305

# S T #

Bundesratsb eschluß über

die Beschwerde des E. Mettler-Baumgartner in St. Gallen gegen die Schlußnahme des Regierungsrates des Kantons St. Gallen betreffend die Anordnung einer Volksabstimmung über das Gesetz betreffend die Lehrersynode.

(Vom

3. Mai 1901.)

Der schweizerische Bundesrat hat

über die Beschwerde des E. M e t t l e r - B a u m g a r t n er in St. Gallen gegen die Schlußnahme des Regierungsrates des Kantons St. Gallen betreffend die Anordnung einer Volksabstimmung über das Gesetz betreffend die Lehrersynode, auf den Bericht seines Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluß gefaßt:

A.

In thatsächlicher Beziehung wird festgesetzt: I.

Der Regierungsrat des Kantons St. Gallen faßte unterm 4. Januar 1901 folgenden Beschluß : Bundesblatt. 53. Jahrg. Bd. III.

20

306

1. Es sei das Referendum mit Bezug auf das Gesetz über die Lehrersynode vom 20. November 1900 als zu stände gekommen zu erklären.

2. Die Volksabstimmung über das Gesetz sei auf Sonntag den 10. Februar dieses Jahres anzuordnen und das vom Departement des Innern vorgelegte bezügliche Kreisschreiben sei genehmigt.

3. Das Verzeichnis der eingegangenen Referendumsunterschriften sei mit dem Erlasse des bezüglichen Kreisschreibens im Amtsblatte zu veröffentlichen.

Art. l des St. Gallischen Gesetzes über Referendum und Initiative vom 2. Dezember 1892 lautet: ,,Alle Begehren, mittelst welcher das verfassungsmäßige Recht des Referendums oder der Initiative ausgeübt werden will, müssen von den das Begehren stellenden stimmberechtigten Bürgern durch eigenhändig unterzeichnete Eingaben, welche mit dem Anfangsdatum der Unterschriftenzeichnung auf dem betreffenden Bogen versehen sein müssen, dem Regierungsrat eingereicht werden.

Die Stimmberechtigung der Unterzeichner ist von dem Gemeindeammann derjenigen Gemeinde, in welcher dieselben ihre politischen Rechte ausüben, auf der betreffenden Eingabe selbst unter Beifügung des Datums zu beurkunden. Für diese Amtsverrichtung dürfen keinerlei Taxen bezogen werden.

Diese Eingaben können einzeln oder kollektiv eingereicht werden, in letzerem Falle jedoch mit der Einschränkung, daß eine Gesamteingabe nicht Unterschriften von Stimmberechtigten, welche in verschiedenen Gemeinden wohnen, enthalten darf.

Die Anbringung von Begehren verschiedener Art in der gleichen Eingabe ist unzulässig.

Eingaben, welche den obigen Vorschriften nicht entsprechen, werden unter Bezeichnung des Mangels sofort zurückgewiesen und sind ungültig, wenn der Mangel nicht innerhalb der nützlichen Frist gehoben wird.a Die Schlußnahme des Regierungsrates wurde im Amtsblatt für den Kanton St. Gallen vom 11. Januar 1901 publiziert.

II.

Gegen den Regierungsratsbeschluß vom 4. Januar 1901 ergreift E. Mettler-Baumgartner in St. Gallen, mit Eingabe vom 19./20. Februar 1901, die staatsrechtliche Beschwerde an den Bundesrat mit dem Rechtsbegehren, es sei der Regierungsrats-

307

beschluß zu kassieren, und die Regierung anzuweisen, das Referendum gegen das Gesetz betreffend die Lehrersynode als nicht zu stände gekommen zu erklären.

Der Beschwerdeführer stützt sein Begehren auf folgende ithatsächliche und rechtliche Ausführungen : Das Gesetz betreffend die Lehrersynode ist am 20. November 1900 vorn st. gallischen Großen Rat in der Schlußabstimmung mit allen gegen einige wenige Stimmen angenommen worden.

Die Promulgation des Gesetzes wurde vom Regierungsrat am 23. November beschlossen und dieser Beschluß im regierungsrätlichen Bulletin vom folgenden Tage veröffentlicht. Die offizielle Promulgation im Amtsblatt erschien am 30. November 1900, da ·die nächste Nummer des Amtsblattes an diesem Tage erschien; gemäß dem Datum dieser Promulgation wurde folgerichtig auch die Dauer der Referendumsfrist auf den 30. November bis und mit dem 30. Dezember 1900 festgesetzt.

Von diesem Referendum wurde Gebrauch gemacht und innert nützlicher Frist 87 Unterschriftenbogen mit zusammen 4270 Unterschriften eingereicht; die Großzahl der Bogen ist am 30. Dezember 1900 bei der Staatskanzlei eingegangen.

Die Prüfung der Referendumsunterschriften ergab nun aber, daß die überwiegende Mehrzahl der Unterschriftenbogen einen formellen Fehler an sich trägt, indem sie, entgegen der klaren und unzweideutigen Vorschrift des Art. l des st. gallischen Gesetzes betreffend das Verfahren bei Ausübung des kantonalen .·Referendums und der Initiative vom 2. Dezember 1892 nicht datiert und darum ungültig ist. Gleichwohl hat der Regierungsrat diese sämtlichen Stimmen durch Beschluß vom 4. Januar 1901 ^,ls gültig und das Referendum als zu stände gekommen erklärt.

Diesen Beschluß betrachtet der Beschwerdeführer als gesetz- und verfassungswidrig.

Es ist von Seiten der Regierung unbestritten, daß, wenn die Stimmen auf den beanstandeten Unterschriftenbogen als ungültig ·erklärt würden, das Referendum nicht zu stände gekommen ist.

Es wird indessen die Edition sämtlicher Unterschriftenbogen verlangt, damit der Umfang der Ungesetzlichkeit festgesetzt werden kann.

Art. 47 der st. gallischen Kantonsverfassung bestimmt: ,,Alle Gesetze . . . . unterliegen der Abstimmung des Volkes, wenn 30 Tage nach Erlaß des Gesetzes oder Beschlusses 4000 Bürger, deren Stimmberechtigung beglaubigt ist, unterschriftlich die Ab-

308

Stimmung verlangen . . . .a Zur Ausführung dieses Verfassungsgrundsatzes, sowie zur Regelung des Initiativrechtes hat der Große Rat des Kantons St. Gallen das Gesetz betreffend das Verfahren bei Ausübung des kantonalen Referendums und der Initiative erlassen, in dessen Art. l die beim Referendum zu beobachtenden Formen vorgeschrieben sind.

Es muß gleich vorweg bemerkt werden, daß, wenn dieser Artikel von der Rückweisung der Referendumsbogen redet, im Falle sich Mängel vorfinden, bei den vorliegenden Referendumsbogen von einer Rücksendung zur Verbesserung nicht die Redesem konnte, da die Referendumsunterschriften erst am letzten Tage der Frist eingegangen waren.

Die Erwägungen, mit denen der Regierungsrat die Gültigerklärung der ohne Anfangsdatum eingereichten Unterschriftenbogen und seine Unterscheidung zwischen Referendum und Initiative zu rechtfertigen sucht, sind durchaus unstichhaltig. ' Deiregi erungsrätliche Gesetzesentwurf vom 26. April 1892 hatte in Art. l, Alinea l, lediglich die Vorschrift enthalten, daß die Eingaben datiert sein müssen. Im Großen Rate wurde dann die gegenwärtig geltende, präcisere Fassung angenommen, wonach der Nachdruck auf das Anfangsdatum der Unterschriftenzeichnung gelegt ist. Es mag nun zugegeben werden, daß der in Frage liegenden Bestimmung bei der Initiative e r h ö h t e Bedeutung zukommt, da ein Initiativbegehren innert sechs Monaten, vom Tage der Anmeldung bei der Staatskanzlei an, zu stände gekommen sein muß und das Anfangsdatum auf den Unterschriftenbogen also gewissermaßen eine Garantie dafür sein soll, daß nicht Unterschriften, die vor der Anmeldung des Initiativbegehrens gesammelt worden sind, Verwendung finden können. Allein auch beim Referendum ist die genannte Vorschrift keineswegs gleichgültig; auch hier soll eine Garantie dafür geboten werden, daß die Unterschriftensammlung auf eine gewisse Zeit, eben die in Verfassung und Gesetz vorgeschriebene dreißigtägige Frist, beschränkt werde. Bei Initiative wie bei Referendum wird die Kontrolle für Einhaltung der Frist ausgeübt durch die Datierung der Unterschriftenbogen. Es ist also Willkür, wenri in dem Entscheide des Regierungsrates der Vorschrift des Art. l, Alinea l, wesentliche Bedeutung nur für die Initiative, nicht auch für das Referendum zugeschrieben wird.

Es ist auch nicht richtig, wenn man argumentieren will, beim Referendum sei es gar nicht möglich, vorzeitig Unterschriften einzusammeln, und ,,veraltete Unterschriften"1 einzureichen, weil

309 der Ausgangspunkt der Unterschriftensammlung ja stets das Gesetz sein müsse. Abgesehen davon, daß sehr wohl in unmittelbarer Voraussicht des gesetzlichen Erlasses, d. h. der endgültigen Abstimmung des Großen Rates, Unterschriften ,,vorsorglich"1 gesammelt werden können, wird ja immer zwischen dieser endgültigen Abstimmung im Großen Rate und der Promulgation im Amtsblatte eine gewisse Zeit vergehen, die zur vorzeitigen Unterschriftensammlung verwendet werden kann. Und das hat sich ja gerade im konkreten Falle deutlich gezeigt, wo zwischen der Annahme des Gesetzes im Großen Rat am 20. November und der Promulgation im Amtsblatt am 30. November zehn Tage lang Unterschriften vorzeitig gesammelt werden konnten. Man kann dagegen nicht einwenden, dazu habe man ja das Datum der Unterschriftenbeglaubigung ! Dieselbe erfolgt erfahrungsgemäß bei der Initiative sowohl 'wie beim Referendum kollektiv, am Schlüsse der Sammlung der Unterschriften eines oder mehrerer Bogen. Sie beweist daher nichts für den Anfang der Sammlung; gerade darum hat das Gesetz auch für das Referendum neben der Datierung der Unterschriftenbeglaubigung die Datierung der Unterschriftenzeichnung verlangt.

Aus dem Vorgesagten ergiebt sich, daß auch die weitere Argumentation des Regierungsrates, die sich darauf stützt, das Referendumsbegehren enthalte ja im Texte das Datum des Gesetzeserlasses vom 20. November 1900, haltlos ist.

Es liegt auf der Hand, daß nicht vom Beschwerdeführer der Beweis erbracht werden muß, es seien effektiv vor dem 1. Dezember 1900 solche Unterschriften gesammelt worden; es genügt durchaus, den Nachweis geleistet zu haben, daß die Möglichkeit einer Sammlung auch beim Referendum vorhanden ist, und daß ·daher, ganz abgesehen davon, ob es dem Regierungsrat zukommt, zwischen ,,wesentlichen" und ,,unwesentlichen" Gesetzesbestimmungen zu unterscheiden,- die einen anzuwenden und die ändern zu ignorieren, es sich in der That im konkreten Falle um die Verletzung einer wesentlichen Vorschrift handelt. Auch wenn der Regierungsrat auf irgend eine Gefälligkeitsunterschrift eines Buchdruckers, der die Unterschriftenbogen gedruckt haben will, abstellen sollte, kann diese Einrede nicht gehört werden; denn das Rekursverfahren ist nicht der Ort, um derartige zweifelhafte Beweise zu würdigen, und deswegen wird der Beschluß des Regierungsrates um nichts weniger gesetzwidrig. Übrigens war
310

Ursprung dieser Unterschriftenbogen in irgend welcher zuverlässigen und beweiskräftigen Weise nachzugehen.

In rechtlicher Beziehung sind durch diese Gesetzesverletzungdie Art. 47 und 65 der Verfassung des Kantons St. Gallen und Art. 4 der Bundesverfassung verletzt. Das verfassungsmäßige Recht des Referendumsbegehrens ist an die Einhaltung einer dreißigtägigen Frist vom Erlaß des Gesetzes an gebunden. Beim fakultativen Referendum besteht so gut für den Bürger ein verfassungsmäßig garantiertes Recht, daß nur dann, wenn in bestimmt "vorgeschriebenen Fristen und Formen ein Referendumsbegehren gestellt wird, ein Gesetz dem Volksentscheide unterstellt werden d a r f , als umgekehrt ein verfassungsmäßiges Recht besteht, daß, unter der Voraussetzung der Beobachtung der Fristen und Formen, jedes Gesetz dem Referendum unterstellt werden muß. Beide Verfassungsrechte sind gleichwertig und verdienen den gleichenSchutz. Wenn also ein Referendum als zu stände gekommen erklärt wird, trotzdem die Fristen und Formen nicht eingehalten sind, so ist dies dem Sinne nach eine Verletzung von Art. 47 der Kantonsverfassung.

Ferner ist Art. 65 der kantonalen Verfassung verletzt, weil' der Regierungsrat das Gesetz vom 2. Dezember 1892 in ganz, unzulässiger, weil gesetzwidriger Weise vollzogen hat.

Endlich bildet der Regierungsratsbeschluß eine Verletzungvon Art. 4 der Bundesverfassung, eine materielle Rechtsverweigerung, weil er gegen klares Recht entscheidet. Die Fassung des Gesetzes läßt absolut keinen Zweifel, keine Ungewißheit, keine zwiefache Auslegung zu ; klipp und klar erklärt es, daß, wenn die Unterschriftenbogen nicht mit dem Anfangsdatum versehen sind, dieselben ungültig seien, es sei denn, daß sie innert der nützlichen Frist (von dreißig Tagen) mit der Vorschrift des Gesetzes in Einklang gebracht werden; unbestrittenermaßen ist dies letztere im vorliegenden Falle nicht geschehen, und es hat der Regierungsrat auch nie geleugnet, daß die Bogen dem Gesetze nicht entsprechen. Seine Interpretation ist eine verfehlte; es giebt keine ,,wesentlichen" und ,,unwesentlichen" Gesetzesbestimmungen, solche, die eingehalten werden müssen und solche, die nicht eingehalten zu werden brauchen.

III.

Zur Vernehmlassung auf die Beschwerde eingeladen, beantragt der Regierungsrat des Kantons St. Gallen mit Zuschrift vom 12./14. März 1901 die Abweisung derselben.

311 Bezüglich der Begründung seines Beschlusses vom 4. Januar 1901 verweist der Regierungsrat auf die im Protokollauszug beigelegten ,,Erwägungen", in denen ausgeführt wird: 1. Die in Art. 47 der Kantonsverfassung geforderte Anzahl von 4000 Unterschriften stimmberechtigter Bürger, welche erforderlich sind, um die Volksabstimmung über ein vom Großen Rate erlassenes Gesetz zu verlangen, ist im vorliegenden Falle vorhanden; ebenso kann über die Gültigkeit der Unterschriften als solche kein begründeter Zweifel walten. Dagegen fällt in Betracht, daß die weitaus größte Zahl der Unterschriftenbogen den schon erwähnten formellen Mangel aufweisen. Der Art. l leg. cit.

stellt das Requisit der Beifügung des Anfangsdatums der Unterschriftenzeichnung auf, sowohl für Vorlagen des Referendums als auch der Initiative, und im Schlußsatze des eben citierten Art. l ist ausdrücklich bestimmt, daß Eingaben, welche den bezüglichen gesetzlichen Anforderungen nicht entsprechen, nach Umfluß der für die Hebung der betreffenden Mängel einzuräumenden nützlichen Frist als ungültig erscheinen. Es darf nun angenommen werden, daß bei einer eventuellen Rückweisung der mit dem besagten Mangel behafteten Unterschriftenbogen behufs nachträglicher Beifügung des fehlenden Anfangsdatums der Unterschriftenzeichnung der gesetzlichen Vorschrift Genüge geleistet werden würde. Die Erfüllung dieses vom Gesetze geforderten Verfahrens hätte jedoch die Verzögerung der Vornahme der bezüglichen Volksabstimmung zur Folge.

2. Wenn Art. l leg. cit. für die Vorlagen betreffend Referendum und Initiative einerseits auch die nämlichen formellen Requisite fordert, so darf anderseits doch in Berücksichtigung fallen, daß zwischen den Referendums- und Initiativvorlagen ein wesentlicher Unterschied besteht, der sich rücksichtlich des geforderten Anfangsdatums der Unterschriftenzeichnung geltend macht. Bei der Unterschriftenzeichnung betreffend Vorlage eines Initiativvorschlages liegt es in der Natur der Sache, daß der Beginn der Unterschriftensammlung festgesetzt sein muß, weil sonst ein Reihe von Unzukömmlichkeiten entsteht, die dieser Institution ihren Wert und die Bedeutung rauben würden. Bei Referendumsvorlagen trifft dies insofern nicht zu. als hier der Beginn der Frist für die Ergreifung des Referendums mit der offiziellen Publikation der betreffenden
Gesetze bereits gegeben erscheint. Während daher der fragliche Mangel bei Initiativvorschlägen von wesentlicher Bedeutung und Tragweite wäre, kann ihm bei Referendumsvorlagen nur ein mehr sekundärer

312 Wert und eine untergeordnete Bedeutung zuerkannt werden.

Im vorliegenden Falle fällt noch des weitern in Betracht, daß das Datum des Gesetzeserlasses (20. November 1900) in allen Referendumseingaben ausdrücklich erwähnt ist, woraus zu schließen ist, daß die Unterschriftenzeichnung nicht vor Erlaß beziehungsweise vor der Promulgation des Gesetzes begonnen wurde.

Dazu fügt der Regierungsrat in seiner Eingabe im wesentlichen noch folgendes bei : Auf einen beim Bundesgericht von dem nämlichen Rekurrenten eingereichten Rekurs bezüglich des Regierungsratsbeschlusses vom 4. Januar 1901 ist das Bundesgericht wegen Inkompetenz nicht eingetreten. Es fand hierauf die Volksabstimmung vom 10. Februar 1901 statt, in welcher die Gesetzesvorlage betreffend die Lehrersynoden mit 26,804 gegen 15,233 Stimmen verworfen wurde.

In r e c h t l i c h e r Beziehung können die Bundesbehörden eine Beschwerde betreffend kantonale Abstimmungen nur dann schützen, wenn letztere sich begründeterweise auf die Bestimmungen des kantonalen Verfassungsrechtes und des Bundesrechtes stützt. Dagegen steht den Bundesbehörden die Kompetenz nicht zu, solche Beschwerden materiell zu erledigen, welche, ohne daß ein bundesrechtlicher oder ein kantonsverfassungsrechtlicher Grundsatz in Frage kommt, die von den Kantonsbehörden den Vorschriften kantonaler Gesetze gegebene Auslegung und Anwendung anfechten.

Auf die diesbezüglichen Ausführungen der Beschwerdeschrift ist nun zu erwiedern, daß durch die Verfügung vom 4. Januar 1901 jedenfalls der Art. 47 der Kantons Verfassung nicht verletzt wurde, denn die'ser Artikel e n t h ä l t gar k e i n e Bestimmung des Inhaltes, 'daß die Referendumseingaben das Anfangsdatum der Unterschriftensammlung enthalten müssen. Eingebrochen wäre dieser Artikel nur dann, wenn irgend welche Anhaltspunkte dafür vorhanden gewesen wären, daß ein Teil der fraglichen Unterschriften vor der Veröfientlichung des Gesetzes im Amtsblatte gesammelt worden sei und sich somit die Unterschriftensammlung über eine längere Zeitdauer als 30 Tage erstreckt habe und wenn der Regierungsrat trotzdem sämtliche Unterschriften als gültig erklärt hätte. Zu einer solchen Vermutung hatte der Regierungsrat jedoch, wie weiter unten noch näher ausgeführt werden wird, durchaus keine Veranlassung.

313 Eine Verletzung des Art. 65 der Kantonsverfassung und eventuell auch eine solche des Art. 4 der Bundesverfassung läge vor, wenn die Interpretation und die Anwendung, welche der Regierungsrat dem Art. l des Gesetzes betreffend das Verfahren bei Ausübung des Referendums und der Initiative (kantonale Gesetzessammlung n. F., VI, 276) gegeben haben, eine willkürliche, dem Willen des Gesetzgebers offenbar widersprechende wäre. Wenn man, wie der Rekurrent es thut, bloß den W o r t l a u t des citierten Artikels in Betracht zieht, mag der Vorwurf der willkürlichen Interpretation nicht gerade als unbegründet erscheinen ; bei der Interpretation gesetzlicher Bestimmungen darf aber bekanntlich nicht bloß auf den Wortlaut geachtet werden, sondern es muß die Absicht des Gesetzgebers ermittelt werden.

Letztere aber kann vielfach nicht durch den Wortlaut einer Gesetzesvorschrift, sondern nur dadurch richtig ermittelt werden, ·daß der Zweck, den der Gesetzgeber durch die betreffende Gesetzesvorschrift erreichen wollte, die Entwicklungsgeschichte derselben und die Systematik des ganzen gesetzgeberischen Erlasses berücksichtigt wird. Wenn Art. l leg. cit. unter diesen Gesichtspunkten betrachtet wird, kann bei der regierungsrätlichen Verfügung vom 4. Januar laufenden Jahres von einer willkürlichen Interpretation desselben nicht mehr die Rede sein.

Bei der Ausarbeitung des Gesetzes über das Verfahren bei Ausübung des Referendums und der Initiative hatte der Gesetzgeber insofern eine nicht gerade glückliche Hand, als er den Specialbestimmungen über das Referendum und die Initiative sogenannte ^allgemeine Bestimmungen'1 voranschickte, welche für beide gelten sollten, die aber bei näherer Prüfung doch nicht für beide Institutionen die g l e i c h e Bedeutung haben können. So ist es speciell auch mit der in Frage kommenden Bestimmung ·des Art. l, Absatz l, leg. cit., wonach Initiativ- und Referendumseingaben das Anfangsdatum der Unterschriftensammlung enthalten sollen. Bei der Unterschriftenzeichnung betreffend Vorlage eines Initiativvorschlages liegt es in der Natur der Sache, daß der Beginn der Unterschriftensammlung genau bezeichnet und durch Beifügung des Anfangsdatums der Sammlung festgestellt werden m u ß , weil sonst eine Reihe von Unzukömmlichkeiten (z. B. Verwertung der Unterschriften einer frühern nicht zu
stände gekommenen Initiative etc.) entsteht, die dieser Institution ihren Wert und ihre Bedeutung rauben würden. Bei Referendums·eingaben liegt die Sache anders, indem hier der Beginn des Unterschriftensammelns nicht wie bei der Initiative in das Be-

314 lieben einer Anzahl Bürger gestellt, sondern davon abhängig ist, ob und wann der Große Rat eine Gesetzesvorlage annimmt. Vor diesem Zeitpunkte, also bevor man weiß, ob der Große Rat eine Gesetzesvorlage annimmt und welchen Inhalt dieselbe endgültig' erhalten wird, dürfte es gewiß niemand ernstlich einfallen, die nicht unerheblichen Mühen und Kosten eine Referendumsunterschriftensammlung auf sich zu nehmen, zumal diese Mühen und Kosten, auch wenn das Gesetz zu stände käme, doch noch unnötigwerden könnten, da ja ein Drittel der Mitglieder des Großen Rates von sich aus die Volksabstimmung über das betreffende Gesetz beschließen kann (Art. 47 der Kantonsverfassung). Wenn daher auch Art. Ì. leg. cit. für Referendums- u n d Initiativeingaben die Beifügung des Anfangsdatums der Unterschriftensammlung vorschreibt, ist der Zweck, der hierdurch erreicht werden wollte.,, bei den Initiativvorschlägen und bei den Referendumsbegehren nicht der gleiche, bei jenen handelte es sich um die Abwendung erheblicher Unzukömmlichkeiten, während bei letztern diesbezüglich eine ernstliche Gefahr gar nicht bestand und daher auch, nicht abzuwenden war. Bei Initiativvorschlägen ist somit das Fehlen des Anfangsdatums der Unterschriftensammlung von wesentlicher Bedeutung und Tragweite und hätte die Ungültigkeit der betreffenden Eingabe zur Folge, während demselben bei Referendumsbegehren nur ein sekundärer Wert und eine untergeordnete Bedeutung zuerkannt werden muß.

Daß jene Vorschrift betreffend Beifügung des Anfangsdatums speciell mit Rücksicht auf I n i t i a t i v v o r s c h l ä g e in den Art. l leg. cit. aufgenommen wurde, geht auch aus der Veranlassung hervor, welche bei Erlaß des Gesetzes die Aufnahme dieses Passus bewirkt hatte. Sowohl im regierungsrätlichen Entwurfe zu diesem Gesetze, als auch in demjenigen der großrätlichen Kommission ist diese Bestimmung noch nicht enthalten > erst bei der zweiten Lesung wurde dieselbe aufgenommen, nachdem in der gleichen Session des Großen Rates (November 1892} bei Prüfung der Unterschriftenbogen betreffend den I n i t i a t i v v o r s c h l a g über Abänderung der Kantons Verfassung im Sinne der Einführung des proportionalen Wahlverfahrens für die Mitglieder des Großen Rates, des Regierungsrates, der Gemeindeund Schulräte, sich ergeben hatte, daß 42 Unterschriftenbogen des
Ausstellungsdatums und 70 solcher Bogen nicht bloß der Bezeichnung dieses Datums, sondern auch des Ausstellungsortes entbehrten. Die großrätliche Kommission (Berichterstatter Ständerat Dr. C. Hoffmann sei.) sprach sich diesbezüglich folgendermaßen aus:

315

.,Im gegebenen Falle möchten wir diese Mangelhaftigkeit der Revisionsbogen nicht zu einem Nichtigkeitsgrunde erheben, da die Notorietät dafür spricht, daß die Einsammlung von Unterschriften erst nach Schluß der ordentlichen Sommersession des Großen Rates ernstlich in Schwung gekommen ist und daher keine verjährten Unterschriften benutzt worden sein mögen. Immerhin hielt es Ihre Kommission für angezeigt, grundsätzlich diese Mängel zu rügen, damit in künftigen Revisionsbewegungen, welche uns noch bevorstehen mögen, solche vermieden werden."· Die Erfahrungen, welche man bei Prüfung der Unterschriften für diesen Initiativvorschlag gemacht hatte, haben dann die großrätliche Kommission für das in Frage stehende Gesetz, welcher ebenfalls Ständerat Dr. C. Hoffmann als Präsident vorstand, offenbar bewogen, für die zweite Lesung die erwähnte Abänderung des Art. l vorzuschlagen.

Sämtliche Referendumsbogen enthielten im Ingresse das Datum (20. November 1900), unter welchem das Gesetz vom Großen Rate angenommen wurde. Vor dem 20. November 1900 konnten somit jedenfalls keine der eingereichten Unterschriften gesammelt worden sein ; es ist aber auch höchst unwahrscheinlich, daß hiermit in der Zeit vom 20. bis zum 30. November begonnen wurde.

Wie Rekurretit nämlich selbst zugiebt, wurde im Großen Rate gegen das Gesetz beinahe keine Opposition erhoben. Es bestand also keine geschlossene Gegnerschaft, welche die Vorarbeiten für das Referendum sofort hätte an die Hand nehmen können. Der oder die Bürger, welche die Referendumsbewegung veranlassen wollten, mußten daher zunächst Informationen einziehen, ob sie für die Realisierung ihrer Absicht etwelche Aussicht auf Erfolg hätten und ob die Vertrauensmänner zum Einsammeln der Unterschriften in den verschiedenen Gemeinden finden können. Erst nachher konnten sie sich je nach dem Ergebnisse dieser Informationen schlüssig machen, ob sie die Kosten, welche eine Referendumsbewegung für die Initianten verursacht, riskieren wollen.

Waren sich die Initianten hierüber im Klaren, so mußten noch die Referendumseingaben redigiert, dann gedruckt und an die betreffenden Vertrauensmänner in den Gemeinden versandt werden.

Alle diese Vorbereitungen mußten jedenfalls soviel Zeit in Anspruch nehmen, daß es kaum denkbar gewesen wäre, daß mit der Sammlung der Unterschriften v o r dem
1. Dezember hätte begonnen werden können. Diejenigen Unterschriftenbogen, welche mit dem Anfangsdatum versehen sind, weisen auch thatsächlieh als solches erst den 13., 14., 15. und 18. Dezember auf, und es

316 ist nicht anzunehmen, daß in den ändern Gemeinden wesentlich früher begonnen worden sei. Die nachträglich eingezogenen Informationen haben dann auch ergeben, daß diese Schlußfolgerungen den thatsächlichen Verhältnissen durchaus entsprechen. Laut der mit der Rekursbeantwortung an das Bundesgericht gesandten Bescheinigung von Buchdrucker Franz Kalberer in Bazenhaid, welche Bescheinigung anmit ins Recht verlangt wird, wurden die fraglichen Referendumsbogen, die wegen des gleichen Schriftcharakters alle aus derselben Druckerei stammen müssen, erst am 9. Dezember 1900 bei ihm bestellt und dann am 11. Dezember von ihm versandt.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: A. Betreffend die Kompetenzfrage: 1. Das Bundesgericht hat sich zwar in vorliegender Sache inkompetent erklärt und es ist in der Instruktion von keiner der Parteien die Zuständigkeit des Bundesrates bestritten worden.

Dieselbe ist indessen von Amtes wegen zu prüfen.

2. Das Begehren des Beschwerdeführers geht auf Aufhebung eines Beschlusses des Regierungsrates des Kantons St. Gallen vom 4. Januar 1901, wonach das Referendum mit Bezug auf das Gesetz über die Lehrersynode vom 20. November 1900 als zu stände gekommen erklärt und die Volksabstimmung angeordnet wird.

3. Dieses Begehren wird begründet durch den Versuch des Nachweises, daß der angeführte Beschluß des Regierungsrates eine Verletzung von Art. 47 der st. gallischen Kantonsverfassung und des dazu gehörigen Ausführungsgesetzes vom 2. Dezember 1892 betreffend das Verfahren bei Ausübung des kantonalen Referendums und der Initiative, sowie voa Art. 65 der kantonalen Verfassung, enthalte. Diese Verletzung wird darin gesehen, daß die Unterschriftenbogen nicht datiert sind und deshalb nicht feststellbar sei, ob die nach der st. gallischen Verfassung notwendige Zahl von 4000 Unterschriften wirklich innert 30 Tagen nach Erlaß des Gesetzes zusammengekommen ist.

Ferner wird der Beschluß des Regierungsrates auch als ein Akt der Willkür, somit als eine Verletzung des Art. 4 der BundesverfassungO angefochten.

O 4. Die Kompetenz des Bundesrates kann nur aus Art. 189, Absatz 4, des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundes-

317 rechtspflege vem 22. März 1893 hergeleitet werden, wonach der Bundesrat Beschwerden ,,betreffend die politische Stimmberechtigung der Bürger und betreffend kantonale Wahlen und Abstimmungen auf Grundlage sämtlicher einschlägigen Bestimmungen des kantonalen Verfassungsrechtes und des Bundesrechts"1 entscheidet.

5. Eine in einem Kanton vor sich gehende Referendumsabstimmung fällt allerdings zweifellos unter den Begriff einer kantonalen Abstimmung : das Besondere der erhobenen Beschwerde liegt aber darin, daß nicht die Gültigkeit einer schon erledigten Abstimmung in Frage steht, sondern der Beschluß einer zuständigen kantonalen Behörde, über das Zustandekommen oder Nichtzustandekommen eines Referendumsbegehrens. Es wird auch keineswegs bestritten, daß der kantonale Regierungsrat, so wie er es gethan hat, zur Anordnung der Volksabstimmung berechtigt war, sondern es wird nur behauptet, daß die Bürger, welche das Volksrecht des fakultativen Referendums ausübten, die verfassungsmäßig und gesetzlich vorgesehenen Formen und Fristen nicht beobachtet haben und daß deshalb eine Volksabstimmungüberhaupt nicht hätte angeordnet werden dürfen. Es handelt sich also um die Ausübung eines der sogenannten Volksrechte im engern Sinne, als welche nach den schweizerischen Verfassungen das Referendum und die Initiative erscheinen.

6. Wenn man einen Blick auf die Entstehungsgeschichte der angeführten Bestimmung des Organisationsgesetzes wirft-, so ergiebt sich folgendes : Das Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 27. Juni 1874 (A. S. n. F. I, 136), das zum erstenmal eine Ausscheidung der staatsrechtlichen Kompetenzen zwischen Bundesrat und Bundesgericht enthielt, wies in Art. 59, Ziffer 9, dem Bundesrat, eventuell der Bundesversammlung Entscheidungen zu über ^Beschwerden gegen die Gültigkeit kantonaler Wahlen und Abstimmungen."· Es hatten sich auf der Grundlage dieses Gesetzes über die Kompetenz des Bundesrates und des Bundesgerichtes Meinungsverschiedenheiten ergeben darüber, ob der Bundesrat auch zuständig sei, wenn es sich um eine Stimmrechtsstreitigkeit handelte, welche vor einer Wahl oder Abstimmung erhoben wurde.

Dies war das wesentliche Motiv, warum im Gesetze von 1893 bei der Neuausscheidung der Kompetenzen dem Bundesrate ausdrücklich auch die Entscheidungsbefugnis über die politische

318

Stimmberechtigung zugewiesen wurde. Eine Stelle der Botschaft zum Gesetze von 1693 (Bundesbl. 1892, II, 388) spricht sich über den unter der Herrschaft des früheren Gesetzes bestehenden Zustand dahin aus: .,Die eine Behörde wies der ändern Kompetenzen zu, welche von dieser abgelehnt wurden; das Bundesgericht fand z. B., es haben dem Bundesrate bloß Streitigkeiten ,, vorwiegend" politischer und administrativer Natur übertragen werden wollen, wie Beschwerden, die auf Kassation einer Wahl wegen Nichtbeobachtung des gesetzlichen Verfahrens, wegen mangelnder Wahlfähigkeit des Gewählten, ,,u. s. w.a gerichtet sind; der Bundesrat aber wies Beschwerden betreffend die passive Wahlfähigkeit von seiner Instanz weg ; das Bundesgericht behandelte die Frage der Gültigkeit von Korporationsgemeindewahlen, obgleich verfassungsgemäß für dieselben die Vorschriften über das politische Stimmrecht gelten; der Bundesrat hinwieder befaßte sich mit Kirchenratswahlen, mit der Frage der Gültigkeit kantonaler Referendumsunterschriften u. s. w. An die Stelle eines klaren und einheitlichen Rechtsganges trat eine sehr mißliche Doppelspurigkeit und Ungewißheit."

Über den Begriff der kantonalen Wahl und Abstimmung selbst ist in der Botschaft (C. c. 390) einzig gesagt, daß darunter auch Bezirks- und Gemeindewahlen und Abstimmungen, nicht nur solche, welche den Kanton als Ganzes angehen, zu verstehen sind.

Aus der Entstehungsgeschichte ergiebt sich also nicht sehr viel für diesen Begriff; es darf aus derselben nur gefolgert werden, daß im ganzen eine Ausdehnung der Kompetenz des Bundesrates gewollt war und daß neben der politischen Stimmberechtigung alles, was mit kantonalen Wahlen und Abstimmungen im Zusammenhang stund, ihm, als politischer Behörde, zugewiesen werden sollte.

7. Verfolgt man die Praxis des Bundesrates, so ist festzustellen, daß er schon unter der Herrschaft des früheren Organisationsgesetzes in einer Reihe von Fällen Fragen, welche mit der Gültigkeit nicht nur von Referendumsabstimmungen, sondern auch mit der gültigen Anwendung von solchen Abstimmungen in Zusammenhang standen, entschieden hat. In dieser Beziehung ist auf folgende Entscheidungen zu verweisen.

Salis, II, Nr. 830. Streit über Verweigerung der Bescheinigung über das politische Stimmrecht bei Referendurnsunter-

319 Schriften, wenn der Unterzeichner nicht eigenhändig Familien-, Taufnamen und Vatersnamen beigesetzt hat. (Tessin.)

Ibidem II, Nr. 832. Verweigerung der Ansetzung einer Volksabstimmung über eine Verfassungsrevision innerhalb der in der Verfassung angesetzten Frist. (Luzern.)

Bundesblatt 1890, Bd. IV, 128. Verweigerung der Ansetzung einer Volksabstimmung über Partialrevision einer kantonalen Verfassung, trotzdem die erforderliche Anzahl Unterschriften eingereicht war. (Tessin.)

8. Allerdings hat das Bundesgericht in einer Reihe von Entscheidungen sich als für die Verletzung kantonaler Verfassungen auf dem Gebiete der Volksrechte zuständig erklärt. So betreffend Ablehnung des Finanzreferendums durch kantonale Behörden (Curti, Entscheidungen des schweizerischen Bundesgerichtes, Bd. I, Nrn. 1341, 1343, 1382, 1383; aus neuester Zeit; amtliche Sammlung der bundesgerichtlichen Entscheidungen, Bd. XXV, 1. Teil, S. 459 ff. ; Dürrenmatt contra Bern) ; betreffend das Initiativrecht der Basler Verfassung ; amtliche Sammlung der bundesgerichtlichen Entscheide, Bd. XXV, 1. Teil, S. 64. -- In dem letzten Entscheid lag thatbestandlich die Sache dem gegenwärtigen Falle insofern analog, als der Regierungsrat des Kantons Baselstadt über ein auf einem vorher eingereichten Initiativvorschlag vom Großen Rate ausgearbeitetes Gesetz eine Abstimmung angeordnet hatte ; verschieden insofern, als sich die Beschwerde gegen die Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzes richtete, welches verschiedene im Initiativvorschlag nicht berührte Gegenstände regelte.

9. Das Bundesgericht hat sich zur Entscheidung der Beschwerde des Rekurrenten mit Urteil vom 6. Februar 1901 inkompetent erklärt.

Der juristische Kernpunkt der Erwägungen dieses Entscheides liegt in der Aufstellung, daß, wie der Bundesrat nach vollzogener Abstimmung über die Voraussetzungen des Referendums zu entscheiden gehabt hätte, er auch vor der Abstimmung hierüber zu entscheiden habe, da sich die Beschwerde im einen, wie im ändern Falle auf eine kantonale Abstimmung beziehe.

10. Der Auffassung des Bundesgerichtes ist beizustimmen.

Es könnten zwar Zweifel an der Kompetenz des Bundesrates hergeleitet werden aus der Erwägung, daß die gleichen Verfassungsbestimmungen zur Anwendung gelangen über die Frage, ob ein Referendum angeordnet werden müsse (wie bei den Ent-

320 Scheidungen des Bundesgerichts über das Finanzreferendum) und über diejenige, ob ein Keferendumsbegehren zustande gekommen sei. -- Dies ist, allgemein genommen, richtig. Dennoch besteht folgender Unterschied: Das Volksrecht des Referendums ist als fakultatives in der St. Galler Verfassung geordnet. Es besteht darin, daß, wenn eine bestimmte Zahl politisch stimmberechtigter Bürger innert gegebener Frist schriftlich ihren Willen dahin kund giebt, daß eine Abstimmung der Gesamtheit der Stimmberechtigten über ein vom Großen Rate erlassenes Gesetz stattfinden soll, diesem Verlangen nachgegeben und durch den Regierungsrat eine Abstimmung angeordnet werden muß. -- Das Referendumsbegehren hängt selbst mit dem politischen Stimmrecht zusammen : ein gestelltes Referendumsbegehren ist eine Äußerung des politischen Stimrnrechtes derjenigen Personen, von denen es ausgeht. -- Die Nichtachtung eines in gehöriger Form und Frist gestellten Referendumsbegehrens ist eine Verletzung der aus dem politischen Stimmrechte des Bürgers hervorgehenden verfassungsmäßigen Befugnisse.

Nicht ganz gleich verhält es sich bei der Nichtveranstaltung eines obligatorischen Referendums durch die dazu berufenen Behörden. Beim obligatorischen Referendum bedarf es keines Begehrens der stimmberechtigten Bürger, sondern die Verpflichtung, eine Volksabstimmung zu veranstalten, ergiebt sich, ohne Referendumsbegehren direkt ans der Verfassung. Hier entsteht die Verletzung der Individualrechte des Bürgers, ohne daß es vorher einer Äußerung seines politischen Stimmrechtes bedürfte. Deshalb ist die Kompetenz des Bundesgerichtes gegeben. Gleich verhält es sich mit dem citierten Entscheid betreffend das Initiativrecht der baselstädtischen Verfassung; in Frage stand nicht die Gültigkeit der Initiative, sondern die Tragweite des von allen Parteien anerkannten Initiativbegehrens und dessen gesetzgeberische Verarbeitung durch den Großen Rat.

11. Auf diese Erwägungen gestützt, gelangt der Bundesrat dazu, sich in der Sache als kompetent zu erklären.

B. Betreffend

das Rekursbegehren selbst:

1. Die Legitimation des Beschwerdeführers, welche nicht bestritten war, ist gegeben durch die von ihm eingelegte Bescheinigung, daß er im Besitz des Aktivbürgerrechtes steht. -- Er hat also ein rechtliches Interesse daran, daß das Verhältnis

321 der gesetzgebenden Gewalten, wie es durch die kantonale Verfassung garantiert ist, gewahrt bleibt.

2. Die Beschwerde stützt sich auf zwei Gründe : Verletzung des Art. 47 und 65 der Verfassung des Kantons St. Gallen in Verbindung mit der Anwendung des st. gallischen Gesetzes vom 2. Dezember 1892 betreffend das Verfahren bei Ausübung des kantonalen Referendums und der Initiative, und Verletzung des Art. 4 der Bundesverfassung durch willkürliche Auslegung des genannten Gesetzes.

3. Der Mangel, welchen der Rekurrent an den eingereichten Referendumsunterschriften hervorhebt, besteht darin, daß nur wenige derselben das Anfangsdatum an sich tragen, während dasselbe auf der Mehrzahl fehlt.

4. Die Verfassung selbst enthält aber keine Vorschrift über das Anfangsdatum, sondern bestimmt nur daß innert 30 Tagen nach Erlaß eines Gesetzes oder Beschlusses durch den Großen Rat 4000 Bürger, deren Stimmberechtigung beglaubigt sein muß, u n t e r s c h r i f t l i c h die Abstimmung verlangen müssen. Erst der angeführte Art. l des Gesetzes vom 2. Dezember 1892 stellte die Vorschrift auf, daß jeder Bogen mit dem Anfangsdatum der Unterschriftenzeichnung versehen sein müsse.

Daraus ergiebt sich, daß es sich jedenfalls bei dem angefochtenen regierungsrätlichen Entscheid nicht um eine Verletzung des Art. 47 der kantonalen Verfassung handeln kann, da die Verfassung über den streitigen Punkt -- Beisetzung des Anfangsdatums -- keinerlei Bestimmung enthält, insbesondere nichts darüber, daß ein Unterschriftenbogen ohne Anfangsdatum ungültig sein soll.

5. Der Rekurrent beruft sich aber außerdem auf Art. 65 der kantonalen Verfassung ; derselbe lautet : ,,Er (der Regierungsrat) hat alle Gesetze und Beschlüsse des Großen Rates, sowie dessen besondere Aufträge zu vollziehen.

Nie dürfen Maßregeln zur Vollziehung der Gesetze veränderte oder neue Bestimmungen über die Hauptsache enthalten.a Der Rekurrent behauptet, der Regierungsrat habe den zweiten Satz dieses Artikels verletzt: denn das Gesetz des Großen Rates bestimme, daß Referendums- und Initiativbogen das Anfangsdatum tragen müssen, während der Regierungsrat bestimme, nur die Unterschriften bei Initiativ begehren müßten das Anfangsdatum tragen. Diese Argumentation ist deshalb nicht zutrefiend, weil es sich im vorliegenden Falle gar nicht um eine besondere VollBundesblatt. 53. Jahrg. Bd. III.

21

322 ziehungsmaßregel zu dem Gesetz vom 2. Dezember 1892 handelt.

Wenn schon ganz allgemein genommen auch die Anwendung eines Gesetzes als eine Vollziehung desselben zu betrachten ist, so bezieht sich doch Art. 65 zweiter Satz der st. gallischen Verfassung nicht auf die Anwendung der Gesetze, sondern auf die Verordnungsgewalt des Regierungsrates als vollziehende Behörde ; denn er redet von Vollziehungsmaßregeln, welche selbst wieder Normen -- Bestimmungen -- enthalten. Diese Bestimmungen dürfen weder das Gesetz abändern, noch neue Regeln enthalten.

Der Regierungsrat hat aber keine Verordnung erlassen oder eine sonstige Maßregel zur Vollziehung des Gesetzes getroffen, sondern er hat ein bestehendes Gesetz auf den konkreten Fall angewendet.

Deshalb ist die Behauptung einer Verletzung des Art. 65 der kantonalen Verfassung abzulehnen.

6. Wenn es sich somit nur um die Auslegung eines kantonalen Gesetzes handelt, so entfällt der Beschwerdegrund der Verletzung der kantonalen Verfassung. Wie sich aus .Art. 189 des Bundesgesetzes über Organisation der Bundesrechtspflege ergiebt und der Bundesrat in konstanter Praxis anerkannt hat, ist eine Beschwerde unzulässig, sobald es sich nur um Verletzung kantonalen Gesetzesrechtes handelt. Auch wenn solches zweifellos unrichtig angewendet wäre, ist der Bundesrat zu einer Aufhebung des kantonalen Entscheides nicht berechtigt.

7. Es kann sich also nur noch darum handeln, ob der Regierungsrat des Kantons St. Gallen bei Auslegung des Gesetzes vom 9 Januar 1893 willkürlich verfahren ist und damit Art. 4 der Bundesverfassung verletzt hat. Willkürlich aber ist ein Entscheid, der entweder ohne Motive erlassen ist oder dessen Gründe gegen klares Recht verstoßen oder nur vorgeschoben sind, um andere Zwecke zu erreichen.

8. Der Entscheid des st. gallischen Regierungsrates, gegen welchen die Beschwerde gerichtet ist, ist sehr eingehend motiviert.

Man kann nun, was dem Rekurrenten zuzugeben ist, daran Zweifel hegen, ob dieser Entscheid eine richtige Auslegung des Gesetzes enthält. Denn er steht im Widerspruch mit dem Wortlaute, der im letzten Absatz von Art. l ausdrücklich bestimmt, daß alle Eingaben, welche den aufgestellten Vorschriften nicht entsprechen unter Bezeichnung des Mangels zurückzuweisen sind.

Dem Wortlaute gemäß hätte der Regierungsrat die eingereichten
Unterschriften, soweit ihnen das Anfangsdatum fehlt, als unförmlich zurückweisen müssen, da diese Formalität unter die für Referendumsunterschriften geltenden Vorschriften aufgenommen

323 ist. Trotzdem kann man nicht soweit gehen, den Entscheid des Regierungsrates als einen willkürlichen zu bezeichnen. Denn der Regierungsrat hat sich auf durchaus sachliche, aus der Verschiedenheit von Referendum und Initiative hergeleitete Gründe gestützt, um zu dem Schlüsse zu gelangen, daß die fragliche Be.stimmung nur als eine Ordnungsvorschrift zu betrachten ist. Diese Gründe werden verstärkt durch die in der Rekursbeantwortung .angegebenen, aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes hergeleiteten Erwägungen, welche es wahrscheinlich machen, daß der st. gallische Gesetzgeber beabsichtigte, diese Formvorschrift nur für die Initiative zum wesentlichen Erfordernis zu erheben.

Man kann freilich über die Richtigkeit der Auffassung des st. gallischen Regierungsrates verschiedener Meinung sein, da das Anfangsdatum weder für Referendums- noch für Initiativunterschriftenbogen beglaubigt sein muß, also gar keine sichere Kontrolle darüber möglich ist, ob das auf den Bogen stehende Datum dem wirklichen Zeitpunkte des Beginns der Unterschriftensammlung enspricht, also auch das auf dem Bogen stehende- Anfangsdatum für den Beginn der Unterschriften für eine Initiative keinen sicheren Anhaltspunkt bietet. Diese verschiedenen möglichen Auffassungen gehören jedoch in das Gebiet der Interpretationsfragen.

Es ist aber der Umstand, daß eine Gesetzesbestimmung verschieden ausgelegt werden kann, nicht hinreichend, um die eine oder andere Auslegung, welche mit sachlichen Gründen gestützt werden kann, als eine willkürliche zu bezeichnen.

Demnach wird erkannt: Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B e r n , den 3. Mai 1901.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Brenner.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft : Bingier.

--

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bundesratsbeschluß über die Beschwerde des E. Mettler-Baumgartner in St. Gallen gegen die Schlußnahme des Regierungsrates des Kantons St. Gallen betreffend die Anordnung einer Volksabstimmung über das Gesetz betreffend die Lehrersynode. (Vom 3. Mai 1...

In

Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1901

Année Anno Band

3

Volume Volume Heft

19

Cahier Numero Geschäftsnummer

---

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

08.05.1901

Date Data Seite

305-323

Page Pagina Ref. No

10 019 616

Das Dokument wurde durch das Schweizerische Bundesarchiv digitalisiert.

Le document a été digitalisé par les. Archives Fédérales Suisses.

Il documento è stato digitalizzato dell'Archivio federale svizzero.