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Botschaft des

Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung, betreffend die neue Verfassung des Kantons Schaffhausen.

(Vom 17. Juni 1876.)

Tit. !

Mit Schreiben vom 31. Mai / 5. Juni d. J. hat uns die Regierung des Kantons Schaffhausen die neue Verfassung dieses Kan-, tons vom 14. Mai 1876 mitgetheilt und das Gesuch gestellt, daß wir sie noch in dieser Session der Bundesversammlung vorlegen möchten zum Zweke der Gewährleistung derselben im Sinne von Art. 6 der Bundesverfassung.

Indem wir diesem Wunsche entsprechen , sehen wir uns zu folgenden Bemerkungen veranlaßt: Schon am 4. Mai 1873 hat das Volk des Kantons Schaffhausen eine Totalrevision der Kantonsverfassung beschlossen und die Ausarbeitung einer Vorlage einem Verfassungsrath übertragen.

Derselbe bearbeitete nach einander drei Entwürfe, über welche am 27. Dezember 1873 , 18. April 1874 und 30. Mai 1875 das Volk abstimmte. Da jedoch sämmtliche drei Vorlagen nicht die Zustimmung der Mehrheit (i.er im K a n t o n a n w e s e n d e n S t i m m b e r e c h t i g t e n fanden, so wurden sie vom Verfassungsrath als verworfen erklärt, weil nach Art. 70 und 75 der bisherigen Verfassung des Kantons Schaffhausen bloß die M e h r h e i t der S t i m m e n d e n nicht genüge. Auch ein Rekurs an das Bundesgericht wurde

186 von diesem als unbegründet abgewiesen, weil der Verfassungsrath die Verfassung richtig angewendet habe und eine Vorschrift, wie sie die Artikel 70 und 75 derselben enthalten, mit Art. 6, Litt, c der Bundesverfassung nicht im Widerspruche stehe.

» Endlich vermochte der ' vierte Entwurf in der Abstimmung vom 14. Mai 1876 die Mehrheit der Stimmberechtigten auf sich zu vereinigen. Laut Bericht der Regierung des Kantons Schaffhausen haben nämlich von 7271 landesanwesenden Stimmberechtigten 6354 für die Annahme des Entwurfes gestimmt, worauf der Verfassungsrath denselben am 22. Mai abbin als neues Grundgesez des Kantons Schaff hausen proklamirt und als mit dem 1. Juni in Kraft tretend erklärt hat.

Hiermit ist also dem formellen Erforderniß von Art. 6, Litt, c der Bundesverfassung ein Genüge geleistet. Es fragt sich also, inwiefern diese Verfassung auch den materiellen Forderungen jenes Art. 6 genüge.

Wir haben dieselbe einer genauen Prüfung unterstellt und gefunden, daß nur wenige Bemerkungen am Plaze sein möchten, zumal die Frage, ob eine Kantonsverfassung etwas der Bundesverfassung Zuwiderlaufendes enthalte , doch nicht absolut und für die Zukunft verbindlich, sondern nur nach dem Maßstabe der Gegenwart beantwortet werden kann, indem jede Entwiklung der Gedanken, welche das gegenwärtige Bundesrecht beherrschen, selbstverständlich allen Kantonsverfassungen gegenüber maßgebend wird, auch wenn diese völlig unbeanstandet gewährleistet worden wären.

Nach einigen allgemeinen Bestimmungen im ersten Abschnitte dieser Verfassung werden im zweiten Abschnitte die persönlichen Rechte behandelt, unter denen im Art. 9 die freie Meinungsäußerung gewährleistet ist. Die nöthigen Bestimmungen über die Bestrafung des Mißbrauches werden dem Geseze vorbehalten. Wir möchten hier nur daran erinnern , daß nach Art. 55 der Bundesverfassung dieses Gesez der Genehmigung des Bundesrathes bedarf.

Im Art. 10 ist der Art. 49 der Bundesverfassung wiederholt, indeß mit einer Auslassung im lezten Saze, wo die nähere Ausführung des Grundsazes , daß Niemand gehalten sei, Steuern für eigentliche Kultuszweke einer Religionsgenossenschaft, der er nicht angehört, zu bezahlen, der Bundesgesezgebung vorbehalten ist.

Im Art. 10 der Schaffhauser Verfassung heißt es jedoch einfach: ,,Die nähere Ausführung dieses Grundsazes ist der G e s e z g e b u n g vorbehalten."

Die durch Art. 12 ausgesprochene Gewährleistung des Vereinsund Versammlungsrechtes ^ i n n e r h a l b der S c h r a n k e n der

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S i t t l i c h k e i t und der ö f f e n t l i c h e n O r d n u n g " darf natürlich nicht in einem engern Sinne verstanden werden, als im Art. 56 der Bundesverfassung liegt.

Im Art. 15 hat der Art. 54 der Bundesverfassung ebenfalls eine Modifikation erfahren, indem der erste Saz das Recht der Ehe unter den Schuz des ,, S t a a t e s 1 1 stellt, die Bundesverfassung aber unter denjenigen des Bundes. Im Uebrigen ist dem Art. 54 der Bundesverfassung lediglich der Saz beigefügt worden: ,,Die Eheschließung geschieht vor bürgerlichen Beamten. a Art. 16 behandelt das Niederlassungsrecht und befolgt im Wesentlichen den Gedankengang des Art. 45 der Bundesverfassung, nur ist das 4. Lemma dieses Art. 45 ganz und in Lemma 5 die Bestimmung weggelassen worden, da.ß jede Ausweisung wegen Verarmung der heimatlichen Regierung zum voraus angezeigt werden müsse. Diese Auslassung kann_ aber natürlich gegenüber den Regierungen der andern Kantone keine Bedeutung haben. Der Schlußsaz vom Art. 16 ist dann, wieder wörtlich der Bundesverfassung entnommen.

Im Art. 41, Ziff. 9 ist die Eintheilung der Amnestie bei politischen Verbrechen und Vergehen in die Kompetenz des Großen Rathes gelegt. Ea ist wohl selbstverständlich, daß bezüglich derjenigen politischen Verbrechen und Vergehen, auf welche das Bundesstrafgesez vom 4. Februar 1853 Anwendung findet, auch das Recht der A m n e s t i e der Bundesverfassung zukomme, indem nur derjenige Staat amnestiren kann, der auch verurheilen könnte.

Uebrigens spricht für jene Annahme nur die Praxis und die Analogie mit der B e g n a d i g u n g , welche im Art. 74 des Bundesstrafgesezes ausdrüklich der Bundesversammlung vorbehalten ist.

Gemäß Art. 42 sollen auf Verlangen von mindestens 1000 Aktivbürgern auch S t a a t s v e r ti âge der Abstimmung des Volkes unterstellt werden. Die Kompetenzen des Bundes bleiben natürlich auch stillschweigend vorbehalten.

Art. 54 ist gebildet aus Lemma 2 und 3 vom Art. 50 der Bundesverfassung , während Lemma l dieses Art. 50 wörtlich im Art. 11 reproduzirt ist. Was die Lemmas 2 und 3 betrifft, so sind diese nicht ganz wörtlich wiedergegeben. Während die Bundesverfassung lautet: ,, D e n K a n t o n e n , s o w i e d e m B u n d e bleibt vorbehalten etc.a, sagt die Schaffhauser Verfassung: ,, D e r Gesezg e b u n g b l e i b t v o r b e h a l t e n etc.a Diese Redaktion steht jedoch nicht im Widerspruche mit der Bundesverfassung, und da ein allfälliges kantonales Gesez jedenfalls mit den Grundsäzen der

188 kantonalen Verfassung harmoniren müßte, so ist klar, daß es auch nicht in Widerspruch mit der Bundesverfassung kommen könnte.

Art. 66 zählt die Befugnisse des Regierungsrathes auf. Nach Ziffer l soll ihm auch die Vertretung des Staates g e g e n ü b e r den a u s w ä r t i g e n R e g i e r u n g e n zukommen, und nach Ziff. 15 die Anordnung außerordentlicher Maßnahmen, wenn dieselben durch die Verhältnisse geboten sind, unter Berichterstattung an den Großen Rath bei dessen nächster Versammlung. Alles dieses kann selbstverständlich nur inner den Schranken geschehen, welche durch Art. 10, 14 , 15 und 16 der Bundesverfassung den Kantonen gezogen sind.

Gemäß Art. 78 behält sich der Kanton Schaffhausen vor,, durch seine Gesezgebung Bestimmungen zu treffen über die W e i t e r z i e h u n g der o b e r g e r i c h t l i c h a b g e u r t h e i l ten F ä l l e von.

gewissem Streitwerthe an das Bundesgericht. Hier ist daran zu erinnern, daß durch Art. 114 der Bundesverfassung vorbehalten wurde, auf dem Wege der B u n d e s g e s e z g e b u n g , außer den in den Art. 110, 112 und 113 bezeichneten Gegenständen, auch noch andere Fälle in die Kompetenz des Bundesgerichtes zu legen, und daß der Bund im Art. 31, Ziff. l des Bundesgesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 27. Juni 1874 von diesem' Rechte Gebrauch machte, indem er das Bundesgericht verpflichtete., die Beurtheilung auch solcher Rechtsstreitigkeiten zu übernehmen, welche durch die V e r f a s s u n g oder die G e s e z g e b u n g eines Kantons an das Bundesgericht gewiesen werden sollten; jedoch ist ausdrüklieh beigefügt, daß hiezu die Genehmigung der Bundesversammlung erforderlich sei. Der Art. 78 der Schaffhauser Verfassung enthält nichts von dieser Bedingung, und im Art. 31 des Bundesgesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege ist nichts davon gesagt, w a n n die Genehmigung der Bundesversammlung einzuholen sei. Es fragt sich daher, ob sie jezt ausgesprochen oder für die spezielle Prüfung der bezüglichen Gesezgebung vorbehalten werden soll. Nachdem die Bundesverfassung und das erwähnte Bundesgesez das Pi-inzip , welches im Art. 78 enthalten ist, anerkannt haben, so liegt zwar nicht ein Widerspruch mit der Bundesverfassung, wohl aber ein Mangel gegenüber dem Bundesgesez über die Organisation der Bundesrechtspflege
vor. Es kann daher die Gewährleistung ohne Vorbehalt ausgesprochen werden , jedoch in der Erwartung, daß die Regierung des Kantons Schaffhausen die O l O o bezügliche Gesezgebung vorlegen werde. Die Bundesversammlung wird dannzumal Anlaß haben, über die Anwendung jenes Grundsazes durch kantonale Geseze, sich auszusprechen.

189 Das soeben Gesagte findet auch Anwendung bezüglich des Art. 79 der vorliegenden Verfassung, insofern als in demselben vorgesehen ist, daß das K a s s a t i o n s v e r f a h r e n durch das Gesez dem Bundesgericht übertragen werden könne. Es finden auch hier Art. 114 der Bundesverfassung und Art. 31, Ziff. l des Bundesgesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege ihre Anwendung.

Im Art. 80 sind die Bestimmungen vom Art. 27, Ziff. 4 und vorn Art. 31, Ziff. 2' des Bundesgesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege, welche ihrerseits auf Art. 110, Ziff. 4 und Art. 111 der Bundesverfassung beruhen, aufgenommen, wonach in Streitigkeiten mit einem Hauptwerth von wenigstens 3000 Fr. das Bundesgericht von Anfang an ausschließlich zum Entscheide angerufen werden kann.

Endlich bestimmt Art. 106, daß diese Verfassung in ihrer Gesammtheit oder in ihren einzelnen Theilen jederzeit revidirt werden könne, und im Art. 108 ist vorgeschrieben, daß bei den bezüglichen Volksabstimmungen die Mehrheit der Stimmenden entscheidend sei, wodurch die der gegenwärtigen Revision so lange hinderlich gewesene Vorschrift in der alten Verfassung des Kantons Schaffhausen aufgehoben ist. Auch für die Abstimmungen über Referendumsbegehren, über die Annahme oder Verwerfung von Gesezen, über Initiativbegehren , sowie über die Abberufung des Großen Käthes (Art. 42, 43 un Ì 44) ist die Mehrheit der Stimmenden maßgebend.

Der übrige Inhalt der vorliegenden Verfassung gibt uns keinen Anlaß zu weitern Bemerkungen.

Auch obige Erörterungen scheinen D O O uns keinen genügenden Grund zu bieten, uni die Gewährleistung der Schaffhauser Verfassung an Bedingungen zu knüpfen.

Wir schließen daher mit dem Antrage, es sei der Verfassung des Kantons Schaffhausen durch Genehmigung des folgenden Beschlußentwurfes die Gewährleistung zu ertheilen.

Genehmigen, Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 17. Juni 1876.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Welti.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Sckiess.

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(Entwurf)

Bundesbeschluss betreffend

die eidgenössische Gewährleistung der neuen .Verfassung des Kantons Schaffhausen.

Die B u n d e s v e r s a m m l u n g der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht eines Berichtes und Antrages des Bundesrathes vom 17. Juni 1876 über die Staatsverfassung des "Kantons Schaffhausen vom 14. Mai 1876; in Erwägung: daß diese Verfassung am 14. Mai 1876 von der Mehrheit des Volkes des Kantons Schaffhausen angenommen worden ist und revidirt werden kann,, wenn die Mehrheit der Stimmenden es verlangt ; daß die Ausübung der politischen Rechte nach republikanischen Formen, durch diese Verfassung gesichert ist; daß sie im Uebrigen nichts enthält, was den Vorschriften der Bundesverfassung zuwider wäre; in Anwendung, von Art. 6 der Bundesverfassung, beschließt: 1. Der neuen Verfassung des Kantons Schaff hausen vom 14. Mai 1876 wird die bundesgemäße Garantie ertheilt.

2. Der Bundesrath wird mit der Vollziehung dieses Beschlusses beauftragt.

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Bericht der

nationalräthlichen Kommission betreffend den Rekurs der Herren Franz Nessi und Genossen gegen den Beschluss des tessinischen Grossen Rathes vom 14. März 1875 über die Wahlverhandlung vom 21. Februar 1875 im Kreise Locarno, beziehungsweise gegen den diesfälligen Bundesrathsbeschluss vom 4. Februar 1876.

(Vom 24. Juni 1876.)

Tit.!

Indem Ihre Kommission sich mit Bezug auf die thatsächlichen Verhältnisse des vorliegenden Rekursfalles auf deren Darstellung in der bundesräthlichen Botschaft vom 4. Februar d. J. beruft, ist sie dagegen im Falle, der in acht Erwägungspunkten enthaltenen rechtlichen Erörterung des hohen Bundesrathes Einiges beizufügen, beziehungsweise gegenüberzustellen, ohne daß sie jedoch zu einer von dem bundesräthlichen Antrage und der Schlußnahme des Ständerathes vom 21. Juni abbin abweichenden Conclusion gelangt.

I. Es handelt sich im vorliegenden Falle grundsätzlich bloß um die Frage, ob durch den Beschluß des Tessiner Großen Rathes vom 14. März 1875, wodurch die Wähl des Hrn. Franz Nessi von Orselina zum Mitgliede. dieser Behörde kassirt wurde, vom Bunde gewährleistete Rechte von Schweizerbürgern verletzt seien.

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Botschaft des Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung, betreffend die neue Verfassung des Kantons Schaffhausen. (Vom 17. Juni 1876.)

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01.07.1876

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