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Bundesratsbeschluß über

die Beschwerde der Frau Gertrud Riolo-Couth in Borgen, betreffend Verweigerung eines Wirtschaftspatentes.

(Vom 11. Oktober 1901.)

Der schweizerische Bundesrat

hat über die Beschwerde der Frau Gertrud R i o l o - C o u t h in Borgen, betreffend Verweigerung eines Wirtschaftspatentes, auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluß gefaßt:

A.

In thatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Durch Schlußnahme vom 13. April, mitgeteilt den 1. Mai 1901, beschied der Regierungsrat des Kantons Zürich das Gesuch der Frau Gertrud Riolo-Couth, in Horgen, um Verlegung ihres bisherigen Wirtschaftspatentes im Hause Nr. 498 Zugerstraße auf Nr. 492 derselben Straße in ablehnendem Sinne.

Gegen diese Verfügung rekurrierte Advokat Dr. Richard Lang in Zürich am 17./18. Mai 1901 ans schweizerische Bundesgericht, unter Berufung auf Art. 4 der Bundesverfassung und Art. 2 der Kantonsverfassung (Garantie der Rechtsgleichheit), sowie auf Art. 4 der Kantonsverfassung (Garantie der wohlerworbenen Privatrechte).

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Das schweizerische Bundesgericht trat auf die Beschwerde wegen Inkompetenz nicht ein (Urteil vom 26. Juni, mitgeteilt den 31. August 1901).

Frau Riolo übertrug hierauf dem Advokaturbureau Ryf & Kunz in Zürich die Beschwerdeführung beim Bundesrate, erhielt aber am 10. September dieses Jahres die Akten zurück, da die 60tägige Rekursfrist verpaßt sei 5 daß zunächst an eine unrichtige Instanz rekurriert worden sei, ändere daran nichts.

II.

Mit Eingabe vom 19./21. September 1901 stellte Dr. jur. · Anna Mackenroth, Rechtsanwalt in Zürich, beim Bundesrate das Gesuch : I. Der Rekurrentin wegen Versäumung der in Art. 190 des Organisationsgesetzes vorgesehenen Beschwerdefrist Restitution zu erteilen und die Beschwerde dennoch an Hand zu nehmen.

II. Die Beschwerde als begründet zu erklären.

Zur Begründung des Restitutionsbegehrens wird ausgeführt : 1. Es wird wohl keinem Zweifel unterliegen, daß auch in staatsrechtlichen Sachen die Wiedereinsetzung gegen Fristversäumnisse statthaft ist (vergi, die bundesgerichtl. Entschg. in Bd. 14, S. 217). Und zwar muß Art. 43 des Organisationsgesetzes wie bei staatsrechtlichen Beschwerden an das Bundesgericht auch für die staatsrechtlichen Beschwerden an den Bundesrat gelten, da bezüglich dieser Fristen beide Instanzen gleichgestellt sind. Es kann sich also nur fragen : liegt ein unverschuldetes Hindernis nach Art. 43 des Organisationsgesetzes vor, und liegt dieses Hindernis für die Versäumung der 60tägigen Beschwerdefrist wie für die Versäumung der lOtägigen Wiederherstellungsfrist vor? Denn auch das wird nicht bezweifelt werden wollen, daß auch gegen die Versäumung der Restitutionsfrist ebenso eine Restitution statthaft ist wie gegen die Versäumung aller übrigen Fristen, worauf dann Art. 43 des Organisationsgesetzes neuerdings Platz greift.

Beide Fragen sind nun zu bejahen.

Denn es konnte Herr Advokat Dr. Richard Lang sehr wohl glauben, es handle sich vorliegenden Falls um Verletzung eines wohlerworbenen Privatrechts und nicht um eine Frage der Handelsund Gewerbefreiheit, und er konnte dies um so mehr glauben, als ja die Grenze zwischen Civil- und Verwaltungsstreitigkeiten

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nicht immer scharf zu ziehen ist und die besten Juristen darüber verschiedener Meinung sind. Es kann also eine unrichtige Interpretation hierin einem Juristen nicht wohl zum Verschulden angerechnet werden, und noch weniger kann dies der Partei zum Verschulden angerechnet werden, die als Laie nichts von diesen Rechtskompetenzen versteht und sich ganz auf den Juristen verlassen muß.

2. Nun hätte dann allerdings das Wiederherstellungsgesuch bis inklusive den 10. September 1901 eingereicht werden sollen, da Frau Riolo am 31. August den bundesgerichtlichen Entscheid erhielt und die lOtägige Frist des Art. 43 cit. am 10. September ·1901 ablief. Allein, wie man sieht, hat sie noch i n n e r t der F r i s t die Sache einem andern Advokaten überwiesen, derselbe ihr dann aber die Akten unverrichteterweise zurückgegeben.

Dies muß aber ebenfalls als ein unverschuldetes Hindernis betrachtet werden. Für Frau Riolo war es ein Zufall, daß sie einen Advokaten wählte, der die Sache nicht annehmen wollte.

Eine Schuld des Advokaten liegt aber ebensowenig vor, weil es das gute Recht eines jeden Anwalts ist, eine Rechtssache anzunehmen oder abzulehnen. Den Bescheid des Anwalts Dr.

Kunz hat Frau Riolo, wie aus dem beigelegten Couvert hervorgeht, erst am 11. September erhalten, so daß die neue Wiedereinsetzungsfrist bis zum 21. September läuft..

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht:

I.

Gemäß Art. 178, Ziffer 3, in Verbindung mit Art. 190, Absatz 1. des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 23. März 1893 sind Beschwerden gegen kantonale Verfügungen und Erlasse binnen 60 Tagen, von der Eröffnung oder Mitteilung an gerechnet, beim Bundesrate einzureichen.

Da im vorliegenden Falle der Bundesrat nicht als Vollziehungsbehörde von Amtes wegen einzuschreiten hat (Art. 190 des Organisationsgesetzes) und der abweisende Entscheid des Regierungsrates des Kantons Zürich am 13. April 1901 gefällt, am 1. Mai dieses Jahres mitgeteilt worden ist, so ist die am 19./2l. September dem Bundesrate eingereichte staatsrechtliche Beschwerde als verspätet zu erklären.

365 IL Gemäß Art. 43 des Organisationsgesetzes kann nun allerdings .^Wiederherstellung gegen die Folgen der Versäumung einer Frist erteilt werden, wenn der Gesuchsteller nachweist, daß er oder sein Vertreter durch unverschuldete Hindernisse abgehalten worden ist, innerhalb der Frist zu handeln, und die Wiederherstellung binnen 10 Tagen, von dem Tage an, an welchem das Hindernis gehoben ist, verlangt wirda.

Da diese Vorschrift sich unter den ,,Allgemeinen Bestimmungen a des Organisationsgesetzes befindet, darf unbedenklich angenommen werden, sie sei ebensowohl auf das Verfahren beim Bundesrate wie auf dasjenige beim Bundesgerichte anzuwenden und könne ebensowohl im staatsrechtlichen wie im civilrechtlichen Verfahren angerufen werden. Das Bundesgericht hat auch schon unter der Herrschaft des alten Organisationsgesetzes von 1874, ohne daß darin eine ausdrückliche Bestimmung enthalten gewesen wäre, die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung bei Versäumung von Fristen beim staatsrechtlichen Rekurse bejaht (vergi, das Urteil des Bundesgerichts vom 13. April 1888, A mtl. Samml.

der bundesgerichtl. Entsch. XIV, Nr. 36, Erw. 1). Allein die Voraussetzungen der restitutio in integrarci liegen nicht vor, da weder einer der zulässigen Wiedereinsetzungsgründe dargethan worden ist, noch die gesetzliche Befristung des Wiedereinsetzungsgesuches eingehalten wurde.

Die Beschwerdeführerin gesteht zu, am 31. August den Inkompetenzentscheid des schweizerischen Bundesgerichtes zugestellt erhalten zu haben ; selbst bei Anerkennung ihrer Rechtsauffassung der restitutio in integrum hätte also das Wiederherstellungsgesuch am 10. September ,,binnen 10 Tagen, von dem Tage an, an welchem das Hindernis gehoben ista, dem Bundesrate eingereicht werden sollen und nicht erst am 19./21. September 1901. Daß bei Nichtachtung dieser wesentlichen Voraussetzung des außerordentlichen prozessualen Rechtsmittels nicht wieder die mißachtete Gesetzesbestimmung selbst als Korrektiv angerufen werden kann, bedarf keiner weitern Begründung.

Aber abgesehen von diesem formellen Mangel des Wiederherstellungsgesuches könnte auf dasselbe auch sachlich nicht eingetreten werden.

Denn es wird weder nach allgemeiner Rechtsanschauung die prozessuale Wiedereinsetzung gegen solche Nachteile erteilt, welche auf bloße Rechtsunkunde oder mangelhafte Beratung des Bundesblatt. 53. Jahrg. Bd. IV.

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Anwaltes zurückzuführen sind (Wetzeil, System des ordentlichen Civilprozesses, III. Aufl., § 53, S. 68), noch läßt der Wortlaut in Art. 43 des Organisationsgesetzes : ,,durch unverschuldete Hindernisse abgehalten worden ist" eine derart weitgehende Interpretation des Restitutionsbegriffes zu (vergl. auch den obangeführten Entscheid des Bundesgerichtes, Erw. 2 : ,,allein es muß ein Wiedereinsetzungsgrund dargethan werden und dazu genügt nun die bloße Berufung auf ein ,,,,Versehen"" gewiß nicht").

Die Rekurrentin war thatsächlich gar nicht verhindert, den Rekurs beim Bundesrate einzureichen. Sie hat es nur deshalb nicht gethan, weil sie auf Grund der Ansicht ihres frühern Anwaltes irrtümlich annahm, das Bundesgericht sei zuständig. Dieser Rechtsirrtum über das im konkreten Falle zutreffende Rechtsmittel kann den Grund zu einer Wiederherstellung nicht abgeben, da Art. 43 ein Hindernis voraussetzt, welches vom Willen des Rekurrenten unabhängig ist (vergl. auch den französischen Text ,,que lui-même où son mandataire ont été empêchés, par des causes indépendantes de leur volonté, d'agir dans le délai fixé").

D e m n a c h wird i r d e r k a n n t : Auf das Wiederherstellungsgesuch vom 19./21. September wird nicht eingetreten.

B e r n , den 11. Oktober 1901.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Für den Bundespräsidenten: Deucher.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier

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Bundesratsbeschluß über die Beschwerde der Frau Gertrud Riolo-Couth in Horgen, betreffend Verweigerung eines Wirtschaftspatentes. (Vom 11. Oktober 1901.)

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16.10.1901

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