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Bundesratsbeschluß über

die Beschwerde des Lorenz und Emil Schnyder, in Rothenburg (Kanton Luzern), gegen die Kassation der Sigristenwahl in Rothenburg, vom 13. Oktober 1900(Vom 19. Februar 1901.)

Der s c h w e i z e r i s c h e B u n d e s r a t hat

über die Beschwerde des L o r e n z und Emil Schnyder, in Rothenburg (Kanton Luzern), gegen die Kassation der Sigristenwahl in Rothenburg vom 13. Oktober 1900; auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements, f o l g e n d e n Beschluß gefaßt: A.

In thatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Mit Eingabe vom 19. Juni 1900 stellten Xaver Waltisbühl in Rothenburg und sechs Mitunterzeichner beim Regierungsrat des Kantons Luzern das Begehren, es sei die am 10. Juni 1900 in der Kirchgemeinde Rothenburg stattgefundene Wahlverhandlung, wobei Gebrüder Lorenz und Emil Schnyder zu Sigristen von Rothenburg gewählt wurden, zu kassieren und eine Neuwahl anzuordnen.

301 Diese Beschwerde erklärte der Regierungsrat mit Verfügung -vom 13. Oktober 1900 für begründet, kassierte die Wahlverhandlung und ordnete eine Neuwahl auf den 11. November 1900 ;an. Er stützte seine Verfügung auf folgende Erwägungen: Die Beschwerdeführer macheu zur Begründung ihres Begehrens geltend, es hätten so viele Nichtstimmberechtigte an der Wahlverhandlung teilgenommen, und es seien bei der Abzählung so viele Bürger nicht gezählt worden, daß das proklamierte Wahlergebnis nicht der Ausdruck der Mehrheit der anwesenden Stimmberechtigten sei. Die Kassationsbewerber zählen namentlich acht Personen auf, die unberechtigterweise an der Wahl teilgenommen haben sollen. Nun hat aber eine Untersuchung bezüglich derselben folgendes ergeben: a. A. Renggli hat an der Wahl gar nicht teilgenommen ; b. Jakob Steiner beteiligte sich an derselben, ohne stimm- · berechtigt zu sein (mangelnder dreimonatlicher Wohnsitz); c. G-. Kost stimmte, ohne stimmberechtigt zu sein (nicht geregelter Wohnsitz) ; ·d. X. Arnold desgleichen (fehlende Auftragung auf das besondere Stimmregister) ; e. A. Muther war anwesend, ohne stimmberechtigt zu sein ; laut seiner eigenen Angabe hat er mitgestimmt ; , f. A. Obertüfer war nicht anwesend; g. A. Stöckli stimmte, ohne stimmberechtigt zu sein (Insolvenz) ; h. J.. Waller ebenso (Minderjährigkeit).

Es kann somit die Teilnahme von 6 Nichtstimmberechtigten als bewiesen angenommen werden, und es reduziert sich die ·Stimmenzahl, welche Gebrüder Schnyder erhielten, von 134 auf 128, das absolute Mehr von 128 auf 125.

Die Kassationsbewerber behaupten nun, es sei das absolute Mehr nicht richtig ausgemittelt worden, indem nach der Abzählung der Anwesenden noch eine Anzahl Bürger eingetreten sei, dann bei der Wahl mitgewirkt habe, jedoch bei der Ermittlung des absoluten Mehrs nicht in Berechnung gezogen worden sei.

Diese Behauptung wird vom Wahlbureau nicht bestritten. Ist sie aber richtig, so ist ohne weiteres klar, daß das proklamierte Wahlresultat den Thatsachen nicht entspricht. Betrug die Zahl der nachträglich Eingetretenen und nicht Mitgezählten bloß 8, so stieg das absolute Mehr bereits auf 129, während für Gebrüder Schnyder bloß 128 gültige Stimmen abgegeben wurden. Es kann .also nicht mit Bestimmtheit gesagt werden, daß das proklamierte

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Wahlergebnis der Willensausdruck der Mehrheit der gültig an der Wahlverhandlung Teilnehmenden gewesen sei, und es ist daher eine Neuwahl anzuordnen.

II.

Gegen die Verfügung des luzernischen Regierungsrates ergreifen Lorenz und Emil Schnyder mit Eingabe vom 25. Oktober 1900 die Beschwerde an den Bundesrat und stellen den' Antrag, es sei die Anordnung einer Fortsetzungswahl auf den II. November 1900 zu sistieren und die Wahlverhandlung in Rothenburg vom 10. Juni 1900 als gültig zu erklären.

Die Beschwerdeführer bringen in ihrer Rekursschrift folgendes vor : Damit die Entscheidung des Bundesrates unpräjudiziert erfolgen kann, ist vorab notwendig, daß die auf den 11. November 1900 anberaumte Fortsetzung der Wahlverhandlung bis zum Entscheid des Bundesrates sistiert werde.

Bezüglich der Kompetenz des Bundesrates in vorliegender Sache ist auf dessen Entscheidung vom 25. März 1897 i. S. Franz Joseph Gut und Konsorten betreffend die Ersatzwahl eines Mitgliedes des Bezirksgerichtes Sursee zu verweisen (Bundesbl. 1897 III, p. 255). Wie die Gerichtsbezirke, so sind auch die Kirchgemeinden verfassungsmäßig anerkannte, aus mehreren politischen Gemeinden kombinierte Wahlkörper, für die bezüglich des Wahlmodus, Stimmrecht etc. die gleichen in der Verfassung' aufgestellten Bestimmungen wie für die Richterwahlen gelten.

Die Gründe, die in der Kassationsbeschwerde an den luzernischen Regierungsrat vorgebracht worden sind, nämlich die Ausübung des Stimmrechts durch 8 nichtstimmberechtigte und der Eintritt von 8 stimmfähigen Bürgern in das Stimmlokal nach der Abzählung, deren Stimmen vom Wahlbureau nicht gezählt worden seien, ist von den Hauptzeugen bereits zurückgezogen worden, indem Präsident und Gemeindeammann Eggerschwyler in Rothenburg seinen Rekurs gegen das Wahlergebnis fallengelassen hat.

Im übrigen ist es unrichtig, daß die Teilnahme von 6 Nichtstimmberechtigten als erwiesen angenommen werden kann, denn : a. G. Kost hat nach seiner Erklärung die Schriften abgegeben, da sie ihm zwecks seiner Auftraguug auf das Stimmregister abverlangt worden waren ; es muß also, da nichts Gegen-

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teiliges vorliegt, angenommen werden, er sei stimmfähig. Die fehlende Aüftragung auf das besondere Stirrimregister schließt die Stimmfähigkeit nicht aus. Wenn die sachlichen Requisite der Stimmfähigkeit gegeben sind, so kann sie nicht durch einen zufälligen oder absichtlichen Schreibfehler des Kanzlisten, der das besondere Stimmregister ausfertigte, verloren gehen. Überhaupt ist immer das allgemeine und nicht das besondere Stimmregister maßgebend.

ö. Von X. Arnold gilt wesentlich das gleiche.

c. A. Muther hat nach seiner Angabe nicht mitgestimmt; die gegenteilige Angabe des Regierungsrates scheint auf einem Schreibfehler zu beruhen.

d. A. Stöckli, der vom Regierungsrat als insolvent erklärt worden ist, bestreitet, daß sich die Insolvenz auf ihn beziehe und giebt an, seine Frau sei als insolvent publiziert worden.

e. Auch bezüglich des J. Waller liegt kein Beweis vor, daß er am Wahltag noch minderjährig war; nach dem Geburtsjahr, 1880, scheint beides möglich. Die Feststellungen des Regierungsrates sind also zum Teil irrtümlich ; es rechtfertigt sich daher in keinem Falle -- nicht einmal unter der willkürlichen Voraussetzung, daß alle Beanstandeten den Gebrüdern Schnyder gestimmt haben -- die von diesen erzielte Stimmenzahl um 6 zu reduzieren.

Auch indem der Regierungsrat mit den Kassationsbewerbern annimmt, es seien nach der Abzahlung wiederum 8 Personen ins Wahllokal hereingekommen und nicht mitgezählt worden, folgt er einer willkürlichen, von den Kassationsbewerbern offensichtlich für das Bedürfnis des vorliegenden Falles eigens konstruierten Parteibehauptung, für die jeder Beweis mangelt. Der Einzige, der den Eintritt der fraglichen Personen gesehen haben will, Gemeindeammann Eggerschwyler, hat den Rekurs und damit seine Behauptung zurückgezogen. Wenn der Regierungsrat außerdem behauptet, auch das Wahlbureau habe der Behauptung der Kassationsbewerber nicht widersprochen, so ist dies nicht richtig, denn das Wahlbureau hat-überhaupt keine detaillierte Erklärung abgegeben, mithin auch zu dieser Detailfrage keine Stellung genommen; daraus aber darf offenbar noch auf kein Zugeständnis geschlossen werden.

Dagegen haben zwei Mitglieder des Wahlbureaus, Jos. Wolf und Fridolin Bühlmann, laut dem der Beschwerdeschrift beigelegten Schriftstück vom 20. Oktober 1900 erklärt, daß sowohl

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die Kirchgemeindeversammlung als auch die für die Gebrüder Lorenz und Emil Schnyder abgegebenen Stimmen richtig abgezählt wurden; daß ihres Wissens nur ein Bürger verspätet, d.h.

nach der Abzählung das Wahllokal betreten habe und daß derselbe im Wahlverbal vermerkt worden sei. Gleiches bezeugt auch ein drittes Bureaumitglied, F. J. Huser, der es zwar ablehnte, sein Zeugnis schriftlich abzugeben, jedoch, wie er sich ausgesprochen hat, zuständigen Ortes rückhaltlos der Wahrheit Zeugnis geben wird.

Demnach beruhen die in der Verfügung des luzernischen Regierungsrates vom 13. Oktober 1900 aufgestellten Behauptungen auf Übertreibung und Unrichtigkeit. Die Gebrüder Schnyder haben daher ein Recht, in der auf sie gefallenen Volkswahl geschützt zu werden.

in.

Zur Vernehmlassung auf die Beschwerde eingeladen, bemerkt der Regierungsrat des Kantons Luzern mit Schreiben vom JL2./15. Dezember 1900 und ergänzendem Nachtrag vom 12./14.

Januar 1901, nachdem er bereits mit Schreiben vom 31. Oktober 1900 dem Bundesrate die Sistierung der auf den 11. November 1900 angeordneten Wahlfortsetzung mitgeteilt hatte: Zunächst muß es dem Bundesrate überlassen werden, zu prüfen, ob bei ihm die Kompetenz zur materiellen Erledigung der Beschwerde vorhanden ist. Gemäß § 229 dos luzernischen Organisationsgesetzes sind die Verbale über die Wahlen von Sigristen und Organisten dem Regierungsrate zur Genehmigung einzureichen, und es gelten über die Kassation dor Wahlverhandlungen die Vorschriften des Gesetzes über die Wahlen und Abstimmungen. Diese Vorschriften, die auch im neuen Organisationsgesetz Aufnahme gefunden haben, stammen aus der Zeit der luzernischen Staatskirchengesetzgebung ; sie gestatten es dem Regierungsrat nicht, die Entscheidung von Streitigkeiten über die Gültigkeit oder Ungültigkeit von Kirchgemeindewahlen abzulehnen. Für den Bundesrat liegt die Sache anders; er ist nicht Staatskirchenbehörde, und es handelt sich im vorliegenden Falle auch nicht um einen Anstand im Sinne ' des Artikels 50 der Bundesverfassung. Die Kompetenz des Bundesrates wäre nur Vorhanden, wenn in der Schlußnahme vom 13. Oktober 1900 mit Grund eine Verletzung des Art. 4 der Bundesverfassung erblickt werden könnte. Das Vorhandensein einer solchen Ver-

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ïassungsverletzung wird aber von den Beschwerdeführern nicht ·einmal behauptet.

Sollte der Bundesrat dennoch auf eine materielle Prüfung der Beschwerde eintreten, so ist auf die Verfügung selbst und =die dem Regierungsrat im Augenblick des Erlasses derselben vorliegenden Akten zu verweisen.

Seither haben die Rekurrenten eine Erklärung von zwei Mitgliedern des Wahlbureaus beigebracht des Inhalts, es sei ihres Wissens nach erfolgter Abzählung nur e i n Bürger ins Wahllokal eingetreten. Wenn dies feststände, so wäre allerdings eine Kassation der Wahl der Gebrüder Schnyder nicht begründet ;gewesen. Das Justizdepartement des Kantons Luzern ließ daher auf den Rekurs der Gebrüder Schnyder an den Bundesrat durch den Amtsgehülfen von Hochdorf Erhebungen über den Thatbestand veranstalten, deren Ergebnis dem Regierungsrat in einem Berichte vom 12. November 1900 zugestellt wurde und der Beschwerdebeantwortung beiliegt. Auch aus diesem Aktenstücke konnte aber der Regierungsrat die Überzeugung nicht gewinnen, daß seine Annahme, auf welche hin die Wahl vom 10. Juni 1900 als ungültig erklärt worden war, unrichtig gewesen sei.

Und die Teilnahme einer Anzahl Nichtstimmfähiger an der Wahlverhandlung ist nachgewiesen.

Bezüglich der von den Beschwerdeführern aufgestellten Behauptung, es seien ,,unter willkürlicher Voraussetzung a im Regierungsratsbeschluß vom 13. Oktober 1900 die 6 Stimmen von Bürgern, die bei der Wahl vom 10. Juni 1900 als nicht stimmberechtigt bezeichnet worden waren, von der Zahl der auf die gewählt Erklärten gefallenen Stimmen abgezogen worden, ist folgendes zu bemerken : Das kantonale Recht weist keine positiven Bestimmungen darüber auf, wie es mit der Berechnung der von nicht stimmberechtigten Bürgern abgegebenen Stimmen zu halten sei. Es hat aber diesbezüglich die Praxis Recht geschaffen. Danach hat sieh der Regierungsrat von jeher auf den Boden gestellt, daß da, wo es als zweifelhaft erscheint (was nach der Aktenlage auch vorliegend der Fall ist), wie viele der von den nicht stimmberechtigten Bürgern abgegebenen Stimmen dem einen oder dem ändern Kandidaten zugefallen, die daherige Stimmenzahl von der gesamten Stimmenzahl jedes Kandidaten in Abzug zu kommen habe, und daß dann derjenige Kandidat als gewählt zu betrachten sei, der trotz der Reduktion seiner Stimmenzahl das absolute

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Mehr erreicht hat. In dieser Praxis liegt keine Willkürlichkeit, vielmehr wird sie durch Gründe der Billigkeit und der Vernunft zur Notwendigkeit gemacht.

Aus den in der Beschwerdebeantwortung des luzernischen* ßegierungsrates erwähnten Beilagen ist hervorzuheben eine Bescheinigung des Betreibungsamtes Bmmen vom 10. Juli 1900,, wonach auf Anton S t ö c k l i in Emmen Verlustscheine ausgestellt wurden, deren Berichtigung noch nicht erfolgt sei; ferner eine Erklärung des A. M u t h e r , worin er seine Stimmabgabe bei der Wahlverhandlung vom 10. Juni 1900 zugiebt; endlich die Erklärung des Präsidenten Eggerschwyler an den Regierungsrat vom 14. Juli 1900, durch die er seine Kassationsbeschwerde an den Regierungsrat zurückzieht, ,,weil ihm die Sache zu dumm vorkomme," und eine Erklärung desselben vom 5. Oktober 1900^ wonach er an der in seiner Kassationsbeschwerde erhobenen Behauptung festhält, daß bei der Sigristenwahl vom 10. Juni nach der durch die Stimmenzähler vorgenommenen Abzählung noch cirka 8 bis 10 Bürger ins Lokal getreten sind, worauf die Wahl vorgenommen worden sei : damit aber sei die Ermittlung des absoluten Mehrs unrichtig geworden. Der nachträgliche Eintritt von 8 Bürgern wird ebenfalls bezeugt von Jakob Schwander durch eine unterm 18. August 1900 ausgestellte Erklärung.

Der Bericht des Amtsgehülfen von Hochdorf vom 12. November 1900, der aus den Erklärungen von Bürgern aus der Anhängerschaft und aus der Gegnerschaft der Gebrüder Schnyder geschöpft ist, giebt das Zeugnis von im ganzen 7 Personen, von denen die eine l bis 2 Personen will haben eintreten sehen, die andere l bis 3 Personen, andere geben ihre Zahl auf wenigstens 8 an, während der Rest die Zahl der Eintretenden, nicht mehr bestimmt angeben zu können erklärt.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht:

I.

Die Beschwerdeführer fechten die Schlußnahme des Regierungsrates des Kantons Luzern vom 13. Oktober 1900 betreffend die Wahl eines Sigristen in Rothenburg deshalb an, weil der Regierungsrat 6 Bürgern, die an der Wahl teilgenommen hatten,.

die Berechtigung dazu abgesprochen und weil er überdies angenommen habe, es seien nach der Abzählung der Bürger, aber

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vor ihrer Stimmabgabe, noch 8 Personen ins Wahllokal eingetreten ; ferner weil er willkürlicherweise die auf die gewählt erklärten Gebrüder Schnyder gefallenen Stimmen um 6 reduziert habe.

Der Regierungsrat des Kantons Luzern bestreitet in erster Linie die Kompetenz des Bundesrates; die luzernische Behörde habe den Entscheid als Staatskirchenbehörde gefaßt; dem Bundesrate gehe diese Qualität ab; überdies werde eine Verletzung des Art. 4 der Bundesverfassung, über welche der Bundesrat zu.

entscheiden befugt wäre, nicht behauptet.

Die letztere Ausführung ist unrichtig ; die Beschwerdeführer behaupten ausdrücklich, daß die Entscheidung der kantonalen Regierung eine willkürliche in der Beziehung sei, als ohne gesetzlichen und thatsächlichen Grund zu ungunsten der gewählt Erklärten 6 Stimmen abgezogen worden seien.

Das Argument des Regierungsrates ist aber offenbar so zu verstehen, daß kirchliche Wahlen nicht unter den Begriff ,,kantonale Wahlen "· des Art. 189 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 22. März 1893 fallen. Ist diese Auflassung aber richtig, dann kann der Bundesrat überhaupt nicht entscheiden, selbst wenn eine Verletzung der Bundesverfassung nachgewiesen wäre.

Die bisherige Praxis geht allerdings dahin, daß der Bundesrat auch für Kirchgemeindewahlen auf Grund des Organisationsgesetzes vom 22. März 1893 zuständig ist: Bundesratsbeschluß vom 29. Mai 1894 in Sachen Joseph Schibli (Bundesblatt 1894, Bd. II, S. 1049 ff., insb. 1068.) Die Ansicht ist aber dort nicht näher begründet, da es sich im genannten Falle um Lehrerwahlen handelte. Allerdings hat sich der Bundesrat unter der Herrschaft des Organisationsgesetzes von 1874 einmal für Beurteilung einer Kirchgemeindewahl zuständig erklärt (Bundesblatt 1882, Bd. I, 33; II,-708). Der damalige Entscheid löste die Frage aber auch nicht grundsätzlich; zudem erklärte sich der Bundesrat zuerst inkompetent und erst auf einen Wieder erwägungsantrag kompetent.

Die Frage darf daher einer erneuten Prüfung unterstellt werden. Der luzernische Regierungsrat geht von der Ansicht aus, er habe seinen Entscheid als ,,StLatskirchenbehörde a , d. h.

wohl als Oberaufsichtsbehörde in Kirchensachen in Ausübung des ius circa sacra gefaßt. Dem Bundesrat fehle aber diese Eigenschaft einer Oberaufsichtsbehörde in Kirchensachen und er könne deshalb als Kirchenbehörde in der vorliegenden Beschwerdeangelegenheit keine Verfügung treffen.

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Letzteres ist zuzugeben, aber es ist damit eine Lösung der Streitfrage nicht gegeben, welche einzig auf dem Boden des Organisationsgesetzes vom 22. März 1893 gefunden werden kann.

Die entscheidende Stelle in dessen Art. 189 lautet: ,,Im fernem hat der Bundesrat oder die Bundesversammlung zu beurteilen : Beschwerden betreffend die politische Stimmberechtigung der Bürger und b e t r e f f e n d k a n t o n a l e W a h l e n u n d A b s t i m m u n g e n , a u f G r u n d l a g e s ä m t l i c h e r eins c h l ä g i g e n B e s t i m m u n g e n d e s k a n t o n a l e n Verfassungsrechtes und des Bundesrechtes.a Zu untersuchen ist also einzig, ob die Wahlverhandlung einer Kirchgemeinde unter den Ausdruck ,,kantonale Wahl" gebracht werden kann. Denn die Beschwerdeführer erheben nicht darüber Klage, daß in ihrer Person das politische Stimmrecht verletzt sei, sondern daß der kantonale Regierungsrat unrichtigerweise die auf sie gefallene Wahl als Sigristen von Rothenburg kassiert habe.

Der Ausdruck ,,kantonale Wahl tt ist ein sehr umfassender.

Dem Wortsinne nach bedeutet er eigentlich jede in einem Kanton stattgefundene Wahl. Die Beschränkung liegt in der Beifügung, daß der Bundesrat auf Grundlage sämtlicher einschlägigen Bestimmungen des kantonalen Verfassungsrechtes und des Bundesrechtes entscheidet. -- Es muß also, da diese Grundlage der Entscheidung gegeben wird, eine Wahl sein, welche rechtlich vom kantonalen und damit auch vom eidgenössischen Verfassungsrechte beherrscht ist; denn die kantonale Verfassung darf dem Bundesrecht nicht widersprechen und ebensowenig dürfen kantonale Behörden in Anwendung des kantonalen Verfassungsrechtes die Bundesverfassung verletzen.

Die Organisation der luzernischen Kirchgemeinden bildet nun einen Teil des luzernischen Verfassungsrechtes, welches vier Arten von Gemeinden : die politische, die Ortsbürger-, die Kirch- und die Korporationsgemeinden kennt (vgl. Abschnitt V der Kantonsverfassung, §§ 87 bis 94 bis, insbesondere für die Kirchgemeinden §§ 91 und 92). Bezüglich der Kirchgemeinden bestimmt § 91, Abs. 2 : ,,Den Kirchgemeinden stehen die Wahlen der Kirchenverwaltungen und Kirchmeier und überhaupt diejenigen Befugnisse zu, welche das Gesetz bestimmt. "· Das Organisationsgesetz des Kantons Luzern vom 8. März 1899 enthält in den §§ 220 bis 235 die in der Verfassung vorge-

309 sehene nähere Umschreibung der Einrichtung und der Befugnisse der Kirchgemeinden. Hervorzuheben ist, daß in § 221, Abs. l, das Stimmrecht, abgesehen von der Zugehörigkeit · zur Kirchgemeinde der gleichen Konfession, nach dem in § 88 der Verfassung geregelten politischen Stimmrechte sich richtet, daß in § 221, litt, d, der Kirchgemeinde die Wahl des Sigrists überbunden wird und daß io § 229 für die Kassation von Wahlverhandlungen die Vorschriften des Gesetzes über Wahlen und Abstimmungen maßgebend erklärt werden.

Die Verfassung und die Ausführungsgesetze derselben bilden somit die Grundlage der Organisation der luzernischen Kirchgemeinden, welche selbst wieder einen Bestandteil der gesamten Staatsorganisation des Kantons ausmachen. Auch die Zahl der Kirchgemeinden ist gesetzlich bestimmt (§ 220 des Organisationsgesetzes des Kantons Luzern) und kann nach § 94 bis der Verfassung nur durch Gesetz geändert werden.

Aus diesen Ausführungen ergiebt sich, daß, da nach feststehender Praxis der Ausdruck ,,kantonale Wahlen" nicht nur auf die Verwaltung des ganzen Kantons bezügliche, sondern auch Bezirks- und Gemeindewahlen umfaßt, die luzernischen Kirchgemeinden aber durch die Verfassung des Kantons bestimmte und gemäß der Verfassung organisierte Gemeinden sind, die Wahl Verhandlungen luzernischer Kirchgemeinden auch als kantonale Wahlen zu betrachten sind, und der Bundesrat deshalb zuständig ist, wenn er auf dem Wege der staatsrechtlichen Beschwerde angerufen wird, über die Anfechtung von Wahlen, welche durch eine luzernische Kirchgemeinde getroffen worden sind, auf Grundlage des kantonalen Verfassungsrechts und des Bundesrechts zu entscheiden.

Die Inkompetenzeinrede des luzernischen Regierungsrates ist somit abzulehnen.

n.

In Beziehung auf die von den Beschwerdeführern geltend gemachten Anfechtungsgründe muß zunächst festgestellt werden, daß darin nirgends eine Verletzung des kantonalen Verfassungsrechtes behauptet wird. Die Gründe, welche für die Aufhebung des regierungsrätlichen Kassationsbeschlusses vorgebracht werden, suchen nur die Unrichtigkeit, nicht aber die Verfassungswidrigkeit desselben darzuthun.

310 Es werden in dieser Beziehung teils thatsächlich, teils rechtlich die Ausführungen dieses Beschlusses als unrichtig kritisiert.

Der Bundesrat ist aber nicht Richter über die durch die Vorinstanz festgestellten Thatsachen. Aus der von der luzernischen Regierung veranstalteten amtlichen Untersuchung ergiebt sich ·zudem, daß die angefochtene Entscheidung in thatsächlicher Beziehung auf einer objektiven Würdigung eines Beweisergebnisses beruht.

Der einzige Punkt, den der Bundesrat rechtlich zu prüfen vermag, liegt in der Behauptung, daß es sich in keinem Falle -- nicht einmal unter der willkürlichen Voraussetzung, daß alle Beanstandeten den Gebrüdern Schnyder gestimmt haben -- rechtfertige, die von diesen erzielte Stimmenzahl um 6 zu reduzieren.

Wenn in dieser Beziehung der Regierungsrat des Kantons Luzern willkürlich vorgegangen wäre, so könnte darin eine Verletzung von Art. 4 B.-V. erblickt werden.

An sich kann es aber schon nicht als unvernünftig oder willkürlich angesehen werden, wenn bei Ermittlung eines Wahlresultates, wo es zweifelhaft ist, wem die von nicht stimmberechtigten Personen abgegebenen Stimmen gelten sollen, die Zahl der unberechtigt abgegebenen Stimmen von der Zahl der gültigen auf die Kandidaten gefallenen Stimmen abgezogen wird.

Dieses Verfahren führt nicht zu einem absolut sichern Resultate, da es möglich ist, daß die Stimmabgabe der unberechtigten Personen auf das Wahlresultat keinen ändern Einfluß als eine Verschiebung der Ziffer des absoluten Mehrs hat. Aber wenn der Inhalt dieser Stimmabgabe nicht zu ermitteln ist, so bleibt ein anderes Verfahren kaum übrig, wenn man wenigstens darüber sicher sein will, daß die Kandidaten auch gewählt worden wären, wenn die Nichtberechtigten ihnen nicht gestimmt hätten.

Auch kann die Entscheidung des Luzerner Regierungsrates deshalb nicht als eine willkürliche Handlung bezeichnet werden, weil, wie aus dem Bericht des Regierungsrates vom 12. Januar hervorgeht, die Praxis des Regierungsrates von jeher den in dem Kassationsbeschluß enthaltenen Standpunkt über die Berechnung der Stimmen nicht berechtigter Personen eingenommen hat. Die Beschwerdeführer können sich nicht beklagen, wenn ihnen gegenüber die gleichen durch die Praxis der Verwaltungsbehörden festgestellten Grundsätze zur Anwendung gebracht werden wie gegenüber ändern Personen. Wenn sogar eine durch Rechtsgründe gestützte Abweichung von einer feststehenden Praxis nicht

311 als rechtsungleiche Behandlung gelten kann (Bundesgericht, Sammlung der Entscheidungen, VII, S. 622, Erwägung 3"), so kann dies um so weniger bei konstanter Handhabung derselben Praxis der Fall sein.

Demnach wird erkannt: Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen, .

B e r n , den 19. Februar 1901.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der B u n d e s p r ä s i d e n t : Brenner.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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Bundesratsbeschluß über die Beschwerde des Lorenz und Emil Schnyder, in Rothenburg (Kanton Luzern), gegen die Kassation der Sigristenwahl in Rothenburg, vom 13. Oktober 1900. (Vom 19. Februar 1901.)

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20.02.1901

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