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Schweizerisches Bundesblatt.

28. Jahrgang. I.

Nr. 3.

22. Januar 1876.

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Bericht der

Minderheit der nationalräthlichen Kommission, betreffend den Rekurs des Grossen Rathes von Tessin gegen den > , Entscheid des Bundesrathes über die Wahlen des Kreises Sessa.

(Vom 20. Dezember 1875.)

I. Die Wahlen im Tessin für Gesammterneuerung des Großen Rathes und der gerichtlichen Bezirks- und Kreisbeamteten fanden Sonntag den 21. Februar 1875 statt.

Der Kreis Sessa hatte 3 Großräthe, 5 Kandidaten für das Bezirksgericht, den Friedensrichter und dessen Statthalter zu wählen.

Bezüglich der G r o ß r a t h s w a h l e n schreibt das Gesetz vor: daß dieselben mittelst N a m e n s a u f r u f stattzufinden haben; eine Gemeinde nach der andern. Die R e i h e n f o l g e der Gemeinden wird durch das Loos bestimmt.

Der Kreis Sessa umfaßt 6 Gemeinden. Das Loos entschied, daß die Gemeinde Sessa, der Ort wo die Abstimmung stattfand, zuletzt an die Reihe kommen sollte. Die Abstimmung fand in der Pfarrkirche statt, unter dem Präsidium des Herrn Delmonico, als Statthalter des Friedensrichters. Der Verlauf der Wahlen war laut Protokoll des Herrn Delmonico, des Beschwerdeführers, folgender : ßundesblatt. 28. Jahrg. Bd. L

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94 Nachdem es erwähnt, wie das Bureau bestellt, die Reihenfolge der Gemeinden zur Abgabe der Stimmen durch das Loos festgesetzt und Vorschläge gemacht waren, fährt es wörtlich also fort: ,,Darauf ging man über zur Abgabe der Stimmen mittelst des Namensaufrufs der in den Stimmregistern der einzelnen Gemeinden, die von den betreffenden Gemeindepräsidenten beim Bureau abgegeben worden, eingeschriebenen Bürger, was bis gegen halb sechs Uhr Abends mit der größten Ordnung und Ruhe vor sich ging.

Gegen 6 Uhr entstund in der Kirche ein Tumult, ohne daß man erkennen konnte, von welcher Seite er komme. Die Lichter wurden ausgelöscht. Man vernahm Lärm von allen Seiten. Der Eine schrie: ,,fortfahren,"· der Andere: ,,abbrechen". Dieser Lärm dauerte etwa 20 Minuten. Die Lichter wurden wieder angezündet, und der Präsident versuchte, die Ordnung herzustellen, aber alles war umsonst. Ein Theil der Mitglieder und Schreiber des Bureaus hatten sich entfernt. Infolge dessen erklärte der Präsident die Versammlung aufgehoben, aber die Tuniultuanlen verlangten die Fortsetzung noch am gleichen Abend und andere am Morgen.

Um die Papiere und die Person des Präsidenten in Sicherheit bringen zu können,' a n t w o r t e t e d i e s e r z u s t i m m e n d . Sobald O aber die anwesenden Mitglieder des Bureaus sich in Sicherheit gebracht hatten , entschlossen sie sich , dem Regierungstatthalter über das Vorgefallene Bericht zu erstatten, und den Gemeindepräsidenten des Kreises durch den Weibel die amtliche Mittheilung zu machen, daß die Versammlung zur Fortsetzung ihrer Arbeiten so lange nicht werde fortgesetzt werden, bis die Regierung es angeordnet haben werde.u II. Nun war aber Herr Delmonico nicht befugt, die Versammlung auf unbestimmte Zeit zu vertagen.

Das Tessiner Wahlgesetz von 1843, Art. 36, lautet: .^Wcnn wegen vorgerückter Zeit, schlechter Witterung o der weg e n eines a n d e r e n d r i n g e n d e n U m s t a n d e s am festgesetzten Tage nicht alle Wahlen beendigt werden können, so sollen dieselben an den n a c h f o l g e n d e n T a g e n o h n e U n t e r b r e c h u n g fortgesetzt werden.a Der Friedensrichter steht u n t e r dem Gesetz. Seine g e s e t z w i d r i g e ( a u ß e r h a l b der Versammlung getroffene, daher auch nicht ins Protokoll gehörende) Anordnung ist daher in sich selbst null und nichtig.

Herr Delmonico hatte auch keine V e r a n l a ß u n Oa zu dieser Verfügung.

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Er behauptet, dieselbe getroffen zu haben, um Unordnungen und Streitigkeiten zuvorzukommen, welche er auf den folgenden Tag besorgte.

Nun hat aber der E r f o l g gezeigt, daß diese Befürchtung -- wenn sie überhaupt bestanden hat -- eine ganz unbegründete war.

Die Verhandlungen des zweiten Tages sind unbestrittenermaßen in vollständiger Ordnung und Ruhe vor sich gegangen, obwohl beide Parteien an denselben theilnahmen.

Daß diese vorgeblichen Befürchtungen ihm keinen maßgebenden Anlaß bieten konnten, die Verhandlungen auf unbestimmte Zeit zu vertagen, scheint Herr Delmonico nachträglich selbst gefühlt zu haben, sonst würde er nicht in einer neuereu Zuschrift (vom Oktober) die lächerliche Behauptung wagen: nicht bloß jene Befürchtungen, sondern auch der i n der f o l g e n d e n N a c h t gefallene Schnee haben ihn an jenem Abende veranlaßt, die Versammlung abzusagen.

Auch die Vorgänge in der Versammlung am ersten Tage konnten keine solche Befürchtungen für den folgenden Tag rechtfertigen.

Es geht im Gegentheil aus dem von Delmonico selbst produzirten Protokoll und aus anderen .Akten hervor, daß, wenn überhaupt ein Tumult stattgefunden hat, dieser d a d u r c h entstanden ist, daß der Präsident Delmonico die Versammlung ganz aufheben wollte und daß die Wähler sich zufrieden gaben, als der Präsident erklärt hatte, die Verhandlungen werden am folgenden Morgen fortgesetzt werden.

Daß Delmonico wirklich in der Versammlung selbst die Fortsetzung auf den folgenden Tag und zwar auf 10 Uhr Vormittags angekündigt hat, geht zur Evidenz hervor: 1) aus seinem eigenan Protokoll; 2) aus dem schriftlichen Zeugniß von fünf anwesenden Gemeindepräsidenten und einer großen Zahl von Bürgern; 3) aus dem Umstand, daß Delmonico, um die Versammlung am folgenden Tag nicht stattfinden zu lassen, es nöthig fand, den Weibel mit Gegenbefehl in alle 6 Gemeinden zu senden.

Uebrigens mußte Jedermann wissen, daß die Verhandlungen laut Gesetz und Uebung am nächsten Tage fortgesetzt werden mußten.

III. Der gesetzwidrige Gegenbefehl des Versammlungspräsidenten Delmonico hatte aber auch in der That keinen Erfolg, weil er

96 nicht zur Kenntniß der Wähler kam, wie wir nachher sehen werden.

Am folgenden Morgen nach 10 Uhr trat die Versammlung wieder zusammen.

Das daherige Protokoll, welches sowohl die Verhandlungen des vorhergehenden als dieses Tages umfaßt, erwähnt zuerst der Konstituirung unter dem Präsidium des Delmonico, und erzählt sodann die weiteren Vorgänge wörtlich wie folgt: ,,Man schritt alsdann zur Abstimmung mittelst des Namensaufrufs der in den einzelnen Verzeichnissen der Gemeinden eingeschriebenen Bürger, was bis um 6 Uhr Abends dauerte ; und es ergab sich folgendes Resultat: Demarchi 327 Stimmen, Foffa 266, Rossi Pietro 269, Rossi Luigi 279, Rossi Ermenegildo 302, Maricelli 162, wie aus den betreffenden Listen zu ersehen ist.

Angesichts der späten Stunde wurde die Abstimmung vom Präsidenten der Versammlung in Uebereinstimmung mit dem Bureau und den anwesenden Bürgern abgebrochen und die Fortsetzung auf heute den 22. Februar um 10 Uhr Vormittags angesetzt. Am gestrigen Tage (21-) haben gestimmt die Gemeinden Biogno di Beride, Monteggio, Bedigliora, Croglio. Es stimmte auch ein Theil der Gemeinde Sessa, nämlich bis zum Buchstaben I des Verzeichnisses von Sessa. Die Abstimmung fand in regelmäßiger Weise statt, mittelst zweier Appelle für jede der fünf Gemeinden, welche ihre A b s t i m m u n g vollendet haben. Im Ganzen stimmten gestern 546 Bürger.

Heute den 22. Februar trat die Versammlung um l O1/! Uhr wieder zusammen, wie es gestern A b e n d s festgesetzt word e n , um ihre Arbeiten fortzusetzen. Da weder der Statthalter des Friedensrichters, noch der ihm beigeordnete Sekretär sich eingefunden hatte ,so übernahm Herr Luigi Rossi, als ältester Gemeindepräsident, das Präsidium. Derselbe erklärte die Versammlung als eröffnet. Das Bureau wurde in folgender Weise bestellt und ergänzt : (Folgen die Namen der Syndici und Gemeinderäthe.)

Man ging zur Abstimmung über mittelst des Namensaufrufes der Bürger der Gemeinde Sessa. Die Abstimmung selbst führte zu folgendem Ergebniß, das heißt, die Stimmen von heute mit denjenigen von gestern zusammengezählt, erhielten die Kandidaten für den Großen Rath folgende Stimmen: Demarchi 358, Foffa 281, Rossi Pietro 279, Rossi Luigi 330, Rossi Ermenegildo 368, Maricelli 211.

97 Der Präsident erklärte die Abstimmung bezüglich der Großrathsmitglieder für beendigt, machte das Ergebniß, wie oben bemerkt, bekannt und erklärte sodann als gewählt die Herren Demarchi. Rossi Luigi und Rossi Ermenegildo.

Der Präsident lud alsdann die Versammlung ein, zu der Ernennung der 5 Kandidaten für die Bezirksgerichte und der Beamteten des Friedensgerichtes überzugehen.

(Abstimmung durch Ausscheidung. Wahl theils einstimmig (250), theils 246 gegen 4.)

Der Präsident erklärte sodann als gewählt N. N. ...

Einer der Sekretäre des Bureaus verlas das Protokoll, welches einstimmig angenommen wurde.

Der Präsident erklärte alsdann die Operationen als beendigt und die Versammlung als aufgehoben.

(Folgen die Unterschriften .3a Vergleicht man die beiden Protokolle, insofern sich dieselben auf die Verhandlungen des ersten Tages (21.) beziehen, mit einander, so findet man dieselben bis auf einen Umstand in Uebereinstimmung. Das Protokoll des Delmonico behauptet, die Versammlung sei Abends 6 Uhr bei Licht wegen Unruhen entlassen worden, das andere erwähnt bloß der ,,späten Stunde"1 als Grund des Abbruchs der Verhandlungen ; welcher Widerspruch an sieh gleichgültig ist, da in beiden Fällen das Gesetz die Verschiebung auf den folgenden Tag befiehlt ; -- in keinem Falle aber eine Verschie' bung auf unbestimmte Zeit erlaubt. Das Protokoll des Delmonico ist übrigens ohne gesetzlichen Werth, da es nicht in der Versammlung abgefaßt und derselben nicht zur Genehmigung vorgelesen worden ist. Beide Protokolle sind namentlich darüber in Uobereinstimmung, daß das Präsidium die Fortsetzung auf den folgenden Tag inmitten der Versammlung angekündigt hat.

Es kann die Frage aufgeworfen werden, ob die Versammlung des zweiten Tages (22.) befugt war, in Abwesenheit des ordentlichen Präsidenten und seines Schreibers zu verhandeln?

Das tessinische Gesetz vom 11. Juni 1860, Art. 3, lautet: ,,§ 3. Wenn einige oder alle Beamtete des Friedensrichteramtes abwesend sind, so werden dieselben ersetzen : als Präsident der an Jahren älteste Gemeindepräsident und als Stimmenzähler und Schreiber die anderen Gemeindepräsidenten in der Reihenfolge ihres Alters ; in Ermanglung einer ausreichenden Zahl von Gemeindepräsidenten werden dieselben durch die hiezu vom Präsidenten berufenen Gemeinderäthe ersetzt."

98 Genau nach dieser Vorschrift wurde am zweiten Wahltage vorgegangen.

Uebrigens ist die Frage, ob die Versammlung des zweiten Tages eine gesetzliche gewesen sei, von der Auslegung kantonaler Gesetze abhängig, worüber zu entscheiden der Große Rath des Kantons Tessili in letzter Instanz kompetent ist, was auch vom Bundesrathe in den Erwägungen seines Entscheides*) anerkannt wird.

War aber die Versammlung des zweiten Tages eine gesetzmäßige, so müssen auch die von derselben getroffenen Wahlen anerkannt werden, wie es von Seite des Großen Rathes auch wirklich gegeschehen ist.

Es ist nach dem Vorgetragenen klar, daß durch die nach gesetzlicher Vorschrift gebotene und den Bürgern am Schlüsse der Versammlung des ersten Tages angezeigte Fortsetzung der Verhandlungen am zweiten Tage keine verfassungsmäßigen Rechte irgend eines Bürgers verletzt worden sind. Die Fortsetzung clfer Verhandlungen am 22. ist nichts anderes als die Befolgung des kantonalen Wahlgesetzes.

a Durch die B e f o l g u n g des Gesetzes kann aber kein verfassungsmäßiges Recht verletzt werden.

Wenn ein solches verletzt wurde, so geschah es durch den außer dem Gesetze stehenden Gegenbefehl des Delmonico.

IV. Nun fragt es sich, ob nicht wirklich durch die Zettel, welche der Versammlungspräsident Delmonico am Abend des ersten Wahltages (nachdem die Versammlung entlassen war und die Bürger sich entfernt hatten) an die Gemeindepräsidenten abgeschickt* hat, und durch welche er Gegenbefehl geben wollte, einzelne Stimmfähige abgehalten worden seien, die Versammlung des zweiten Tages zu besuchen.

Ich habe schon oben nachgewiesen, daß Delmonico nicht bef u g t war, einen solchen Gegenbefehl zu geben, daß dieser Akt des Versammlungspräsidenten ein ungesetzlicher war und daher in sich selbst null und nichtig ist, folglich auch keine rechtlichen Folgen haben kann. Ich habe auch aufmerksam gemacht, daß Delmonico k e i n e V e r a n l a ß u n g hatte zu einem solchen Vorgehen, welche dasselbe als eine unter außerordentlichen Umständen nöthig gewesene Maßregel etwa entschuldigen könnte. Jedermann war ja mit der Verlegung der Verhandlungen auf den folgenden Tag zufrieden.

Ein Motiv für die Handlungsweise des Delmonico könnte nur gefunden werden, wenn man annehmen wollte, daß politische Re*) Bundesblatt 1875, Bd. IV, S. 437.

99 flexionen mitgewirkt haben, welche es wünschbar erseheinen ließen, eine Wahlverhandlung nicht .zu Ende kommen zu lassen, deren Ergebnis ein für die politischen Ansichten des Delmonico ungünstiges zu werden drohte.

· Es muß nun vorab etwas auffallen, daß der Präsident Delmonico, welcher die Contre-Ordre ertheilt hatte, es ist, der mit der Behauptung auftritt, es seien durch diese seine Contre-Ordre eine Anzahl Bürger vom Besuch der gesetzlich vorgeschriebenen Versammlung des zweiten Tages abgehalten worden.

Es ist aber in Wirklichkeit Niemand durch diesen Zwischenfall von der Ausübung seines Stimmrechtes abgehalten worden.

Drei Gemeindepräsidenten erklären mit Unterschrift, daß sie den fraglichen Zettel des Präsidenten Delmonico gar nicht erhalten haben, und diesen Gegenbefehl daher nicht bekannt machen konnten.

Zwei andere Gemeindepräsidenten erklären, daß sie den fraglichen Zettel zwar empfangen haben, aber nicht zu Hause in ihrer Gemeinde, sondern erst am Versammlungsorte, in Sessa, als sie am Morgen des zweiten Tages dahin zurückgekehrt oder daselbst über Nacht zurückgeblieben waren, um der Fortsetzung der Verhandlungen beizuwohnen. Es sei ihnen daher nicht möglich gewesen, ihre Bürger davon in Kenntniß zu setzen. Sie würden, erklären sie, übrigens auch im Falle der Möglichkeit den Gegenbefehl des Delmonico nicht publizirt haben, weil sie den betreffenden Zettel als ein Papier betrachteten, welches keinerlei amtlichen Charakter an sich trage.

De:: diesfälligen Erklärung eines dieser Gemeindepräsidenten steht allerdings die Behauptung des Weibels entgegen, daß er demselben den Zettel abgegeben habe.

Allein sei dem wie ihm wolle, so viel ist sicher, daß der fragliche Gegenbefehl des Herrn Delmonico in den Gemeinden des Kreises nicht amtlich p u b l i z i r t worden ist, und daher vernünftiger und rechtlicher Weise keinen Stimmfähigen vom Besuche der Versammlung des zweiten Tages abhalten konnte. Sollten einzelne Bürger einem bloßen Gerücht geglaubt haben, so mögen sie es sich selbst zuschreiben, wenn sie getäuscht worden sind.

In der Absicht, zu beweisen, daß die Verhandlungen von ihm nicht auf den folgenden Tag angesezt worden seien, sagt Herr Delmonico irgendwo: ,.Es sei ja am Montag (22.), zur Zeit, wo die Versammlung stattfinden sollte, in der Kirche zu Sessa Trauergottesdienst
gehalten worden, und die Bürger, die allenfalls noch nicht gewußt hätten, daß keine Verhandlungen stattfinden, haben dieß somit bei ihrer Ankunft in Sessa sogleich sehen können."

100 Nun stellt sich aber aus einem offiziellen Zeugnisse heraus, daß dieser Trauergottesdienst nicht in der Pfarrkirche, wo die Abstimmung vor sich zu gehen hatte, sondern in der Kapelle St. Ursula stattfand, welche Kapelle sich ganz in der Nähe der Wohnung des Herrn Del moni co befinden soll !

Die Glaubwürdigkeit der Behauptungen des Rekurrenten hat hierdurch jedenfalls nichts gewonnen.

Ein Beweis, daß der Gegenbefehl des Delmonico, abgesehen von seiner gesetzwidrigen Nichtigkeit, in Wirklichkeit die Stimmberechtigten nicht abgehalten hat, liegt auch darin, daß am zweiten Wahltage, obwohl für die Großrathswahlen nur noch etwa die Hälfte der Gemeinde Sessa zu stimmen hatte und die Wahlen der Gerichtspersonen von untergeordnetem Interesse für die Stimmberechtigten sind, gleichwohl trotz des sehr schlechten Wetters sich 250 Bürger einfanden, wovon annähernd 200 auf die auswärtigen Gemeinden kommen mögen.

Was insbesondere die G r o ß r a t h s w a h l e n betrifft, so hatte am 22. nur noch ein Theil der Gemeinde Sessa zu stimmen, die Stimmfähigen der andern fünf Gemeinden hatten dabei gar nichts mehr zu thun; es fallen daher die bezüglichen Reklamationen aus diesen fünf Gemeinden von selbst dahin.

Aus der Gemeinde Sessa beschweren sich blos 15 Bürger, indem sie behaupten, sie haben deßhalb die Versammlung des zweiten Tages nicht besucht, weil sie geglaubt haben, es finde dieselbe nicht statt. Wie diese 15 in Sessa selbst, wo die Versammlung stattfand und wo 250 Bürger sich an derselben betheiligten, davon nichts gemerkt haben sollen, ist -- nebenbei bemerkt -- schwer zu begreifen.

Nun muß aber besonders hervorgehoben werden, daß wenn die Behauptung dieser Männer sonst ananfechtbar wäre, was nicht der Fall ist, dieselbe dennoch außer Betracht fallen muß, weil diese 15 an dem W a h l r e s u l t a t der Großrathswahlen n i c h t s geändert hätten, wenn sie auch alle für diejenigen Kandidaten gestimmt hätten, welche in der Wahl unterlegen sind.

Derjenige der Gewählten nämlich, welcher am wenigsten Stimmen auf sich vereinigt hat, erhielt deren 330, derjenige von den Durehgefallenen, welcher am meisten Stimmen erhielt, hatte 281, dazu jene 15 macht 296, also immer noch 34 Stimmen weniger als der mit den wenigsten Stimmen gewählte Kandidat erhalten hat.

Nun hat aber bei allen Wahlprüfungen in den Kantonen und der Eidgenossenschaft jederzeit der Grundsatz gegolten, daß die

101 Wahlen zu genehmigen seien, wenn die erhobenen Einsprachen, falls sie berücksichtigt würden, gleichwohl keinen Einfluß auf das "Wahlresultat gehabt hätten.

Man wird auch hier diesen Sa.tz festhalten wollen, und damit fällt jede Einwendung gegen die im Kreise Sessa getroffenen Großrathswahten auch in dieser Beziehung dahin.

V. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, daß nicht kann angenommen werden, daß bei den Wahlen im Kreise Sessa Jemand an der Ausübung des politischen Stimmrechtes verhindert worden sei.

Die Reklamanten behaupten dieß. Aber es genügt nicht, eine Behauptung aufzustellen oder Behauptungen anzuhäufen, um den Beschluß einer obersten kantonalen Behörde umzustürzen. Die Verletzung verfassungsmäßiger Rechte muß bewiesen werden, was im vorliegenden Falle nicht geschehen ist.

VI. Da wo es sich um Wahlen handelt, sind die Einspruchsrechte überall an F r i s t e n gebunden, nach deren Ablauf auch die flagranteste Rechtsverletzung nicht mehr geltend gemacht werden kann. Es liegt dieß in der Natur der Sache und wird auch im gerichtlichen Verfahren anerkannt. Wer die fatale Frist, um sein Recht zu wahren, versäumt, kann sich nicht über Rechtsverletzung beklagen.

Dieser Grundsatz ist auch jederzeit und erst jüngst wieder bei den eidgenössischen Wahlen vom Nationalrathe angewendet worden.

Nun gelangte aber die Beschwerde einer Anzahl von Stimmberechtigten gegen die Wahlen vom 22. Februar erst am 1.0. März ' in die Hand des Großen Käthes von Tessin, und hat daher keinen Anspruch auf Berücksichtigung, indem das tessinische Gesetz eine peremtorische.Frist von 48 Stunden festsetzt. Die Beschwerde trägt zwar das Datum vom 23. Februar; allein es ist selbstverständlich, daß für die Fristbestimmung nicht das Datum maßgebend ist, welches ein Aktenstück trägt, sondern das Datum der Uebergabe an die betreffeade Behörde. Die Verspätung der Eingabe wird übrigens von Delmonico selbst zugestanden, indem er dieselbe zu entschuldigen sucht..

Gestützt auf die vorgetragenen, den Akten entnommenen Betrachtungen, stellt die Minderheit der Kommission folgenden Antrag : Die B u n d e s v e r s a m m l u n g der s c h w e i z e r i s c h e n E i d g e n o s s e n s c h a f t , nach Einsicht des Bundesrathsbeschlusses vom 29. Juli 1875 und des gegen denselben gerichteten Rekurses des Großen Rathes

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von Tessin, betreffend die Wahlen des Kreises Sessa vom 22. Februar 1875; in Erwägung: daß die Entscheidung über kantonale Wahlen Sache der kompetenten Behörde des Kantons ist, und ein Rekurs nur dann begründet erscheint, wenn durch den Entscheid der kantonalen Behörden Rechte verletzt wurden, die durch die Bundesverfassung gewährleistet sind ; daß der Entscheid darüber, ob die Wahlversammlung in Sessa vom 22. Februar 1875 als eine gesetzliche anzuerkennen sei oder nicht, dem Großen Rutile des Kantons Tessin endgültig zusteht, und derselbe diese WahlversammlungO und die von derselben Ogetroffenen Wahlen unterm 12. März d. J. anerkannt hat; daß Beschwerden gegen Wahlen innerhalb gesetzlicher Frist geltend gemacht werden müssen, die Beschwerdeführer im vorliegenden Falle aber die Frist versäumt haben; daß nicht nachgewiesen ist, daß bei den Wahlen im Kreise Sassa irgend ein Bürger an der Ausübung seines Wahlrechtes verhindert oder überhaupt eins Bestimmung der Bandesverfassung verletzt worden sei; daß bezüglich der G r o ß r a t h s w a h l e n jedenfalls nur die Wähler der Gemeinde S es s a in Frage kommen können, welche erst am zweiten Wahltage zur Abgabe ihrer Stimme gelangten, daß aber nur 15 Stimmberechtigte dieser Gemeinde vorgeben, nicht zur Stimmabgabe gelangt zu sein und diese 15 Stimmen an dem Ergebniß der Wahl nichts hatten ändern können; beschließ t: Der Rekurs des Tessi n er Großen Käthes wird begründet erklärt, beziehungweise der Rekurs von Herrn Delmonieo und Genossen als unbegründet abgewiesen und die sämmtlichen Wahlen des Kreises Sessa vom 21. und 22. Februar 1875 werden anerkannt.

B e r n , den 20. Dezember 1875.

Die Minderheit der Kommission des Nationalrathes : K. v. Schmid.

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Anhang.

Für die Mehrheit referirte Herr Weber (Solothuni) mündlich, mit folgendem Antrage: Die B u n d e s v e r s a m m l u n g der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht der Akten im Rekurse des Großen Rathes von Tessili vom 15. Oktober 1875, betreffend die Wahl Verhandlungen im Kreise Sessa'vom 21. und 22. Februar 1875; indem sie in Erwägung zieht: I. In Betreff der Kompetenz- und Eintretensfrage.

1) Nach den Art. 5, 85 (Ziff. 7, 8, 12), 102 (Ziff. 3) und 113 der Bundesverfassung, nach Art. 59 (Ziff. 9) des Bundesgcsetzcs über die Organisation der Bundesrechtspflege, sowie gemäß der konstanten staatsrechtlichen Praxis der Bundesbehürdeu (vergleiche Bundesblatt 1855, Bd. II, S. 465--469; 1857, I, 233; 1864, I, 391) steht unzweifelhaft dem Bundesrathe, beziehungsweise der Bundesversammlung die Befugniß zu, auf erhobene Beschwerde zu untersuchen und zu entscheiden, ob durch Schlußnahmen kantonaler Behörden in Betreff von Wahlen und Abstimmungen Rechte verlezt worden seien, die durch die Bundesverfassung gewährleistet sind; 2) Es handelt sich im vorliegenden Falle um eine vom Großen Rathe des Kantons Tessin gültig erklärte Wahlverhandlung vom 22. Februar 1875, durch welche, nach der Behauptung der Beschwerdeführer, eine gewisse Anzahl von Bürgern des Wahlkreises Sessa an der Ausübung ihres verfassungsmäßigen Wahlrechtes verhindert worden sei; 3) 194 Bürger des Wahlkreises Sessa haben mit schriftlicher Eingabe vom 23. Februar 1875, in Nachachtung des tessinischen Wahlgesetzes vom 30. November 1843, Art. 44, gegen die Wahlverhandlung vom vorhergehenden Tage aus obgcnanntem Grunde beim tessinischen Staatsrathe Einsprache erhoben und der Große Rath von Tessin hat am 12. März

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1875 nach materieller Untersuchung des Sachverhalts durch eine besondere Kommission die Gültigkeit der angestrittenen Wahlverhandlung ausgesprochen; 4) Mit Eingabe vom 15. März 1875 haben Herr Joseph Del- .

monico, der Stellvertreter des Friedensrichters von Sessa und gewesener Präsident der Wahlversammlung vom 21. Februar, die beiden Stimmenzähler und Sekretäre derselben, und 206 Bürger aus den sechs Gemeinden des Wahlkreises Sessa gegen diesen Beschluß beim Bundesrathe Beschwerde erhoben; 5) Der Bundesrath hat unterm 29. Juli 1875 den Rekurs als begründet und die Wahl Verhandlungen vom 22. Februar 1875 im Kreise Sessa für ungültig erklärt, wogegen der Große Rath des Kantons Tessin durch sein Bureau am 15. Oktober 1875 den Rekurs an die BundesversammlungO ergriffen hat;i O 6) Es kann somit die Kompetenz der Bundesversammlung, in eine materielle Behandlung des Gegenstandes einzutreten, nicht bezweifelt werden.

II. In Betreff der Hauptsache.

1) Infolge Dekretes des Staatsrathes von Tessin vom 5. Dezember 1874 über die Vornahme der Integralerneuerungsvvahlen des Großen Rathes und der richterlichen Beamten im Kanton Tessin fand am 21. Februar 1875 in Sessa die Wahlverhandlung des aus sechs politischen Gemeinden bestehenden Wahlkreises Sessa zur Ernennung von drei Mitgliedern des Großen Ratlies, fünf Kandidaten der Bezirksrichterstellen und der Friedensrichter des Kreises statt; dieselbe wurde jedoch an diesem Tage nicht vollendet, indem bloß von fünf Gemeinden vollständig, von Sessa aber nur theilweise die Stimmabgabe für die Großrathswahlen erfolgte, diejenige für die Richterwahlen dagegen an diesem Tage überhaupt nicht vorgenommen wurde; 2) Die Gültigkeit der Wahloperationen vom 21. Februar ist von keiner Seite bestritten; dagegen ist bestritten, ob dieselben am Abend des 21. Februar abgebrochen worden, um am folgenden Tage, 22. Februar, wieder aufgenommen zu werden, oder ob sie aufgehoben und auf einen vom Staatsrath festzusetzenden spätem Termin verschoben worden seien; 3) In dieser Beziehung muß der vom funktionirenden Bureau der Wahlversammlung vom 21. Februar angefertigte Verbalprozeß maßgebend sein, welcher sagt, daß wegen vorgekommenen Ruhestörungen am Abend des Wahltages die Verhandlungen -- ob mit hinlänglichem Grund oder nicht, mag

105 hier unerörtert bleiben -- suspendirt und auf unbestimmte Zeit vertagt worden seien, worüber der Regierungskommissär und der Staatsrath unverzüglich verständigt wurden, ohne daß von ihrer Seite eine Gegenverfügung erfolgt wäre; 4) 206 Bürger des Kreises Sessa erklären nun, daß sie g e s t ü t z t auf diese V e r f ü g u n g des Wahlbüreaus vom 21. Februar an der entgegen derselben am 22. Februar unter einem neuen Bureau zusammengetretenen Wahlversammlung nicht Theil genommen haben, und es ist unbestritten, daß 15 der Beschwerdeführer (aus der Gemeinde Sessa) am 21. Februar ihr Stimmrecht überhaupt noch nicht, keiner aber für die Richterwahlen hatte ausüben können, so daß sie also, ohne eine Schuld von ihrer Seite, im Falle der Aufrechthaltung des Beschlusses des Großen Rathes, ihres Stimmrechtes bei diesem Wahlakte definitiv verlustig gehen würden, eine Thatsache, die ganz abgesehen von der möglichen Aenderung des Wahlergebnisses, an sich schon zur Kassation der Wahlverhandlung vom 22. Februar führen muß; 5) Unter den bundesrechtlich garantirten, verfassungsmäßigen Rechten der Bürger steht obenan das politische Wahl- und Stimmrecht, wie dasselbe auch durch die Tessiner Staatsverfassung, Art. 2 und 32, anerkannt und gewährleistet wird; in A n w e n d u n g von Art. 5 und 85 (Ziff. 7, 8 und 12) der Bundesverfassung und von Art. 59 (Ziff. 9) des Bundesgesetzes über Organisation der Bundesrechtspflege vom 27. Juni 1874, sowie mit Berufung auf Art. 2 und 32 der Verfassung des Kantons Tessin vom 23. Juni 1830, beschließt: Der Rekurs des Tessiner Großen Rathes wird als unbegründet abgewiesen und demgemäß der Beschluß des Bundesrathes vom 29. Juli 1875 in dieser Sache bestätigt.

Bern, den 20. Dezember

1875.

Die Mehrheit der Kommission: Leo Weber.

Contesse.

Vergi. Beschluß des Nationalraths vom 22. Dezember 1875: Bundesblatt 1876, Bd. I, S. 23.

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