gewesen ist, und der eine Luke läßt, welche nicht leicht wieder ausgefüllt werden kann.

Herr Louis Demiéville aus der Waadt hat schon vor der Gründung unserer neuen Bundesinstitutionen in seinem Heimatkantone und auf eidgenössischen Tagsazungen durch die Geradheit seines Wesens, die Klarheit seines Geistes, den Reichthum seiner Kenntnisse, die fesselnde Beredsamkeit seines Wortes geglänzt und diese hervorragenden Eigenschaften in die neuen Verhältnisse übergetragen, die er, ein Mann des Rechtes und des Gesezes im besten Sinne, nicht nur ihrem vollen Umfange nach für sich acceptirte, sondern zu deren gedeihlicher Entwikelung in administrativer und legislativer Bundesblatt. 28. Jahrg. Bd. IV.

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Richtung er auch erfolgreich mitgewirkt hat. Auch nach der neuesten Gestaltung unserer Bundesverfassung, die ihm nicht in allen Beziehungen behagen mochte, bewährte er die gleiche charaktervolle Höhe der Anschauung, indem er auch das Postulat einer größern Unificirung des Civilrechtes, weiJ einmal durch die Verfassung geboten, unumwunden anerkannte und daher jenen bald offenen, bald verdekten Krieg gegen die Ausführung der bezuglichen Verfassungsvorschriften verschmähte, welchen man hie und da in kaum gany, zu rechtfertigendem Eifer für die Erhaltung kantonaler Absonderlichkeiten noch führen zu sollen glaubt. Wir werden, wenn wir einmal zur Behandlung jener wichtigen und schwierigen Materien des Civilrechtes kommen, es besonders schwer zu beklagen haben, daß uns seine Mitwirkung versagt und sein beredter Mund geschlossen ist, und daß wir durch seine loyalen Gesinnungen nicht mehr unterstüzt werden. Sein Andenken wird, wie in seinem Heimatkanton und im ganzen Vaterlande, besonders auch im Schooße unseres Rathes nicht erloschen.

Die reichbesezte Tagesordnung, welche uns der Bundesrath vorlegt, ladet uns, außer zu den reglementarischen Wahlen, auch zur Berathung einer Reihe von Gesezesentwürfen ein, von denen einige in ganz besonders hohem Maße Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen dürften. Nachdem das Bundesgesez betreffend dio politische Stimmberechtigung der Schweizerbürger vom 24. Dezember 1874 am 23. Mai 1875 und das Bundesgesez betreffend die Militärpflichtersazsteuer vom 23. Dezember 1875 am 6. Juli dieses Jahres dem Referendum erlegen sind, soll das erstere durch das Bundesgesez betreffend die politischen Rechte der Schweizerbürger und das zweite durch dasjenige über den Militärpflichtersaz ersezt werden. Es ist nicht meine Aufgabe, bei dieser Gelegenheit den Gründen nachzuforschen, welche jene Geseze zu Falle gebracht haben, und die Frage zu beantworten, ob die neuen Entwürfe Garantien einer günstigem Beurtheilung durch das schweizerische Volk enthalten ; das eine wie das andere zu erwägen, war in erster Linie Sache des hohen Bundesrathes, in zweiter der vorberathenden Kommissionen. Aber an das darf doch von dieser Stelle aus erinnert werden, daß die gesezgebenden Räthe die sicherste und unanfechtbarste Grundlage für ihre legislativen Aufgaben, neben der sorgfältigen Durcharbeitung des
Stoffes, in der Beobachtung der Schranken finden, welche die Bundesverfassung selbst ihrer Thätigkeit gesezt hat. Wenn man einseitigen Interessen und Parteibestrebungen, welche sich mit besonderem Eifer an diese oder jene legislatorische Aufgabe hängen, mit zu großer Bereitwilligkeit das Ohr leiht, wie leicht kommt man nicht über das Ziel hinaus, das die Bundesverfassung gestekt hat. TVitt später eine allgemeine

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Abstimmung ein, so machen sich nicht nur jene Meinungen geltend, welche einen besondern Einfluß auf die Gestaltung des Gesezes geübt haben, sondern auch die Meinungen derjenigen, welche mit dem Geseze nicht zufriedsn oder der Entwikelting der Bundesgesezgebung überhaupt nicht grün oder mit dem Gange der öffentlichen Angelegenheiten im Allgemeinen nicht einverstanden sind, und denen allen der Vorwurf der Kompetenzüberschreitung, wenn er auch nur einigermaßen begründet ist, als ein ganz besonders wirksames Mittel der Opposition zu statten kommt. Sind die gesezgebenden Behörden genau auf dem verfassungsmäßigen Boden geblieben, und haben sie im Uebrigen ihre Aufgabe mit Fleiß und Umsicht gelöst, so ist nicht vorauszusezen, daß die Früchte ihrer Thätigkeit nicht auch die Anerkennung der Mehrheit des Volkes finden werden ; und wenn bei einer Referendumsabstirnmung ein Gesez dennoch unterliegt, so fallen wenigstens keine Vorwürfe auf die Räthe zurük, sondern auf Jene, welche in Mißleitung der öffentlichen Meinung störend in die Bundesgesezgebung eingegriffen haben.

o o Eine besondere Aufmerksamkeit werden Sie, meine Herren, auch dem Budget für das künftige Jahr widmen. Sie erinnern sich, daß in der verwichenen Sommersession dem Bundesrathe der Auftrag gegeben worden ist, bei Anlaß der Budgetvorlage für das Jahr 1877 über die finanzielle Lage des Bundes Bericht zu erstatten und Anträge zu stellen, in welcher Weise die Ausgaben und Einnahmen der eidgenössischen Staatsrechnung in ein normales Verhältniß gebracht werden können. Dieser Auftrag verdankt seinen Ursprung der beinahe erschrekenden Perspektive in das wachsende Mißverhältniß zwischen unsern Mitteln und den Bedürfnissen des öffentlichen Dienstes, und wohl auch dem Gefühle, daß diesem Mißverhältniß durch die in lezter Linie von der Verfassung vorgesehene Erhebung von Geldkontingenten bei den Kantonen nicht wohl abgeholfen werden könne, da viele der leztern schon jezt unter der für eigene Bedürfnisse wachsenden Steuerlast seufzen. Die Aufgabe wird um so schwieriger sein, da bei allen Ersparnissen doch die ,,bundesgemäßen Zwekea nicht benachtheiligt werden sollen, und da es doch ohne Zweifel auch nicht in der Ansicht der Räthe liegen wird, angefangenen Werken von anerkannter öffentlicher Bedeutung die Subsidien zu entziehen und sie damit vor ihrer
Vollendung wieder steken zu lassen.

Indem wir, troz Allem nicht ganz ohne Hoffnung auf einen günstigen Erfolg, den Anträgen entgegen sehen, welche uns den drohenden fiskalischen Kalamitäten entreißen sollen, können wir auch die wirthschaftlichen nicht völlig mit Stillschweigen übergehen, auf welche wir durch neuere Erscheinungen aufmerksam gemacht

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worden sind. Bilden sie auch keinen bcsondern Gegenstand der Berathung, so drängen sie sich doch in verhäognißvoller Weise bei verschiedenen Gesezesentwürfen auf und spielen wohl eine sehr einflußreiche Rolle bei den Vorberathungeii der Revision der Handels- und Zollverträge mit den Nachbarstaaten und derjenigen der eigenen Zollgesezgebung. Die Schweiz kann sich aus der eigenen Bodenproduktion nicht erhalten, sie bedarf, wie kaum ein anderes Land, der Industrie; das ist ein Saz der keines nähern Nachweises bedarf. Welches ist aber der Zustand unserer Industrie jezt, und welche Zukunft steht ihr bevor? Auf die erste Frage enthalten wir uns einer Antwort, weil die Störungen, unter denen einzelne Zweige derselben gegenwärtig leiden, Krisen zugeschrieben werden können, denen sich keine Industrie zu entziehen im Stande ist, und die eine jede, ist sie an sich gesund, muß überdauern können. Auf die zweite Frage dagegen antworten die Schilderungen der für uns so bedenklichen wachsenden Ueberlegenheit der nordamerikanischen Industrie über die europäische und speziell auch über die schweizerische in verschiedenen für uns wichtigen Branchen, die Betrachtung der uns verderblichen wachsenden Konkurrenz der industriellen Produktion anderer europäischer Länder und endlich die im Gange befindlichen Revisionen der Zolltarife unserer Nachbarstaaten, besonders Frankreichs. Wahrlich, wenn den eindringlichen Mahnungen sachverständiger und patriotischer Männer auf neue Belebung unserer industriellen Thätigkeit zu rechter Zeit nicht nur durch Verbesserung der Maschinen in der Großindustrie und im Kleingewerbe, sondern auch durch Verbesserung der Sitten des Volkes, nicht nur durch moralische, intellektuelle und ökonomische Hebung des Arbeiterstandes, sondern auch durch verständiges und vertrauensvolles Zusammenwirken von Kapital und Arbeit, nicht nur durch Befreiung von den Schranken, welche der Entwiklung der individuellen Kräfte noch im Wege stehen mögen, sondern auch durch gesezliche Beschüzung nüzlicher Erfindungen gegen räuberische Ausbeutung Unberechtigter -- wenn diesen und ähnlichen Räthen kein offenes Ohr geschenkt wird, so geht unsere Industrie und damit ein großer Theil unseres Volkes einer trüben Zukunft entgegen. Möchte man sich dessen, so lange es noch Zeit ist, erinnern, und auch die Nachhülfe des Staates
nicht versagen, welche, namentlich durch die Gesezgebung, in wirksamer Weise geübt werden kann. Was noch besonders Tlie Revision der Handels- und Zollverträge anbelangt, so darf wohl mit Zuversicht angenommen werden, daß der Bundesrath in den zu pflegenden Unterhandlungen es nicht gestatten werde, daß auch nur einzelnen unserer Hauptindustrien durch Zollerhöhungen der fernere Export nach den betreffenden Staaten unmöglich gemacht wird, und daß, wenn von

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solchen Bestrebungen^ nicht abgelassen werden wollte, durch entsprechende Erhöhung von Ansäzen des schweizerischen Zolltarifs auf geeigneten Exportartikeln des unfreundlichen Nachbars eine wirksame Reciprocität geübt werde. Denn man wird auch nicht e i n e Hauptindustrie unseres Landes in so schnöder Weise Preis geben oder gar zu Grunde gehen lassen.

Ich kann nicht umhin, noch eines Gegenstandes unserer Tagesordnung zu gedenken, welcher uns an politische Ereignisse erinnert, die einen besorgnißerregenden Charakter anzunehmen drohten und, Dank der Intervention des Bundesrathes und der Thätigkeit des von ihm berufenen Vertreters, bis dahin wenigstens einen so befriedigenden Verlauf genommen haben. Ich spreche von der Gewährleistung der partiell revidirten tessinischen Verfassung. Allerdings soll diese Partialrevision ihre Vollendung erst durch einen Beschluß der Bundesversammlung finden, welcher der Kanton Tessin die Entscheidung von besonders für ihn wichtigen konstitutionellen, aber heftig bestrittenen Fragen überläßt.

Die unter der höchst erfolgreichen Vermittlung des eidgenössischen Kommissärs erzielte Vereinbarung zwischen dem Staatsrath und dem Großen Rathe aber ist an sich schon eine äußerst erfreuliche Erscheinung, welche von der günstigsten Wirkung auf die Stimmung der Bevölkerung des Kantons zu sein scheint und uns hoffen läßt, daß die Entscheidung der Bundesversammlung in der gleichen versöhnlichen Stimmung vom Volke aufgenommen werde, möge sie so oder anders ausfallen.

Ich erkläre die Sizung für eröffnet.

Im N a t i o n a l r ath erschienen als neue Mitglieder : Herr Andreas Rudolf P l an ta, von und in Samaden (Graubünden), gewählt am 23. Juli 1876 im 34. eidg. Wahlkreise für den am 30. Mai gleichen Jahres verstorbenen Hrn. Johann Rom e d i von Madulein.

(Herr Planta bekleidete die Stelle eines Nationalrathes vom Jahre 1848 bis 1869.)

Herr Alois R ä b e r , von und in Ebikon (Luzern), Großrath, Kriminalrichter und Gerichtsschreiber, am 22. Oktober d. J.

gewählt im 12. eidg. Wahlkreise, in Ersezung des aus dem Nationalrath getretenen Hrn. Dr. Job. Joseph Z e m p von Entlebuch.

Im S t ä n d e r ath erschien als neues Mitglied für den Kanton Geof : Herr Pierre M o r i a u d , Advokat u. Großrath, von u. in Genf.

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