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Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend Bewilligung eines Kredites zur Bekämpfung der Tuberkulose.

(Vom 12. Dezember 1921.)

Unter den sogenannten sozialen Krankheiten nimmt die Tuberkulose den ersten Rang ein. Ja, mau kann sie als Musterbeispiel einer solchen bezeichnen, da sie durch ihre schädigende Einwirkung auf die Nachkommenschaft am Marke unseres Volkes zehrt und durch ihre lange Dauer, die herbeigeführte Erwerbsunfähigkeit und die Kosten, die sie verursacht, der menschlichen Gesellschaft schwere Lasten auferlegt.

Vor 30 Jahren starben in der Schweiz auf je 10,000 Einwohner alljährlich fast 30 an Tuberkulose. Dank privater Initiative wurden damals die ersten Anläufe zu ihrer wirksamen Bekämpfung gemacht, und seither ist die Tuberkulosesterblichkeit unseres Landes allmählich zurückgegangen. Anfangs des Kriegeswar sie auf 20 pro Zehntausend gesunken, eine Ziffer, die immer noch erheblich über derjenigen anderer europäischer Staaten, z. B.

Deutschland und England, stand. Auf diesem wie auf vielen andern Gebieten hat nun der Krieg seine unheilvolle Wirkung geäussert und eine Zunahme der Tuberkulosesterblichkeit zur Folge gehabt, so dass sie 1917 wieder auf 21,i pro Zehntausend anstieg. Seither ist sie wieder im Rückgang begriffen.

Heute aber sterben in der Schweiz noch auf je 10,000 Einwohner jährlich ungefähr 20 an Tuberkulose, was einem Verlust von fast 8000 Menschenleben im Jahr gleichkommt. Und da diese Gesamtzahl unserer Sterbefälle in normalen Jahren zwischen 50,000 und 55,000 schwankt, so kann man sagen, dass auf 7 Todesfälle gut einer an Tuberkulose entfällt, d. h. viel mehr als auf alle andern übertragbaren Krankheiten zusammen.

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Während wir über die Tuberkulosesterblichkeit ziemlich genau unterrichtet sind, iat es recht schwer, zu sagen, wieviel Tuberkulöse unser Land zählt. Doch kann man anhand örtlicher Erhebungen sowie gestützt auf die Tuberkulosesterblichkeit und die durchschnittliche Krankheitsdauer der Tuberkulösen annehmen, dass ihre Zahl in der Schweiz nicht unter 80,000 beträgt oder, mit andern Worten, dass auf je 100 Einwohner durchschnittlich 2 an Tuberkulose leiden und somit mehr oder weniger pflegebedürftig sind.

Damit ist aber die wirtschaftliche Bedeutung der Tuberkulose noch keineswegs gekennzeichnet. Ist sie ja nicht wie die meisten andern übertragbaren Krankheiten ein Leiden von kurzer Dauer, sondern sind die von ihr Befallenen monate- und jahrelang krank und arbeitsunfähig, stellen während dieser langen Zeit ein unabträgliches Kapital dar und kosten der Allgemeinheit ganz gewaltige Summen. Auf diese Weise bringt die Tuberkulose viele Tausende von Familien um ihren Broterwerb, liefert sie dem Elend aus und verursacht unserm Lande jahraus jahrein wirtschaftliche Verluste, die in die viele Millionen Franken gehen.

Alle Kräfte und Hilfsmittel des Staates, der Gemeinden und der Privatwohltätigkeit müssen sich vereinigen und zusammenwirken, um mit Erfolg gegen eine solche Geissel der Menschheit ankämpfen zu können, da diese nur durch eine energische und ausdauernde Anstrengung bezwungen werden kann.

In der Schweiz ist dieser Kampf zuerst von privaten Vereinigungen begonnen worden, die schon für sich allein Grosses geleistet haben. Doch genügten ihre Bemühungen nicht, und der Umstand, dass sie jede für sich und ohne Zusammenhang vorgegangen sind, hat ihren Erfolg einigermassen beeinträchtigt.

Um diesen noch vollständiger zu gestalten, müssen sie zusammengefasst und einheitlicher werden. Zu diesem Zweck sollte die Bekämpfung der Tuberkulose, nachdem sie ursprünglich ausschliesslich durch private Bemühungen und dann später mit kantonaler Unterstützung durchgeführt worden, sich nunmehr endlich auch auf eidgenössischem Boden weiter entwickeln können.

Diese Mithilfe des Bundes wurde ermöglicht durch die Annahme im Jahre 1913 des neuen Art. 69 B.-V., der den Bund ermächtigt, gesetzliche Bestimmungen gegen übertragbare, stark verbreitete oder bösartige Krankheiten zu erlassen, währeud der frühere Art. 69 solche nur gegenüber gemeingefährlichen Epidemien gestattete, so dass die Tuberkulose, die eine Endemie,

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aber keine Epidemie darstellt, der Bundesgesetzgebung nicht unterlag. Da sie aber sowohl eine übertragbare als eine stark verbreitete und bösartige Krankheit bildet, hat der Bund seither das Recht und die Pflicht, gesetzgeberisch gegen sie vorzugehen.

Auf Grund dieser Verfassungsbestimmung hat unser Gesundheitsamt den Entwurf zu einem eidgenössischen Tuberkulosegesetz ausgearbeitet. Nachdem derselbe anhand von Erfahrung und Wissenschaft mehrmals abgeändert worden, wurde er anfangs dieses Jahres von einer Expertenkommission durchberaten und im grossen und ganzen gutgeheissen, so dass wir schon hofften, Ihnen den Entwurf nächstens unterbreiten zu können.

Die gegenwärtigen Zeitumstände haben aber unsere guten Absichten durchkreuzt. Selbstverständlich muss ein Gesetz, wie wir es Ihnen vorlegen wollten, soll es nicht wirkungslos bleiben, die allgemeinen Grundsätze festlegen, nach welchen die Tuberkulose zu bekämpfen ist und müssen die Kantone und Gemeinden erst die zur Durchführung des Gesetzes erforderlichen Anstalten und Einrichtungen schaffen. Nach den Erfahrungen der letzten 30 Jahre wissen wir aber, dass dieser ganze Apparat von Abwehreinrichtungen recht kostspielig ist. Berechnungen auf Grund einer Umfrage bei den Kantonen haben ergeben, dass man mit einer Summe von 15--16. Millionen Franken rechnen muss, die Kantone, Gemeinden und Privatwohltätigkeit jedes Jahr ausgeben müssen, um die bedürftigen Tuberkulösen nebst ihren Familien zu versorgen und die eine so bedeutende Rolle spielenden Einrichtungen zur Verhütung der Tuberkulose zu unterhalten.

Wollte man den Beitrag des Bundes an diese Ausgaben auf 25 °/o festsetzen -- gewiss ein ganz bescheidenes Verhältnis --, so würde das eidgenössische Budget jährlich mit etwa 4 Millionen Franken belastet, vom sozialen Standpunkt aus allerdings eine nützliche und vorteilhafte Anlage, angesichts der gegenwärtigen Finanzlage des Bundes jedoch eine neue dauernde Last, die ihm bei dem schon bestehenden Defizit kaum aufgebürdet werden dürfte. Wir verkennen keineswegs die dringende Notwendigkeit, die Tuberkulose energisch zu bekämpfen und auch den Bund an diesem Werke der Hebung der Volksgesundheit teilnehmen zu lassen. Doch finden wir, es gebe heute noch dringendere, durch die wirtschaftliche Lage des Landes gebotene Aufgaben, nämlich die Bestrebungen zur
Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Diese hat nämlich einen Umfang angenommen, auf den niemand gefasst war, -und wir müssen zu ihrer Bekämpfung gewaltige Summen verwenden, ohne auch nur voraussehen zu können, wann sie ein

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Ende nehmen -wird und ob wir ihr bis zuletzt werden standhalten können.

Wenn wir somit die Vorlage auf bessere Zeiten verschieben, so gehorchen wir nur der Not, d. h. dem höchst bedauerlichen, ja schmerzlichen, aber zwingenden Gebot der Zeitumstände. Wir können Sie jedoch versichern, dass wir, sobald sich günstigere Zeiten einstellen werden, unsere Gesetzesvorlage ungesäumt wieder vornehmen und Ihnen unterbreiten werden.

Müssen wir nun auch darauf verzichten, die eidgenössische Tuberkulosegesetzgebung, wie sie uns vorschwebt, in ganzem Umfang durchzuführen, so können wir auf der andern Seite die der Tuberkulosefürsorge sich widmenden Vereinigungen nicht sich selbst überlassen. Wie schon erwähnt, sind dieselben privater Anregung entsprungen und haben meist ohne viel Aufsehen und vielfach ohne behördliche Unterstützung bewundernswerte Leistungen vollbracht, für die wir ihnen nur dankbar sein können.

So haben sie Volksheilstätten erbaut, zahlreiche Fürsorgestellen, die Hauptwaffe im Kampf gegen die Tuberkulose, geschaffen.

Dank diesen privaten Vereinigungen sind in unserm Lande überall Einrichtungen zur Verhütung der Tuberkulose entstanden, um den einzelnen, ganz besonders die tuberkulosegefährdete Jugend, vor Ansteckung zu bewahren und in ihrer Widerstandskraft gegenüber der Seuche zu stählen. Dank ihrer unablässigen und mutigen Propaganda hat die Tuberkulose in den Augen des Volkes ihre Schrecken verloren und stellt nicht mehr die verhängnisvolle Krankheit dar, von welcher man nicht zu sprechen wagte und die ihre Opfer zu Parias der menschlichen Gesellschaft stempelte.

Die Aufklärung des Volkes ist heute so weit gediehen, dass man hoffen darf, es werde den Massnahmen der eidgenössischen Gesetzgebung zu seinem Schutze keinen Widerstand entgegensetzen.

Zum grössten Teil ist diese grosse und vielgestaltige Arbeit von den zur Bekämpfung der Tuberkulose gegründeten Vereinigungen einzig mit Hilfe der von privater Wohltätigkeit zur Verfügung gestellten Mittel bewältigt worden, wahrlich eine ganz gewaltige Leistung. Nach Erhebungen unseres Gesundheitsamtes haben diese privaten Vereinigungen für die verschiedenen Zweige ihrer Tätigkeit; Gründung und Betrieb von Fürsorgestellen inbegriffen die Anstellung von Fürsorgerinnen, Verpflegung Tuberkulöser zu Hause, im Spital und in Heilstätten, Unterstützung
ihrer Familien und Versorgung tuberkulosegefährdeter Kinder in besondern Anstalten oder auf dem Lande, Aufklärung usw. 1919 eine Gesamtsumme von fast 3 Millionen Franken, eine der-

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selben, die Waadtländer Liga gegen die Tuberkulose, sogar rund Fr. 314,000 ausgegeben. Im gleichen Jahr 1919 haben die Kantone 1,8 und die Gemeinden ungefähr 2 Millionen Franken für die gleichen Zwecke ausgegeben.

Wie man aus diesen Zahlen ersieht, die übrigens nur annähernd sind und die von der Armenpflege getragenen Kosten der Versorgung Tuberkulöser in den allgemeinen Spitälern -- ungefähr 3 Millionen -- nicht umfassen, sind die Leistungen der privaten Vereinigungen zur Bekämpfung der Tuberkulose fast gleich gross wie die der Behörden, was die Bedeutung ihres wohltätigen Wirkens noch deutlicher hervortreten lässt.

Nun droht aber die wirtschaftliche Krisis, die wir gegenwärtig durchmachen, diese Wirksamkeit zu lahmen. Die von allen Seiten in Anspruch genommene öffentliche Wohltätigkeit kann die antituberkulösen Vereinigungen nicht mehr wie bisher unterstützen, so dass ihre Einnahmen täglich zurückgehen. Und doch sollten sie ihre bisherige Tätigkeit fortsetzen, die Fürsorgestellen mit ihren Fürsorgerinnen weiter unterhalten können wie nicht minder alle die zugehörigen prophylaktischen Einrichtungen, welche eine Hauptrolle im Kampfe gegen die Tuberkulose spielen.

Auch sollten sie in den Stand gesetzt werden, die zu diesem Kampfe noch fehlenden Einrichtungen zu schaffen, weil die Tuberkulosegefahr ja immer noch vorhaiden ist uod boi der schlimmen wirtschaftlichen Lage, in der wir uns befinden, wieder überhand nehmen könnte.

Unter diesen Umständen halten wir es für geboten, den gegen die Tuberkulose ankämpfenden Vereinigungen zu Hilfe zu kommen, damit sie die Schwierigkeiten der' Gegenwart leichter überwinden können. Und da es uns aus den angeführten Gründen einstweilen nicht möglich ist, diese Hilfe in vollem Umfange auf dem Wege eines eidgenössischen Tuberkulosegesetzes zu gewähren, so ersuchen wir Sie, uns dafür pro 1922 einen Kredit von Fr. 500,000 zu bewilligen zwecks Ausrichtung von Beiträgen an die Auslagen der antituberkulösen Einrichtungen im Jahr 1921, besonders an diejenigen, deren Fortbestehen am meisten gefährdet ist. Auf diese Weise werden Sie bis zu einem gewissen Grade auch dem von Herrn Dr. Rikli im Dezember 1920 eingereichten Postulat entgegenkommen, es möchte der Bundesrat einen Fonds zur Bekämpfung der Tuberkulose äufnen, aus welchem bis zum Inkrafttreten eines eidgenössischen Tuberkulosegesetzes Beiträge ausgerichtet werden könnten.

Dieser Kredit wäre unserm Departement des Innern zur

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Verfügung zu stellen, das ihn je nach den Bedürfnissen und auf Grund eingeholter genauer Erkundigungen verteilen wird, Erkundigungen, die hauptsächlich auf die Rechnungsabschlüsse für das Jahr 1921 der für einen Bundesbeitrag in Frage kommenden verschiedenen Anstalten und Einrichtungen zur Bekämpfung der Tuberkulose werden abstellen müssen. Wir werden zu diesem Zweck eine die zu befolgenden Grundsätze regelnde Verordnung aufstellen und allenfalls auch die kantonalen Regierungen ersuchen, uns alle sonst noch erforderlichen Aufschlüsse zu erteilen.

· Im Laufe des nächsten Jahres wird sich dann zeigen, was weiter getan werden soll, und werden wir unzweifelhaft Gelegenheit erhalten, Ihnen neue Vorschläge zu unterbreiten. Wenn wir uns heute darauf beschränken, einen einmaligen Kredit nachzusuchen, so geschieht es, um einem Zustande zu begegnen, der uns von befugter Seite als besorgniserregend geschildert wurde.

Dabei halten wir uns für verpflichtet, gleich zu erklären, dass es weder unsere Absicht ist, noch sein kann, es bei dieser einzigen Hilfeleistung bewenden zu lassen. Wahrscheinlich werden wir noch vorgängig der Vorlage eines Tuberkulosegesetzes in den Fall kommen, mit einem neuen Beschlussantrag vor Sie zu treten, der auf den im Verlaufe des Jahres 1922 gemachten Erfahrungen fussen wird.

Demgemäss unterbreiten wir Ihnen folgenden Bundesbeschluss zur Annahme.

Genehmigen Sie die Versicherung unserer ausgezeichneten, Hochachtung.

B e r n , den 12. Dezember

1921.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates^ Der ßundespräsident:

Schulthess.

Der Bundeskanzler: Steiger.

405 (Entwurf.)

Bundesbeschluss betreffend

Bewilligung eines Kredites zur Bekämpfung der Tuberkulose.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht einer Botschaft des Bundesrates vom 12. Dezember 1921, beschliesst: Art. 1. Dem Bundesrat wird für das Jahr 1922 ein Kredit von Fr. 500,000 zur Ausrichtung von Beiträgen an Anstalten und Einrichtungen zur Bekämpfung der Tuberkulose für ihre Ausgaben im Jahre 1921 gewährt.

Art. 2. Der Bundesrat wird auf dem Verordnungswege die Grundsätze bestimmen, nach welchen diese Beiträge auszubezahlen sind.

Art. 3. Dieser Bundesbeschluss tritt, weil dringlicher Natur, sofort in Kraft.

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Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend Bewilligung eines Kredites zur Bekämpfung der Tuberkulose. (Vom 12. Dezember 1921.)

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1921

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14.12.1921

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399-405

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