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Schweizerisches Bundesblatt.

XI. Jahrgang. II.

Nr. 39.

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13. August 1.859.

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der

Ständeräthlichen Kommission über die Frage des Gerichtsstandes der schweizerischen Niedergelassenen in Vormundschaftsund Ehescheidungssachen.

(Vom 14. Juli 1859.)

Tit.!

Veranlaßt durch einige Spezialfälle , in welchen die Regierung des .Kantons St. Gallen für ihre Behörden das Recht in Anspruch nahm, über die Vorinundschaftsverhältniffe graubündner'scher Niedergelassener, so wie über die von denselben anhängig geinachten Ehescheidungsklagen zu entscheiden, hat sich die Regierung des Kantons Graubünden bereits unterm 17. August 1854 veranlaßt gesehen, folgendes doppelte Gesuch an die Bundesversammlung zustellen: Jn e r s t e r Linie: es möchte der Kanton St. Gallen pslichtig erklärt werden, bezüglich der Kompetenz in Ehescheidungs - und Vormundschaftssachen graubündner'scher, dort niedergelassener Angehörigen die Gesetze von Graubünden anzuerkennen , nach welchen lediglich die Heimathbehörden .als zuständig erscheinen.

Jn z w e i t e r Linie: es möchte der in den eidg. Konkordaten vom . 13. Juli 1822, betreffend vormundschaftliche Verhältnisse , und vom

6. Juli 182l, betreffend die Behandlung von Ehescheidungssällen. aufgestellte Grundsatz der Zuständigkeit der Heimathbehörden für die ganze Eidgenossenschaft zum Gesetz erhoben werden.

Nachdem zuvörderst die Regierung von St. Gallen verlangt hatte, daß über die von Graitbünden anhängig gemachte Konfliktfrage in erster

Bundesblatt. Jahrg. XI. Bd. II.

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304 Linie der Bundesrath einen Entscheid abzugeben habe, wurde diese Vorfrage an die Bundesversammlung gebracht und von letzterer unterm 24. Juli 18.56 dahin entschieden, daß der Bundesrath über das Gesuch der Regierung von Graubünden ihr Bericht und Anträge vorlegen solle, wobei sie das^Recht der Entscheidung sich selbst vorbehielt.

De^x. Bundesrath ist nun der an ihn gerichteten Einladung durch sei.nen, vom 30. Juni l. J. datirten Bericht, welcher gedruckt in Jhren Händen liegt^), nachgekommen.. Wir beziehen uns auf denselben namentlich insoweit, als er ein sehr einläßliches Resumé der von den Regierungen von Graubünden und St. Gallen in demstattgefundenenSchriftenwechsel angebrachten Rechtsbehauptungen enthält, und würden es überflüssig^ finden, in dieser Hinsicht irgend etwas beizufügend Da es stch aber offenbar nicht bloß um einen besondern Streitfall zwifchen den beiden genannten Kantonen, sondern um eine staatsrechtliche Frage von großer Bedeutung und Tragweite für a l l e Kantone handelt, so halten wir für angemessen, in.

Ergänzung des faktischen Theiles des bnndesräthlichen Berichtes auch noch

etwas näher auf den ganz analogen Konflikt einzutreten. welchen. die Regierung des Kantons Aargaü gegen diejenige von Neuenbur^ beim Bun..

desrathe anhängig gemacht hat.

Unterin l 1 . Mai 1855 beschwertestchdie Regierung von Aargau darüber, daß dem in Nei.ienburg wohnhaften minderjährigen Julius Fröhlich von Bruga^ von der neuenburgischeu Waifenbeh.örd^ ein Vorinund ernannt und dagegen den von der heimatlichen Waisenbehörde, welche ihm schon lange vorhex ebenfalls einen Vormund verordnet hatte , zur Sicherung seines Vermögens getroffenen Verfügungen die Vollziehung verweigert worden fei. Gestützt daraus . daß nach einer in der Eidgenossenschaft^ allgemein anerkannten Rechtsregel und nach der Natur der Sache der Niedergelassene in Fragen, ^die seine persönliche Rechtsfähigkeit, die sog. Statusve^hältniffe beschlagen, dem Gesetzgebu.igs- und Verfügungsrechte seines Heimathkantons fortwährend unterworfen bleibe, stellte die Regierung von Aargau das Gesuch.

^der Bundesrath wolle den Kanton Nenenburg verhalten, in Anerkennung des Grundsatzes. daß den heimatlichen Waisenbehörden das Recht der.

Bestellung der Vormundschaft über auswärts wohnende ^Angehörige, so wie ^ der Verw.^tnngsausstcht nach den Heiniathgesetzen zustehe, die waisenamt^.

lichen Verfügungen der Gemeindsbehörde von Brugg bezüglich des Julius Fröhlich unbehindert gewähren und vollziehen zu lassen.^ Diese Beschwerde ist von der Regierung des Kantons Neuenburg erst unterm 30. Mai l. J. folgendermaßen beantwortet worden: Die Frage, ob ein in Neuenburg wohnhafter A...erganer nötigenfalls von der ..^aisenbehörde seiner Hei.nath oder aber von derjenigen seines Wohnortes unter Vormund.^ schaft zu stellen sei. werde diirch die Thatsache entschieden, daß über diese Materie ein eidgenössisches Konkordat bestehe, welchem Neuenburg nicht bei^) Si..he ^eite 133 hi^or.

30^ Betreten sei. Wenn das Recht , welches Aargau^ für sich in Anspruch nehme, gemeines Recht aller Kantone wäre, so hätte man nicht nöthig gehabt, ein Konkordat darüber abzuschließen. und noch weniger würde ma.^ ^es zugegeben haben , daß acht Kantone erklärten , demselben nicht beitreten zu können, und zwar vorzüglich mit Rücksicht auf ihre kantonale Gesetzgebung. Neuenburg insbesondere habe die Erklärung abgegeben, daß es in Vorniundschaftssachen für Niedergelassene aus andern Kantonen die nämlichen Maßregeln ergreifen werde, wie für seine eigenen Bürger, und dieses.

.Verfahren sei auch wirklich fortwähreud innegehalten worden. Jn dex ^Bundesverfassung finde sich keine .Bestimmung, welche irgendwie das Gesuch.

Aargau's rechtfertigen würde; dagegen erkläre Art. 3 die Kantone in sI^ weit souverän, als ihre Souveränetät nicht durch die Bundesverfassung beschränkt sei, und es ha.be somit jeder Kanton das Recht, in der fragliche...

Materie eine ihm beliebige Gesetzgebung aufzustellen und die Bewohner seines Gebietes derselben zu unterwerfen. Dem Art. 41 Ziff. 4 der Bnndesverfassung werde vollständig entfprochen, wenn auf die Niedergelasseneu im Kanton Neuenbnrg die nämlichen Gesetze angewendet werden, wie auf die eigenen Bürger ; mehr könne man nicht verlangen. Nenenburg wolle übrigens keineswegs seine Gesetzgebung auch außer seinem Gebiete geltend .machen. Wenn ein Minderjähriger in feinem Heiinathkanton Vermögen besitze. so wende er nichts dagegen ein, daß ein dort bestellter Vormund dasselbe verwalte ; es verlange bloß , daß der Person des Niedergelassenen, welcher der Bevogtung bedürfe , von der ^aifenbehörde des Wohnortes ein Vormund bezeichnet und daß das im Danton des Wohnsitzes befindliche Vermögen der Verwaltung dieses Vormundes unterstellt werde. Die eigenthümlichen Verhältnisse, in welchen sieh der Kanton Neuenburg befinde,^ gebiete ihm, an diesen Grundsätzen festzuhalten; denn aus eine Bevölkerung von 82.000 Seelen habe er nicht weniger als 28,600 Schweizer.

aus andern Kantonen und 6000 Fremde. Würden nun die heimathliehen Behörden aller dieser Jndividuen die nämlichen Rechte für sich in Anspruch nehmen, wie die Regierung von Aargau , so würden daraus unabsehbare Weitläufigkeiten und Verwicklungen, ja eine wahre Verwirrung entstehen.

Es versteht sich, daß wir den Konflikt zwischen
den Kantonen Aargau und Neuenburg nur berührt haben , um Jhnen , Tit. , zu zeigen . daß ähnliche Streitfragen, w.ie zwischen Grauenden und St. Gallen sehr leicht auch unter andern Kantonen entstehen können , und um Jhnen die Gründe, welche für die Kompetenz der Behörden des Heimath. wie für diejenige der Behörden des Niederlassungskantons angeführt werden können , vollständig znr Kenntniß zu bringen. Die Entscheidung des K^nfliktes zwischen .^argau und Neuenburg steht nicht uns , sondern dem Bundesrathe z u ; jedoch wird der Beschluß, welchen die Bundesversammlung uber die Beschwerde Graubündens zu fassen hat, ohne Zweifel auch füx jene sehr verwandte. Streitfrage maßgebend sein.

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Wir kehren demnach zurück zu dem exsten Gesuche Graubündens.^ von welchem das zweite, das wir nachhex zu behandeln haben werden^.

wesentlich verschieden ist. Graubünden verlangt, daß St. Gallen ange^ halten werde, die ^ Kompetenz der Heimathbehörden in Vormundschaft^ und Ehescheidungssachen dex Niedergelassenen anzuerkennen; St. Gallen.

dagegen hält sich für vollkommen befugt, den von ihm immer festgehaltenen Grundsatz, daß über solche Verhältnisse seiner Niedergelassenen die..

Behörden des Wohnortes zn entscheiden haben, auch fernerhin zu befolgen.

Frägt es sich , wie die Bundesversammlung diese staatsrechtliche Streitigkeit zu beuxtheilen habe , so müssen natürlich alle bloßen Zweckmäßigkeitsgründe, welche für das eine oder das andere Prinzip von den beider^ Kantonsregierungen angeführt worden sind, außer Betracht fallen, und es kann sich bloß darum handein, zu prüfen, ob und welche Anhaltspunkte di^ Bundesverfassung und die Konkordate für die Entscheidung gewähren. Di^ eidgenössischen Konkordate vom 6. Juli 1821 und 13. Juli 1822, welche das Prinzip der Zuständigkeit der H.eiinathbehörden aufstellen, würden den.

Konflikt auf sehr einfache Weise entscheiden, wenn die beiden streitende^ Kantone denselben beigetreten wären; allein St. Gallen ist beiden Kon..

kordaten , Granbünden selbst wenigstens demjenigen über Vorniniidschaftssachen sreind geblieben und es versteht fich von selbst, daß Konkordate nu^ sür diejenigen Kaiitone, welche sie angenommen haben, verbindlich sind^.

St. Gallen hat nun freilich zwar nicht bestimmt behauptet, aber doch di^ Frage aufgeworfen, ob jene Konkordate nicht nach Art. 6 der Ueber^ gangsbestimmungen zur Bundesverfassung außer Kr.ast getreten seien, in.^

dem die Kompetenzfrage, welche sie beschlagen, durch Art. 41, Ziff. 4 ^

und Art. 48 dex Bundesverfassung auf eine für alle Kantone verpflichtend^ Weise im Sinne der Zuständigkeit der Behörden des Wohnortes entschieden fei. Wir könnten dieser Ansicht, wenn sie mit Bestimmtheit ausge^ sprochen würde, nicht beipflichten; denn wenn die Bundesverfassung de^ Grundsatz ausstellte , daß in jedem Kanton die fehIx.eizerischen Niedergelas.^ senen in allen Beziehungen einzig ausgenommen die Gemeindeverhält^ nisse gleiche Rechte mit den eigenen Bürgern desselben genießen sollen ^ so hat ste damit offenbar nicht eine Kompetenzfrage regeln wollen. Es ist.

grundsätzlich nicht eine Benachtheiligung oder Hintansetzung des Niedergelassenen , wenn er für gewisse privatrechtliche Verhältnisse deni Gerichtsstande und den Gesetzen seines Heiniathkantons unterworfen bleibt; möge.^ in einzelnen Fällen die Gesetze und Uebungen des Wohnortes für besondere Zwecke ihm günstiger sein , so kann in andern Fällen eben so leicht das Gegentheil eintreten^ und insbesondere in Ehescheidungsfachen handelt es sich ja um zwei niedergelassene Parteien, von denen sehr oft die eine jenes . die andere dieses Gesetz vortheilhafter finden wird. Wir glaube^.

aber namentlich nicht, daß die Bundesverfassung, wenn sie einen Grund^ satz , der kraft eidgenössischer Konkordate in der Mehrzahl der Kantone z^ Recht bestand , den Grundsatz nämlich der Zuständigkeit der Heiniathbe^ hörden in Vormundschaft.^ und Ehescheidungssachen , hätte beseitigen wo^

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.len, dieß in so indirekter Weise gethan hätte, wie nach der Ansicht St..

.Gallens es angenommen werden müßte ; man darf vielmehr wohl mit^ .Recht behaupten, daß hiezu eine spezielle und ausdrückliche Bestimmung, eine ganz klare und unzweideutige Fassung erforderlich gewesen wäre..

.Wenn also nach unserer Ansicht die Bundesverfassung keineswegs das vou.

St. Gallen festgehaltene Territoxialprinzip zum gemeinen Rechte der EidGenossenschaft erhoben und entgegenstehende Konkordate außer Kraft gefetzt hat, so können wir dagegen eben so wenig finden, daß sich aus ihr irgend .

welche Gründe dafür schöpfen lassen, daß Kantone, welche diesen Kon- ^ kordaten nicht beigetreten sind , das Prinzip der Zuständigkeit der Heimath-.

behörden anzuerkennen haben, wie Graubünden es verlangt. Die Regiexung dieses Kantons weiß für ihre Rechtsbehaiiptnng selbst nur die Art. 5.

und 53 der Bundesverfassung anzuführen; allein es zeigt sich auf den^ ersten Blick, daß diese beiden Bestimmungen keine interkantonalen Verhältnisse beschlagen, sondern nur die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger und den verfassungsmäßigen Gerichtsstand garantiren , wodurch keineswegs.

ausgeschlossen ist, daß in Vorniundfchafts- und EhescheidiIngssachen in den.

einen Kantonen das forum originis, in den andern das forum domicili der verfassungsmäßige Gerichtsstand sein kann. Wir halten also einfach^ dafür ,^ es habe die Bundesverfassung die streitige Kompetenzfrage eben so roenig wie eine Menge anderer interkantonaler Fragen , welche in den..

letzten Jahren aufgetaucht sind und noch auftauchen werden, auf eine allgemein verbindliche Weise entschieden, und es finde also, so weit dieselbe.

nicht durch Konkordate geregelt ist , einzig der Art. 3 der Bundesverfassung feine Anwendung , nach welchem die Kantone in so weit souverän sind, als nicht ihre Sonveränetät durch die Bundesvorsehriften beschränkt wor^ den ist. Bleibt demnach , fo lange nicht die Bundesgesetzgebung niaßgebend einschreitet, einzig das Prinzip der Kantonalsouveränetät als Norm übrig für den Entscheid der vorliegenden Streitfrage , fo kann eben jeder^ Kanton dieselbe durch feine Verfassung oder Gesetzgebung nach seinem Gutfinden regeln, immerhin nur in dem Sinne, daß die Verfügungen feinem .Behörden bloß für Personen und Sachen, welche sich auf seinem Gebiet^ und demnach
unter feiner Hoheit befiI.den , verbindlich fein können. Das^ erste Gesuch der Regierung von Graubünden ist somit nach dem Vorschlage. .

des Bundesrathes jedenfalls abzuweisen.

Bessere Gründe lassen sich ohne Zweifel für das z w e i t e Gesuch anführen. Es läßt sich nicht lä^gnen , daß ans dem UInstande, daß iu..

Vorninndfchafts.. und Ebefcheidungssachen ..er eine Kanton die Behörden der Heimath , der andere diejenigen des Wohnortes als zuständig anerkennt,.

mancherlei Reibungen und Konflikte entstehen.können, welche nicht gan.^ ..ibereinftimnien mit einem geordneten Rechtszustande, wie er im Bundesstaate bestehen sollte. Allerdings frägt es sich, ob der Bund kompetent^ wäre, auf gesetzgeberischem Wege den Gerichtsstand der niedergelassene^ Schweizerbürger festzustellen ; allein wir möchten diese Frage nicht niit den.^.

.Bundesrathe ,,eher verneinen^, sondern vielmehr eher b e j a h e n . Legt doch.

^308 ^lrt. 74 , Ziff. 1 3 der Bundesverfassung in die Kompetenz der Bundes^ versanirnlung ausdrücklich ,,gesetzliche Verfügungen über Niederlassungsverhältnisse^ ! Dieser Ausdruck ist so allgemein gehalten, daß er keineswegs bloi^ auf das im Art. 41, Ziff. 3 vorgesehene Bundesgesetz über die Dauer^ und Kosten der Niederlassung, welches bereits unter'm 10. Dezember 184.^ erlassen worden ist, bezogen werden kann, sondern .auf a l l e Verhältnisse der Niedergelassenen, zu denen ohne Zweifel aueh ihr Gerichtsstand gehört.

Es versteht sich aber von selbst, daß, wenn man sich einmal veranlaßt fände , auf gesetzgeberischem Wege diese Verhältnisse zu regeln , man nicht bei den Vormundschaft^ und Ehescheidungssachen stehen bleiben könnte, sondern neben den Statussragen im Allgemeinen namentlich auch die Steuerpflicht der Niedergelassenen,. über welche schon verschiedene Konflikte entstanden sind, sowie die Frage, nach welchen Gesetzen sie zu beerben schen, worüber ein besonderes Konkordat besteht , mit in den Bereich des zu erlassenden Bundesge^etzes ziehen müßte. Ob nun bereits ein hinlängliches praktisches Bedürfniß vorliege für die Erlassung eines so tief eingreifenden Gesetzes, läßt sich billig bezweifeln; die geringe Zahl von Rekursen,^ welche bis dahin namentlich niit Bezug ans Vormundschaft^ und Eh.scheidungssachen den Biindesbehörden eingegangen sind , scheint dafür zu sprechen, daß sich in der Wirklichkeit diese Verhältnisse einfacher gestalten als man.

bei bloßer theoretischer Betrachtung der sich entgegenstehenden Prinzipien annehmen inöchte. Namentlich aber halten wir den Augenblick für maßgebendes Einschreiten der Bundesgesetzgebnng darum noch nicht für gekoinmen , weil die Ansichten über die Zweckmäßigkeit des einen oder andere Grundsatzes noch zu weit aus einander gehen . die Gesetze und Uebungen de^ verschiedenen Kantone, in welche man verändernd eingreisen müßte, noch zu verschieden sind und es sich daher nicht vermeiden ließe , daß man dem einen oder andern Theile der Schweiz ein ihm mißfälliges System aufdringen müßte.

Es läßt sich allerdings nicht läugnen. daß die Mehrzahl der Kantone in allen den oben berührten Fragen dein Prinzip der Zuständigkeit der heiinathliehen Behörden und der Herrschast der heimatlichen Gesetze gegenüber der Person des Niedergelassenen huldigt. und was
insbesondere die beiden Verhältnisse. mit denen wir es zunächst zu thun haben, betrifft, so fehlt es auch nicht an Gründen, welche fi^ für dieses Prinzip anführen lassen. Wenn man darüber einverstanden ist, daß die heimathlichen Behörden es find , welche nach ihren Gesetzen die Eingehung einer Ehe zu gestatten haben, so scheint eine natürliche Konsequenz es mit sich zu bringen, daß denselben auch der Entscheid zustehe über die von dem einen oder andern Theile verlangte Auflösung der Ehe.

Und wenn e.^ ebenfalls allgemein angenommen ist. daß im V^rarniungsf.^e die heiInath1iche Behörde den Niedergelassenen zu unterstützen habe, so erscheint es wieder als folgerichtig, derselben das einzige Mittel, welches unter gegebenen Verhältnissen der Verarmung vorbeugen kann, an die Hand zu geben^ und ihr zu gestatten , den Niedergelassenen unter Vormundschaft zu setzen^ Auf der andern Seite aber läßt sich auch nicht verkennen , daß das ent^

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.^eingesetzte Prinzip, welches man gewöhnlich kurzweg mit dein Namen ,,Territorialstem.^ bezeichnet und das, wenn auch in dem kleinern, doch immerhin in einem ansehnlichen Theile der Schweiz besteht , dem außer der Schweiz geltenden gemeinen Rechte besser entspricht und allenthalben immer ^nehr Anhänger gewinnt, je mehr namentlich in industriellen Gegenden die .Zahl der Niedergelassenen ans andern Kantonen zunimmt und je größere Jnkonvenienzen es oft mit sich bringt, wenn der Niedergelassene selbst in ..geringfügigen Dingen den Behörden seiner entfernten, ihm vielleicht gänzlich sremd gewordenen Heimath unterworfen bleibt. Jn der That wird im Falle ^es Bedürfnisses die Behörde des Wohnortes besser im Falle sevn, dem ^ ^Niedergelassenen einen passenden , seinen Jnteressen gehörig wahrenden Vor.mnnd , der ja doch nothwendig. in der Nähe des Mündels wohnen sollte, zu bezeichnen; fie wird besser im Falle se^u, die Verwaltung seines Ver.mögens, welches sich in ihrem Aintskreise befindet, zu überwachen und ^iber wichtige Fragen, für welche genaue Kenntniß der Personen und Sachen erforderlich ist , ihren Entscheid zu ^geben. Ebenso läßt jich die genauere Kenntniß der Personen und ihrer Verhältnisse auch dasür anführen, daß ^es zweckmäßiger sch , die Beurtheilung der Ehescheidungsklagen den Behöx.den des Wohnortes zu übertragen. Es kann nicht unsere Aufgabe schn, .alle die Gründe, welche sich für das eine wie für das andere Prinzip an-^ führen lassen, anzuführen und gegen einander abzuwägen; wir wollen sie ^.nur andeuten, um zu zeigen, daß jedes der beiden Prinzipien eine gewisse .Berechtigung hat.

Lassen wir also dieselben noch einige Zeit lang in der Schweiz neben einander bestehen ; inzwischen wird die öffentliche Meinung ^.durch reichere Ersahrungen über die streitige Frage belehrt, mit größerer Entschiedenheit als es jet^t der Fall wäre für das eine oder andere Prinzip sich ausfprechen, und dann erst wird der Augenblick gekommen sevn, wo, wenn man über die Kompetenz des Bundes einig ist , an die Erlassung eines Gesetzes geschritten werden darf. Aus dem Mangel einer allgemein gültigen Rechtsnorm werden einstweilen keine unleidlichen llebelstände hervorgehen ; ist ja doch in jedem einzelnen Konflikte der Bundesrath als Wächter und Hüter des eidgenössischen Staatsrechtes unzweifelhaft zur Entscheidung befugt. Wir schließen also mit dem Bundesrathe dahin, daß auch aus das zweite Gesuch der Regierung von Graubünden nicht einzutreten sev.

Bern, den 14. Juli 1859.

Namens der Kommission, Der Berichterstatter:

I^r. J. J. Plumer.

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Bericht der ständeräthlichen Kommission über die Frage des Gerichtsstandes der schweizerischen Niedergelassenen in Vormundschafts- und Ehescheidungssachen. (Vom 14.

Juli 1859.)

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13.08.1859

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303-309

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