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Bundesrathsbeschluss in

Sachen des Hrn. Franz Nessi von Orselina und Genossen, betreffend die Wahlen vom 21. Februar 1875 im tessinischen Kreise Locarno.

(Vom 4. Februar 1876.)

Der schweizerische Bundesrath hat in Sachen des Herrn F r a n z N e s s i von Orselina und G e n o s s e n , betreffend die Wahlen vom 21. Februar 1875 im K r ei s e L o c a r n o;

nach angehörtem Berichte des Justiz- und Polizeidepartements, und nach Einsicht der Akten, woraus sich ergeben: I. Am 21. Februar 1875 fand im Kanton Tessin die Gesammterneuerung des Großen Rathes und der richterlichen Beamten statt.

Im K r e i s e Locarno nahmen an diesen Wahlen nach der Angabe der Rekurrenten 465, nach der Angabe des Großrathsbüreau dagegen 478 Bürger Antheil. Es erhielten als Abgeordnete in den Großen Rath: Herr Oberst Luigi Rusca 342 Stimmen, ,, Adv. Bartholomeus Varenna 338 ,, , ,, Franz Nessi von Orselina 251 ,, , ,, Friedrich Scazziga 232 ,,

954 Gestüzt auf dieses Ergebniß wurden die Herren Rusca, Varenua und Nessi als gewählt erklärt.

II. Sogleich bei der Eröffnung der Wahlverhandlungen hatte jedoch Herr Adv. Albert Franzoni von Locamo bei dem Bureau eine Einsprache erhoben, welcher · sich der erwähnte Großrathskandidat Friedrich Scazziga und Herr Adv. G. B. Volonterio mittelst Eingabe an den Regierungskommissär des Bezirkes Locamo vom 23. Februar 1875 anschlössen, indem sie verlangten, daß alle Wahlen als nichtig zu erklären seien, eventuell, daß für die dritte Stelle in den Großen Rath, anstatt des Herrn Nessi, Herr Scazziga .als gewählt proklamirt werden möchte.

Dieses Begehren begründeten sie mit folgenden Thatsachen: a. Am Abende vom 20. Februar habe der Regierungskommissär von Locamo inkompetent 'und gesezvvidrig verfügt, daß die Namen von 12 Tessiner Bürgern, welche schon seit mehreren Jahren in der Gemeinde Orselina niedergelassen und daher nach Maßgabe von Art 43 der Bundesverfassung auf das Stimrnregìster dieser Gemeinde aufgetragen worden seien, gestrichen werden müssen. In Folge dieser Verfügung habe der G-emeinderath neben diesen 12 noch 6 weitere Bürger, die in gleichen Verhältnissen sich befunden, .streichen müssen.

b. Ebenfalls erst am Abende des 20. Februar habe der Gemeinderath von Locamo auf die Einsprache von drei Bürgern die Namen der 13 Priester, alles Bürger von Locamo, welche auf dem Stimmregister dieser Gemeinde eingetragen gewesen, wieder gestrichen.

c. Der gleiche Gemeinderath habe ebenfalls erst am 20. Februar das am 15. Februar eingereichte Gesuch von ü b e r 30 Tessiner Bürgern um Einschreibung ihrer Namen in das Stimmregister abgelehnt, pbwohl diese Personen seit vielen Jahren in Locamo niedergelassen seien, dort Geschäfte haben und ihre Berufe ausüben, und während andere Bürger, welche in gleichen Verhältnissen stehen, sowohl in der Gemeinde Locamo selbst, als auch in andern Gemeinden des Kantons kraft der Vorschrift der Bundesverfassung und des Entscheides des Bundesgerichtes vom 1. Februar 1875, betreffend das Stimmrecht der Niedergelassenen, in die Stimm·register aufgenommen worden seien.

d. Ferner seien 4 weitere, seit vielen Jahren in Monda degli Antognini, Gemeinde Locamo, niedergelassene Tessiner auf das Stimmregister nicht aufgenommen worden. Es sei ihnen vom Gemeinderath Locamo nicht einmal geantwortet worden.

955 e. Ebenso seien noch 46 Bürger aus Gemeinden im Verzascathale, die ihren Wohnsiz auf dem unausgeschiedenen Gebiete (territorio promiscuo) von Locamo, Mergoscia und Miuusio haben, mit ihrem Begehren um Einschreibung ihrer Namen in das Stimmregister von Locamo abgewiesen worden.

f. Endlich seien dem^Stimmregister von Locamo nachträglich noch die Namen von 37 Personen beigefügt worden, ohne daß hievon nach Vorschrift von Art. 12 und 17 des Gesezes vom 30. November 1843 dem Friedensrichter Kenntniß gegeben worden sei. Von diesen 37 haben 16 gestimmt, und zwar für Hrn. Nessi; sie müssen aber, weil unzuläßig, gestrichen werden.

Durch die verschiedenen ungesezlichen Streichungen und Abweisungen seien 111 Bürger an der Ausübung des Stimmrechtes verhindert worden. Die ganze Wahlverhandlung sei daher nichtig.

Speziell sei bekannt, daß die große Mehrzahl dieser Personen für Hrn. Scazziga gestimmt hätte, was auch von 23 derselben schriftlich bezeugt werde. Da Herr Nessi bei einem absoluten Mehr von 240 Stimmen nur 251 Stimmen erhalten, so könne er nicht als gewählt betrachtet werden. In Wirklichkeit sei vielmehr Herr Scazziga gewählt.

IH. Der Friedensrichter des Kreises Locamo, welcher die Wahlversammlung geleitet hatte, sprach sieh in einem amtlichen Berichte vom 7. März 1875 dahin aus, daß nach seiner Ansicht die beiden Begehren der Petenten ungerechtfertigt seien. Wenn auch die sämmtlichen Einreden begründet wären, so könnten doch die Wahlen der mit großem Mehr in den Großen Rath gewählten Herren Rusca und Varenna nicht umgestoßen werden. Ebenso seien die Wahlen der gerichtlichen Beamten unanfechtbar, da sie zum größten Theile einstimmig gewählt worden seien. Dagegen habe er aus den Akten verschiedene Unregelmäßigkeiten konstatirt, ohne welche vermuthlich Herr Scazziga aus der Wahl hervorgegangen wäre. Es könne daher weder Herr Nessi, noch Herr Scazziga als gewählt betrachtet werden.

IV. Der Große Rath des Kantons Tessin erklärte unterm 10. März 1875 die Wahlen der Herren Rusca und Varenna in den Großen Rath, sowie die Wahlen der gerichtlichen Beamten als gültig. Die Wahl des Herrn Nessi dagegen erklärte er am 14.

gleichen Monates mit 59 gegen 27 Stimmen als unregelmäßig und nichtig, und lud den Staatsrath ein, eine neue Wahl anzuordnen.

Bundesblatt. 28. Jahrg. Bd. I.

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956 V. Dieser leztere Beschluß wurde von der Mehrheit der großräthlichen Kommission begründet wie folgt : Zunächst könne auf die Wahrscheinlichkeitsrechnung, wonach Herr Scazziga als gewählt zu erklären wäre, nicht eingetreten werden. Es sei einzig zu prüfen, ob Unregelmäßigkeiten stattgefunden, welche auf das Wahlresultat einen Einfluß hätten ausüben können. In dieser Richtung "o sei: 1. anzuerkennen, daß die Namen der 13 Priester gesezwidrig aus dem Stimmregister gestrichen worden seien. Da die prinzipielle Frage des Stimmrechtes der Geistlichen noch bei dem Bundesgerichte anhängig gewesen sei, so wären sie noch früh genug gekommen, wenn sie die Einschreibung ihrer Namen erst nach dem Entscheide des Bundesgerichtes verlangt hätten. Sie haben dies aber schon am 5. Februar, also innert gesezlicher Frist gethan.

Nachdem sie einmal aufgetragen gewesen, habe der Gemeinderath von Locamo sie nicht mehr streichen dürfen, da nach Art. 16 des Gesezes vom 30. November 1843 während der lezten drei Tage vor einer Wahl eine Minderung oder Mehrung des Stimmregisters nicht stattfinden dürfe.

2. Bezüglich des Stimmrechtes der Niedergelassenen frage es sich blos, ob der Entscheid des Bundesgerichtes vom 1. Februar 1875, respective der Art. 43 der Bundesverfassung, auch auf die tessinischen Niedergelassenen, oder nur auf die Niedergelassenen aus andern Kantonen sich beziehe. Diese Frage sei im Sinne der erstem Alternative zu entscheiden, denn es müsse für a l l e Bürger das gleiche Gesez gelten. Ohne dies befänden sich die Tessiaer im eigenen Kanton in einer schlimmem Stellung, als die Bürger aus andern Kantonen, indem der außerhalb seiner Heimatgemeinde niedergelassene Tessiner zur Ausübung seines Stimmrechtes in seine Heimat sich begeben müßte, der außerkantonale Wähler aber am Wohnorte stimmen könnte.

Man könne nicht verlangen, daß die Niedergelassenen schon drei Monate vor der Wahl in das Stimmregister ihrer Wohnsizgemeinden eingetragen sein müssen. Eine solche Forderung sei weder in der Bundesverfassung, noch in einem Geseze begründet.

Uebrigens seien noch unmittelbar vor den Wahlen mehrere Eisenbahn-Angestellte in das Stimmregister von Orselina eingeschrieben worden, welche alle für Herrn Nessi gestimmt haben. Wenn obige Forderung gerechtfertigt wäre, so wären die Stimmen dieser Personen zu streichen.

957 Da also das Stimmrecht der Niedergelassenen am Wohnorte auch für die Tessiner anerkannt werden müsse, so seien nicht blos die 13 Priester, sondern auch die 18 Niedergelassenen in Orselina, die 4 in Monda degli Antognini und die 31 Niedergelassenen in Locamo an ihrem Wohnorte rechtswidrig vom Stimmrechte ausgeschlossen worden. Von den leztern 31 haben indeß einige in ihren heimatlichen Kreisen gestimmt. Es bleiben aber immer noch 27, die am Wohnorte von der Stimmliste ausgeschlossen worden.

3. Was die Nachträge zu dem Stimmregister von Locamo betreffe, so müsse dieser Theil des Registers nach Art. 17 des Gesezes vom 30. November 1843 als ein geheimer und daher als ungültig betrachtet werden: 4. Bezüglich der Verzasker, welche das Tiefland zwischen dem Flusse Tessin und der Stadt Locamo bewohnen, so seien ihre Verhältnisse ganz ausnahmsweiser Natur. Sie seien zugleich Hirten und Landbebauer und wohnen die längste Zeit des Janres im Thaïe, wo sie auch die Steuern zahlen, ihre Häuser und Schulen haben, überhaupt die größte Summe ihrer Interessen und ihrer Thätigkeit vereinen. Gemäß der Bundesverfassung müssen sie auch dort stimmen können, zumal sie ihre Einschreibung in das Stimmregister von Locamo in nüzlicher Frist begehrt haben. Der Umstand, daß sie auf einem unausgeschiedenen Gebiete wohnen, ändere nichts. Die Frage, in welcher der drei Gemeinden sie stimmen sollen, lasse sich praktisch nicht anders lösen, als daß man die Wahl der Gemeinde ihnen selbst überlasse.

5. Infolge der gerügten Unregelmäßigkeiten könne Herr Nessi nicht als gewählt erklärt werden, denn es hätte blos 24 Stimmen der gesezwidrig aus den Stimmregistern gestrichenen oder darauf nicht aufgenommenen Personen bedurft, um zu bewirken, daß Herr Nessi unter dem absoluten Mehr geblieben wäre. Wenn man die Stimmen derjenigen Bürger, deren Namen nachträglich auf das ·Stimmregister von Locamo aufgetragen worden, als nichtig betrachte, so hätten blos 9 Stimmen das gleiche Resultat bewirkt.

VI. Mit Eingabe vom 20. März 1875 erhoben Herr Franz Nessi, sowie die Herren Großrathsmitglieder Advokat Paul Mordasini und Advokat Bartholomeus Varenna für sich und namens der Herren Franz Petrocchi und Luigi Bolla, als Delegirte der liberalen Minderheit des Großen Käthes von Tessin, gegen den angeführten Beschluß vom 14. März 1875 bei dem Bundesrathe Beschwerde, indem sie behaupteten, daß durch diesen Beschluß ver-

958 fassungsmäßige Rechte der Bürger verlezt worden seien. Sie stellten daher unter Berufung auf Art. 5 der Bundesverfassung das Gesuch, daß die Kassation der Wahl des Herrn Nessi als ungültig erklärt werden möchte, nnd stüzten dieses Gesuch auf folgende summarische Begründung : Die Bundesverfassung habe die Bestimmungen der Verfassungen und Geseze, wodurch in den einzelnen Kantonen die Verlegung des politischen Domiziles und die Ausübung des Stimmrechtes geregelt werden, weder aufgehoben noch suspendirt. Der Art. 43 der Bundesverfassung habe blos den. Zwek, den außerhalb ihres Heimathkantones in einem zweiten Kantone wohnenden Schweizerbürgern die Ausübung der politischen Rechte zu sichern. Weder die Bundesverfassung, noch die kantonale Verfassung gestatte, daß ein Schweizerbürger nach seinem Belieben in dem einen oder andern Wahlkreise stimmen könne, ohne den Gesezen des Ortes zu genügen. Die Weigerung des Gemeinderathes von Locamo, die 31 in Locamo wohnhaften Personen, sowie die 4 in Monda Antognini und die 46 Verzasker,-welche periodisch auf dem unausgeschiedenen Gebiete von Locamo, Mergoscia und Minusio erscheinen, in sein eigenes Stimmregister aufzunehmen, sei somit gerechtfertigt gewesen. Ebenso sei aus dem gleichen Grunde auch die Streichung der 18 Personen aus dem Stimmregister von Orselina, welche auf erhobene Einsprache von dem Regierungskommissär innert den Grenzen seiner Kompetenz verfügt worden sei, begründet.

Diese Streichungen und Abweisungen seien im Einklänge mit den Vorschriften der kantonalen Verfassung erfolart.

ö Andererseits haben die nachträglichen Einschreibungen in das Stimmregister von Locamo nach dem Geseze mit vollem Recht stattgefunden. Es habe sich hiebei um die Anerkennung verfassungsmäßiger Rechte der Bürger gehandelt.

Wenn also die erstem kraft der Verfassung richtig ausgeschlossen, und die leztern in Anerkennung verfassungsmäßiger Recnte der Bürger richtig aufgenommen worden, so bleiben nur noch die Priester übrig, von welchen indeß blos 9 ihre Einschreibung in das Stimmregister verlangt haben. Abgesehen davon, daß dieses Begehren verspätet eingereicht worden -- und diese Einrede könne allerdings mit Grund geltend gemacht werden, ansonst das ganze Wahlgesez vom 30. Nov. 1843, auf Grund dessen die Wahlen vom 21. Februar 1875 stattgefunden, dahin fallen müßte, -- so hätten die Stimmen dieser 9 Priester auf das Wahlresultat, ob man nun das absolute oder das relative Mehr in Betracht ziehe,

959 keinen Einfluß haben können, denn Herr Nessi sei mit 19 Stimmen mehr, als sein Gegenkandidat Scazziga gemacht habe, als gewählt proklamirt worden.

VII. Im Auftrage des Großen Rathes des Kantons Tessin antwortete dessen Bureau mit Zuschrift vom 5. Juni 1875, worin dasselbe.

in materieller Beziehung den Antrag auf Abweisung der Rekursbeschwerde wesentlich auf die in den Berichten des Friedensrichters von Locamo und der großräthlichen Kommission enthaltene Begründung stüzte.

Im Weitern erörterte das Bureau des Großen Rathes noch die Kompetenzfrage, und machte in dieser Richtung geltend: Es gebe zu, daß die Bundesbehörden überall da kompetent seien, wo verfassungsmäßige Rechte in Frage liegen, also auch da, wo es sich um die Frage des Stimmrechtes an und für sich handle. Dagegen müssen alle Fragen, welche sich auf die Art und Weise der Ausübung dieses Rechts beziehen, ausschließlich in die Kompetenz der kantonalen Behörden fallen. Die Bundesbehörden seien also im Spezialfalle einzig berufen, die Frage des Stimmrechtes der Niedergelassenen zu entscheiden. Dagegen müsse der Entscheid des Großen Rathes darüber, ob Eintragungen und Ausschließungen im Widerspruch mit dem kantonalen Geseze stattgefunden, als gültig anerkannt werden. Wie immer der Entscheid der Bundesbehörden über die Frage des Stimmrechtes lauten möge, so bleiben .sie inkompetent, über die Gültigkeit der Wahl des Herrn Nessi zu entscheiden, denn der Beschluß des Großen Rathes stüze sich nicht bloß darauf, daß die Niedergelassenen nicht zum Stimmrechte zugelassen worden seien, sondern auch auf formelle Unregelmäßigkeiten.

(Vergi. B.-B1. 1855, II. 466 ff.; 1857. I. 233; 1864, I. 391. Ullmer Nr. 580. 582 und 1134.)

VIII. Der Bundesrath Übermächte mit Schreiben v. 9. Juli 1875 die sämmtlichen Akten dem Bundesgerichte, damit es Gelegenheit erhalte, zu prüfen, inwiefern es glaube, daß es kompetent sei, diese Beschwerde zu entscheiden, und im Falle es diese Frage bejahen würde, gleichzeitig den Entscheid in der Hauptsache zu geben.

Das Bundesgericht sprach sich jedoch mit Zuschrift vom 23. Dezember 1875 dahin aus, daß nach seiner Ansicht der Entscheid dieser Angelegenheit ihm nicht zustehe, weil es sich um die Auslegung von Art. 43 der Bundesverfassung handle, und die auf diesen Artikel bezüglichen Entscheide gemäß Ziff. 5 von Art. 59 des Bundesgesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege den politischen Behörden des Bundes anheimfallen.

960 In E r w ä g u n g : 1) Es handelt sich im vorliegenden Rekurse zunächst um den Entscheid der Frage, ob die Bestimmung in Art. 43 der Bundesverfassung, wonach der niedergelassene Schweizerbürger in kantonalen und Gemeindeangelegenheiten das Stimmrecht nach einer Niederlassung von 3 Monaten erwirbt, blos auf die in einem Kanton niedergelassenen Bürger aus andern Kantonen sich beziehe, oder auch auf die eigenen Kantonsangehörigen.

2) Nun bezwekt der ganze Inhalt von Art. 43 der Bundesverfassung, die politischen Rechte der Bürger im Allgemeinen zu regeln, und es muß dann auch nach diesem allgemeinen Zweke des Art. 43 die hier in Frage kommende Bestimmung desselben dahin verstanden werden, daß damit allen Schweizern ohne Unterschied, ob sie eigene Kantonsbürger oder Angehörige anderer Kantone seien, das Recht gesichert worden sei, am Wohnorte zu stimmen, sofern sie überhaupt stimmfähig sind und die Bedingung der Niederlassung seit 3 Monaten zutrifft. Eine verschiedene Behandlung der eigenen Angehörigen und der Angehörigen anderer Kantone stünde auch im Widerspruche mit den Art. 4 und 60 der Bundesverfassung.

3) Für die Verwirklichung des erwähnten Grundsazes ist nicht^ wie die Rekurrenten geltend machen, noch der Erlaß eines besondern Bundesgesezes nöthig, sondern es ist derselbe sofort mit der Annahme der Bundesverfassung in Kraft getreten, wie bereits mit Beschluß des Bundesgerichtes vom 1. Februar 1875 über den Rekurs der Herren Vonmentlen und Genossen endgültig entschieden wurde.

4) Es fragt sich also im Speziälfalle bloß, ob bei den Bürgern dieser Kategorie, welchen das Stimmrecht am Wohnorte verweigert worden ist, die Bedingung der Niederlassung seit 3 Monaten zutreffe. Diese Frage ist bezüglich der 18 Tessiner, deren Namen aus dem Stimmregister von Orselina nachträglich wieder gestrichen wurden, sowie bezüglich der 4 in Monda degli Antognini und der 31 Tessinerbürger in Locamo, deren Einschreibung in das Stimmregister dieser leztern Gemeinde abgelehnt wurde, gemäß den vom Großrathsbüreau gegebenen Nachweisen unbedingt zu bejahen. Die Einrede der Rekurrenten, daß diese Personen ihre Einschreibung in die Stimmregister nicht erst wenige Tage vor den Wahlen haben begehren können, sondern daß sie dieselbe ebenfalls wenigstens 3 Monate vorher hätten verlangen sollen, ist nicht stichhaltig; es

961 genügt, daß sie dies innert der im kantonalen Geseze aufgestellten nüzlichen Frist gethan haben.

5) Bezüglich der 46 Verzasker, deren Einschreibung in das Stimmregister von Locamo abgelehnt wurde, ist allerdings zweifelhaft, ob sie zur Zeit der Wahlen in dem Tieflande bei Locamo, das sie blos periodisch bewohnen, wirklich niedergelassen waren.

Wenn aber die Bedingung der dreimonatlichen Niederlassung vor den Wahlen vom 21. Februar auch bei diesen Leuten als erfüllt betrachtet werden wollte, so tritt noch die weitere Schwierigkeit ein, daß jene Gegend unausgeschiedenes Gebiet der Gemeinden Locamo, Mergoscia und Minusio ist, und daß diese drei Gemeinden selbst wieder in zwei Wahlkreise, nämlich in denjenigen von Locamo und in denjenigen von Navegna, gehören. Diese Schwierigkeit kann nur durch eine förmliche Ausscheidung jenes Gebietes an die drei Gemeinden gehoben werden und bis dahin bleibt nichts Anderes übrig, als daß die betreffenden Personen das Stimmrecht einstweilen noch in ihrem heimatlichen Kreise Verzasca ausüben.

6) Was sodann die 13 Priester von Locamo betrifft, deren Einschreibung in das Stimmregister dieser Stadt noch vor Abschluß desselben begehrt worden ist, so muß das Stimmrecht dieser Personen gemäß Art. 49 der Bundesverfassung und gemäß dem Entscheide des Bundesgerichtes vom 1. Februar 1875 über den Rekurs der Geistlichen Pedrini und Forni, anerkannt werden. Die weitere Frage, ob gegen die nachträgliche Streichung derselben aus dem Stimmregister von Locamo auch formelle Gründe sprechen, erledigt sich nach dem kantonalen Geseze, dessen Interpretation lediglich den kantonalen Behörden zusteht.

» 7) Aus dem gleichen Grunde kann sich der Bundesrath auch mit der Frage, ob die nachträglichen Einschreibungen in das Stimmregister von Locamo Mangels der Mittheilung an den Friedensrichter gesezlich ungültig seien, nicht befassen, indem von den Rekurrenten nicht bewiesen werden konnte, daß durch den daherigen Entscheid des Großen Rathes verfassungsmäßige Rechte verlezt worden seien.

8) Es ergibt sich also, daß bei den Wahlen im Kreise Locamo vom 21. Februar 1875 eine bedeutende Anzahl von Bürgern -- 12 der Priester absolut und die Niedergelassenen wenigstens am Wohnorte -- in der Ausübung ihres Stimmrechtes beeinträchtigt wurden, wodurch die vom Großen Rathe des Kantons Tessin beschlossene Kassation der Wahl des Herrn Nessi zum Deputirten dieses Kreises als gerechtfertigt erscheint, zumal nur wenige Stimmen

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dieser ausgeschlossenen Personen ein anderes Wahlergebniß hätten herbeiführen können, beschlossen: 1. Der Rekurs der Herren Nessi und Genossen ist als unbegründet abgewiesen.

2. Dieser Beschluß ist dem Staatsrathe des Kantons Tessin für sich und zu Händen des Großen Rathès, sowie dem Herrn Franz Nessi für sich und die übrigen Rekurrenten mitzutheilen.

B e r n , den 4. Februar

1876.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Welti.

Der^Kanzler der Eidgenossenschaft: Schiess.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bundesrathsbeschluss in Sachen des Hrn. Franz Nessi von Orselina und Genossen, betreffend die Wahlen vom 21. Februar 1875 im tessinischen Kreise Locarno. (Vom 4.

Februar 1876.)

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1876

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15.04.1876

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