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Schweizerische Bundesversammlung.

Die gesetzgebenden Räte der Eidgenossenschaft sind am 9. Juni 1921, um 18 Uhr, zur ordentlichen Sommersession (10. Tagung der XXV. Amtsdauer) zusammengetreten.

Im N a t i o n a l r a t e sind als neue Mitglieder erschienen : aus dem Kanton Bern : Herr Ernst Reinhard, Sekundarlehrer, in Bern (an Stelle des Herrn G. Müller), Herr Rud. Baumann, Generalsekretär, in Luzern (an Stelle des Herrn Knellwolf), aus dem Kanton Waadt: Herr Ernest Mayor, Landwirt, in Ciarens (an Stelle des Herrn Bettex), aus dem Kanton Wallis : Herr Cyrill Pitteloud, préfet, in Sitten (an Stelle des Herrn Kuntschen), aus dem Kanton Appenzell A.-Rh. : Herr Alfred Hofstetter, gewesener Regierungsrat, in Gais (an Stelle des Herrn A. Eugster), aus dem Kanton Aargau : Herr Hans Hilfiker, Redaktor, in Chur (an Stelle des Herrn Strebel).

Im S t ä n d e r a t e : aus dem Kanton Glarus: Herr Edwin Hauser, Regierungsrat, in Glarus (an Stelle des Herrn Legier), aus dem Kanton Neuenburg: Herr Regierungspräsident Ernest Béguin (an Stelle des Herrn Pettavel).

In beiden Räten gedachten die Präsidien der seit der letzten Session verstorbenen Herren Nationalratsvizepräsidenten G. Müller und Bundesrichter Picot.

Die Ansprache des Herrn Ständeratspräsidenten Dr. J. Baumann lautete : Meine Herren Ständeräte !

Bevor wir in unsere Verhandlungen eintreten, ist es meine Pflicht, des Hinscheides zweier hervorragender Eidgenossen zu gedenken. Wiederum, wie bei unserm letzten Zusammentritt, ist es der Verlust eines Mitgliedes des Bundesgerichts und eines solchen des Nationalrates, den wir zu beklagen haben.

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Bundesrichter E r n s t P i c o t wurde geboren in seiner Vaterstadt Genf am 28. Mai 1853 als Sohn einer alteingesessenen Familie, die dem Kanton manchen tüchtigen Gelehrten und Staatsmann geschenkt hat. Nach Absolvierung seiner Gymnasialstudien studierte er in Genf, Leipzig und Heidelberg die Rechte und doktorierte an letztgenannter Universität. Nach einjähriger Tätigkeit an der schweizerischen Gesandtschaft in Paria, die damals von Minister Kern geleitet war, kehrte er nach Genf zurück und ·trat nach kurzer Tätigkeit als Anwalt und Substitut des Staatsanwalts im Jahre 1884 in das Kantonsgericht ein. Der richterlichen Tätigkeit ist er dann sein Leben lang treu geblieben. Hier fand er Gelegenheit, seine reiche wissenschaftliche Bildung, sein scharfes objektives Denken nutzbringend für die Gesamtheit zu verwerten. Ihm blieb das Recht immer die Ars aequi et boni, und er übte sie aus, kühl abwägend und mit der Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit, die seinem Wesen eigen war. Daneben ·diente er seinem Vaterland als Artillerieoffizier. Als solcher erreichte er im Jahr 1910 den Rang eines Obersten der Artillerie.

Von seinen verschiedenen juristischen Arbeiten, die der hervorragende Gelehrte herausgab, sei hier nur die schon im Jahre 1886 vom schweizerischen Juristenverein mit einem Preise gekrönte Abhandlung über die Zuständigkeit schweizerischer Gerichte in Ehescheidungssachen zwischen Ausländern, die in der Schweiz wohnen, genannt. Am 15. Dezember 1904 wählte die Bundesversammlung den damals 51jährigen Genfer Juristen in das schweizerische Bundesgericht. Es bedeutete für ihn kein kleines Opfer, aus seinem schönen Stammsitz in Genf und seinem Bekanntenkreis heraus nach Lausanne überzusiedeln, aber er brachte dieses Opfer mit der Selbstverständlichkeit des guten Patrioten. Im Bundesgericht erwarb er sich bald eine geachtete Stellung. Das zeigte sich mit aller Deutlichkeit bei seiner im Dezember 1918 nahezu einstimmig erfolgten Wahl zum Präsidenten unseres obersten Gerichtshofes durch die Bundesversammlung. Eine heimtückische Krankheit, die ihn plötzlich befiel, setzte diesem reichen, arbeitsvollen Leben vor wenigen Wochen ein Ende. Tief betrauert von seiner Familie und seinen Kollegen und allen, die ihn kannten, wurde Herr Bundesrichter Picot in Genf zur letzten Ruhe geleitet. Der Ruf eines äusserst
tüchtigen Richters und eines vornehmen Charakters folgt ihm nach.

G u s t a v M ü l l e r , Vizepräsident des Nationalrates, wurde ·am 14. April 1860 geboren. Er war Bürger von Wiler bei Utzenstorf (Kanton Bern). In Biel verlebte er seine ersten Lebensjahre, um dann mit seinen Eltern nach Bern zu übersiedeln.

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Nach Vollendung seiner juristischen Studien trat er im Jahre 1884 als patentierter Notar bei der Volksbank in Bern ein und war hier während mehrerer Jahre Vorstand des Rechtsbureaus.

Irn Jahre 1891 trat er unter Bundesrat Welti in dea Dienst des Schweiz. Eisenbahndepartements, getrieben von einem regen Interesse für die Eisenbahnpolitik. Schon während seiner Studienzeit, aber auch nachher in seiner beruflichen Tätigkeit befasste er sich eingehend mit nationalökohomischen Fragen. Anfangs der 90ger Jahren erfolgte sein Austritt aus der freisinnigen Partei, der er bisher angehört hatte, und die Aufnahme seiner Tätigkeit in der selbständig gewordenen sozialdemokratischen Partei der Stadt Bern. Im Jahre 1895 in den Gemeinderat Beru gewählt, übernahm er die Direktion der Finanzen, die er lange Jahre mit grosser Hingabe leitete. Im Jahre 1918 wurde er zum Stadtpräsidenten von Bern gewählt, von welcher Stelle or jedoch 1920 infolge des Ausgangs der Gemeinderatswahlen zurücktrat. Er verblieb indessen Mitglied des Gemeinderates und übernahm die Baudirektion. 26 Jahre gehörte der Verstorbene somit dem Gemeinderat der Stadt Bern an, und auf diesem Gebiete liegt sein eigentliches Lebenswerk. Seit 1898 war Gustav Müller auch Mitglied des Grossen Rates des Kantons Bern, welche Behörde er im Jahre 1912/13 präsidierte. Er hat in dieser Behörde besonders in finanziellen Fragen eine bedeutende Rolle gespielt.

So war er ein eifriger Förderer der Steuerreform und der Einführung der Wertzuwachssteuer. Im Herbst 1911 wurde Gustav Müller in den Nationalrat gewählt, wo er sich bald als gewandter uod schlagfertiger Parlamentarier erwies und als Autorität in Finanz- und Stcuerfragen sich bei allen Parteien hoher Achtung erfreute. Er gehörte unter anderm auch der Finanzkommission des Nationalrates an. Im Militär bekleidete er den Rang eines Oberstlieutenants der Artillerie. Seine Partei zählte ihn mit vollem Recht zu ihren hervorragendsten Führern, und er liess sich in seiner Hingabe für seine Partei auch durch die Angriffe, die ihm gelegentlich aus seinem eigenen Lager erwuchsen, nicht beirren.

Dass er auf dem Boden der Demokratie verbleiben wollte und gegen die Diktatur, wie sie von Moskau aus empfohlen wurde, entschieden Front machte, hat ihm auch bei Andersdenkenden viele Sympathien eingetragen. Die allgemeine Teilnahme,
die sein Tod bei seinen Parteigenossen im ganzen Schweizerlaude hervorrief, bewies, dass er die Fühlung mit der Arbeiterschaft nicht verloren hatte und dass sie ihn zu ihren besten Vertretern zählte.

Bundesblatt. 73. Jahrg. Bd. EI.

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Letztes Jahr hat ihn der Nationalrat zu seinem Vizepräsidenten ernannt. Als erster Sozialdemokrat sollte er den Präsidentenstuhl besteigen. Ein grausames Geschick hat diesem hervorragenden Manne diese Ehrung verunmöglicht. Auf dem Wege xu dem gewohnten stärkenden Bade ereilte ihn ein schwerer Unfall, an dessen Polgen er am 24. Mai verschied. Mit ihm ist ein bedeutender Mitbürger, ein unermüdlicher Arbeiter für seine Partei nicht bloss, sondern auch für das Gemeinwesen und ein liebenswürdiger, charaktervoller Mann dahingegangen. Sein Andenken bleibe in Ehren!

Meine Herren Kollegen, ich spreche in Ihrem Namen den beiden Trauerfamilien der Herren Bundesrichter Picot und Nationalratsvizepräsident Müller unsere herzliche Teilnahme aus und bitte Sie, sich zu Ehren der beiden Verstorbenen von Ihren Sitzen zu erheben.

Meine Herren Ständeräte ! Eine reichbesetzte Traktandenliste harrt der Erledigung durch unsern Rat. Sie sind darüber durch ein vorläufiges Verzeichnis der Geschäfte orientiert worden. Der Ständerat wird diesmal gegenüber dem Nationalrat stärker belastet sein. Aber es wird bei gutem Willen möglich sein, unser Pensum wenigstens in der Hauptsache zu erledigen. Ich danke Ihnen für die umfangreiche Arbeit, die vor der Session in den Kommissionen geleistet worden ist und während der Session noch zu leisten sein wird. Die Kleinheit unseres Kollegiums gestattet uns, manche Dinge einlässlicher zu behandeln, als es im Nationalrat möglich ist. Dieses Privilegiums wollen wir uns freuen, wir wollen es verwerten zum Wohle unseres Vaterlandes. Wir wollen aber auch allzeit die Angen offen halten für die Bedürfnisse des Volkes. Grosse Kreise desselben machen zurzeit eine schwere Krisis durch. Arbeits- und Verdienstlosigkeit haben wie eine bittere Heimsuchung viele unserer Mitbürger betroffen. Wir wissen, dass nicht jedem Übel gesteuert werden kann, aber wir sind dem Bundesrat dankbar und werden ihn unterstützen in seinen Bestrebungen, dieses Übel zu lindern. Ebensosehr soll er aber auch auf unsere Mithilfe zählen können, wo es gilt, die Einnahmen des Bundes zu vermehren, unnötige Ausgaben zu vermeiden und unsern Staatshaushalt auf solider, sicherer Grundlage zu erhalten.

Mit diesem Vorsatz lasst uns an unsere Arbeit gehen !

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