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Kommissionalberichte aus

den eidgenössischen Räthen, betreffend Einbürgerung der aargauischen Israeliten.

a. Bericht der ständeräthlichen Kommission.

(Vom 10. März 1876.)

Tit.!

Der Kanton Aargau hat in seinen Marken zwei Judengemeinden -- Oberendingen mit einer Bevölkerung von 747 und Lengnau mit einer solchen von 376 Seelen (laut der Volkszählung von 1870).

Diese Gemeinden bilden keinen eigenen Gemeindebann, sondern deren Angehörige sind inmitten der andern christlichen Bevölkerung.

Sie waren früher in der Stellung der Schutzjuden des Mittelalters, -- Tolerirte ohne Recht auf bleibenden Aufenthalt, mancherlei Beschränkungen unterworfen, und durch besondere Mandate geregelt.

Durch das Gesetz vom 5. Mai 1809 wurde den einzelnen Judenfamüien, die seit 20 Jahren in den beiden Gemeinden angesessen und von der vorigen Regierung als Mitglieder der Judenschaft in der ehemaligen Grafschaft Baden angesehen waren, der fernere Aufenthalt gewährt. Dabei unterlagen sie vielfachen Beschränkungen Bundesblatt. 28. Jahrg. Bd. II.

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758 in Bezug auf den Ankauf von Grundeigentum, Verehlichung, Verkehrswesen, und stunden unter der besondern Polizeiaufsicht des Regierungsrathes.

Das Gesetz vom 11. Brachmonat 1824 brachte ihnen eine' O r g a n i s a t i o n , eigene Vorsteherschaft, besondere Verwaltung des Schul-, Armen- und Handwerkswesens, -- aber trotzdem waren sie noch keine gleichberechtigten Mitglieder im Organismus des Aargauischen Staatsweseos. Sie bildeten diesem gegenüber eine sogenannte v e r e i n i g t e C o r p o r a t i o n mit der Gestattung, für Schul- und religiöse Zwecke gemeinsame Fonds zu besitzen, und mit der weitern Eigentümlichkeit, daß die beiden Gemeinden s o l i d a r i s c h für den Unterhalt ihrer Armen verpflichtet wurden.

Die christlichen Ortsbürger der beiden Gemeinden hatten Unwirkliches H e i m a t h s r e c h t , die Juden galten nur als ,,Corporationsgenossen a und hatten besondere Heimathscheine.

Theils schon vor, theils nach dem Inkrafttreten der Bundesverfassung von 1848 änderte sich die politische und bürgerliche Stellung der Israeliten im Aargau.

Das bürgerliche Gesetzbuch vom 1. Januar 1848 hob die bisherigen Verkehrsbeschränkungen auf.

In Folge der neuen Bundesverfassung wurden, die Juden im Jahre 1850 zum Militärdienst beigezogen, während sie bis dahin keine Dienste zu thun hatten, dagegen die einzelnen Corporationen ein Aversale als Militärsteuer bezahlten.

Die ursprüngliche Beschränkung des Grundsatzes der Gleichstellung im Artikel 48 der früheren Bundesverfassung auf Schwcizerbürger ,, c h r i s t l i c h e r Confession'1 bot freilich noch wiederholt Anlaß zu Recriminationen. Die Interpretation des fraglichen Artikels durch die Buntlesbehörden war aber immer den Bestrebungen derselben für politische Gleichberechtigung eine günstige. Durch Bundesbeschluß vom 24. Herbstmonat 1856 wurde ihnen nebst dem Rechte des freien Verkehrs -- hinsichtlich der im Artikel 29 der Bundesverfassung von 1848 genannten Gegenstände -- die Ausübung der politischen Rechte im Heimaths-, bez. NiederlassungsKantoD, gleich wie den andern Schweizerbürgern gewährt. Es war dieses für sie ein hochwichtiger Akt, -- sie waren dadurch Schweizer- und Kantonsbürger geworden; aber noch fehlte den Aargauer Juden die Gleichstellung mit den Christen in Bezug auf das Ort s b ü r g errech t.

Die Aargauischen Behörden suchten indeß auch in dieser Beziehung den Angehörigen der israelitischen Confession gerechter zu

759 werden. Das Gesez vom 1.5. Mai 1862 war für diese ein bedeutender Fortschritt. Es vereinigte die Israeliten in den beiden Gemeinden zu besondern O r t s b ü r g e r g e m e i n d e n , allerdings ohne eigenen Gemeindebann, aber mit vollständiger Organisation und Anerkennung der vollen Heimathörigkeit und politischen Gleichberechtigung, und gab ihnen die Möglichkeit des Eintritts in den Gemeindeverband der christlichen Gemeinden.

Aber gegen dieses Gesetz erhob sich eine Volksbewegung, der es zum Opfer fiel. Der Große Rath, der es erlassen, wurde abberufen und die neue Gesetzgebungsbehörde hatte nichts Eiligeres zu · thun, als wieder tabulam rasam zu machen. Durch das Gesetz vom 27. Juni 1863 wurden die Aargauischen Israeliten in die R e c h t s stellung vom J a h r e 1824 z u r ü c k v e r s e t z t .

Die unter der Herrschaft des Gesetzes vom Jahre 1862 ausgestellten Heimathscheine wurden zurückgezogen und durch neue (nach der Verordnung vom 27. Juni) ersetzt.

Entgegen den Grundsätzen der Bundesverfassung schon vom Jahre 1848 bildeten die Aargauischen Israeliten wieder nur eine v e r e i n i g t e Corporation mit besondern Civilstands-Registern, besonderer Regulirung des Armenwesens u. s. w., Alles auf ungleichem Rechtsboden gegenüber den Mitbürgern christlicher Confession.

Es bedurfte der Dazwischenkunft des Bundes zur Sicherung ihrer politischen Stellung. Durch Bundesbeschluß vom 30. Juli 1863 wurde die Einräumung der politischen Rechte in eidgenössischen und kantonalen Angelegenheiten an die im Aargau zugehörigen schweizerischen Israeliten gefordert, worauf der Aargauische Große Rath durch Beschluß vom 28. August ihnen solche dann allerdings gewährte, so daß sie von da an die politischen Rechte gleich andern Bürgern in den Corporationsgemeinden Oberendingen und Lengnau, beziehungsweise in den Wahlkreisen Zurzach und Kaiserstuhl oder sonst am Niederlassungsorte, ausüben konnten.

Ein weiterer Punkt war ihre Heimathberechtigung. Der gleiche Bundesbeschluß lud den Bundesrath ein, zu untersuchen, ob nicht den Aargauer Juden durch das (seither aufgehobene) Gesetz vom Jahr 1862 das B ü r g e r r e c h t in vollgültiger und unwiderruflicher Weise zugesichert worden sei, -- bejahenden Falls dafür zu sorgen, daß dieses Recht ungeschmälert ihnen erhalten bleibe, -- verneinenden Falls aber die E i
n b ü r g e r u n g g e m ä ß den B e s t i m m u n g e n des B u n d e s g e s e t z e s vom 3. D e z e m b e r 1856 ü b e r die H e i m a t h losigkeit zu bewerkstelligen.

Der Bundesrath hatte hierauf sein Justiz-Departement beauftragt, sich diesfalls mit der Justizdirektion im Aargau ins Vernehmen zu setzen. Fünf Jahre vergingen; es geschah rein nichts.

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Im Juli 1868 wurde die Angelegenheit durch den israelitischen Cultusverein wieder angeregt. Erst Ende Dezember antwortete die Regierung von Aargau auf die Einladung des eidg. Justizdepartements, mit dem Wechsel, welcher inzwischen in der Person des Vorstandes seines Justizdepartements vorgegangen war, sein langes Stillschweigen entschuldigend. Sie versuchte übrigens, die Sache im besten Lichte erscheinen zu lassen, -- als ob die Israeliten factisch im vollen Besitze ihrer Rechte seien und es sich nur um Formen handle.

Nicht in solch' rosigem Lichte konnte der Cultusverein, welchem, die Vernehmlassung der Aargauischen Regierung mitgetheilt wurde, die Verhältnisse finden. In einem weitläufigen Memorial, vom (?) Mai 1870, setzte er die sowohl der Bundesverfassung als der Kantonalverfassung widersprechende Stellung der Aargauischen Israeliten auseinander. Wohl seien sie im Stimm- und Wahlrechte den andern christlichen Bürgern gleichgestellt und diesfalls die früheren Schranken gefallen; aber bis zur Stunde seien sie noch nicht den Christen gleichberechtigte O r t s b ü r g e r .

Und doch sage der Artikel 79 der Verfassung, daß die Aargauischeu Gemeinden aus Ortsbürger- und Einwohnergemeinden bestehen. Die Israeliten aber gehören keiner Ortsbürger-Gemeinde an. Sie seien die einzigen Kantonsbürger ohne ein Ortsbürgerrecht.

Dann wird in der Eingabe noch die Ungleichheit in Steuersachen hervorgehoben. Während das Gemeindesteuergesetz vom 30. November 1866 die Auslagen, soweit die Fonds nicht ausreichen, auf die einzelnen Einwohner verlegt und der Rekurs, beziehungsweise Prozeßweg gesetzlich geregelt ist, werden sie ganz ausnahmsweise behandelt, haben sie einen Geldbeitrag, welchen die Regierung periodisch nach dem Verhältniß des beidseitigen Gemeindevermögens und der Steuersumme festsezt, an die christlichen Einwohnergemeinden'zu leisten. Die Petenten verlangen nichts Anderes als gleiche Rechtsstellung; sie verlangen ausdrücklich keinen Anspruch auf die bürgerliche Nutznießung. ,,Thatsache (heißt es in dem Memorial) ist, und wir sprechen es hier definitiv aus, daß die Israeliten die Bürgernutzungen als wohlerworbene Privatrechte ansehen und daß sie weder früher noch jetzt irgend wo in dieselben eintreten oder an denselben partieipiren wollen. Wir halten diese für besondere Rechte der bisherigen Ortsbürger,
welche durch die Einbürgerung der Israeliten in keiner Weise alterirt werden sollen."

Auf die Mittheilung dieses Memorials ließ die Aargauische Regierung wieder Monate Tang mit ihrer Antwort (vom 30. September) warten, welch letztere sich auf ihrem früheren Standpunkte hielt.

Das sogenannte Einbürgerungsgesetz vom Jahr 1862, auf welches die Eingabe sich stützte, habe keine persönliche Einbürgerung in

761 andere Ortsbürgergemeinden im Auge gehabt, sondern lediglich den bestehenden israelitisehen Corporationsgemeinden den vollen T i t e l und die O r g a n i s a t i o n von Ortsbürgergemeinden gegeben. Allerdings stimme die Form der Heimathscheine nicht überein. Das sei aber nur Formsache. Das Wesen und der Begriff des örtlichen Heimathrechtes seien in beiden Heimathscheinen übereinstimmend ausgedrückt, in der bestimmten Zusicherung, daß der Träger des Heimathscheines (nebst Familie) jeder Zeit und unter allen Umständen wieder Aufnahme finden werde.

Es kam dann die damalige Bundesrevision, welche'einen neuen Stillstand brachte.

Nach deren Erledigung wiederholte im September 1872 der Cultusverein seine Nachfrage nach dem Stande der Angelegenheit, zugleich mit der Klage, daß in neuester Zeit in einer Gemeinde ein Israelit nicht zur Stimmabgabe bei der Wahl des Gerneinderathes zugelassen worden sei, -- aber auch jetzt wieder ohne Erfolg.

Vielmehr blieb die Angelegenheit wegen politischen Tagesfragen, freilich zum Theil im gegenseitigen Einverständnisse, weiter verschoben, bis der Cultusverein sie im September 1875 wieder zur Hand nahm. Auf den Beschluß seiner Generalversammlung reichte er unterm 20. September vorigen Jahres ein dringendes Gesuch an die Bundesversammlung ein. Er betonte, daß der Bundesrath am 20. Juli den Auftrag zur Berichterstattung, betreffend die Frage der Durchführung des Heimathlosengesetzes, erhalten habe, und erklärte, daß die aargauischen Israeliten eigentlich nichts Anderes als Heimathlose, daher ebenfalls durch dieses Postulat betroffen seien, indem sie noch kein Ortsbürgerrecht besitzen, auch irv andern Rechten zurückgesetzt seien.

Unterm 28. September übermittelte das eidg. Justizdepartement das Gesuch, der Aargauischen Regierung mit dem Bemerken, es sei kein Grund zu zweifeln, daß die Behörden und das Volk des Kantons Aargau nicht bereit sein werden, den in der Bundesverfassung und in der Bundesgesetzgebung begründeten Begehren zu entsprechen.

Die Aargauische Regierung schlug, wie früher, conferenzielle Besprechung vor. Eine solche fand am 5. Oktober statt; aber wieder mußte das eidg. Justizdepartement, mit Schreiben vom 3. Dezember, das dringende Ersuchen an die Aargauische Regierung stellen, sich endlich zu erklären, ob sie die Verpflichtung zur Einbürgerung im Sinne des Begehrens vom 3. Dezember 1850 anerkenne oder nicht, und für den Fall der Anerkennung, wann und in welcher Weise sie die Einbürgerung vollziehen wolle.

762 Unterm 10. Dezember ging dann von Seite der Aargauischen Regierung die Antwort ein. ,,Wir haben geglaubt, lautet sie, die Stellung der Aargauischen Israeliten, wie sie in den wiederholt abgegebenen hierseitigen Berichten dargelegt worden (vergi, die hierseitigen Zuschriften vom 29. Dezember 1869, -- 31. Oktober 1870, -- 11. Oktober 1872 und 26. Juli 1875), sei eine solche, daß sie den Anforderungen des Bundes sowohl, als den betheiligten Israeliten selbst hätte genügen können. Wenn aber, wie dieses bei der angeführten Konferenz zu Tage getreten ist, die Bundesbehörden der Ansicht sind, daß noch ein Mehreres zu geschehen habe und eine förmliche Einbürgerung der Aargauischen Israeliten durch einen legislatorischen Akt vorzunehmen sei, so erklären wir uns, so viel an uns Hegt, bereit, diesem Begehren nachzukommen. Ein bestimmter Termin, bis zu welchem die förmliche Einbürgerung vollzogen sein könnte, ist jedoch zur Zeit nicht anzugeben möglich. Unser Kanton steht gegenwärtig im Begriff, eine Revision der Staatsverfassung vorzunehmen. Die erste Berathung hat bereits stattgefunden; die zweite Berathung wird im Verlaufe des Monates Januar nächsthin stattfinden; es ist möglich, daß schon diese Revision von Einfluß auf die Frage der Einbürgerung unserer Israeliten sein wird. Die unterschiedslose Gleichstellung unserer Israeliten mit den christlichen Einwohnern des Kantons in Bezug auf die Steuerverhältnisse ist sodann bereits in den Entwurf eines neuen allgemeinen Steuergesetzes aufgenommen.

Die erste Berathung dieses Gesetzes durch den Großen Rath hat schon stattgefunden; die zweite Berathung wird im Verlaufe des Jahres 1876 nachfolgen. Die Frage der förmlichen Einbürgerung endlich wird am geeignetsten ihre Lösung in einem neuen Gemeindeorganisationsgesetz finden, wofür ein Entwurf zur Behandlung bereits vorliegt.

Wenn wir nun auch gegenwärtig nicht in der Lage sind, zum Voraus einen Termin angeben zu können, bis zu welchem alle diese legislatorischen Akte die verfassungsmäßigen Instanzen werden durchlaufen haben, so werden wir es uns hinwieder ernstlich angelegen sein lassen, die aufgeworfene Frage mit thunlichstcr Beförderung ihrer Erledigung entgegenzuführen.

Was endlich die Art und Weise anbetrifft, in welcher die förmliche Einbürgerung vollzogen werden soll, so scheint uns dieselbe in der Art
möglich, daß die Aargauischen Israeliten in den christlichen Gemeinden Endingen und Lengnau eingebürgert werden, jedoch ohne Antheilrecht an den Corporatiousgütern dieser Gemeinden, so daß die Christen ausschließlich uud ungeschmälert auf ihre bisherigen Fonds und gleichermaßen die Israeliten auf ihre bisherigen Corporationsgüter berechtigt blieben.

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Der Kanton muß sich indessen für diesen Theil der Frage noch offene Hand vorbehalten, immerhin in dem Verstande, daß seine Entschließungen sich mit berechtigten Begehren des Bundes im Einklang befinden werden.11 Mittelst Botschaft vom 17. Dezember 1875 begleitete der Bundesra.th die Petition an die Bundesversammlung ein mit der Schlußbemerkung, daß er finde, daß unter den waltenden Umständen kein Grund zu weitern Beschlüssen vorliege, daß er übrigens der definitiven Erledigung der Frage auch fernerhin seine Aufmerksamkeit schenken werde.

Die Kommission kann nicht dieser Ansicht sein.

Sie glaubt, gegenüber dem Vorgehen der Aargauischen Regierung, welche nicht einmal die volle Anerkennung der fraglichen bnndeswidrigen Zustände ausspricht, sondern nur die Bereitwilligkeit erklärt, dem Begehren des Bundesrathes, so viel an ihr liege, nachzukommen, sofern noch ein Mehreres zu geschehen habe, vor Allem die bestimmte Erklärung abzugeben, daß nach ihrer Ansicht die Verhältnisse, in welchem sich die Israeliten im Kanton Aargau zur Zeit noch befinden, a n o r m a l e , mit den Bestimmungen der Bundesverfassung, der Bundesgesetzgebung und der eigenen Verfassung des Kantons Aargau im W i d e r s p r u c h e s t e h e n d e seien.

Bis zur Stunde besteht noch kein Gesetz oder Dekret, durch welches die Aargauischen Israeliten förmlich als K a n t o n s b ü r g e r anerkannt sind; -- noch viel weniger sind sie Angehörige eines O r t s b ü r g e r v e r b a n d e s im Sinne der Aargauischen Verfassung und Gesetzgebung.

Ebenso befinden sie sich in Bezug auf das Gemeindesteuerwesen in ausnahmsweisen Verhältnissen, nicht zu gedenken des Armenwesens u. s. w.

Es sind diese Zustände im Widerspruch mit dem sowohl in der Bundesverfassung als in der Aargauischen Kantonsverfassung enthaltenen Grundsatze der Gleichstellung der Bürger (Rechtsgleichheit), mit den Vorschriften des Gesetzes über die Heimathlosigkeit und insbesondere mit dem Artikel 79 der Aargauischen Verfassung, welcher nur Einwohner- und Ortsbürgergemeinden, keine dritte Art von öffentlichen Gemeinden, keine ,,vereinigte Corporation der Aargauischen Israeliten" kennt.

Es hat auch der Bundesrath in seinem Berichte die fernere Unzuläßigkeit dieser Zustände anerkannt.

In Bezug auf die Anwendung des Bundesgesetzes über die Heimathlosigkeit sagt der Bundesrath gegenüber dem versuchten

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Nachweise der Aargauischen Regierung, daß die Israeliten doch eigentlich in allen Beziehungen des öffentlichen Lebens den christlichen Bürgern des Kantons wesentlich gleichgestellt seien: ,,Wir haben gegenüber allen andern Kantonen das Bundesgesetz über die Heimathlosigkeit in dem Sinne angewendet, daß es n i c h t g e n ü g e , wenn gewisse Personen so b e h a n d e l t werden, als wären sie Bürger. Wir haben daher überall daran festgehalten, daß die Ertheilung des Kantons- und des Gemeindebürgerrechtes durch p o s i t i v e A k t e a u s g e s p r o c h e n w e r d e n müsse, und daß sie nicht das Resultat von bloßen Schlußfolgerungen aus der geschichtlichen Entwicklung der Gesetzgebung sein dürfe; vielmehr müsse die Einbürgerung für die jetzt betheiligten Personen, wie für ihre Nachkommen klar und leicht nachweisbar sein. Diese Interpretation des Bundesgesetzes muß um so mehr auch gegenüber dem Kanton Aargau festgehalten werden, als sie zu verschiedenen Malen die Genehmigung der Bundesversammlung erhalten hat." (Bundesblatt 1860, Bd. u, S. 64 u. ff. und S. 453; -- 1872, Bd. I, S. 354 und 355.)

Muß die Commission, welche dieser Anschauung vollständig beipflichtet, die gänzliche Unhaltbarkeit dieser Zustände anerkennen, so kann sie nicht finden, daß die Aufhebung und Beseitigung derselben noch länger hinausgeschoben werden soll.

Die Aargauische Regierung erklärt, daß ein bestimmter Termin von ihr nicht angegeben werden könne. Sie macht denselben von dem Ergebnisse der Revision der Verfassung und der kantonalen Gesetzgebung abhängig. Die Frage der Verfassungsrevision ist vom Aargauischen Volke inzwischen in verneinendem Sinne entschieden worden.

Diese wäre zweifelsohne auch ohne Einfluß auf die vorwürfige Angelegenheit geblieben. Ob das neue Gemeindegesetz vom Volke angenommen werde, ist noch ungewiß. Das neue GemeindeorganisatiousGesetz, auf welches insbesondere vertröstet wird, liegt zur Zeit noch als Entwurf in der Mappe des Regierungsrathes und dieser hat noch nicht einmal das Stadium der Vorberathung passili.

Die Aargauische Regierung schiebt die Lösung der Frage ganz ins Ungewisse hinaus.

Hier handelt es sich aber um Rechte, welche kraft der Bundesverfassung bereits bestehen. Diese unterliegen nicht erst der Discussion, sondern harren nur noch auf den Vollzug.

Gemäß Artikel 2 der
Uebergangsbestimmungen der Bundesverfassung sind die Bestimmungen der kantonalen Verfassungen und Gesetze, welche mit der neuen Bundesverfassung im Widerspruche stehen, mit Annahme der Bundesverfassung von selbst dahingefallen.

765 Die Ordnung dieser Verhältnisse hat auch nach Ansicht der Kommission nicht auf dem Wege einer Revision der Verfassung und Gesetzgebung, sondern einfach auf demjenigen eines vom Großen Rathe des Cantons Aargau zu erlassenden D e k r e t e s zu geschehen.

Die Commission legt Ihnen deshalb folgenden Beschlussesvorschlag1 vor: ,,Die B u n d e s v e r s a m m l u n g der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht des Gesuches des Cultusvereines der schweizerischen Israeliten, d. d. Baden, den 20. September 1875, betreffend Einbürgerung der Israeliten im Kanton Aargau, und der hierauf bezüglichen Botschaft des Bundesrathes vom 17. Dezember gleichen Jahres ; In A n b e t r a c h t : 1) daß das Gesuch um Einbürgerung in den Ortsbürgergemeindeverband und um volle bürgerliche Gleichstellung mit den andern Kantons- und Schweizerbürgern, angesichts des Artikel 60 der Bundesverfassung, der Bestimmungen des Bundesgesetzes betreffend die Heimatlosigkeit', und der Artikel 11 und ' 79 der Aargauischen Kantonsverfassung begründet erscheint; 2) daß Bestimmungen der kantonalen Verfassungen und Gesetze, welche mit der Bundesverfassung im Widerspruche stehen, von selbst dahinfallen, und die Aufhebung solcher Verhältnisse nicht erst von dem Ergebnisse einer kantonalen Verfassungs- oder Gesetzesrevision abhängig gemacht werden kann ; beschließt: Der Bundesrath wird eingeladen, bei der Regierung des Kantons Aargau auf endliche Erledigung der Angelegenheit der Israeliten, betreffend die Einbürgerung und die volle bürgerliche Gleichstellung mit den Kantons- und Schweizerbürgern, zu dringen, und derselben hiefür einen angemessenen Termin zu setzen.a B e r n , den 10. März 1876.

Namens der ständeräthlichen Kommission : Der B e r i c h t e r s t a t t e r :

Real.

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b. Bericht der nationalräthlichen Kommission.

(Vom 15. März 1876.)

Tit. !

In dem aargauischen Bezirke Zurzach bestehen zwei Judenkorporationen , nämlich in den Ortschaften Oberendingen mit 747 und Lengnau mit 376 Genossen laut eidgenössischer Volkszählung vom Jahre 1870.

Ihre öffentlich rechtliche Stellung und Organisation ist folgende : Sie sind keine Territorialgemeinden, sondern gewissermaßen schwebende Korporationen, ohne Gemeindebann. Die Gemeindesteuern an die Ortsverwaltungen Oberendingen und Lengnau entrichten die Bürger nicht individuell, sondern die Korporationen in einer A versalsumme, welche von dem Regierungsrathe periodisch festgesetzt wird ; ausgenommen davon sind die Einquartirungslast und das ,,Gemeindewerk, welche auch von den israelitischen Korporationsgenossen direkt zu prästiren sind. Ihre Organe heißen ,,Vorsteherschaften" und wurden vor 1863 durch den Regierungsrath, seither durch die Korporationen direkt gewählt. Sie haben eigene Civilstandsregister, selbständige Gemeinde-, Schul-, Synagogenfonds , Armen- und Vormundschaftsverwaltung. Im Verhältnisse zum Kanton bilden beide Korporationen eine sogenannte ,,vereinigte Korporation" und sind für den Unterhalt verarmter Genossen solidarisch haftbar erklärt.

Beide Korporationen petitioniren nun durch das Organ des Kultusvereins der Israeliten in der Schweiz seit dem Jahre 1868 fortwährend , zuerst in verschiedenen Eingaben an den Bundesrath und endlich, da ihre Angelegenheit immer nicht von der Stelle rücken wollte, durch Eingabe vom 20. September 1875 bei der Bundesversammlung direkt, um Einbürgerung und bürgerrechtliche Gleichstellung mit den christlichen Angehörigen des Kantons Aargau.

Die Schlüsse sind nicht bestimmt formulirt, sondern es wird in den verschiedenen Gesuchen den Bundesbehörden überlassen, das Geeignete zu verfügen. Indessen heißt es in einer sog. Rückäußerung vom Mai 1870:

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,, Es herrscht theilweise das Mißverständniß , theilweise wird ,,es absichtlich ausgestreut, die aargauischen Israeliten suchen bei ,,ihren Bürgerrechtsbestrebungen sich in den Mitgenuß der bürger,,lichen Nutzungen der christlichen Ortsbürgergemeinden zu stellen.

,,Wir lassen hier die Frage unerörtert, ob nicht bei Entstehung der ,,bürgerlichen Nutzungsgcnossenschaften schon öffentliche Zwecke für ,,die einzelnen Glieder der Markgenossenschaften in Aussicht ge,,nommen waren und ob nicht jetzt die Einwohnergemeinden voll,,ständig an die Stelle der Ortsbürgergemeinden treten sollten.

,,Thatsache ist, und wir sprechen es hier definitiv aus , daß die ,,Israeliten die Bürger n utzungen als wohlerworbene Privatrechte an,,sehen und daß sie weder früher noch jetzt irgendwie in dieselben ,,eintreten oder an denselben participiren wollen. Wir halten diese ,,für besondere Rechte der bisherigen Ortsbürger., welche durch die ,,Einbürgerung der Israeliten in keiner Weise alterirt werden sollen."· Der Bundesrath, auf die oben erwähnte direkte Eingabe vom 20. September 1875 durch das Präsidium der Bundesversammlung zum Berichte eingeladen, schließt denselben, gestützt auf eine Konferenz zwischen seinem Justiz- und Polizeidepartemente und den Delegirten der Regierung von Aargau, sowie auf eine Erklärung der Regierung vom 10. Dezember 1875, dahin : ,,Wir finden, daß unter diesen Umständen kein Grund zu ,,weitern Beschlüssen vorliege, und schließen mit der Erklärung, ,,daß wir der definitiven Erledigung dieser Frage auch fernerhin ,,unsere Aufmerksamkeit schenken, sowie die Petenten in dem angedeuteten Sinne verständigen werden."

Dem Ständerathe wollte die vorgeschlagene Art und Weise der Bereinigung dieser Angelegenheit nicht genügen , und es faßte derselbe unterm 10. laufenden Monats folgenden Beschluß : ,,Der Bundesrath wird eingeladen, bei der Regierung des Kan,,tons Aargau auf endliche Erledigung der Angelegenheit der Jsrae,,liten, betreffend die Einbürgerung und die volle bürgerliche Gleich,,stellung mit den Kantons- und Schweizerbürgern, zu dringen und ,,derselben hiefür einen angemessenen Termin zu setzen."· Ihre Kommission ist mit dem soeben zitirten Beschlüsse des Ständerathes im Allgemeinen einverstanden, nur will sie in den Erwägungen den Art. 60 ersezen durch die Art. 4 und 5 der Bundesverfassung,
und das Bundesgesetz über Heimatlosigkeit nur eventuell zur Anwendung bringen. Im Weitern hält sie es nach den bisherigen Vorgängen für angezeigt, daß in dem Dispositive das Maximum des festzusetzenden Termins zum vornherein bestimmt werde.

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Der Gedankengang, durch welchen die Kommission zu ihrem Antrage gelangte, ist folgender: I. Vorerst stellt sie den nicht zu bestreitenden Satz auf, daß die Angehörigen der mehrgenannten israelitischen Korporationen Schweizerbürger sind und als solche unter dem Schütze der Bundesverfassung stehen.

Ihre Eigenschaft als Schweizerbürger resultirt : 1) Aus der Fassung der Art. 41 und 48 der Bundesverfassung vom Jahre 1848. Zu jener Zeit existirten neben den aargauischen Israeliten nur noch eine geringere Anzahl eingebürgert im Kanton Bern und eine einzige Familie in Genf. Es ist nun nicht wohl anzunehmen, daß die damalige Tagsatzung dieser wenigen Schweizerbürger israelitischen Glaubens wegen, deren Existenz höchst wahrscheinlich der Mehrzahl ihrer Mitglieder gar nicht bekannt war, speziell die christlichen Konfessionen in der Niederlassung und Gleichstellung anderer Kantonsbürger betont habe ; vielmehr wird das Vorhandensein der relativ großen Zahl aargauischer Juden zu jener Ausnahmsbestimmung in der Bundesverfassung, aber damit auch argumentum e contrario zur Anerkennung derselben als Schweizerbürger, geführt haben.

2) Aus einem Bundesbeschlusse vom 24. September 1856.

Nachdem die Regieruag des Kantons Aargau schon unterm 19. April 1849 die Regierung von Luzern anklagte, daß dieselbe, entgegen der Vorschrift des Art. 29 der Bundesverfassung, die aargauischen Israeliten von den luzernischen Märkten ausschließe, und unterm 21. September 1854 die Regierung von Zürich, daß in dem neuerlassenen zürcherischen Gesetze, betreffend den Markt- und Hausirverkehr, Beschränkungen der Rechte der aargauischen Israeliten enthalten seien, wurde im Ständerathe bei Anlaß der Behandlung dieser letztern Beschwerde eine Motion eröffnet, dahin lautend : ,,Der Bundesrath wird eingeladen, Bericht über die gegen,,wärtig in den einzelnen Kantonen bestehenden Beschränkungen ,,der Rechte der Juden zu erstatten und damit gleichzeitig Anträge ,,zu verbinden, ob und inwieweit derartige Beschränkungen als mit ,,der Bundesverfassung ini Widerspruche stehend aufzuheben seien."

Zufolge dieser Motion machte der Bundesrath die nöthigen Erhebungen über die Rechte der Israeliten in den Schweizerkantonen und es führte dies dann schließlich zu dem eingangs erwähnten Bundesbesehlusse, welcher lautet:

769 ,,Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, ,,nach Einsicht einer Botschaft des Bundesrathes über die -Rechtsverhältnisse der schweizerischen Isvaeliten, vom 26. März ,,1856; ,,in Betrachtung : ,,daß nach Art. 48 der Bundesverfassung die Kantone in der ^Gesetzgebung über die Verhältnisse der nichtkantonsangehörigen ^Israeliten unabhängig sind, soweit dadurch nicht Rechte angetastet ,,werden, die allen Schweizern ohne Unterschied der Konfession .,,durch die Bundesverfassung gewährleistet sind; ,,daß hinsichtlich der gegenwärtig bestehenden Ausnahmsgesetze ,,der Kantone über die Israeliten die Art. 29 und 42 der Bundes,,verfassung anzuwenden sind, in dem Sinne, daß den schweizerischen ,,Israeliten gleich wie andern Schweizerbürgern das Recht des freien ,,Kaufs und Verkaufs der im Art. 29 bezeichneten Gegenstände ,,zustehe und dieselben zur Ausübung der politischen Rechte im ,,Heimaths-, beziehungsweise im Niederlassungskanton befugt seien, ,,beschließt : ,,Der Bundesrath ist beauftragt, bei vorkommenden Fällen der ,,Bundesverfassung im Sinne der vorangehenden Erwägungen Voll,,ziehung zu verschaffen.a 3) Aus dem Bundesbeschlusse vom 30. Heumonat 1863, auf welchen der Berichterstatter weiter unten noch des Nähern zu sprechen kommen wird, und endlich 4) Aus dem Umstände, daß die Jungmannschaft der aargauischen Israeliten seit Anfang der 1850er Jahre zum aktiven Militärdienste herbeigezogen wird.

II. Dieselben sind aber auch aargauische Kantonsbürger und folglich berechtigt, die Bestimmungen der dortigen Kantonal Verfassung auf sich angewendet zu wissen.

Wenn man auch darüber verschiedener Ansicht sein kann, ob diese Qualität dermalen noch aus einem ausdrücklichen legislatorischen Akte der kompetenten Behörden hergeleitet werden könne, so ergibt sich dieselbe doch aus dem Zusammenhange der ganzen historischen Entwicklung der aargauischen jfudenfrage.

Die Ortschaften Oberendingen und Lengnau gehörten ehedem zur Grafschaft Baden, welch' letztere unter der Landeshoheit der Herzoge von Oesterreich stand. Nachdem Herzog Friedrich im Jahre 1415 durch das Konzilium von Constanz in Reichsacht und Kirchenbann erklärt worden war, fiel die Grafschaft Baden mit den Städten Baden, Bremgarten und Hellingen durch Eroberung der

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Eidgenossenschaft zu und wurde fortan als gemeine Herrschaft der VHI alten Orte verwaltet. Schon seit Jahrhunderten waren in Oberendingen und Lengnau israelitische Familien in größerer Anzahl angesiedelt, die daselbst als sogenannte ,,Schutzjuden" von den eidgenössischen Ständen geduldet wurden. Ein Tagsatz u ngsabschied von 1662 bestimmt, ,,daß die Juden zwar aus allen andern Orten verbannt, jedoch in der Grafschaft Baden geduldet werden sollen, so lange sie sich gebührend verhalten". Wie es mit dem Schütze und der Duldung der Juden in damaliger Zeit verstanden war, ergibt sich u. A. aus einer in Eichhorn's Staats- und Rechtsgeschichte zitirten Urkunde von 1462, welche verfügt: ,,So ein Römischer ,,Kaiser oder König gekrönt wird, mag er den Juden allenthalben ,,im Reich all' ihr Gut nehmen, dazu ihr Leben und sie tödten bis ,,auf ein Anzahl, der lützel sein soll, zu einem Gedächtuuß."

Als im Jahre 1803 der Kanton Aargau die Grafschaft Baden erwarb, übernahm er zugleich die dortigen Israeliten als ,,Landsassen oder ewige Einwohner". Bereits im Jahre 1805 machte die Regierung einen Versuch der Einbürgerung, unterlag jedoch im Großen Rathe mit ihrem Vorschlage. Ein Gesetz vom 5. Mai 1809 über Aufenthalts-, Gewerbs- und Verkehrsverhältnisse der Juden bestimmte in ,,§ \. Alle Judenfamilien, welche beweisen können, ,,daß sie seit 20 Jahren in den Gemeinden Oberendingen und Leng,,nau angesessen sind, von den vorigen Regierungen als Mitglieder ,,der Judenschaft in der ehemaligen Grafschaft Baden angesehen ,,worden und als solche Schutz und Schirm genossen, sollen auch ,,fernerhin Schutz und Schirm genießen ; dagegen sind sie allen Lan,,desgesetzen und Polizeiverfügungen ohne Ausnahme gleich allen ,,Kantonseinwohnern unterworfen."

Schon einen Schritt weiter ging das Gesetz über Organisation, Vorsteherschaft, Verwaltung, Schul- und Handwerkswesen der beiden Judengemeinden, vom 11. Brachmonat 1824, indem dasselbe mit einzelnen Ausnahmen ungefähr denjenigen kommunalen Rechtszustand schuf, wie solcher noch gegenwärtig besteht und eingangs dargestellt wurde.

Der hievor erwähnte Bundesbeschluß vom 24. September 1856 endlich veranlaßte ein Gesetz über Organisation der israelitischen Gemeinden vom 15. Mai 1862, durch welches eine sozusagen vollständige Gleichstellung mit den bereits bestehenden christlichen
Gemeinden des Kantons durchgeführt wurde. § l desselben lautet: ,,Die Angehörigen der bisherigen israelitischen Korporationen ,,in Endingen und Lengnau werden zu besondern Ortsbürgergemein,,den vereinigt."

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Es sollte jedoch der Erlaß dieses von Freisinnigkeit und Humanität eingegebenen Gesetzes für den damaligen Großen Rath von Aargau zum Verhängniß werden. Gegen dasselbe erhob sich eine Volksbewegung, die die Abberufung des Großen Rathes zur Folge hatte. Sodann fand am 11. November 1862 eine Volksabstimmung statt, bei welcher sich von 34,435 Stimmenden 26,702 für eine gänzliche Abänderung des Gesetzes ausgesprochen haben.

Der nacherige Große Rath, treu dem Zeichen, in welchem er geboren worden, zögerte nicht, ein neues Gesetz zu erlassen, welches, vom 27. Juni 1863 datirend, in § l bestimmt: ,,Das Gesetz vom 15. Mai 1862 ist aufgehoben und es treten ,,die israelitischen Korporationen, sowie die nach jenem Gesetze neu ,,gewählten Gemeinderäthe wieder in diejenige öffentliche Rechts,,stellung ein, wie diese durch die vor jenem Gesetzeserlasse noch ,,bestandenen und hiermit wieder in Kraft erklärten besondern ge,,setzlichen Bestimmungen über die Verhältnisse der aargauischen ,,israeliten festgestellt worden."

Ein Autrag der Regierung, die durch Bundesbeschluß vom 24. September 1856 den Israeliten zugesicherte Ausübung der politischen Rechte in eidgenössischen und kantonalen Angelegenheiten in das neue Gesetz aufzunehmen, wurde vom Großen Rathe verworfen, wogegen sich 63 Mitglieder zu Protokoll verwahrten.

Es ist wohl selbstverständlich, daß auf diese Vorgänge hin aus der Mitte der sich in ihren Rechten verletzt fühlenden aargauischen Judenschaft Beschwerden an die Bundesbehörden gerichtet worden sind. Dieselben wurden durch bundesräthliche Botschaft vom 17. Juli 1863 den eidgenössischen Räthen direkt übermittelt, indem es dem Bundesrathe, wie er sich ausdrückte, angemessen schien, daß die Bundesversammlung selbst unter obwaltenden Umständen gegenüber der gesetzgebenden Behörde des Kantons Aargau ihre bestimmte Willensmeinung ausspreche. Währenddem aber die Anträge des Bundesrathes nur dahin gingen, die Vollziehung des Gesetzes vom 27. Juni 1863, soweit dasselbe mit dem ßundesbeschlusse vom 24. September 1856 in Widerspruch stehe, zu sistiren und über ungeschmälerte Ausübung der politischen Rechte in eidgenössischen und kantonalen Angelegenheiten zu wachen, sowie die Einbürgerungsfrage in Gemäßheit des Heimatlosengesetzes im Auge zu behalten, untersuchten die Kommissionalberichte der Räthe, in nicht
verhehltem Gefühle der Indignation über das engherzige Vorgehen des aargauischen Volkes und der Mehrheit des neuen Großen Rathes, namentlich auch die weitere Frage : ob das Geseta vom 27. Juni 1863 gegenüber demjenigen vom 15. Mai 1862

772 nicht eine Verletzung des in Art. 43 der Bundesverfassung enthaltenen Satzes: ,,Kein Kanton darf einen Bürger des Bürgerrechtes ,,verlustig erklären"1 involvire.

Demgemäß kam unterm 30. Heumonat 1863 folgender Bundesbeschluß zu Stande : ,,Nach Einsichtnahme der vom 2. und 3. Heumonat 1863 da,,tirten Beschwerden aargauischer Israeliten gegen die Vollziehung ,,des Gesetzes des Kantons Aargau vom 27. Brachmonat 1863, be,, treffend ihre öffentlichen Rechtsverhältnisse; ,,nach Einsichtnahme der Botschaft des Bundesrathes vom ,,17. Heumonat 1863; ,,nach Einsichtnahme, in Beziehung auf die politischen Rechte ,,der aargauischen Israeliten, des Bundesbeschlusses vom 24. Herbst,,monat 1856, und bezüglich ihres Bürgerrechts des aargauischen ,,Gesetzes vom 15. Mai 1862, der Art. 43 uud 56 der Bundes,,verfassung, sowie des Bundesgesetzes vom 3. Christmonat 1850 ,,über die Heimathlosigkeit, ,,beschließt : ,,1) Der Bundesrath wird eingeladen, gemäß dem Beschlüsse ,,der Bundesversammlung vom 24. Herbstmonat 1856, die Voll,,ziehung des aargauischen Gesetzes vom 27. Brachmonat 1863, ,,soweit es mit jenem Beschlüsse im Widerspruch steht, zu sistiren ,,und darüber zu wachen, daß der Kanton Aargau den daselbst ,,seßhaften schweizerischen Israeliten die Ausübung der politischen ,,Rechte in eidgenössischen und kantonalen Angelegenheiten nicht ,,länger vorenthalte.

,,2) Der Bundesrath wird ferner eingeladen, zu untersuchen, ,,ob nicht den aargauischen Israeliten durch das Gesetz des Kan,,tons Aargau vom 15. Mai 1862 das dortige Bürgerrecht in vollgültiger und unwiderruflicher Weise zugesichert worden sei, und ,,bejahenden Falls dafür zu sorgen, daß ihnen dieses Recht unge,,schmälert erhalten bleibe, verneinenden Falls aber die Einbürgerung gemäß den Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 3. Christ,,monat 1850 über die Heimathlosigkeit zu bewerkstelligen."

Das erste Dispositiv dieses Bundesbeschlusses hat seine Ausführung erhalten und die Petenten anerkennen selbst, daß sie seit jener Zeit im Vollgenusse der politischen Rechte seien. Dagegen ist eigentümlicher Weise das zweite bis zur Stunde nicht zur Exekution gelangt. Man sucht in den vorhandenen Akten vergeblich nach einem Motive für die Nichtausführung dieses Beschlusses der obersten eidgenössischen Räthe ; denn weder haben sich die Verhältnisse der aargauischen Israeliten in der Einbürgerungsfrage seit-

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her zu ihren Gunsten geändert, was das heutige Traktandum beweist, noch viel weniger ist die Bundesversammlung auf den fraglichen Beschluß zurückgekommen.

Immerhin ergibt sich aus dem ganzen geschichtlichen Hergange in dieser Angelegenheit, daß den aargauischen Israeliten die Eigenschaft dortiger Kantonsbürger nicht bestritten werden kann,' wie denn auch die Regierung des Kantons Aargau dieselbe sozusagen in allen Eingaben, welche sie seit dem Jahre 1856 an die Bundesbehörden zu machen im Falle war, mehr oder weniger ausdrücklich anerkannt hat.

Nun kennt aber die Kantonalverfassung in § 79 nur Ortsbürgergemeiuden und Einwohnergemeinden. Der Begriff von ,,schwebenden Korporationen" als Gemeindeverband ist ihr unbekannt, folglich das Bestehen derartiger Gemeinden verfassungswidrig.

III. Will man aber trotzdem den aargauischen Israeliten die Eigenschaft von vollberechtigten Kantonsbürgern bestreiten, so sind dieselben doch im ungünstigsten Falle als Landsassen oder ewige Einsassen des Kantons Aargau anzusehen und sollen dann nach Art. 17 des Bundesgesetzes über Heimathlosigkeit vom 3. Christmonat 1850 behandelt werden.

IV. Es erübrigt Ihrer Kommission nur noch, ein kurzes Wort beizufügen in Betreff des proponirten Maximums der festzusetzenden Frist.

Wie oben darauf hingewiesen wurde, besteht bereits aus dem Jahre 1863 ein kategorisch lautender Bundesbeschluß, der die Einbürgerungsfrage als durch das Gesetz vom 15. Mai 1862 definitiv gelöst anzunehmen schien, oder dann jedenfalls eine prompte Lösung provoziren wollte. Es ist nun zwar klar, daß nach Ablauf von mehr als zwölf Jahren nicht wohl mehr auf eine Prüfung der Frage auf dem Boden des Gesetzes von 1862 zurückgegangen werden kann. Dessenungeachtet bleibt wenigstens die Dringlichkeit der Sache noch jetzt die nämliche. Auch arbeiten sich die Petenten seit dem Jahre 1868 vergeblich ab, diese Angelegenheit einmal in's Reine zu bringen, wobei indessen zugegeben werden muß, daß sie während der Zeit der Bundesverfassungs-Revisionsbestrebungen im allseitigen Einverständnisse auf sich ruhen blieb. Die Einwendungen der Regierung von Aargau in ihrem Schreiben vom 10. Dezember 1875 , daß möglicherweise die Revision der Kantonsverfassung von Einfluß auf die vorwürfige Frage sein könnte, und daß andere Ungleichheiten in Bezug auf die Steuerverhältnisse
durch den Entwurf eines neuen allgemeinen Steuergesetzes, sowie in Bezug auf die förmliche Einbürgerung durch ein neues GemeindeorganiBimdesblatt. 28. Jahrg. Bd. II.

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sationsgesetz zu beseitigen seien, daß aber zu Schaffung dieser konstitutionellen und legislatorischen Akte eine hinreichende Frist nothwendig sei, kann Ihre Kommission nicht gelten lassen.

Das konstitutionelle Recht ist bereits jetzt und war schon lange gegeben. Es handelt sich nur darum, dasselbe auf die Potenten anzuwenden, womit Letztere dann von selbst aus ihrer Ausnahmestellung heraus und unter das allgemeine Recht fallen, ohne daß der Erlaß von Spezialgesetzen abgewartet zu werden braucht.

Wir verkennen durchaus nicht die politischen Schwierigkeiten, auf welche die Durchführung der Einbürgerung angesichts der oben konstatirten Abneigung der großen Mehrheit des aargauischen Volkes stößt. Allein bei dem klaren Inhalte des Bundesrechtes können dieselben nicht in Betracht kommen, und die Behörden des Kantons Aargau dürfen denjenigen des Bundes dafür Dank wissen, daß letztere durch einen imperativen Beschluß die ganze Verantwortlichkeit für diese Frage auf ihre Schultern nehmen.

Die Kommission empfiehlt Ihnen den nachfolgenden Beschlussesantrag zur Annahme und versichert Sie vollkommenster Hochachtung.

Bern, den 15. März 1876.

Der Berichterstatter der Kommission des Nationalraths :

Eggli.

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(Antrag.)

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht des Gesuches des Kultusvereins der schweizerischen Israeliten, d. d. Baden, den 20. September 1875, betreffend Einbürgerung der Israeliten im Kanton Aargau, und der hierauf bezüglichen Botschaft des Bundesrathes vom 17. Dezember gleichen Jahres ; in A n b e t r a c h t : 1) daß das Gesuch um Einbürgerung in den Ortsbürgergemeindeverband und um volle bürgerliche Gleichstellung mit den andern Kantons- und Schweizerbürgern, angesichts der Art. 4 und 5 der Bundesverfassung, Art. 11 und 79 der aargauischen Kantonsverfassung, sowie eventuell der Bestimmungen des Bundesgesetzes betreffend die Heimathlosigkeit, namentlich Art. 17 derselben, begründet erscheint; 2) daß Bestimmungen der kantonalen Gesetze, welche mit der Bundesverfassung im Widerspruche stehen, von selbst dahin fallen, und die Aufhebung solcher Verhältnisse nicht erst von dem Ergebnisse einer kantonalen Verfassungs- oder Gesetzesrevision abhängig gemacht werden kann; beschließt: Der Bundesrath wird eingeladen, bei der Regierung des Kantons Aargau auf endliche Erledigung der Angelegenheit der Israeliten, betreffend die Einbürgerung und die volle bürgerliche Gleichberechtigung mit den Kantons- und Schweizerbürgern , zu dringen und derselben hiefür einen angemessenen Termin zu setzen, welcher jedoch nicht über das Ende des Jahres 1876 ausgedehnt werden soll.

Vergi. Bericht des Bundesrathes vom 17. Dezember 1875 und Verhandlungen der eidg. Eäthe: Bnndesblatt 1875, IV, 1223; 1876, I, 822.

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# S T #

Bericht des

Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung über einige Fragen betreffend die Besoldung der Militärbeamten und die Vergütung von Pferderationen.

(Vom 12. Mai 1876.)

Tit.!

Sie haben am 24. März die Berathung unserer Vorlage vom 25. Februar *) : Bundesgesez betreffend eine die Militärverwaltung beschlagende Ergänzung des Gesezes über die Besoldung der eidgenössischen Beamten vom 8. August 1873 und Bundesbeschluß betreffend Vergütung von Pferderationen im Friedensverhältniß, auf die nächste Junisession verschoben und uns eingeladen, bis dahin zu untersuchen und zu begutachten: 1) ob nicht die Fourage-Berechtigung der ständigen Militärbeamten in das Gesez ausdrüklich aufzunehmen und in Friedenszeiten auf e i n e Ration zu beschränken sei?

2) ob nicht jezt schon die Pferdestellung für das Instruktionspersonal im Sinne von Art. 191--204 der Militärorganisation in das Gesez aufzunehmen sei?

3) ob nicht zur Verminderung der Gesammtmehrausgabe eine Ermäßigung einzelner Besoldungsansäze oder eine Reduktion der in Aussicht genommenen Stellen thunlich sei?

*) Bundesblatt 1876, I, 419. -- Vergl. auch S. 994.

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Kommissionalberichte aus den eidgenössischen Räthen, betreffend Einbürgerung der aargauischen Israeliten.

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Jahr

1876

Année Anno Band

2

Volume Volume Heft

25

Cahier Numero Geschäftsnummer

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03.06.1876

Date Data Seite

757-776

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10 009 122

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