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Bericht der

Kommission des Nationalraths, betreffend die zwei Verfassungsdekrete des Kantons Tessin vom 20. November 1875 und 24. November 1876.

(Vom 18. Dezember 1876.)

T.

Tit.!

Bevor der Berichterstatter auf die Erörterung der zu entscheidenden konstitutionellen Fragen eintritt, glaubt er, Sie, Tit., zum bessern Verständniß derselben in kurzen Zügen an die wesentlichsten Vorgänge erinnern zu sollen, welche den von der Bundesversammlung zu entscheidenden Konflikt herbeigeführt haben.

Den Anlaß bot der früheren Anschauungen entsprungene Art. 32 der tessinischen Verfassung, wonach ein jeder der in Art. 14 genannten 38 Kreise (circoli) -- ohne Rücksicht auf seine Bevölkerungszahl -- in einer vom Staatsrath einzuberufenden Wahlversammlung drei Abgeordnete in den Großen Rath zu ernennen hatte.

Der Kreis Lugano mit seinen 6024 Einwohnern war hienach im Großen Rathe nicht stärker vertreten als der Kreis Lavizzara mit seinen 1169 Einwohnern. Diese auffallende Verletzung der Rechtsgleichheit ließ sich nur dadurch erklären, daß die Kreise in gewissem Sinne ein föderatives Element bildeten, welches, namentlich auch bei Verfassungsrevisionen, neben der Mehrheit des Volkes als besonderer gleichberechtigter Faktor in Betracht kam. (Vergi.

Art. 24 der Verfassung.)

822 Mittelst Eingabe vom 12. April 1875 führten nun die Herren Mordasini und Genossen beim Bundesrath Beschwerde gegen den Art. 32 der tessinischen Verfassung, indem sie in demselben eine Ungleichheit vor dem Gesetz und ein Vorrecht des Ortes, somit eine Verletzung der Art. 4 und 6, Ziffer a und b der Bundesverfassung erblickten und folgeweise den Art. 32 nach Art. 2 der Uebergangsbestimmungen als aufgehoben betrachteten. Die Rekurrenten verlangten demnach die Anordnungo einer Neuwahl des Großen O Rathes nach Verhältniß der Bevölkerung der Kreise, und falls eine Verfassungsrevision zu diesem Zwecke nöthig wäre, deren Berathung durch einen nach Verhältniß der Bevölkerung gewählten Verfassungsrath.

Es war die Einreichung dieses Rekurses gerade damals von Wichtigkeit, weil der am 21. Februar 1875 neu bestellte Große Ruth bereits eine theilweise Verfassungsrevision in Angriff genommen hatte, zu welcher vor Allem die Ersetzung des Art. 32 durch das Prinzip der Vertretung nach der Kopfzahl gehört hätte. Auf den Autrag einer eigens dazu niedergesetzten Kommission wies jedoch der Große Rath, welchem durch den Staatsrath die Eingabe der Herren Mordasini und Genossen zur Berücksichtigung zugestellt worden war, am 26. Mai 1875 deren Begehren zurück, weil der angefochtene Art. 32 während der ganzen Dauer der in den Artikeln 4 und (> mit der jetzigen gleichlautenden frühem Bundesverfassung von 1848.

unangefochten fortbestanden habe und demnach implicite als verfassungsgemäß anerkannt worden sei.

Anderer Ansicht dagegen war der Staatsrath, welcher dem Begehren der Rekurrenten zu entsprechen geneigt war und den bisherigen Fortbestand des Art. 32 dadurch zu erklären suchte, daß die Frage erst bei Anlaß der Wirren zwischen Sopra und SottoCenere im Jahre 1870 ernstlich aufgetaucht, dann aber, der angebahnten Pazifikation zu lieb, im allgemeinen Einverständnisse auf ruhigere Zeiten verschoben worden sei.

Bei dieser Sachlage war die Entscheidung des Rekurses durch die Bundesbehörde vorauszusehen.

Inzwischen hatte der Große Rath im Mai 1875 die Verfassungsrevision, ohne jene Entscheidung abzuwarten, an die Hand genommen und dasjenige Verfassungsgesetz durchberathen, welches unter dem Namen ,,Riformetta"' bekannt ist. Da jedoch der Staalsrath seine Zustimmung verweigerte, so mußte nach der Verfassungsbestimmung
vom 1. März 1855 eine zweite Berathung des Gesetzes stattfinden, welche vom Großen Rathe auf eine Novembersession verschoben wurde. Obschon damals der Bundesrath beim Großen Rathe auf Verschiebung der zweiten Berathung bis nach dem Ent-

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scheide der Beschwerde von Mordasini und Genossen gedrungen hatte, damit, falls dieselbe begründet erklärt werden sollte, auch gleich die Abänderung des Art. 32 in das Revisionsstatut aufgenommen würde, glaubte der Große Rath dennoch am 20. November 1875 die definitive Redaktion der ,,Riforinettaa feststellen und am 19. Dezember gleichen Jahres der Volksabstimmung unterbreiten au sollen. Das Resultat derselben war die Annahme dieses Verfassungsgesetzes mit 10,697 gegen 5543 Stimmen. Ueber den Inhalt desselben werden wir uns später aussprechen.

In der nämlichen Session, am 27. November 1875, gab sich zwar der Große Rath den Anschein, in einem zweiten Verfassungsgesetz den Anforderungen der Herren Mordasini und Genossen gerecht werden zu wollen ; allein er that dieß in so unzureichender Weise, daß der Bundesrath schon im Nachtrage zu seiner Botschaft über den Rekurs Mordasini die vom Großen Rathe angenommene Grundlage der Berechnung der Bevölkerung als unstatthaft erklärte.

Wir werden weiter unten zeigen, worin diese Unstatthaftigkeit bestand, da auch hier, infolge der Nichtzustimmung des Staatsrathes, eine zweite Berathung nöthig wurde, welche auf den 6. Mai 1876 festgesetzt war.

Inzwischen war der Rekurs Mordasini am 13. und 17. März 1876 von der Bundesversammlung durch einen Beschluß erledigt worden, dessen Bedeutung und Tragweite heute in Frage steht. Hiernach wurde in den E r w ä g u n g s g r ü n d e n der Art. 32 der tessinischen Verfassung als im Widerspruch mit den Art. 4 und 6 der Bundesverfassung stehend erklärt und angenommen, er sei demzufolge nach Art. 2 der Uebergangsbestimmungen mit der Annahme der Bundesverfassung außer Kraft getreten. Hierauf gestützt lautete dann aber der B e s c h l u ß dahin: der mehrerwähnte Art. 32 sei außer Kraft erklärt und der Bundesrath eingeladen, beförderlich die nothwendigen Anordnungen dafür zu treffen, daß die angeführte Bestimmung der tessinischen Kantonsverfassung durch eine den Grundsätzen der Bundesverfassung entsprechende ersetzt werde. Die Vollziehung dieses Beschlusses stieß beim Großen Rathe von Tessin auf mehrfache Hindernisse. Die Mehrheit dieser Behörde anerkannte nämlich die Kompetenz der Bundesbehörden bloß für den Entscheid des G r u n d s a t z e s der Volksvertretung im Verhältniß der Bevölkerung, bestritt aber diese Kompetenz,
insoweit es sich um die M o d a l i t ä t e n bei A u s f ü h r u n g dieses Grundsatzes handelte, also namentlich für die B e r e c h n u n g der für die Volksvertretung maßgebenden Bevölkerung. In dieser Richtung beschloß der Große Rath in seiner zweiten Berathung vom 6. Mai 1876, die T i c i n e s i a t t i n e n t i mit Hinzurechnung der im Kanton Tessin wohnhaften Bundesblatt. 28. Jahrg. Bd. IV.

'

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824 Schweizerbürger ( c o n f e d e r a t i d o m i c i l i a t i ) a l s Grundlage für die Berechnung der Repräsentation anzunehmen. Unter den Ticinesi attisenti waren nun aber a l l e Tessiner verstanden, welche überhaupt in den Bürgerregistern eingeschrieben sind, ohne allen Unterscffied, wo sie nich zur Zeit befinden mögen und wie lange die Abwesenden schon fort seien, vorausgesetzt nur, daß ihr Tod nicht nachgewiesen werden könne. Diese sonderbare Bestimmung war augenscheinlich zum V or t h eil der abgelegenen und armem Thalschaften und Gemeinden, deren Bevölkerung zahlreich auswandert, und zum N acht h eil der größern Bevölkerungscentren, woselbst neben den Tessinern und Schweizern aus andern Kantonen auch eine nicht unansehnliche Fremdenbevölkerung niedergelassen ist und zum Gedeihen der betreffenden Ortschaften beiträgt. Diese sollte bei der Repräsentation nicht in Betracht gezogen werden.

Der in seiner Mehrheit ultramontane oder, wie er sich nennt, konservative Große Rath hoffte dadurch bei Feststellung der Vertretung seinen Gesinnungsgenossen in jenen Thalschaften und Gemeinden eine große Zahl von Bürgern zuführen und gleichzeitig den liberalen Städten einen Theil ihrer Bevölkerung (die Fremden) in Abzug bringen zu können. In dieser Weise glaubte die herrschende Partei die Wirkungen der Aufhebung des Art. 32 wenigstens theilweise zu annulliren.

Im Widerspruch hiemit drang dagegen die liberale Minderheit, welche ihren Sitz namentlich in den Städten und großem Ortschaften hat, auf Annahme der f a k t i s c h e n Bevölkerung ( p o p u l a z i o n e di f a t t o ) d. h. der Wohnbevölkerung, als den allein maßgebenden Faktor für die Zahl der Abgeordneten, und in gleichem Sinne sprach sieh auch der Bundesrath am Schlüsse seiner Zuschrift an den Staatsrath von Tessin vom 17. Juni 1876 aus. Ein zweiter damals beanstandeter Punkt betraf den Art. 3 des Dekretes vom 6. Mai 1876, wonach nach erwirkter Bundesgenehmigung der d a m a l i g e Große Rath erst n o c h ein Ausführungsgesez hätte erlassen müssen, um die neue Vertretung ins Leben zu rufen.

Diese Differenzen, welche nicht gerade für den guten Willen der Mehrheit des Großen Rathes zeugten, machten bald deren Stellung zum Staatsrathe so schwierig, daß der Bundesrath am 17. Juni 1876 den letztern einladen zu sollen glaubte, die Volksabstimmung
über das Dekret vom 8. Mai nunmehr ohne weitere Zögerung anordnen zu lassen. In der betreffenden Zuschrift bemerkte der Bundesrath mit Rücksicht auf die Hauptdifferenz (Berechnung der Vertretungsgrundlage), daß seiner Ansicht nach eine bestimmte Bundesvorschrift über die Berechnung der Bevölkerung für die in Frage fallende Festsetzung der Repräsentation nicht be-

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stehe und daß ihm somit die Befugniß nicht zukomme, schon in diesem Stadium maßgebende Weisungen zu ertheilen; er müsse sich also hier lediglich darauf beschränken, für die Bundesbehörden das Recht zu wahren, die im Verfassungsgesetz enthaltenen Grundsätze dereinst im Stadium der Bundesgenehmigung einer nähern Prüfung zu unterwerfen.

Hierauf setzte der Große Rath am 28. Juli die Volksabstimmung über das Dekret vom 6. Mai auf den 19. November 1876 fest, welcher Termin vom Staatsrath gleichfalls acceptirt wurde.

Je näher aber der Tag der Abstimmung heranrückte, um so mehr bemächtigte sich der Liberalen eine starke Besorgniß ; in der Annahme des Riformino vom 6. Mai erblickten sie mit Recht eine ernstliche Gefährdung ihrer Grundsätze und eine unrichtige Ausführung des Bundesbeschlusses vom 17. März 1876; und um der vollendeten Thatsache einer Volksabstimmung zuvorzukommen, veranlaßten die am 15. Oktober in Locamo versammelten patriotischen Vereine den Staatsrath zur sofortigen Anordnung der Wahl des Großen Rathes auf den 5. November, und zwar im Verhältniß eines Deputirten auf 1070 Seelen der Wohnbevölkerung (populazione di fatto). Auf erfolgten Rekurs hin hob jedoch der Bundesrath am 7. November diese Verfügung auf, indem er die erneuerte Einladung an den Staatsrath ergehen ließ, die Volksabstimmung über das vielfach angefochtene Verfassungsdekret vom 6. Mai definitiv anzuordnen.

Inzwischen war die Erregtheit der Geister auf den höchsten Grad gestiegen; die blutigen Ereignisse von Stabio riefen einen großen Theil des Volkes unter die Waffen, und nur den patriotischen Bemühungen des eidgenössischen Kommissärs, Herrn Nationalrath Bavier, gelang es, die Gemüther wieder zu beruhigen und die Parteien einer Verständigung zugänglich zu machen. Diese konnte selbstverständlich nur darin bestehen, daß als Basis der Repräsentation die faktische Wohnbevölkerung, d. h. die gesammte daselbst angesessene schweizerische Bevölkerung mit Zuziehung der Fremder» und Weglassung der abwesenden Tessiner angenommen und sofort nach Annahme des so modifizirten Verfassungsdekretes durch da» Volk zur Wahl des neuen Großen Rathes geschritten werde.

Diese Einsicht brach sich schließlich durch die Gewalt der Verhältnisse bei beiden Parteien Bahn, und am 17. November abhin kam zwischen den hervorragendsten Repräsentanten derselben^
den Herren Battaglini und Mola für die Liberalen und den Herren Respini und Pedrazzini für die Ultramontan-Konservativen unter der Vermittlung des Bundespräsidenten in Bern ein Convenio in obigem Sinne zu Stande. Demgemäß wurde das Verfassungsdekret vom 6. Mai am 24. November 1876 vom Großen Rathe in dem Sinne

826 niodifìzirt, J) daß der Große Rath im Verhältniß der faktischen, d. h.

der Wohnbevölkerung der gegenwärtigen Kreise, nach den Ergebnissen der eidgenössischen Volkszählungen gewählt werden soll, und zwar je ein Abgeordneter auf 1000 Einwohner, wobei jeder Bruchtheil über 500 für 1000 zu berechnen ist, und 2) daß die Einwohner des unausgeschiedenen Gebietes delle Terricciole bis zu dessen Theilung zu dem Kreise Verzasca gezählt werden sollten. Die Volksabstimmung über dieses Revisionsdekret sollte nach Mitgabe der eidgenössischen Gesetzgebung geheim und gemeindeweise stattfinden (§ 2), das Ergebniß vom Staatsrath öffentlich verkündet und von ihm auch unverzüglich die eidgenössische Gewährleistung nachgesucht werden (§ 3). Im Weitem ist festgesetzt, daß, s o b a l d d i e v o r l i e g e n d e R e v i s i o n , s o w i e d e r Art. l d e r v o m V o l k e am 19. D e z e m b e r 1875 a n g e n o m m e n e n R i f o r metta (geheime und g e m e i n d e wei se A b s t i m m u n g ) die Bundesgenehmigung erhalten haben werde, der Staatsrath die Wahlversammlungen zur Vornahme der Integralerneuerung des Großen Rathes einzuberufen habe (§ 4), und zwar sollte dieselbe in keinem Falle später als im nächsten Monat Januar und jedenfalls nicht früher vorgenommen werden, als nachdem die Bundesversammlung über den Art. l der Riformetta entschieden hätte (§ 4). Sodann folgen eine Reihe von Bestimmungen, welche die Ordnung der Wahlverhandlungen betreffen (§ 5 bis 12) und endlich die Liste der Abgeordneten nach der faktischen Bevölkerung (§13).

Dieses v o n b e i d e n P a r t e i e n a n g e n o m m e n e V e r f a s s u n g s d e k r e t (Reformino) wurde am 3. Dezember 1876 vom Volke beinahe einstimmig, d h. mit 15,980 gegen 770 Stimmen angenommen, so daß nun beide Verlassungsgesetze, die Riformetta vom 20. November 1875 und das Riformino vom 24. November 1876 gleichzeitig der Bundesgenehmigung unterstellt sind.

II.

Für die Frage, ob und in wie weit die Gewährleistung des Bundes den beiden Verfassungsdekreten zu ertheilen sei, ist der § 6 der Bundesverfassung maßgebend; sie dürfen hiernach nichts den Vorschriften derselben Zuwiderlaufendes enthalten, sie müssen die Ausübung der politischen Rechte nach republikanischen (repräsentativen oder demokratischen) Formen sichern, und endlich müssen sie vom Volke
angenommen worden sein und revidirt werden können, wenn die absolute Mehrheit der Bürger es verlangt.

Von diesem Standpunkte aus sind demnach die beiden Vorlagen zu prüfen.

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^.

Gegen die R i f o r m e t t a vom 20. November 1875 sind von Hrn. Advokat Mola für sich und Namens der übrigen Mitglieder der liberalen Minderheit des Großen Rathes am 21. Februar 1876 eine Reihe von Einwendungen erhoben worden, die eine einläßliche Beleuchtung verdienen.

1. Was zunächst den s a c h l i c h e n I n h a l t der Riformetta anbelangt, so finden sich darin zwei Hauptbestimmungen, welche hier auch besonders hervorzuheben sind : erstlich der Art. l, welcher am Platze der bisherigen, auf einem Gesetz von 1852 beruhenden öffentlichen Stimmgebung in den Kreisversammlungen die geheime Stimmgebung in dea Gemeindeversammlungen einführt und zweitens der Art. 15, welcher die Revisionsfrage beschlägt und den Art. 24 der bisherigen Verfassung ersetzen soll.

Gegen die Einführung der geheimen und gemeindeweisen Stimmgebung läßt sich vom bundesrechtlichen und demokratischen Standpunkte aus nichts einwenden. Sie besteht bereits für die kantonalen Wahlen und Abstimmungen in der großen Mehrheit der Kantone und ist überdieß durch das Bundesgesetz vom 19. Juli 1872 und die in Folge dessen wiederholten Entscheide der Bundesvers«mmlung für alle eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen eingeführt.

Die Herren Mola und Genossen erheben übrigens gegen Art. l keine prinzipielle Einwendung, sondern beschränken sich bloß auf die Bemerkung, da(S im Kanton Tessin die Ersetzung der offenen Stimmgabe durch die geheime, obsehon von den Liberalen nicht gewünscht, dennoch von ihnen redlich angenommen worden sei, nur hätte eine derartige Bestimmung eher in das Gesetz als in die Verfassung gehört.

In dieser Beziehung bemerkt jedoch die Botschaft des Bundesrathes mit Recht, daß diese Frage den Kantonen anheimgestellt ist und den Bundesbehörden kein Recht zum Einschreiten geben könne. Wir gestehen zwar offen, daß wir für den Kanton Tessin zum Schütze gegen einen übermächtigen Einfluß der Geistlichkeit größere Kreise als die Gemeinden gewünscht hätten; allein wir finden keinen, konstitutionellen Anhaltspunkt, der uns berechtigen könnte, von B u n d e s w e g e n das Tessinervolk, welches die gemeindeweise Abstimmung, abgesehen von einer Reihe von Petitionen,

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am 19. Dezember 1875 förmlich sanktionirt hat, zu einer andern Eintheilung zu zwingen.

Der Art. 15 betrifft die Art und Weise, wie die Verfassung revidirt werden kann und enthält gegenüber dem Art. 24 der jetzigen Verfassung einen unverkennbaren Fortschritt. Während nämlich dieser letztere nicht einmal die Aufstellung eines Verfassungsrathes ermöglicht und überdieß die mit Art. 32 im Einklang stehende Bestimmung enthält, daß neben der Mehrheit des Volkes auch die Mehrheit der Kreise die revidirte Verfassung annehmen muß, räumt der neue Art. 15 sowohl der Mehrheit des Großen Käthes als 7000 Aktivbürgern die Initiative zur ganzen oder theilweisen Verfassungsänderung ein, verpflichtet dann den Staatsrath, binnen Monatsfrist das Volk darüber anzufragen, ob es die angeregte Revision verlange und, bejahenden Falls, ob dieselbe durch den Großen Rath oder einen Verfassungsrath vorzunehmen sei, und bestimmt endlich, daß alle Entscheide über Verfassungsrevisionen durch die einfache Mehrheit der Stimmenden, mit Weglassung der Kreise, zu fassen seien.

Gegen diese Vorschriften ist Seitens der Herren Mola und Genossen bloß die ganz richtige Bemerkung gemacht worden, daß sie nicht, wie es im Verfassungsdekret der Fall ist, unter die Uebergangsbestimmungen gehören, sondern einen bleibenden Charakter haben. Es mag jedoch genügen, sowohl in der bundesräthlicheu Botschaft als im Kommissionsbericht die Richtigkeit obiger Bemerkung "ö anerkannt zu haben.

Betreffend die übrigen Bestimmungen des Dekretes (Art. 2 bis 12) schließen wir uns den kritischen Bemerkungen und den Erwägungen des Bundesrathes an. Es sind dieß, mit Ausnahme des Art. 2 (Freiheit des Privatunterrichts) und Art. 12 (Unvereinbarkeit einer eidgenössischen Beamtung mit der Eigenschaft eines Abgeordneten des Großen Rathes) keine Vorschriften, welchen bundesrechtliche Bedenken entgegenstünden.

2) Abgesehen von dem sachlichen Inhalt der so eben besprochenen Bestimmungen der Riformetta, sind jedoch von den Herren Mola und Genossen, nachdem der Nationalrath inzwischen den Rekurs Mordasini am 23. Dezember 1875 in einer ersten Berathung zu Recht erkannt hatte, auch Einwendungen a l l g e m e i n e r N a t u r gegen die konstitutionelle Zuläßigkeit der Riformetta erhoben worden, die sich am besten in zwei Abtheilungen ausscheiden lassen.

a. Erstlich wird darauf hingewiesen, daß nach der bereits erfolgten Schlußnahme des Nationalrathes voraussichtlich auch die

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Bundesversammlung den Rekurs Mordasini gutheißen werde, und daß dann der Kanton Tessin sein Grundgesetz von einem Großen Käthe habe feststellen lassen, welcher auf Grundlage des bundesverfassungswidrig erklärten Art. 32 ernannt worden sei. Die Herren Mola und Genossen erklären zwar, gegen die gesetzgeberische Thätigkeit des in obiger Weise konstituirten Großen Käthes keinen Einspruch erheben zu wollen, wohl aber erscheint ihnen die Anhandnahme einer Verfassungsrevision durch denselben vom konstitutionellen Standpunkt aus anfechtbar zu sein. Die Kommission hält diesen Einwand nicht für zutreffend, weil er zu Konsequenzen führen müßte, welche die Bundesversammlung in ihrem Beschlüsse vom 13. und 17. März 1876 unmöglich beabsichtigt haben konnte.

Man darf nämlich nicht übersehen, daß der Art. 32 der iessinischen Verfassung schon mit Art. 4 der Bundesverfassung von 1848 in ganz gleicherweise unvereinbar war, wie mit dem gleichlautenden Art. 4 der Bundesverfassung von 1874, und daß der Art. 4 der Uebergangsbestimmungen der erstem wiederum im Einklang mit Art. 2 der Uebergangabestimmungen der letzteren alle Vorschriften der Kantonalverfassungen, welche mit den Bestimmungen der Bundesverfassung im Widerspruche stunden, also auch den Art. 32 der Tessinerverfassung, s c h o n am 12. S e p t e m b e r 1848 aufgehoben hat. Man muß ferner nicht außer Acht lassen, daß bereits in den Jahren 1865 und 1870 im Kanton Tessin der Versuch gemacht wurde, den Art. 32 durch ein richtiges Repräsentationsverhältniß zu ersetzen, daß aber das Tessinervolk am 6. Februar 1870 diese Frage verneinend entschieden hat und daß hierauf die Munizipalität von Lugano am 19. November 1870 einen mit dem heutigen gleichlautenden Rekurs gegen den ferneren Bestand des Art. 32 bei den Bundesbehörden eingereicht hatte.

Und endlich ist zu erinnern, daß im Laufe der Zeit sogar die B u n d e s v e r s a m m l u n g zu wiederholten Malen sich mit der Tessinerverfassung zu beschäftigen Gelegenheit hatte, ohne den Art. 32 außer Kraft zu erklären.

Würde man daher dem Bundesbeschluß vom 13/17. März 1876 r ü c k w i r k e n d e Kraft beilegen, so wären alle Großen Räthe, welche seit 1848 auf Grundlage dieses Artikels gewählt waren und theilweise die Verfassung von 1830 revidirten, als nichtkonstitutionelle Behörden und folgeweise ihre Erlasse als
ungültig zu betrachten, eine Auslegung, welche gewiß nicht im Sinne der Bundesversammlung liegen konnte. Aber auch der W o r t l a u t des Beschlusses geht nicht dahin. Der Art. 32 wird ausdrücklich außer Kraft erklärt, oder wie sich der französische Text noch deutlicher ausspricht: ,,L'article 32 de la constitution du Canton

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du Tessin cesse d'être en vigueur," und dann soll erst noch der Bundesrath dafür sorgen, daß diese Bestimmung durch eine den Grundsätzen der Bundesverfassung entsprechende ersetzt werde.

Erst mit diesem Beschlüsse war also der Große Rath in seiner gesetzgeberischen Thätigkeit auf die Konformirung des Art. 32 mit der Bundesverfassung beschränkt. Wir können auch vom d e m o k r a t i s c h e n Standpunkte aus die Auffassung nicht theilen, daß vor diesem Zeitpunkte der Große Rath zwar wohl noch nach Gutfinden solche Gesetze machen konnte, für welche er keiner Volkssanktion bedurfte, nicht aber solche, welche vom Volke zu genehmigen waren und in Wirklichkeit auch genehmigt worden sind. Weit eher kämen wir zu dem umgekehrten Schlüsse.

b. Vollständig begründet war dagegen der zweite Einwand, den die Herren Mola und Genossen am 21. Februar 1876 gegen die Bundesgenehmigung der Riformetta erhoben haben.

In den Uebergangsbestimmungen fand sich nämlich der Art. 14, wonach der Staatsrath sofort nach der Volksabstimmung die Gewährleistung durch den Bund nachzusuchen und innert 8 Tagen nach deren Ertheilung den d a m a l i g e n Großen Rath wieder einzuberufen beauftragt war, um durch i h n erst noch die Ausführungsgesetze beschließen zu lassen, gleichzeitig aber den Staatsrath so wie die übrigen Beamten neu zu wählen (Art. 14 litt. b). Hiernach hätte also der Große Rath, trotz des bevorstehenden und vorauszusehenden Beschlusses der Bundesversammlung in Sachen des Rekurses Mordasini unter allen Umständen seine vierjährige Amtsdauer beendigen, alle ihm zukommenden Wahlen treffen und dann vollends den Beschluß der Bundesversammlung durch ein besonderes Gesetz, natürlich in seinem Sinne, ausführen können.

Welches damals dieser Sinn der M e h r h e i t des Großen Rathes war, ergab sich deutlich aus der noch vor der Volksabstimmung über die Riformetta, nämlich am 27. November 1875, gepflogenen ersten Berathung des Riformino, wonach die Ticinesi attinenti mit Ausschluß aller Fremden als Basis der neuen Repräsentation gelten sollten.

Zum Glück wurde dieser Versuch vereitelt, und nach zähem Widerstande gelang es endlich dem Bundesrathe, die Mehrheit des Großen Rathes zu überzeugen, daß d i e s e Behörde vom Tage des Bundesbeschlusses in Sachen Mordasini hinweg nichts Anderes mehr zu thun habe, als denselben d u r
c h die A u f s t e l l u n g eines V e r f a s s u n g s d e k r e t e s auszuführen, in w e l c h e m die R e p r ä s e n t a t i o n im Verhältniß der faktischen B e v ö l k e r u n g festzus e t z e n w a r , so daß a l l e in Art. 14, L i t t , b der

831 K i f o r m e t t a dem b i s h e r i g e n g r o ß e n R a t h e v o r b e h a l t e n e n A t t r i b u t e m i t d i e s e m l e t z t e r n selbst dahinfielen.

Es fragt sich überhaupt, ob der Bundesrath nicht besser gethan hätte, den Beschluß der Bundesversammlung von sich a u a zu vollziehen, und statt sich bis zürn November abzumühen, von der Mehrheit des Großen Rathes das Zugeständniß einer verfassungsmäßigen Vertretung zu erlangen, den Kanton Tessin ohne Weiteres anzuhalten, den Art. 32 durch den Art. l des später vereinbarten Riformino zu ersetzen. Naöh hierseitiger Ansicht wäre er dazu konstitutionell berechtigt gewesen. Immerhin begreifen ·wir die im bundesräthlichen Beschlüsse vom 17. Juni 1876 angedeuteten Bedenken und glauben diese Frage hier als gegenstandslos nicht weiter erörtern zu sollen.

DB.

(|Das Riformino vom 24. November 1876 enthält in Art. l eine einzige bleibende Bestimmung, die wir bereits kennen und ist als das Werk beider tessinischen Parteien am 3. Dezember abhin vom Volke beinahe einstimmig angenommen worden. Nach Art. 4 desselben wird nur n a c h erfolgter B u n d e s g e n e h m i g u n g der in o b i g e r Weise m o d i f i z i r t e n R i f o r m e t t a , nicht der bisherige Große Rath, sondern der Staatsrat h die Wahlversammlungen zur Vornahme der Integralerneuerung des Großen Rathes auf Grundlage der faktischen Bevölkerung einberufen, und damit unter Mitwirkung des Bundesrathes die tessinischen Wirren, wie zu hoffen ist, zu einem glücklichen Abschlüsse bringen.

Wir sagen ,,unter Mitwirkung des Bundesrathes", denn den nicht ungerechtfertigten Bedenken der Liberalen gegen den geistlichen Einfluß in den Gemeindeversammlungen kann am besten ia der Weise Rechnung getragen werden, wenn der Bundesrath im Verein mit dem Staatsrath von Tessin in geeigneter Weise die Freiheit und Unabhängigkeit, d. h. das w i r k l i c h e G e h e i m n i ß der Stimmgebung sichert. Bestimmte Weisungen in dieser Richtung sind hier nicht am Platze; wohl aber glaubt die Kommission, dem Nationalrath die allgemeine Einladung in obigem Sinne zur Beschlußfassung empfehlen zu können.

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In Zusammenfassung der vorstehenden Ausführungen geht der Antrag der Kommission dahin: Der Nationalrath möge beschließen: 1) die beiden Verfassungsdekrete vom 20. November 1875 und vom 24. November 1876 mit den vom Bundesrathe beantragten Erwägungen und Vorbehalten zu gewährleisten, und 2) den Bundesrath einzuladen, in geeigneter Weise die Freiheit und Unabhängigkeit der Stimmabgabe bei der bevorstehenden Großrathswahl au sichern.

B e r n , den 18. Dezember

1876.

Namens der Kommission: B. Brnnner.

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Botschaft des

Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung, betreffend Uebertragung der Konzession für die Bern-Luzern-Bahn auf den Ersteigerer.

(Vom 15. Dezember 1876.)

Tit.!

Wie Sie wissen, findet die Versteigerung der in Liquidation gekommenen Bern-Luzern-Bahn am 15. Januar nächsthin statt. Gemäß den Steigerungsbedingungen (Art. 29) geht die Bahn am 1. desjenigen Monats, welcher der Genehmigung der Konzessionsübertragung durch die eidgenössischen Räthe folgt, in den Besiz und die Verwaltung des Erwerbers über, und (Art. 27) drei, resp. sechs Monate nach diesem Termin ist der Rest des Kaufpreises zu bezahlen.

Veranlaßt durch Gläubiger, welche ein Interesse darin finden, daß die Uebertragung der Konzessionen auf den Ersteigerer möglichst bald ratifizirt werde, macht das Bundesgericht die Anregung, Sie möchten auf den Fall, daß im März keine außerordentliche Session stattfände, den Bundesrath zu dieser Ratifikation zu ermächtigen.

Obschon der Masse der Zins von der Kaufsumme zu 5 % von dem 1. desjenigen Monats an, welcher der Zusage folgt, zu vergüten, und obschon, wenn unter Vorbehalt der Ratifikation geboten wird, zur Beibringung der leztern eine Frist von 60 Tagen eingeräumt ist, so könnte sich doch leicht der Mangel der bundeshoheitlichen Genehmigung, wenn er bis in den Juni sich verlängerte, für den

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht der Kommission des Nationalraths, betreffend die zwei Verfassungsdekrete des Kantons Tessin vom 20. November 1875 und 24. November 1876. (Vom 18. Dezember 1876.)

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1876

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4

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56

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Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

23.12.1876

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821-833

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10 009 380

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