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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend Art. 75 der Bundesverfassung (Motionen Knellwolf und Daucourt.)

(Vom 4. April 1921.)]

Im Nationalrat reichte Herr Knellwolf am 6. Dezember 1917 folgende Motion ein: ,,Der Bundesrat wird eingeladen, die Rechtsfrage zu prüfen und darüber Bericht zu erstatten, ob die Ausschlussbestimmung des Art. 75 der Bundesverfassung auf die reformierten Pfarrer und ,Diener am Worte' anwendbar sei."

Am 7. Dezember 1917 sodann brachte Herr Daucourt eine Motion ein, lautend : ,,Der Bundesrat wird eingeladen, die Frage zu prüfen, ob nicht Art. 75 der Bundesverfassung abzuändern sei, um die Unvereinbarkeit der kirchlichen Amtstätigkeit mit dem Mandat eines Nationalrates aufzuheben.a Beide Motionen wurden im Nationalrat am 5. Februar 1919 behandelt, vom Vertreter des Bundesrates ohne Präjudiz entgegengenommen und vom Nationalrat erheblich erklärt.

Den beiden Motionen ist gemeinsam, dass sie sieh mit der Vorschrift von Art. 75 BV befassen, wonach nur Schweizerbürger weltlichen Standes als Mitglieder des Nationalrates wählbar sind.

Sie unterscheiden sich in folgenden Punkten: Die Motion Knellwolf verlangt vom Bundesrat die Prüfung der Frage, wie das geltende Recht auszulegen sei, während die Motion Daucourt darüber Auskunft wünscht, ob nicht das geltende Recht abgeändert werden soll.

Die Motion Knellwolf zielt bloss darauf ab, dass die Wählbarkeit der reformierten Geistlichen anerkannt werde ; die Motion Daucourt dagegen strebt danach, die Wählbarkeit der Geistlichen aller Konfessionen herzustellen.

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A. Der Ausschluss der Geistlichen Ton der Wählbarkeit in die kantonalen Parlamente.

Wenn sich auch die beiden Motionen auf die Auslegung und Aufhebung e i d g e n ö s s i s c h e n Rechtes beziehen, so dürfte es doch nicht ohne Interesse sein, festzustellen, welche K a n t o n e den Geistlichen oder bestimmten Geistlichen den Eintritt in die kantonalen Parlamente verschliessen.

Um über die in Frage kommenden Verhältnisse genauen Aufschluss zu erhalten, haben wir ein Kreisschreiben an die Kantone gerichtet. Aus den Antworten sei folgendes hervorgehoben: 1. Art. 20 der Verfassung des Kantons B e r n vom 4. Juni 1893 enthält folgende Ausschlussklausel: ,,Unvereinbar mit der Stelle eines Mitgliedes des Grossen Rates sind alle geistlichen und weltlichen Stellen, welche vom Staate besoldet sind oder von einer Staatsbehörde besetzt werden, und alle Dienstverhältnisse in einem fremden Staate.

Die Unvereinbarkeit erstreckt sich nicht auf die Stellvertreter der weltlichen Beamten.a Diese Bestimmung ist die wörtliche Wiedergabe von Art. 20 der Verfassung vom 31. Juli 1846. Bereits in § 36 der Verfassung vom 31. Juli 1831 war die Vorschrift enthalten, dass mit einer Stelle im Grossen Rato ,,geistliche Stellen und geistliche Amtsverrichtungen'1 nicht vereinbar seien.

Der Regierungsrat des Kantons Bern weist bei Beantwortung der Frage, aus welchem Grunde Art. 20 der Verfassung eingeführt worden sei, darauf hin, dass die Beamtenstellung des Geistlichen für seine Wählbarkeit als Hindernis angesehen wurde, dass aber den ausschlaggebenden Beweggrund die Furcht vor dem Einfluss namentlich der katholischen Geistlichkeit gebildet habe.

* Die bernische Regierung spricht sich auch zu der Frage aus, auf wen Art. 20 der Verfassung Anwendung finde. Sie macht darüber folgende Ausführungen : ,,Eine Praxis darüber, wer als Geistlicher anzusehen sei, hat sich nicht herausgebildet. Die Praxis könnte sich auch nur an den Wortlaut des Art. 20 der Verfassung halten. Aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung könnte der Schluss gezogen werden, dass das geistliche Amt, überhaupt die Seelsorge als Hindernis gelten müsse, dass also auch Geistliche von Kirchen, die vom Staate nicht offiziell anerkannt sind und zu denen der Staat in keiner Beziehung steht, vom Eintritt in das Parlament schlechtweg ausgeschlossen seien.

.544 Zu dieser Auslegung könnte herangezogen werden Abs. 2 des Art. 20 der Verfassung und seine Gegenüberstellung zu Abs. 1.

Während Abs. l die weltlichen und geistlichen Stellen gleich behandelt, schliesst Abs. 2 die Unvereinbarkeit mit der Stellvertretung bloss für die weltlichen, nicht aber für die geistlichen Beamten aus. Es ist darin eine bewusst ungleiche Behandlungweltlicher und geistlicher Beamter zu erblicken, und es darf nicht übersehen werden, dass hierin ein Rest der Anschauung über die Sonderstellung des Geistlichen zum Staate liegt.

Aus diesem Argument allein darf aber nicht die ganze Frage nach dem Grund der Unvereinbarkeit beantwortet werden. Es ist nicht zu vergessen, dass der Stellvertreter des geistlichen Beamten allgemein eben auch ein Beamter im Helfer- oder Vikariatsverhältnis ist. Eine etwas freiere Auslegung trotz des Abs. 2, Art. 20, rechtfertigt sich auch deshalb, weil seit Aufnahme der Bestimmung in der Verfassung die Verhältnisse eine Änderung erfahren haben in dem Sinne, dass ein Nachteil in der Wahl eines Geistlichen an sich nicht mehr gefunden wird. Dies ergibt sich daraus, dass man trotz der Kulturkampfbewegung der 70er Jahre bei der Verfassungsrevision des Jahres 1893 die Frage gar nicht mehr erörterte. Hieraus muss geschlossen werden, dass man schon damals den Grund zu der Bestimmung nicht im geistlichen Amt, sondern in der Beatntenstellung erblickte.

Somit ist auf den Wortlaut des Art. 20, Abs. l, abzustellen, der als unvereinbar erklärt die Stellen, die vom Staate besoldet sind oder von einer Staatsbehörde besetzt werden, und alle Dienstverhältnisse in einem fremden Staat. Alternativ werden als Voraussetzungen für die Unvereinbarkeit genannt die Wahl oder die Bezahlung durch den Staat.

In bezug auf die Wahl der Geistlichen gelten die Bestiipmungen der §§ 25 ff. des Gesetzes vom 18. Januar 1874 über die Organisation des Kirchenwesens im Ka?iton Bern. Grundsätzlich wird die Wahl durch die Gemeinde vorgenommen, immerhin unterliegt sie der Anerkennung durch den Regierungsrat. Eine materielle Überprüfung der Wahl findet dabei nicht statt, sondern nur eine Prüfung des formellen Verfahrens beim Wahlakt. Immerhin ist ein Einüuss einer kantonalen Behörde hierbei nicht zu verkennen, dies um so weniger, weil als Kandidat nur ein Geistlicher in Frage kommen kann, der gemäss § 26 des Kirchengesetzes durch den Regierungsrat in den kantonalen Kirchendienst aufgenommen worden ist.

O

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Für die Besoldung der Geistlichen macht § 50 des Kirchengesetzes vom 18. Januar 1874 Regel, der bestimmt, dass die Barbesoldungen der Geistlichen durch Dekret des Grossen Rates normiert werden. Zur Auslegung können angeführt werden § l des Dekrets vom 26. November 1875 über die Besoldung der evan.gelisch-reformierten Geistlichen, lautend : ,,Die vom Staate auszurichtende Barbesoldung der sämtlichen evangelisch-reformierten Pfarrstellen des Kantons richtet sich nach der Progression im Dienstalter1* und der inhaltlich übereinstimmende § l des Dekrets vom 6. November 1879 betreffend die Besoldung der katholischen Geistlichen. Aus diesen Ausführungsbestimmungen ergibt sich ohne weiteres, dass der Staat die Besoldung der Geistlichen der sogenannten Landeskirchen übernimmt. Sie stehen zum Staate in einem dienstvertragsähnlichen Verhältnis. Es ergibt sich hieraus ·die Unvereinbarkeit ihrer Stellung mit der Zugehörigkeit zum Grossen Rat, der nach Art. 26, Ziff. 7, der bernischen Verfassung XDberaufsichtsorgan für die gesamte Staatsverwaltung ist. Die .Geistlichen, so wenig wie die andern Beamten, können nicht zugleich in ihrer eigenen obersten Aufsichtsbehörde sitzen.

Trotz der historischen Entwicklung dieser Verfassungsbestimmung muss der innere Grund der Nichtwählbarkeit der Geistlichen in das kantonale Parlament in ihrer sonstigen rechtlichen Stellung zum Staate erblickt werden. Unter den geltenden Bestimmungen ist keine juristische Konstruktion der Art denkbar, dass eine Wählbarkeit angenommen werden könnte. Dabei ist festzuhalten, dass diese Art der Begründung der Unvereinbarkeit der beiden Ämter der modernen Anschauung wohl besser Rechnung trägt, als wenn die Geistlichen kraft ihres geistlichen Berufes von der Wahl in den Grossen Rat ausgeschlossen würden.

Nach diesen Gesichtspunkten entscheidet sich auch die Frage, wie der Begriff des ,,Geistlichen" zu fassen sei. Nach bernischem Staatsrecht -- und die Praxis stimmt hiermit überein -- sind als Geistliche, deren Wahl in das Parlament ausgeschlossen ist, ^,lle diejenigen und nur diejenigen anzusehen, die zum Staate als Seelsorger einer anerkannten Landeskirche durch Bezug der Besoldung oder durch die Wahl durch staatliche Organe in ein Anstellungsverhälfcnis treten, gleichgültig ob sie dabei als Pfarcer i. e. Sinne, als Vikare oder als sogenannte
Helfer wirken.

Kraft dieser Begriffsbestimmung scheiden demnach alle diejenigen aus, die sich wohl mit Seelsorge beschäftigen, die aber ni cht einer staatlich anerkannten Landeskirche angehören (Sekten) und die weder in bezug auf Wahl noch auf Besoldung zum Staate

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in Beziehung treten ; für sie gilt deshalb Art. 20 der Verfassungnicht, sie sind in den Grossen Rat wählbar.'1 2. Die Verfassung von F r e i b u r g , vom 7. Mai 1857, bestimmt in Art. 32, dass jeder stimmfähige Kantonsbürger, der das 25. Altersjahr zurückgelegt hat, in die gesetzgebende Gewalt gewählt werden kann ; stimmfähig sind aber nach Art. 25 der Verfassung nur die ,,Freiburger weltlichen Standes". Dieselbe Regelung enthielten schon die Verfassungen vom 4. März 1848' (Art. 33 und 27) und 14. Januar 1831 (Art. 33 und 29).

Die freiburgische Verfassung steht somit auf dem Standpunkt,, dass nicht nur die Betätigung der Geistlichen in der Volksvertretung, sondern jede politische Tätigkeit derselben, sogar die Ausübung des Wahl- und Stimrarechtes, abzulehnen sei. Unter diesem den ,,geistlichen Standa als solchen treffenden Gesichtswinkel und nicht unter demjenigen, dass die Geistlichen alsBeamte nicht in die Volksvertretung gehören, muss die Ausschlussklausel betrachtet werden.

3. Die Verfassung des Kantons B a s e l l a n d , vom 4. April 1892, bestimmt in Art. 27 : ,,Von der Wählbarkeit in den Landrat sind ausgeschlossen die Mitglieder des Regierungsrates, des Obergerichts, die Statthalter, Bezirksschreiber und Bezirksgerichtsschreiber, sowie allediejenigen Beamten, welche vom Landrate oder vom Regierungsrate gewählt werden und nach den gesetzlichen Bestimmungen ihre ganze Zeit dem ihnen übertragenen Amte zu widmen haben,, ebenso Pfarrer und Lehrer."

Die Verfassung vom 23. Dezember 1850 kannte noch keine solche Bestimmung, auch nicht diejenige vom 6. März 1863.

Der Grund der Ausschlussklausel, wie sie in dem zitierten Art. 27 gegeben ist, darf nicht in einer besonderen Einschätzungder Geistlichen gesucht werden, die sich aus dem Verhältnis zwischen Staat und Kirche ergäbe. Er liegt vielmehr darin, dass sie, wie die Lehrer, zwar weder vom Landrat noch vom Regierungsrat gewählt werden, aber doch ihre ganze Zeit ihrem Amtewidmen sollen.

4. Die Verfassung des Kantons W a a d t , vom 1. März 1885, sieht in Art. 34 ein besonderes Gesetz vor über die Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft beim Grossen Rate mit öffentlichen Beamtungen. Die nämliche Bestimmung war schon in der Verfassung vom 19. Juli 1845 enthalten, und es wurde auf Grund derselben am 10. Mai 1851 ein Gesetz erlassen. Dieses Gesetz nennt nicht

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weniger als 30 Arten von Beamtungen, die mit der Mitgliedschaft beim Grossen Rat unvereinbar sind, darunter in Art. l, Ziffer 16, ,,les ministres d'un culte ehrétiena.

Die Einordnung der Geistlichen in die übrigen Beamten lässt deutlich erkennen,, dass ihr Ausschluss nicht dem Gedanken entspringt, sie hätten als Geistliche dem Staate gegenüber eine besondere Stellung, sondern der Überlegung, dass ihre Beamteneigenschaft die Anwendung der allgemeinen Ausschlussklausel mit sich bringe.

5. Die Verfassung von N e u e n b u r g , vom 21. November 1858, sieht in Art. 31 (revidiert am 10. März 1889) folgende Fälle der Unvereinbarkeit vor : ,,Les fonctions ecclésiastiques, celles de conseiller d'Etat et celles de représentant direct du Conseil d'Etat dans les districts sont incompatibles avec le mandat de député au Grand Conseil ; ne peuvent pas non plus faire partie du Grand Conseil les fonctionnaires et employés de la Chancellerie d'Etat, des départements du Conseil d'Etat et des préfectures."

Überdies wird bestimmt, dass weitere Unvereinbarkeitsfälle auf dem Gesetzgebungswege festgelegt werden können.

Der Ausschlussgrund der ,,geistlichen Amtsverrichtungen a findet sich bereits in Art. 30 der Verfassung vom 25. April 1848.'

Der Staatsrat des Kantons Neuenburg teilt mit, dass es ihm nicht möglich gewesen sei, genau die Gründe aufzudecken, die zur Aufnahme der Ausschlussbestimmung in die Verfassung von 1848 geführt haben. Er vermutet, dass die Haltung der neuenburgischen Geistlichen, die insgesamt Gegner der Republik waren, den Verfassungsrat veranlasst hat, diese Vorschrift aufzustellen.

Zur Zeit der Verfassungsrevision von 1858 schlug die Kommission einstimmig vor, es sei an der Unvereinbarkeitsbestimmung festzuhalten. Der Rat stimmte diesem Antrag zu.

Nicht die Eigenschaft der Geistlichen als Beamte, sonderò die Natur der geistlichen Funktionen ist der Grund der Ausschliessung. Massgebend war die Überlegung, dass es angemessener sei, wenn ein Verkünder des Wortes Gottes sich von den politischen Kämpfen fernhalte.

6. Die Verfassung des Kantons G e n f , vom 27. Mai J847> bestimmt in Art. 35 : ,,Sont éligibles dans tous les collèges électoraux, quel que soit celui auquel ils appartiennent, tous les citoyens laïques, jouissant de leurs droits électoraux et ayant vingt-cinq ans accomplis."

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Diese Bestimmung, die sich bereits in der Verfassung von 1814 findet, will die Geistlichen als solche treffen, ohne Rück-sicht darauf, ob sie zum Staate in einem Beamtenverhältnis stehen oder nicht. Es wird dementsprechend angenommen, dass sie auch heute, bei der Trennung von Staat und Kirche, noch zur Anwendung gelangt.

Überblicken wir die Ausschlussbestimmungen der sechs angeführten Kantone, so lässt sich erkennen, dass der Grund für ihre Aufstellung kein einheitlicher ist. Einige Verfassungen gehen von der Beamteneigenschaft der Geistlichen, andere von der Zugehörigkeit der Geistlichen zu einem bestimmten Stande aus und wieder andere stellen auf den innern Gegensatz zwischen geistlichen Funktionen und politischer Betätigimg ab.

Nach dem Recht der übrigen neunzehn Kantone sind die Geistlichen grundsätzlich in das kantonale Parlament wählbar.

In Wirklichkeit scheinen allerdings nur in wenigen Parlamenten regelmässig Geistliche zu sitzen und dann nur in geringer Zahl.

Die uns von den Kantonen erstatteten Berichte ergeben, dass in den letzten Jahren in den Parlamenten von Aargau 7, Zürich und Solothurn je 4 und St. Gallen 2--3 Geistliche Platz gefunden haben.

Hervorzuheben ist, dass von den Kantonen, welche keine Ausschlussklausel kennen, mehrere diese erst in den letzten Jahrzehnten beseitigt haben. In Luzern bestand eine Ausschlussklausel für Geistliche bis zur Totalrevision von 1875, in Solothurn bis zur Totalrevision von 1887 und in Zug bis zur Totalrevision von 1894.

Die tessinische Verfassungsreform vom 1.--4.,März 1855 bestimmte den Ausschluss für ,,gli esercenti professione ecclesiastica, secolari e regolari". Diese Vorschrift "wurde durch das Verfassungsgesetz vom 2. Juli 1892 aufgehoben (Schlussbestimmungen, Art. 3o), ohne dass etwas Entsprechendes an ihre Stelle getreten wäre. Der Kanton Wallis endlich hat am 26. Dezember 1920 den Art. 90 seiner Verfassung, lautend : ,,Die geistlichen und die bürgerlichen Amtsverrichtungen siud unvereinbar"-, aufgehoben (Bundesbl. 1921, I, 141).

B. Die Entstehungsgeschichte der Aussehlussbestimmung des Art. 75 der Bundesverfassung.

I.

Die Frage, ob es zulässig sein solle, Geistliche in die Volksvertretung des Bundes zu wählen, wurde schon in der von der

54'J ·Tagsatzung am 16. August 1847 bestellten Kommission für die Revision des Bundesvertrages aufgeworfen. Während die zuständige Sektion der Kommission in ihrem Antrag über die Wahlfähigkeit keine Einschränkungen für Geistliche vorsah, wurde im Plenum der Kommission der Antrag, das Erfordernis des weltlichen Standes vorzusehen, gestellt und angenommen. Dieser Aotrag wurde erneuert gegenüber der von der Redaktionskommission vorgelegten Fassung, die lautete : ,,Wahlfähig als Mitglied der Volkskammer ist jeder stimmberechtigte Schweizerbürger."' Das Plenum der Kommission nahm den Antrag an und fügte dementsprechend die Worte ,,weltlichen Standes11 bei. Aus dem Protokoll der Re v i s i o n s k o m mi s s i o n (S. 133) sind folgende Ausführungen über die Wählbarkeit der Geistlichen in den Nationalrat und Bundesrat zu zitieren : ,,Es wurde bemerkt: es sollte nicht der geistliche Stand im allgemeinen, sondern nur diejenigen Geistlichen für nicht wählbar erklärt werden, welche wirklich noch in geistlichen Funktionen stehen -- und hinwieder ist beantragt worden, des geistlichen Standes gar nicht zu erwähnen, indem es nicht wahrscheinlich sei, dass Geistliche in den Bundesrat gewählt werden.

Wenn aber auch einzelne wenige in die Nationalversammlung gewählt würden, so liege darin für die Gesamtheit kein Nachteil und hinwieder mögen die Betreffenden den Gewinn daraus ziehen, dass sie Zeit-, Weltund Lebensverhältnisse von einer praktischen Seite anzuschauen lernen, und nicht alles verwerfen, was mit den oft unklaren und unangemessenen Be· griffen der Studierstube nicht zusammenpasse. Wenn dieser Stand von der ·Wählbarkeit ausgeschlossen würde, so stehe zu besorgen, dass derselbe von vornherein dem Projekte sich feindselig gegenüberstelle und auf dessen Verwerfung hinarbeiten werde, denn die Erfahrung habe zur Genüge gezeigt, dass manche Glieder dieses freilich auf ein transzendentes Gebiet hingewiesenen Standes die Anfechtungen des politischen Ehrgeizes nicht zu überwinden vermöchten."

,,Von anderer Seite wurde jedoch ein besonderes Gewicht daraufgelegt, dass der geistliche Stand bestimmt ausgeschlossen werde und im Gegenteil eine Reaktion gegen das Bundesprojekt besorgt, wenn dies nicht geschehe, indem die Bevölkerung in manchen Kantonen, durch bittere Erfahrungen belehrt, kein Heil von der politischen
Tätigkeit der Geistlichen erwarte.

Übrigens werde derjenige Teil der Geistlichkeit, welcher die hohe Bedeutung und das Wesen seines Standes richtig zu würdigen vermöge, selbst keineu Wert darauf legen, dass ihm Wählbarkeit eingeräumt werde ; er werde seine Bestimmung darin finden, auf der Kanzel und in der Schule zu wirken und durch Lehre und Beispiel geistige Aufklärung und bürgerliche Tugenden zu pflegen, nicht aber darin, in einem wesentlich fremden-Gebiete sich zu betätigen und politische Versuche anzustreben."

Der Entwurf der Revisionskommission erhielt folgende endgültige Fassung : ,,Wählbar als Mitglied des Nationalrates ist jeder stimmberechtigte Schweizerbürger weltlichen Standes." Der Bericht der Revisionskommission über den Verfassungsentwurf enthält hierüber bloss die Bemerkung (S. 54):

580 ,,Die Mehrheit der Kommission glaubte, die Geistlichen sollen ihrer wichtigen Funktion nicht entzogen werden. Eine Minderheit fand die in1 der Kommission angeführten Gründe nicht hinreichend, um eine solche Beschränkung der Wahlfreiheit zu rechtfertigen."

Über die V e r h a n d l u n g e n in der T a g s a t z u n g ist den eidgenössischen Abschieden 1848 (S. 110 ff.) zu entnehmen: ,,Die Weglassung der Bestimmung, nach welcher die Geistlichen vom.

Nationalrate ausgeschlossen werden sollen, stehe im Einklang mit dem eben angenommenen Art. 58*) und ganz besonders auch mit Art. 4, welcher die Gleichheit der Schweizer vor dem Gesetze gewährleiste. Die Beschränkungsei in verschiedenen Kantonen unangenehm aufgefallen und sei besonders da fatal, wo den Geistlichen die Wählbarkeit in Kantonalbehörden verfassungsgemäss zustehe. Übrigens werden die Besorgnisse, dass der Klerus in dem Nationalrate ein Übergewicht erlangen würde, sich durch die Praxis widerlegen, indem immer weniger Neigung sich zeige, die Geistlichen ihrem nähern Berufskreise zu entziehen und sie in die Arena der politischen Kämpfe einzuführen."

,,Von anderer Seite ist jedoch der Ausschluss der Geistlichkeit nach dem Artikel mehrfach verteidigt und dabei nachzuweisen versucht worden, dass im Art. 4 nicht von einer absoluten Gleichheit, von derselben Berechtigung der Bürger in allen Lebensverhältnissen, sondern nur von der Gleichheit vor dem Gesetze, die Rede sei. Die im Artikel enthaltene Beschränkung sei zunächst gegen den katholischen Klerus gerichtet und notwendig, weil derselbe nach den kanonischen Bestimmungen fortwährend gegenüber den andern Staatsbürgern eine besondere Stellung einnehme. Jeder Pfarrer in der kleinsten Gemeinde behaupte, gleich dem Papste, den Dualismus zwischen den Geistlichen und Weltlichen, und gehe von dem Grundsatzeaus, dass, wie der Geist über die Materie, so auch die Kirche über den Staat dominieren müsse."

,,Infolge seiner eigentümlichen Stellung habe der Geistliche unzählige Mittel, auf das Volk einzuwirken und durch moralische Bestechung die Wahl auf sich zu lenken. Noch neuerlich sei die Verweigerung der Absolution zu diesem Zwecke mit Erfolg angewendet worden. Wenn alle Bürger diese Vorteile genössen, wenn dem Laien dieselben Auskunftsmittel wir dem Klerus zu Gebote stünden, so möchte die beantragte
absolute Gleichheit zulässig sein. Weil nun aber faktisch bereits eine Ungleichheit bestehe, indem der Laie in der Kirche auf keine Weise mitzusprechen habe, müsse in bürgerlicher Hinsicht ein Unterschied als völlig zulässig erscheinen.

Der geistliche Stand sei mit den übrigen Ständen nicht vollkommen verwachsen ; er sei an Rom gebunden, und die alten nie aufgegebenen Ansprachen auf eigene Jurisdiktion.und Immunität werden nur zu bald wieder mit Macht auftauchen, wenn dem Klerus der Zutritt in die oberste Bundesbehörde offen stehe und ihm dadurch die Möglichkeit gegeben werde, seinen Ansprüchen Geltung zu verschaffen. Übrigens liege der Ausschluss der Geistlichkeit im Interesse dieses Standes selbst; denn wo die Geistlichen noch in die weltlichen Behörden gewählt worden, hätten sich in den Gemeinden nur Parteiungen erzeugt, welche nachteilig auf das kirchliche Leben *) Art. 58 des Entwurfs = Art. 63 der Bundcsverfassung 1848: ,,Stimmberechtigt ist jeder Schweizer, der das 20. Altersjahr zurückgelegt hat und Im übrigen nach der Gesetzgebung des Kantons, in welchem er seinen Wohnsitz hat, nicht vom Aktivbürgerrecht ausgeschlossen ist."

551 eingewirkt hätten. .Wenn der Geistliche seinen Beruf erfasse, wenn eiserne Funktionen so besorgen wolle, wie die Pflicht es gebiete, so habe er in der Gemeinde genug zu tun, und es erübrige ihm keine Zeit, sich iii die politischen Verhandlungen zu mischen. " ,,Der Geistliche dürfe nicht Parteimann werden, sondern vielmehr Labe er die Aufgabe, gleichmässig der Ratgeber aller seiner Pfarrangehörigen .zu sein. Auch die protestantische Geistlichkeit habe sich von hierarchischen Tendenzen noch nicht völlig frei machen können, sondern bis in die neuere .Zeit Strebungen kund gegeben, welche mit der allgemeinen Volksfreiheit im Widerspruche stehen.")

,,Wenn man auch nicht verkenne, dass in beiden Konfessionen würdige und treffliche Männer sich finden, welchen mit Beruhigung der Eintritt in die oberste Behörde gewährt werden dürfte, so könnten doch diese Ausnahmen nicht veranlassen, einem Stande dieses Eecht einzuräumen, welcher seiner ganzen Stellung nach auf die Politik nicht angewiesen sei."

,,Man habe zwar darauf hingewiesen, dass in mehreren benachbarten Staaten die Wahlfähigkeit des Klerus keiner Beschränkung unterliege ; allein die Erfolge, welche der Eintritt dieses Standes in die obersten gesetzgebenden Behörden gehabt, und die Umtriebe, welche zur Befriedigung des Ehrgeizes in Anwendung gekommen, dürften eben nicht zu den erfreulichen Erscheinungen gezählt werden. Die Schweiz habe übrigens auch nicht nötig, von einzelnen Kantonen Unterricht in der Demokratie zu nehmen, welche kaum in das erste Stadium ihrer politischen Entwicklung eingetreten seien. Dagegen spreche für den Artikel das Beispiel der nordamerikanischen Freistaaten, welche die Geistlichen ebenfalls ausschliessen, und ferner das Beispiel des demokratischen Genf, welches von jeher und trotz aller Gegenbemühungen der Geistlichen dennoch deren Zulassung zu politischen Be.amtungen beharrlich abgelehnt habe."

Die Tagsatzung lehnte den Antrag, die Worte ,,weltlichen ·Standesa zu streichen, ab. Für den Streichungsantrag stimmten nur 6 und 2/a Stände (Zürich, Zug, Solothurn, Schaffhausen, St. Gallen, Thurgau, Basel-Stadt, Appenzell A.-Rh.). So kam in ·die B u n d e s v e r f a s s u n g von 1848 als Art. 64, Abs. l, die Bestimmung : ,,Wahlfähig als Mitglied des Nationalrates ist jeder stimmberechtigte Schweizerbürger weltlichen Standes.tt

n.

In seinem Entwurf zu einem Bundesgesetz über die Revision ·der Bundesverfassung vom 17. Juni 1870 beantragte der B u n d e s r a t , in Art. 64 die Worte ,,weltlichen Standes"1 zu streichen.

Sowohl die nationalrätliche als die ständerätliche Kommission stimmten diesem Antrage zu. .

Aus den Verhandlungen der n a t i o n al r ä t l i c h e n K o m m i s s i o n (Protokoll, S. 155/6, Sitzung vom 15. März 1871) ist hervorzuheben :

552 ,,Der Referent der ersten Sektion (Auclerwert) bemerkt diesfalls, dass die Sektion, zuerst geteilter Ansicht, nun in ihrer Mehrheit dem Bundesrate sich anschliesse, welcher den Ausschluss der Geistlichen von der Wahlfähigkeit in den Nationalrat fallen lassen wolle. Nachdem man das Konfessionelle ausgeschieden von den politischen und bürgerlichen Elementen und nachdem man umgekehrt den Bürger vom Glaubensbekenntnisse unabhängig gemacht habe, dürfe von dem Ausschlüsse der Geistlichen wohl nicht mehr die Rede sein. Der Geistliche sei fortan auf dem Wahlfelde nichts mehr und nichts weniger als jeder andere Bürger. Seine Standesattribute und Funktionen fallen nicht mehr in Betracht, weshalb es unbillig wäre, ihn den übrigen Bürgern nachzusetzen."

,,Der Antrag, den systematischen Ausschluss eines Standes aufzuheben, wird vielfach unterstüzt. " ,,Von anderer Seite wird jedoch die Beibehaltung der gegenwartigen Bestimmung ebenfalls von verschiedenen Seiten befürwortet, indem darauf hingewiesen wird, dass man den Geistlichen, deren Tätigkeit auf andere Bahnen gerichtet sein müsse, selbst einen unangenehmen Dienst leisten dürfte, wenn man ihnen die Wahlfähigkeit in die oberste politische Behörde des Landes zuerkennen würde. Sodann könnte man mit Recht fragen, ob die Geistlichen, namentlich die von Rom so abhängigen katholischen Priester, wirklich die geeigneten Personen seien, um die so eminent wichtigen Fragen, wie Gewissensfreiheit, Glaubensfreiheit, Ehe als bürgerlicher Vertrag u. dgl., mit Liebe zu behandeln und dieselben im Geiste der Freiheit fortzubilden.

Und doch habe der Staat alles Interesse, darauf zu sehen, dass seine Angelegenheiten nur von durch und durch unabhängigen, für die Sache selbst begeisterten Repräsentanten in Obsorge und Pflege genommen werden."

,,Wirth-Sand : Wenn, was man noch bezweifeln wolle, die katholischen Geistlichen wirklich im angedeuteten Grade der Eigenschaften entbehren sollten, um in den Nationalrat gewählt zu werden, diese Voraussetzung wenigstens bei den protestantischen Geistlichen nicht zutrefle, da letztere nach ihrer ganzen Lebensstellung nicht in der Luge seien, eine den übrigen Bürgern entgegengesetzte Politik einzuschlagen, vielmehr beider Interessen vollkommen zusammengehen. Deshalb sollte man eventuell wenigstens die protestantischen Geistlichen vom
passiven Wahlrecht nicht ausschliessen."

Im Plenum des N a t i o n a l r a t e s wurde der Antrag(Carteret) eingebracht, die Worte ,,weltlichen Standes"1 wieder aufzunehmen.

Er unterlag jedoch mit 49 gegen 16 Stimmen (Protokoll, S. 395).

Im S t ä n d e rat blieb derselbe Antrag (Borei) ebenfalls in Minderheit (Protokoll vom 15. Februar 1872).

Der E n t w u r f der B u n d e s v e r s a m m l u n g vom 5. M ä r z 1872 enthielt daher als Art. 71 die Bestimmung: ,,Wahlfähig als Mitglied des Nationalrates ist jeder stimmberechtigte Schweizerbürger."'

III.

Als die Revisionsarbeiten wieder aufgenommen wurden, beantragte der B u n d e s r a t in seiner Botschaft vom 4. Juli 1873r

553: den Wortlaut von Art. 71 des verworfenen Entwurfes unverändert beizubehalten.

I n d e r n a t i o n a l r ä t l i c h e n K o m m i s s i o n wurde jedoch von Ruchonnet und Kaiser der Antrag gestellt, die Worte ,,weltlichen Standes"1 beizufügen (vgl. Protokoll der nationalrätlichen Kommission 1873, S. 40). Hierfür wurde geltend gemacht, es liege kein Grund vor, von dieser Bestimmung der Verfassung von 1848 abzugehen ; in manchen Kantonen habe gerade die Geistlichkeit ausserord entlich viel zur Verwerfung des letzten Verfassungsprojektes beigetragen, und überdies hätten viele Bürger gerade deswegen gegen den Entwurf gestimmt, weil er die bisherige Einschränkung nicht mehr enthielt. Gegen diesen Antrag wurde eingewendet, er sei schon deshalb nicht gerechtfertigt,, weil sonst die Leiter der zahlreichen Sekten ohne weiteres wahlfähig wären, während die Geistlichen der Landeskirchen von diesem Recht ausgeschlossen würden. Mit 9 gegen 6 Stimmen lehnte die Kommission den Antrag ab und nahm die Fassungdes bundesrätlichen Entwurfes an.

» Im N a t i o n a l r a t wurde in der Sitzung vom 28. November 1873 von Battaglini beantragt, das Erfordernis weltlichen Standes wieder aufzunehmen. Im Protokoll (S. 168) ist über die Verhandlungen folgendes zu lesen : ,,Dieser Antrag wird auch von anderer Seite unterstützt, indem die Geistlichen sich schon deshalb nicht über Rechtsungleichheit beklagen könnten, weil sie selbst schon gewisse Vorrechte geniessen und einzelne Lasten der= Bürger nicht mittragen, so insbesondere keinen Militärdienst leisten. Der Ausschluss der Geistlichen sei mehr vom Standpunkte der Stellenunvereinbarkeit, mithin zugunsten der Geistlichen aufzufassen und keineswegs als eine Missachtung ihres Standes. Der Geistliche stehe ausser der zivilen Sphäre und solle daher diesem Charakter gemäss nicht in die politische Debatte hineingezogen werden. Als Bürger möge er mitsprechen und mitwirken, dagegen sei es angemessener, wenn er nicht als Magistrat und als Staatsmann auftrete. Werde der Geistliche daher nicht als passiv wahlfähig erklärt, so solle dies nicht als eine Minderung, sondern eher als eine Mehrung des geistlichen Amtes betrachtet werden (Carteret, Segesser und Ruchonnet)."

,,Der Vergleich mit den Inkompatibilitäten treffe hier nicht zu, denn sonst müsste man sagen, dass nur die
angestellten Geistlichen nicht gleichzeitig Mitglieder einer politischen Behörde sein könnten. Der Ausschluss sei vielmehr gegen die Geistlichen als Stand gerichtet. Nun kennen wir aber einen solchen Ständeunterschied eigentlich nicht, namentlich nicht einen Priesterstand. Zudem liegen keine praktischen Gründe vor, um den Abänderungsanträgen Folge zu geben. Würden nur katholische Geistliche in Frage sein, so liesse sich vielleicht manches gegen die Zweckmässigkeit des Artikels anführen. Allein man habe es auch mit den protestantischen Geistlichen zu tun, die, was Bildung und Tüchtigkeit der Gesinnung betreffe, in der überwiegenden Mehrzahl jedem Bürger sich an die Seite setzen dürfen, und

554 egen diese wäre der Ausschluss geradezu eine Ungerechtigkeit. Aber auch fbetrachten, ie katholischen Geistlichen dürfe man nicht mit einem solchen Misstraueu und wenn auch der eine oder der andere in den Nationalrat gewählt werden sollte, so würde dadurch für den Staat wohl keine Gefahr ·entstehen, zumal nicht daran zu zweifeln sei, dass jeder Abgeordnete, auch wenn er neben einem Bischof sässe, nur seiner Überzeugung folgen und sich nicht durch Nebenrücksichten leiten lassen würde. Überdies sei in mehreren Kantonsverfassungen der geistliche Stand von den politischen Behörden keineswegs ausgeschlossen ; vielmehr haben in einzelnen Kantonen katholische und protestantische Geistliche die höchsten Magistratstellen bekleidet, ohne dass man Ursache gehabt hätte, mit ihrer Amtsführung nicht n jeder Beziehung zufrieden zu sein (Heer und Aepli)."

In der Abstimmung wurde die Fassung der Kommission angenommen und der Abänderungsantrag verworfen. In der Sitzung des Nationalrates vom 5. Dezember 1873 beantragte Häberlin, die Klausel, ,,weltliehen Standesa wiederherzustellen. Er machte .geltend (Protokoll, S. 189): ,,Der Ausschluss der Geistlichen sei, und das aus Gründen, schon seit 1848 feststehendes Bundesrecht, und man sehe keinen Grund ein, warum davon abgewichen werden solle. Die Mitwirkung von Geistlichen in den politischen Behörden sei schon im Interesse dieser letztern wenig wünschenswert, indem leicht Tendenzen ihre Vertretung fänden, welche zu den Anschauungen des modernen Staates nicht passen würden. Die Beseitigung der frühern Schranke im Verfassuugsentwurf von 1872 habe zudem im Volke keinen günstigen Eindruck gemacht, indem mau besorge, dass die Geistlichen auch in den Kantonen mehr als nötig mit Politik sich beschäftigen und einen politischen Einfluss zu erringen suchen würden."

Der Nationalrat lehnte aber den Antrag Häberlin ab.

Die s t ä n d e r ä t l i c h e K o m m i s s i o n nahm auf Antrag von Vigier den Zusatz ,,weltlichen Standes" an (Protokoll, S. 37) und der S t ä n d e r a t stellte sich auf den Boden seiner Kommission, indem er mit 22 gegen 18 Stimmen der Fassung der 48er Verfassung gegenüber dem Vorschlag des Bundesrates den Vorzug .gab (Protokoll, S. 358): Die Frage gelangte dann am 24. Januar 1874 wieder vor ·den N a t i o n a l r a t . Dem Protokoll (S. 271) ist hierüber
folgendes zu entnehmen: ,,Für die Kommission wird von Kuchonnet bemerkt, dass schon hie 'und da unter dem Schilde einer entsprechenden Weitherzigkeit darauf ge·drungen werde, auch dem geistlichen Stande die Pforten der eidgeuössischen Ratsäle aufzuschliessen und die Würdenträger sowohl der protestantischen als der katholischen Geistlichkeit an den politischen Verhandlungen der Volksvertretung teilnehmen zu lassen. Wenn man aber die Erfahrungen und die Tatsachen zu Rate ziehe, so könne man jenen Standpunkt kaum teilen, da die Eidgenossenschaft unter der jetzigen Verfassungsbestimmung, welche die Geistlichkeit von der politischen Arena fernhalte, 25 glückliche Jahre ·vollendet und insbesondere die religiösen Krisen erfolgreich bestanden habe.

555 3n dieser Anschauung werde man durch die Beispiele der Kantone noch bestärkt, indem gerade in den hervorragendsten der katholischen Stände, wie in Luzern, Freiburg, Solothurn und Tessin, die Geistlichkeit von den politischen Eatsverhandlungen ebenfalls ausgeschlossen sei. Zudem könne es sich fragen, ob man dem betreffenden Stande selbst einen Dienst leistete, wenn man ihm die Ratsäle öffnete ; ob seine Stimme lieber gehört und sein JEinfluss gehoben würde, wenn er mit unter die Volksvertretung aufgenommen würde. Man müsse dies bezweifeln. Vielmehr könnte der Nimbus sich hie und da verringern, wenn man nicht mehr bloss die Mitglieder eines bevorzugten Standes, sondern nur noch den Menschen, mit seinen Tugenden und Fehlern, mit seinen Vorzügen und Mängeln vor sich sähe. Freilich müssten auch die Geistlichen als blosse Beamte aufgefasst werden, wenn ihnen der Zutritt zu den Katen gestattet werden sollte; sie müssten sich selbst als einfache Gesellschaften begreifen lernen und keine andern Ansprüche erheben wollen als ähnliche, wissenschaftliche, künstlerische und humanistische Vereine. Allein dies werde kaum möglich sein, solange noch immer von Staat und Kirche gesprochen, diese beiden gleichsam als ebenbürtige Substanzen einander gegenübergestellt zu werden pflegen, und solange die Kirche immer noch bestimmte Ansprüche gegen den Staat erhebe und gewisse Garantien von ihm verlange. Könnten die Geistlichen als blosse Staatsbeamte und als gewöhnliche Bürger betrachtet werden, so wäre gegen die Zulassung derselben in den politischen Körperschaften wohl nichts einzuwenden. Allein die Kirche selbst werde sich an einer solchen bescheidenen Stellung nicht genügen lassen. Die Mitglieder einer Korporation, welche fortwährend ihre Prärogativen vor andern Gesellschaften verteidigen und besondere Interessen zu verfechten nicht entraten können, welche gegenüber dem Staate nur zu oft den Standpunkt der Kontroverse und der Opposition einzunehmen sich berufen fühlen, werden sich kaum entschliessen können, die Rolle von gewöhnlichen Bürgern einzunehmen. Die Vertreter des Volkes nehmen in ihrem übrigen Leben alle solche Stellungen ein, welche sie zum Volke und zum Staate in die nächsten Beziehungen bringen, sei es, dass sie den Militärstand oder die Beamtenklasse, die industrielle oder kommerzielle Tätigkeit,
die Wissenschaft und Kunst, oder die Pflege der Landwirtschaft repräsentieren. Das Interesse solcher Repräsentanten wisse sich eins mit demjenigen des Staates, während die Kirche noch fortwährend ihre besondern Staudeszwecke verfolge und gewisse Rechte gegenüber dem Staate zu behaupten sich anschicke. Aus diesen Rücksichten vermöge man der erwähnten Weitherzigkeit, welcher aber ein Anflug von Sentimentalität nicht fehle, um so weniger nachzugeben, als die Verfassung und Gesetzgebung von jener Idee schon dadurch abgewichen sei, dass auch die vom Bundesrate gewählten Beamten nicht in die eidgenössischen Räte gewählt werden können. Passend erscheine es daher, davon auch denjenigen Stand fernerhin auszuschliessen, welcher besondere Rechte zu haben vermeine und ·die Tendenz verfolge, dem Staate mehr oder weniger sich gegenüberzustellen oder ihm Konkurrenz zu machen."

,,Von anderer Seite wird dagegen das Festhalten am frühern Beschluss befürwortet. Mit dem Ausschluss der Geistlichen gerate man schon mit dem Grundsatze in Widerspruch, demzufolge niemand ohne zwingende Gründe seiner politischen Rechte verlustig gehen dürfe. Eine Ungerechtigkeit liege aber im Ausschlüsse namentlich gegenüber der protestantischen Geistlichkeit. Die protestantischen Geistlichen seien Bürger wie andere und betrachten sich auch als solche; sie seien ferner durch ihre Familien Tom Volke nicht geschieden, sondern mit demselben aufs engste verbunden ; Bundesblatt. 73. Jahrg. Bd. I.

42

556 sie seien auch in den meisten Teilen des Vaterlandes die Träger des politischen, religiösen und sittlichen Fortschrittes. Aus ihrem Schosse seien eine Reihe von Beamten hervorgegangen, welche dem Bunde und den Kantonen ausgezeichnete Dienste geleistet haben, und gerne weise man darauf hin, dass gerade gegenwärtig die ersten Stellen der Eidgenossenschaft von Männern, hervorgegangen aus jenem Stande, mit Auszeichnung und mit allen Ehren bekleidet seien. Es wäre geradezu unverständlich, wenn man eine solche Summe von Tüchtigkeit .und Intelligenz ausschliessen wollte, während man mit so vieler Liebe darauf hinwirke, den Falliten den Vollgenuss der bürgerlichen Rechte wieder zuzuwenden. Die protestantischen Geistlichen verfolgen keine Sonderinteressen, und darum liege auch kein Grund vor, sie ungünstiger als andere Bürger zu behandeln, und die Besorgnis vor den katholischen Geistlichen dürfe nicht so weit getrieben werden, dass man gegen die protestantischen eine wahre Ungerechtigkeit sich zu schulden kommen lasse. Dem katholischen Klerus aber dürfe man nicht einmal die Ehre antun, ihn merken zu lassen, dass er gefürchtet werde. Übrigens möge man .nicht vergessen, dass die eigentliche Maulwurfsarbeit dieses Klerus auf der Kanzel und im Beichtstuhl und nicht im Ratsaal betrieben werde, und dass eine etwaige Besorgnis sich jedenfalls wesentlich nur auf die dortige Wirksamkeit beziehen könne. Der römische Geist werde nicht verbannt, wenn schon die ,,Kutten" ausgeschlossen werden; die Gewährung aller politischen Rechte möchte eher dazu angetan sein, auch diesen Klerus mehr und mehr den übrigen Bürgern anzunähern.

Ein weiterer Grund, die Geistlichkeit nicht auszuschliessen, liege in deren Verhältnis zum Ständerate. In den Ständerat seien die Geistlichen ohne anderes wählbar, und bekanntlich hätten seit Jahren einzelne Mitglieder dieses Standes dort ihren Platz eingenommen. Nun wäre es offenbar ein Widerspruch und eine eigentümliche Erscheinung, wenn dem gleichen Stande in Beziehung auf den Nationalrat das verweigert werden wollte, dessen er sich bezüglich des Ständerates bereits seit 25 Jahren zu erfreuen habe (Wirth)."

In der Abstimmung wurde der Antrag der Kommission mit 58 gegen 43 Stimmen angenommen und somit Übereinstimmung mit dem Ständerat erzielt.

Es wurde daher in den Entwurf, der dann als Verfassung vom 29. Mai 1874 zur Annahme gelangte, diejenige Bestimmung aufgenommen^ die heute noch geltendes Recht ist (Art. 75 BV).

C. Die Motion Knelhvolf.

Die Bundesverfassung sieht grundsätzlich davon ab, Vorschriften über die Voraussetzungen der Wählbarkeit für den Ständerat aufzustellen.. Sie betrachtet die Mitglieder dieser Behörde als Vertreter der Kantone und überlässt es folgerichtig*) *) Zu Unrecht sagt Rüttimann (Das nordamerikanische Bundesstaatsrecht verglichen mit den politischen Einrichtungen der Schweiz, Zürich 1867, I, S. 137): ,,In der Schweiz sind die Geistlichen unfähig, Mitglieder des Nationalrates, des Bundesrates und des Bundesgerichts zu sein; im Ständerat können sie sitzen. Es ist dies eine Inkonsequenz, welche ich.

nicht zu erklären vermag."

55'f dem kantonalen Rechte, festzustellen, wer als Mitglied des Ständerates wahlfähig ist. Sie stellt es mithin dem Kanton anheim, ob er die Personen geistlichen Standes zur Wahl in den Ständerat zulassen oder sie davon ausschliessen will.

Im Gegensatz hierzu bestimmt die Bundesverfassung selbst, wer als Mitglied des Nationalrates wahlfähig ist. Sie erklärt in Art. 75 jeden stimmberechtigten Schweizerbürger weltlichen Standes (,,citoyen suisse laïque", ,,cittadino svizzero dello stato secolare") als wählbar (vgl. Art. 13, Abs. l, des Bundesgesetzes betreffend die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen vom ,19. Juli 1872)*).

Die Motion Knellwolf verlangt nun, dass der Bundesrat sich darüber äussere, ob nach seiner Auffassung die Ausschlussbestimmung des Art. 75 BV auf die reformierten Pfarrer und ,,Diener am Worte11 anwendbar sei.

Es wird mithin eine Frage der Auslegung zur Erörterunggestellt, die Frage nämlich, welche Reichweite dem Art. 75 BV zukomme : ob die Bestimmung die Angehörigen der protestantischen Kirche überhaupt erfasse und, bejahendenfalls, welche Personen in ihr als in den Nationalrat nicht wählbare Personen geistlichen Standes angesprochen werden können. Wir halten in den folgenden Darlegungen diese beiden Seiten der durch die Motion aufgeworfenen Frage auseinander.

1.

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Die Motion Knellwolf geht von der Annahme aus, dass der katholische Klerus von der Ausschlussbestimmung erfasst werde, äussert aber Zweifel, und wirft die Frage auf, ob die protestantischen Geistlichen unter die V erfassungs Vorschrift fallen.

Betrachtet man den Wortlaut des Art. 75 B V, so erscheint dieser Zweifel als grundlos. Die Bestimmung ist allgemein ge*) Der Geltungsbereich des Art. 75 BV wird materiell erweitert durch die Bestimmungen des Art. 96 BV einerseits und Art. 108 BV und Art. 2 des Bundesgesetzes über die Organisation der Buudesrecihtspflege vom 22, März 1893 und 6. Oktober 1911 anderseits; danach kann zum Mitglied des Bundesrates oder des Bundesgerichts jeder Schweizerbürger, der in den.

Nationalrat wählbar ist, ernannt werden. -- In diesem Zusammenhang mag noch darauf hingewiesen werden, dass nach Art. 110, Abs. 4, des Bundes-' gesetzes über die Organisation der Bundesreehtspflege vom 22. März 1893 und 6. Oktober 1911 die Geistlichen als eidgenössische Geschworene nicht wählbar .sjnd und dass nach Art. 53 BV und nach Art. 41 ZGB die Zivily Standsregister .von weltlichen Beamten geführt werden.

..·

558

fasst. Sie benimmt allen Personen geistlichen Standes die Wählbarkeit in den N,ationalrat, mögen sie dieser oder jener Konfession oder Kirche angehören.

Aus den Materialien zu der Ausschlussbestimmung ergibt sich, dass hinter dieser Willenserklärung der Wille des Verfassungsgesetzgebers steht. In den Jahren 1848 und 1874 war man sich dessen bewusst, dass nicht nur die katholische, sondern auch die protestantische Kirche durch die Vorschrift getroffen wird. Nur die Motive, die den Gesetzgeber dazu geführt haben, die katholischen und die nichtkatholischen Geistlichen von der Wahl in den Nationalrat auszuschliessen, scheinen verschiedener Art gewesen zu sein. Jene unterwarf man in der Hauptsache wohl deshalb der Bestimmung, weil man deren Nichtwählbarkeit für innerlich gerechtfertigt ansah, ' diese, weil man der Massnahme das Verletzende dadurch nehmen wollte, dass man deren Geltungsbereich nicht auf die katholischen Geistlichen beschränkte.

Wenn bei den Nationalratswahlen reformierte Geistliche gewählt wurden, oder die Wahl eines solchen in Frage stand, ging man immer von der Auffassung aus, dass Art. 75 BV anwendbar sei. Dies zeigt sich in den 3 Fällen, in denen die Wahl zu Äusserungen der Behörden Anlass gegeben hat: 1. Das Protokoll des Nationalrates vom 19. Juni 1896 enthält zur Validierung der Wahl des Nationalrates François Lagier von Nyon folgendes: Die Bedenken, welche gegen die Wählbarkeit des Herrn Lagier in einzelnen waadtländischen Blättern geäussert worden seien, erscheinen der Kommission nicht stichhaltig. Allerdings sei Herr Lagier seinerzeit funktionierender Geistlicher gewesen, er habe aber auf alle-pastoralen Funktionen verzichtet und figuriert auch im waadtländischen Staatskalender nicht unter den aktiven, sondern unter den zurückgetretenen Geistlichen. Unter solchen Umständen steht Art. 75 der Bundesverfassung seiner Wahl nicht entgegen. Der Rat pflichtet ohne Diskussion bei und das anwesende neue Mitglied wird reglementsgemäss beeidigt.

2. Im Protokoll vom 24. Oktober 1898 steht folgender Eintrag: Der Bundesrat teilt mit, dass am 11. September abhin im 42. eidgenössischen Wahlkreis am Platz des verstorbenen Herrn j. A. Koch für den Rest der gegenwärtigen Amtsperiode zum Mitgliede des Nationalrates gewählt worden sei Herr Dr. Emil Hofmann, Pfarrer zu Stettfurt, Thurgau. Einsprachen gegen diese Wahl seien innert nützlicher Frist nicht eingelangt; auch habe Herr Hofmann für den Fall seiner Wahl den Austritt aus dem

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thurgauischen Ministerium erklärt. Die Kommission (Berichterstatter Herr Bühlmann) beantragt unter solchen Umständen Validation der Wahl, was ohne Gegenantrag beschlossen wird*).

3. Das Protokoll des Nationalrates vom 3. Dezember 1917 sagt: Nachdem Herr Knellwolf der Kommission die Erklärung abgegeben hat, er bestätige, dass er in Konsequenz seiner am 10. und 27. November 1917 abgegebenen Erklärungen (vgl.

Bundesbl. 1917, IV, 706 ff.) vom Pfarramte und vom Ministerium der bernischen Landeskirche zurückgetreten sei, » beantragt die Kommission, die Wahl des Herrn Knellwolf als gültig zu bestätigen.

Der Rat erklärt sich hiermit einverstanden.

: Die klare Rechtslage fand ihren Ausdruck auch in der schweizerischen staatsrechtlichen Literatur; eine Kontroverse darüber, ob sich die Ausschlussbestimmung von Art. 75 BV nur auf katholische oder auch auf andere Geistliche beziehe, gab es nicht. B l u m er erklärt z. B. in seinem Handbuch des Schweizerischen Bundesstaatsrechtes (1. Auflg., Bd. II, 8. 9): ,,Wahlfähig als Mitglied des Nationalrates ist jeder stimmberechtigte Schweizerbürger weltlichen Standes. Die Geistlichen beider Konfessionen sind also von der Wählbarkeit ausgeschlossen." D ü b s geht in seinem Buche ,,Das öffentliche Recht der schweizerischen Eidgenossenschaft" (II. Teil, S. 49) ebenfalls von der Annahme aus, dass sich die Ausschlussklausel von Art. 75 BV im Grundsatze auf Geistliche jeder Konfession bezieht, wenn er bemerkt : ,,Effektiv trifft der Ausschluss nur die katholischen Geistlichen, da bei diesen ihre Qualität unzerstörbar ist, während die reformierten Geistlichen und diejenigen anderer Konfessionen nur, während sieNationalräte sind, den Chorrock auszuziehen brauchen, den sie nachher beliebig wieder anziehen können." Z o r n stellt in seiner Abhandlung ,,Über einige Grundfragen des Kirchenrechts und der KircheiipoHtik" (S. 82) den Satz auf: ,,Die Bestimmung bezieht sich allgemein auf alle Geistlichen.a V. S a l i s äussert sich im Artikel ,,Bundesversammlung" in Reichesbergs Handwörterbuch (Bd. l, S. 698) im gleichen Sinne wie Dubs. S c h o l l e n b e r g e r be*) Der Bundesarchivar, dem wir diese Feststellungen verdanken, teilt mit, dass in betreff anderer Mitglieder des Nationalrates, die früher reformierte Geistliche gewesen waren, sich in den Protokollen des Nationalrates
nichts finde, weil diese Personen im Momente der Wahl nicht mehr funktionierende Geistliche waren oder schon früher den Austritt aus dem Ministerium erklärt hatten. So fehle jede Bemerkung bei der Validierung folgender Wahlen : Arthur Engster, Landammann; Eugster-Züst ; Edm. v. Steiger,.

Regierungsrat; Ludwig Karrer, Regierungsrat; Albert Weyermann, Staatsschreiber.

S60

merkt in seinem Kommentar zur Bundesverfassung (S. 495) ausdrücklich, dass Art. 75 BV auch die Mitglieder des Ministeriums (wie der evangelische Fachausdruck laute) von der Wählbarkeit ausschliesst. B u r c k h a r d t nimmt in seinen Ausführungen zu Art. 75 BV (Kommentar, I. Aufl., 8. 717 ; II. Aufl., 8. 667) ohne weiteres an, dass sich die Ausschlussklausel auch auf andere als katholische Geistliche bezieht. Dieselbe Auffassung findet sich schliesslich bei L a m p e r t (,,Das schweizerische Bundesstaatsreeht", 8. 95).

Die Zweifel darüber, ob Art. 75 BV überhaupt auf protestantische Geistliche anwendbar sei, beruhen auf der Annahme, es fehle in der protestantischen Kirche überhaupt an dem Standesgegensatz zwischen Laien und Geistlichen. Zur Begründung der .

Annahme kann auf im protestantischen Kirchenrecht bestehende Lohrmeinungen hingewiesen werden, die die Existenz eines Standesunterschiedes zwischen den beiden Personenkategorien grundsätzlich leugnen. Solche Lehrmeinungen gehen von besondern Auffassungen vom Wesen des Standesgegensatzes aus. Diese Auffassungen sind aber auch dann, wenn sie mit der kirchlichen Lehre übereinstimmen, nicht massgebend. Bestimmend ist vielmehr, nach welchen Kriterien die Bundesverfassung die Geistlichen von den übrigen Glaubensgenossen scheidet. Die Bundesverfassung aber zieht, wie wir unten darzutun versuchen, die Grenzlinie zwischen den beiden Ständen so, dass in jeder kirchlichen Gemeinschaft -- also auch in der protestantischen -- die ständische Gliederung, die die Voraussetzung der Anwendung des Art. 75 BV bildet, bestehen oder sich entwickeln kann.

Wir kommen mithin zum Schluss, dass auch die protestantische Kirche von der Bestimmung des Art. 75 BV erfasst wird.

II.

Die weitere, durch die Motion Knellwolf zur Diskussion gestellte Frage wünscht darüber Aufschluss, welche Angehörige der protestantischen Kirche als in den Nationalrat nicht wählbare Personen geistlichen Standes zu betrachten seien.

Nach Art. 75 teilt sich die Gesamtheit der Schweizerbürger in solche geistlichen und weltlichen Standes. Entscheidend ist, wer geistlichen Standes ist : alle Personen nicht geistlichen sind weltlichen Standes.

Bundesverfassung und Bundesgesetzgebung sehen davon ab, den Begriff des geistlichen Standes zu umschreiben. Eine die beiden Stände trennende Grenzlinie muss daher auf interpretativem

561 Wege gefunden werden. Die Gesetzesmaterialien geben über diese Auslegungsfrage nicht hinreichenden Aufschluss. Trotzdem die Vorschrift seit 70 Jahren gilt, waren die mit deren Anwendung betrauten Behörden nicht in der Lage, eine ins einzelne gehende Auslegungspraxis auszubilden.

Nach unserer Meinung ist die Existenz eines g e i s t l i c h e n S t a n d e s d a n n a n z u n e h m e n , w e n n sich innerhalb einer religiösen Gemeinschaft eine Kat e g o r i e v o n G l a u b e n s g e n o s s e n d u r c h eine besondere A r t o d e r e i n b e s o n d e r e s M a s s geistlicher B e t ä t i g u n g von den andern Glaubensgenossen unterscheidet u n d w e n n s i e e i n e v o n d e n ü b r i g e n Glaubensgenossen verschiedene Stellung in der Gemeinschaft einnimmt.

Aus dieser Umschreibung dessen, was unter geistlichem Stande im Sinne der Bundesverfassung zu verstehen ist, ergibt sich im einzelnen folgendes : Die Person geistlichen Standes als solche wird von der Bestimmung des Art. 75 BV erfasst. Sie ist nicht in irgendeiner sonst ihr zukommenden Eigenschaft -- z. B. als vom Kanton oder Gemeinde ernannter oder besoldeter Funktionär -- von der Wählbarkeit in den Nationalrat ausgeschlossen.

Die Betätigung kann nur dann als eine geistliche angesehen werden, wenn sie sich auf das innere Verhältnis des Gläubigen zum Glaubensinhalt bezieht. Die auf die äussere Ordnung des kirchlichen Lebens, auf die Organisation der religiösen Gemeinschaft gerichtete Arbeit von Kirchgemeinderäten und Kirchenpflegen hat weltlichen Charakter.

Erforderlich ist eine verschiedene Art oder ein verschiedenes Mass geistlicher Betätigung in der Gemeinschaft. Die geistliche Betätigung ist eine in ihrer Art verschiedene, wenn die einen Gemeinschaftsglieder von geistlichen Funktionen prinzipiell ausgeschlossen sind, die andern zustehen. Sie ist eine in ihrem Mass verschiedene, wenn die geistlichen Funktionen prinzipiell Gemeingut aller Glaubensgenossen sind, wenn aber den einen Gemeinschaftsgliedern geistliche Funktionen reserviert sind, von denen die andern ausgeschlossen sind. Gleichgültig ist, ob die besondere geistliche Betätigung den Hauptberuf oder einen Nebenberuf des sich Betätigenden bildet und ob sie amtlichen oder nichtamtlichen Charakter hat. Unerheblich ist fernerhin, ob die religiöse Gemeinschaft die besondere geistliche Betätigung nur unter bestimmten Voraussetzungen -- man denke an die Ab-

562 solvierung theologischer Studien oder Prüfungen, an die Ablegung der Gelübde, an den Empfang der Ordination -- zulässt oder ob sie davon absieht, die besondere geistliche Betätigung an spezielle Voraussetzungen zu knüpfen.

Endlich wird verlangt, dass die Stellung der Kategorie von Glaubensgenossen, denen eine besondere geistliche Betätigung übertragen ist, sich von der Stellung der übrigen Glaubensgenossen abhebt. Es kommt nicht darauf an, welche Stellung der einzelne Glaubensgenosse im Hinblick auf seine persönlichen Qualitäten in der Gemeinschaft geniesst; massgebend ist die Stellung, welche die mit den geistlichen Funktionen betraute Personenkategorie einnimmt. Der Standesunterschied zwischen den beiden Personenklassen kann statutarisch gegeben sein; es genügt aber auch, wenn sich in der religiösen Gemeinschaft die Anschauung ausgebildet hat, dass den Trägern bestimmter geistlicher Funktionen eine von den übrigen Glaubensgenossen differenzierte Stellung zukommt.

Wenden wir die von uns gegebene Umschreibung der Person geistlichen Standes auf die beiden grossen historischen Kirchen unseres Landes an, so gelangen wir zu folgenden Ergebnissen: Mit Empfang einer der höhern Weihen tritt nach katholischem Kirchenrecht der Ordinierte in den vom Laienstand scharf geschiedenen Klerikalstand ein *) ; dem geistlichen Stande im Sinne des Art. 75 BV kann er aber erst dann zugerechnet werden, wenn er von der ihm durch die Ordination verliehenen spiritualis faeultas Gebrauch macht, wenn er als Ordinierter sich in der religiösen Gemeinschaft betätigt. Nach katholischem Kirchenrecht kann die dem Ordinierten verliehene spirituelle Befähigung ihm weder entzogen, noch aufgehoben werden ; die Zugehörigkeit zum geistlichen Stande im Sinne der Bundesverfassung verliert er aber, wenn er sich als solcher nicht mehr betätigt, wenn er sich bei*) Ulrich Stutz (Der Geist des Codex Juris canonici, Stuttgart 1918) charakterisiert den Gegensatz im allgemeinen treffend, wenn er sagt: ,,Die katholische Kirche ist die Kirche des Klerus. Selbstverständlich nicht in dem Sinne, dass ihre Heilsarbeit nicht auch, ja sogar -- .vermöge der fast erdrückend grossen Überzahl der Laienschaft -- vornehmlich den Laien zugute käme. Wohl aber in dem, dass nach ihrem Rechte, um das es uns bei unsern Untersuchungen ausschliesslich zu tun ist,
die Laien mehr nur als Schutzgenossen und allein die Kleriker als Vollgenossen erscheinen.

Die Laien bilden lediglich das zu leitende und zu lehrende Volk, das gegen gläubige Annahme der von der Kirche gelehrten Heilswahrheit und durch gehorsame Unterwerfung unter sie ihrer Heilswohltaten und des nach ihrer Lehre einzig durch sie vermittelten Heiles teilhaftig werden soll. Das Recht der katholischen Kirche ist fast ausnahmslos Geistlichkeitsrecht."

563

spielsweise einem weltlichen Berufe zugewendet hat. -- Der Novize einer der geistlichen Gesellschaften der katholischen Kirche gehört, auch wenn er das geistliche Kleid trägt, nicht dem geistlichen Stande im Sinne der Bundesverfassung an. Erst durch Ablegung der Gelübde wird der Katholik Mitglied des Ordens oder der Kongregation. Wenn er damit auch nicht in den Klerikalstand eintritt, so erhält er doch eine Stellung in der katholischen Kirche, die ihn in hinreichendem Masse von den übrigen Gläubigen differenziert. Betätigt er sich als Mitglied der geistlichen Gesellschaft, so kann angenommen werden, dass er dem geistlichen Stande (Art. 75 B V) angehört.

Die Aufnahme in das Ministerium einer reformierten Landesoder Freikirche gibt dem Aufgenommenen die Qualität eines verbi divini minister, eines ,,Dieners am Worttt. Der Aufgenommene erhält die Befähigung, ein geistliches Amt zu bekleiden und die der Kirche zustehenden Befugnisse auszuüben. Weiter jedoch reicht die Wirkung der Aufnahme nicht. Mit der Stellung als verbi divini minister ist insbesondere keine geistliche Betätigung verbunden. Ein Standesgegensatz zwischen dem Mitglied des Ministeriums als solchem und den Mitglaubensgenossen wird kaum feststellbar sein. Der ,,Diener am Wort a als solcher ist nicht geistlichen Standes im Sinne der Bundesverfassung. Er kann es aber werden, wenn er besondere geistliche Funktionen ausübt und wenn in der religiösen Gemeinschaft seine Stellung sich von der Position der übrigen Glaubensgenossen abhebt.

Diese Voraussetzungen dürften beim reformierten Pfarrer stets, beim Pfarrverweser in der Regel gegeben sein.

Wenn auch die Frage, wer geistlichen Standes im Sinne der Bundesverfassung ist, sich für die katholische und reformierte Kirche von den nämlichen Gesichtspunkten aus beantwortet, so zeigt sich doch, dass die bei den beiden Kirchen der Beurteilung zugrunde liegenden Verhältnisse verschieden sind : In der katholischen Kirche ist die ständische Gliederung, in der reformierten dagegen die besondere geistliche Betätigung das Primäre; dort erscheint die besondere geistliche Betätigung lediglich als Rechtsfolge des status clericalis, hier dagegen entwickelt sich die Differenzierung nach Ständen tatsächlich aus der Verschiedenheit der geistlichen Betätigung der Gläubigen.

Nach Bundesrecht beurteilt sich,
welche Merkmale den geistlichen vom weltlichen Stand unterscheiden. Die Frage aber, ob bei einer bestimmten Personenkategorie diese Merkmale gegeben sind, entscheidet sich nach den internen Verhältnissen der re-

ligiösen Gemeinschaft: nach den Satzungen, die sie sich gegeben hat, nach den Übungen, die in ihrem Schosse gelten und nach den Anschauungen, die bei ihr bestehen. Im Zweifel ist abzustellen auf das, was tatsächlich gilt, nicht auf das, was rechtlich vorgeschrieben ist.

D. Die Motion Daucourt.

Die Motion Daucourt verlangt Prüfung der Frage, ob nicht Art. 75 BV in dem Sinne abzuändern sei, dass die Person geistlichen Standes in den Nationalrat wählbar werde.

Die Frage ist vom Standpunkt der heute bestehenden Verhältnisse und Anschauungen aus ins Auge zu fassen. Wir haben nicht zu untersuchen, ob der Erlass der Ausschlussbestimmung historisch, d. h. vom Standpunkt des Gesetzgebers der Jahre 1848 und 1874 aus gerechtfertigt erscheint und ob sich bejahendenfalls die Verhältnisse oder deren Beurteilung und Einschätzung im Laufe der Jahre und Jahrzehnte geändert haben. Festzustellen ist vielmehr, ob h e u t e die Aufrechterhaltung der Ausschlussbestimmung begründet ist: ob an ihr festzuhalten wäre, wenn die Bundesverfassung zur Stunde total revidiert würde Ob die Personen geistlichen Standes vom Parlamente ferngehalten werden sollen, beurteilt sich nicht vom Standpunkt des Geistlichen oder der Kirche aus. So wenig das Literesse des Geistlichen, sich im Parlamente aktiv zu betätigen, und das Interesse der Kirche, im Bäte der Nation vertreten zu sein, ebensowenig fällt deren Interesse am Ausgeschlossensein in Betracht. Bei der Beratung der Verfassungsbestimmung ist zwar mit Nachdruck und -- wir wollen annehmen -- nicht lediglich zur Maskierung einer antikirchlichen oder antiklerikalen Gesinnung geltend gemacht worden, es liege im Interesse des Pfarrers selbst, wenn er den Versuchungen und Gewissenskonflikten des aktiven politischen Lebens entrückt sei ; es liege auch im Interesse des geistlichen Standes und damit mittelbar der Kirche, wenn der Seelenhirt vom politischen Gezanke nicht berührt werde und über den im politischen Kampfe entzündeten Leidenschaften stehe.

Der Verfassungsgesetzgeber hat sich bei Beantwortung der Frage, ob die Ausschlussbestimmung des Art. 75 BV aufzuheben sei, nicht von solchen Erwägungen und Bücksichten leiten zu lassen. Die Interessen der Geistlichen, des geistlichen Amtes und der Kirche sind für ihn nicht niassgebend.

Entscheidend ist vielmehr, ob es sich vom Standpunkt der Allgemeinheit aus empfiehlt, den Personen geistlichen Standes den

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Zutritt zum Nationalrat zu verschliessen. Von diesem Standpunkte aus beurteilt sich die Frage, wenn geprüft wird, ob die Ausschlussbestimmung bewährten Gesetzgebungsgrundsätzen widerspreche und wenn untersucht wird, ob die vertretenen Kreise einen begründeten Anspruch auf Beseitigung oder ob der Staat ein berechtigtes Interesse an der Beibehaltung der Ausschlussbestimmung habe.

Der Gesetzgeber eines Eechtsstaates wird selbst dann, wenn er .hierzu nicht verpflichtet ist, die Maxime befolgen, wonach Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln ist. Er wird sich fragen, ob der Unterschied zwischen Personen weltlichen und geistlichen Standes hinreichend ist, um die Wählbarkeit der einen und die Nichtwählbarkeit der andern zu rechtfertigen. Dabei wird er sich vergegenwärtigen, dass die Betätigung des Geistlichen vor allem auf Dinge, die «in einer stillen heiligen Unwirklichkeit» gelegen sind, die des Volksvertreters aber in der Hauptsache auf die sich widerstreitenden Wirklichkeiten des Lebens gerichtet ist; dass der Geistliche den Menschen, deren Seelenheil ihm anvertraut ist, den inneren und äusseren Frieden geben möchte, der Politiker dagegen Kampf und Streit in Kauf nimmt, wenn das politische Interesse es erfordert; dass die innere Überzeugung beim Geistlichen als Motiv des Handelns schwerer wiegt als beim Politiker. Es dürfte dem Gesetzgeber ein leichtes sein, die Merkmale, die den Typus des Geistlichen von dem des Politikers unterscheiden, zu vermehren. Trotzdem wird sioh ihm die Überzeugung aufdrängen, dass weder die einzelnen Unterschiede noch deren Summe imstande sind, eine différentielle Behandlung der beiden Personenkategorien hinsichtlich ihrer Wählbarkeit in den Nationalrat zu begründen. Sie lassen die Geistlichen vielleicht als zum Volksvertreter weniger geeignet erscheinen, sie machen ihn aber nicht hierzu ungeeignet. Sie können zur Folge haben, dass der Geistliche nicht zur Wahl vorgeschlagen oder, wenn vorgeschlagen, nicht gewählt wird, sie sollten aber nicht dazu führen, ihn von der Wahl auszuschliessen. Dem Art. 75 B V kann mithin der Vorhalt rechtsungleicher Behandlung gleicher Verhältnisse nicht -erspart bleiben. Der Gesetzgeber kann sich auch nicht darauf berufen, dass, wenn auch nicht generell, so doch für einzelne Kategorien von Geistlichen der Ausschluss als innerlich
begründet erscheine; denn er beschränkt den Ausschluss nicht auf diese Kategorien; er sieht ihn allgemein vor.

Der Ausschlussgrund des geistlichen Standes würde jedenfalls dann berechtigte Interessen nicht verletzen, wenn er sich in innerer Harmonie mit den übrigen Wahlunfähigkeitsgründen befände. Eine solche innere Übereinstimmung besteht jedoch nicht. Art. 75 BV be-

566 schränkt den Kreis der Wahlunfähigen auf ein Minimum. Abgesehen von den Personen geistlichen Standes, sind nur die Ausländer und die nicht stimmberechtigten Inländer von der Wählbarkeit ausgeschlossen. Es unterliegt nun aber keinem Zweifel, dass in dieser Frage der Geistliche dem Ausländer nicht gleichgesetzt werden darf.

Er befände sich auch in unangemessener Gesellschaft, wenn er neben die nichtstimmberechtigten Inländer: neben die vom Strafrichter in den bürgerlichen Ehren und Rechten eingestellten Verbrecher, neben die Entmündigten, Korikursiten und Armengenössigen gestellt würde.

Der Ausschliessungsgrund des geistlichen Standes steht mithin ausserhalb des Eahmens, der die übrigen Wahlunfähigkeitsgründe umschliesst.

Zu seiner Rechtfertigung bedürfte es unter diesen Umständen schwerwiegender Gründe. An solchen fehlt es aber.

Es gibt Kirchen, die ihre Geistlichen hinsichtlich gewisser Fragen durch Vorschrift, Gelübde oder Eid im Gewissen binden und ihnen so auf bestimmten Gebieten die Freiheit des Handelns nehmen. Der Klerus von religiösen Gemeinschaften dieser Art wird Fragen, die im weitesten Sinne das Verhältnis von Kirche und Staat beschlagen, nicht objektiv und unbefangen gegenüberstehen. Er wird auch, wenn nicht zwingende Gründe dagegen sprechen, geneigt sein, das kirchliche Interesse höher zu stellen als das allgemeine und staatliche Interesse. Gewiss entspricht eine solche innere Gebundenheit der Stellung nicht, die in der Idee das Mitglied der Legislative innehat.

Wir begegnen ihr aber bei Parlamentariern auf Schritt und Tritt.

Insbesondere sind es die Forderungen der Partei und die Wünsche der Wähler, die auf das Mitglied der Bundesversammlung tatsächlich einen determinierenden Einfluss ausüben; einen Einfluss, den das proportionale Wahlverfahren potenziert hat, indem es den Volksvertreter zum Partei Vertreter macht und das relative Mehr der Parteistimmen über dessen Mandat entscheiden lässt. Diese Gebundenheit wirkt aber mindestens so stark und reicht weiter, als der Gewissenszwang, den die Kirche auf ihre Geistlichen ausübt und macht doch das Parlamentsmitglied zur Ausübung seines Mandates nicht unfähig.

Es ist vor allem die römisch-katholische Kirche, die die Anschauung vertritt, dass sie über beide Schwerter verfügt, «über das geistliche, um es zu behalten, über das
weltliche, um es weiterzugeben, damit es von der weltlichen Gewalt im Dienste der geistlichen geführt werde». Ihre Machtansprüche gegenüber dem Staate sind nicht oder nur teilweise erfüllt. Soweit sie unbefriedigt sind, befindet sich die Kirche in einer Kampfstellung zum Staate. Dieses Verhältnis der beiden Mächte zueinander äussert sich in Kompetenzstreitigkeiten auf den Grenzgebieten weltlicher und geistlicher Macht.

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Aber auch auf Gebieten, die im gesicherten Machtbereich der Kirche oder des Staates zu liegen scheinen, zeigen sich hie und da tiefgehende Meinungsverschiedenheiten. Es kommt immer wieder vor, dass der eine Teil Massnahmen trifft, die der andere als unzulässigen Eingriff in seine Eechts- und Machtsphäre betrachtet. Man erinnere sich beispielsweise an das vom Papst am 9. Oktober 1911 erlassene Motu proprio «Quantavis diligentia», das bestimmt, dass der Geistliche von Privaten nur mit Bewilligung der kirchlichen Behörden vor den weltlichen Eichter gezogen werden darf, und das der Bundesrat, als in die Gesetzgebungshoheit des Staates eingreifend, auf Schweizerboden als rechtlich unwirksam bezeichnet hat (Bundesbl. 1912 V. S. 51 und 56). Oder man beachte etwa den Can. 1322 § 2 des Codex juris Canonici, der vorschreibt : «Der Kirche steht unabhängig von irgendwelcher bürgerlicher Gewalt das Eecht und die Pflicht zu, alle Völker das Evangelium zu lehren; dieses aber und die wahre Kirche Gottes anzunehmen, sind alle durch göttliche Vorschrift gehalten» und man wird erkennen, dass diese Bestimmung gegen die vom Bunde geschützte Glaubens- und Gewissensfreiheit verstösst. Oder man halte »ich die Vorschriften des neuen kirchlichen Gesetzbuches vor Augen, gestützt auf die in die Freiheit des auf staatlichem Gebiete liegenden Schulbetriebs eingegriffen werden könnte. Von den Freunden der Ausschlussbestimmung des Art. 75 BV ist nun immer auf dieses Verhältnis zwischen Kirche und Staat hingewiesen und geltend gemacht worden, dass es den Staat dazu bestimmen müsse, die abhängigen Diener der Kirche von der aktiven Betätigung in seinem eigenen Organismus fernzuhalten, dass der Aiisschluss der Geistlichen vom Parlament sich als Strafe, als Ausdruck der Missbilligung gegenüber einer Kirche, die ihre Stellung zum Staate verkenne, gerechtfertigt erscheine. Nur ist dann nicht erklärlich, warum sich die Spitze der Massnahme nicht nur gegen Kirchen, deren Machtansprüche vom Staate bestritten sind, sondern auch gegen religiöse Gemeinschaften richtet, deren Beziehungen zum Staate abgeklärt und in gegenseitigem Einvernehmen geordnet sind. Es ist auch nicht einzusehen, warum der Staat, der die Kirche wegen ihrer ihm gegenüber betätigten Gesinnung von der Eepräsentanz ausschliesst, Parteien eine Vertretung zugesteht, die von
einer ähnlichen Gesinnung erfüllt sind. Endlich sei darauf hingewiesen, dass der Staat in durchaus inadäquater Weise auf das Verhalten der Kirche reagiert, wenn er deren Geistliche vom Nationalrate fernhält: weder fügt er der Kirche ein Strafübel zu, noch ist die Massnahme dazu geeignet, sie auf bessere Wege zu führen.

Nach Art. 13, Ziff. 2, der Militärorganisation vom 12. April 1907 haben die Geistlichen, die nicht als Feldprediger eingeteilt

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sind, während der Dauer ihres Amtes oder ihrer Anstellung keinen Militärdienst zu leisten. Wenn auch der Zusammenhang, in dem diese Vorschrift steht, darauf schliessen liesse, dass sie nur Geistliche im Auge habe, die in ihrem Amte unabkömmlich und schwer zu ersetzen sind, neigen wir doch der Ansicht zu, dass Art. 13, Ziff. 2, MO den Geistlichen um seiner Stellung in der religiösen Gemeinschaft willen vom Militärdienst befreit, dass sich also der persönliche Geltungsbereich des Art. 13, Ziff. 2, MO in der Hauptsache mit dem des Art. 75 B V deckt. Von den Freunden der Ausschlussbestimmung wird nun behauptet, es bestehe ein innerer Zusammenhang zwischen dem privilegium favorabile der Militärorganisation und'dem privilegium odiosum der Bundesverfassung; solange jenes bestehe, müsse auch dieses aufrechterhalten "bleiben. Bei näherem Zusehen stellt sich aber heraus, dass die Befreiung der Geistlichen vom Militärdienst und deren Ausschluss vom Parlament voneinander unabhängige Massnahmen sind. Und selbst dann, wenn ein innerer Zusammenhang zwischen jener Begünstigung und dieser Schlechterstellung vorhanden wäre, Hesse sich die Fortexistenz der Ausschlussbestimmung nicht mit der bestehenden Befreiung vom Militärdienst motivieren, umgekehrt vielmehr müsste die Aufhebung des verfassungsmässigen Ausschlusses der Geistlichen vom Nationalrat ohne weiteres die Aufhebung der Befreiung vom -Militärdienst nach sich ziehen, Gewiss hätte der Staat begründeten Anlass, gegen die Kirche Massnahmen zu treffen, wenn seine Erhaltung in Frage stände. Der Staat ist aber -- weder als Ganzes, noch auf einzelnen Tätigkeitsgebieten -- durch die Kirche gefährdet; der Gegensatz der beiden Gewalten hat nicht mehr die Bedeutung wie ehedem. Und glaubte der Staat wirklich, sich der Kirche erwehren zu sollen, so erschiene die Ausschlussbestimmung als untaugliches Mittel: der politische Einfluss der Kirche wird durch die Zulassung der Geistlichen zum Parlament nicht wesentlich erhöht und durch deren Ausschluss nicht wirksam eingeschränkt oder ausgeschaltet. Vom Standpunkt des Staates aus ist mithin ein Bedürfnis danach nicht vorhanden, die Ausschlussbestimmung aufrechtzuerhalten.

Die Ausschlussbestimmung bringt auch den Staat mit sich selbst in Widerspruch: der Bund hat für den Nationalrat das proportionale Wahlverfahren und damit
den ihm innewohnenden Gedanken zu dem seinigen gemacht, dass das Parlament das der Wirklichkeit entsprechende Bild aller im Volke vorhandenen Eichtungen, und Bestrebungen sein soll, dass auch solche Tendenzen von der Mitsprache im Eate nicht ausgeschlossen sein sollen, die die bestehende staatliche oder staatskirchenrechtliche Ordnung ablehnen.

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569 Wir haben im Vorstehenden die Anschauungen entwickelt, wi& sie unseres Erachtens der Gesetzgeber gestützt auf die leitenden Grundsätze eines demokratischen Staatswesens bei unbefangener Prüfung gewinnen muss; sie führen uns zur Empfehlung einer Revision des Art. 75 BV im Sinne der Aufhebung der Ausscblussbestimmung für Geistliche, wie sie durch die Motion Daucourt angeregt wird *). Dabei übersehen wir aber nicht, dass damit die politische Frage nicht entschieden ist, ob heute der Zeitpunkt gekommen sei., um den Vorschlag zu einer solchen Revision zu machen. Wir sind durchaus nicht überzeugt, dass nicht eine überwiegende Mehrheit des Volkes sich zurzeit noch ablehnend verhalten würde, und zwar nicht zuletzt aus den von uns für den Gesetzgeber als nicht schlüssig beanstandeten kirchlich-religiösen Anschauungen über die Aufgabe des Geistlichen heraus. Derartige zum Teil gefühlsmässig begründete Anschauungen lassen sich durch logisch und staatsrechtlich noch so berechtigte Ausführungen nur schwer verdrängen. Ein solcher Aufklärungsprozess braucht seine Zeit. Der Entscheid soll jedenfalls nicht zu einer Zeit gesucht werden, wo neben den rein kirchlichen Bedenken noch starke Reste früherer politischer Befürchtungen nachwirken, die eine vorausgehende Generation zu Recht oder Unrecht mitbeeinflusst hatten. Es sind so wenig Einzelfälle bekannt, wo die Wähler ein Bedürfnis fühlten, gerade einen Angehörigen des geistlichen Standes in den Nationalrat zu wählen, dass die Wünsehbarkeit einer sofortigen Revision in gar keinem Verhältnis steht y,u dem Schaden, den ein verfrühter Kampf um diese Position mit negativem Ergebnis anrichten würde. Das Volk würde es nicht verstehen, wenn unter den heutigen Verhältnissen um der Einzelfrage willen der ganze Abstimmungsapparat in Bewegung gesetzt würde. Es dürfte ausserdem kaum einem Zweifel unterliegen, dass in nächster Zeit die Änderung der Bundesverfassung in einer Reihe von Punkten verlangt wird. Ob die Neuerungen auf dem Wege der Totalrevision oder mittels einer Anzahl von Partialrevisionen werden angestrebt werden, lässt sich aber zur Stunde noch nicht sagen.

Ausserdem ist noch nicht zu übersehen, ob und in welcher Weise die Änderung der das religiöse oder kirchliche Gebiet berührenden Bestimmungen der Bundesverfassung in ihrer Gesamtheit wird verlangt worden. Es
ist darauf hinzuweisen, dass Art. 75 mit solchen :;: ) Durch die Aufhebung der Ausschlussklausel für die Wahl in den Nationalrat würden inhaltlich auch die Bestimmungen über die Wählbarkeit in den Bundesrat (BV 96) und das Bundesgericht (BV 108) geändert. Es müsste überdies die Frage -entschieden werden, ob Art. 110 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege abgeändert werden soll, der bestimmt, dass neben einer Reihe von Beamten als Geschworne nicht wählbar sind ,,die Geistlichen".

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Bestimmungen in engem Zusammenhang steht, so dass eine Eevision von Art. 75 leicht weiteren Änderungsbegehren ruft. Sollte der ganze Komplex der verwandten Bestimmungen zur Revision gelangen, so würde sich Gelegenheit bieten, die Ausschlussklausel von Art. 75 auszumerzen, wobei dann der Bund auch seinerseits in der Lage wäre, für die Wahrung seiner Interessen in geeigneter Weise zu sorgen.

Wir halten dafür, dass angesichts dieser Sachlage die Eevision des Art. 75 nicht sofort an die Hand genommen werden soll, vertreten vielmehr die Auffassung, dass die Eevision von Art. 75 BV erst vorzunehmen ist, wenn eine Totalrevision oder aber solche Einzelrevisionen an die Hand genommen werden, mit denen die Ausschlussklausel in einem inneren Zusammenhange steht.

Bern, den 4. April 1921.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Schulthess.

Der Bundeskanzler:

Steiger.

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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend Art. 75 der Bundesverfassung (Motionen Knellwolf und Daucourt.) (Vom 4. April 1921.)

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