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Bundesratsbeschluß über

die Beschwerde des Pacolat, Maurice, und Duay, Julien, in Orsières, betreffend

die Feststellung der Zahl-der

Abgeordneten des Bezirks Entremont und des Kreises Orsières im Großen Rat des Kantons "Wallis.

(Vom 26. November 1901.)

Der s c h w e i z e r i s c h e Bundesrat

hat über die Beschwerde des P a c o l a t , M a u r i c e , und|Duay, J u l i e n , in Orsières, betreffend die Feststellung der Zahl der Abgeordneten des Bezirks Entremont und des Kreises Orsières im Großen Rat des Kantons Wallis ; auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluß gefaßt:

A.

In thatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Durch Dekret vom 12. Februar 1901 betreffend die Feststellung der Zahl der Abgeordneten im Großen Rat für die Amteperiode 1901 bis 1905 hat der Große Rat des Kantons Wallis die Zahl der Abgeordneten für den Bezirk Entremont mit einer

1045 Bevölkerung von 7283 Seelen auf acht, die des Kreises Orsières mit 2258 Seelen auf zwei festgestellt.

Durch Beschluß des Staatsrates des Kantons Wallis ist dieses Dekret am 24. Februar 1901 in allen Gemeinden des Kantons verlesen und angeschlagen worden.

Am 3. März 1901 wurden in Entremont und Orsières die Großratswahlen auf Grundlage dieses Dekretes vorgenommen.

II.

Mit Eingabe vom 22./2S. April haben Pacolat, Maurice, und Duay, Julien, beim Bundesrat die staatsrechtliche Beschwerde erhoben und das Rechtsbegehren gestellt: a. es möge das Dekret vom 12. Februar 1901 als verfassungswidrig aufgehoben werden, insofern es den zehnten, auf die Bruchzahl von 501 Seelen entfallenden Abgeordneten dem Bezirk Entremont ohne Orsières zuteilt; b. es solle demnach auch die Wahl der acht im Bezirk Entremont gewählten Abgeordneten und ihrer Ersatzmänner kassiert werden; c. es sollen neue Wahlen angeordnet werden und zwar so, daß der Bezirk Entremont sieben, der Bezirk mit dem Kreis Orsières zusammen einen Abgeordneten wählt.

Art. 69 der Walliser Staatsverfassung bestimmt: ,,Die Abgeordneten in den Großen Rat und deren Ersatzmänner werden für jeden Bezirk unmittelbar durch das Volk, im Verhältnis von einem Abgeordneten und einem Ersatzmann auf 1000 Seelen Bevölkerung, gewählt.

Die Bruchzahl von 501 zählt für 1000.

Die Volksabstimmung findet in den Gemeinden statt.

Die Wahl geschieht bezirks- oder kreisweise, Die kreisweise Wahl wird nur auf Begehren einer oder mehrerer Gemeinden des nämlichen Bezirkes, welche die zu einem oder mehreren Gesandten erforderliche Volkszahl haben, stattfinden."

Bei der letzten Volkszählung ist die Bevölkerung des Bezirks Entremont, mit Einschluß des Kreises Orsières, auf 9541 Seelen festgestellt worden; nach der citierten Verfassungsbestimmung hat der Bezirk also ein Recht auf zehn Abgeordnete in den

1046 Großen Rat. Nun bestimmt Art. 6 des Gesetzes des Kantons Wallis über die Abstimmungen und Wahlen in den Urversammlungen, vom 24. Mai 1876: .. TjDie Abgeordneten auf den Großen Rat und deren Suppleanten werden für jeden Bezirk unmittelbar durch das Volk gewählt im Verhältnis von einem Abgeordneten und einem Suppleanten auf 1000 Seelen Bevölkerung.

Die Bruchzahl von 501 zählt für 1000.

Die Wahl geschieht bezirks- oder kreisweise.

Die kreisweise Wahl wird nur auf Begehren einer oder mehrerer Gemeinden des gleichen Bezirkes stattfinden, welche die zu einem oder mehreren Abgeordneten erforderliche Volkszahl haben.

Die Bruchzahlen gehen für die Gemeinden, welche unabhängige Kreise, bilden, verloren, zu gunsten der übrigen Gemeinden des Bezirks, die natürlicherweise nur einen Kreis ausmachen.a Da nun der Kreis Orsières von der Vergünstigung des letzten Absatzes des Art. 69 der Verfassung Gebrauch gemacht und. sich vom Bezirk Entremont getrennt hat, dieser letztere 7283, und der Kreis 2258 Seelen zählt, so hat man bei der Verteilung der zehn Abgeordneten zuerst dem Bezirk Entremont sieben und dem Kreis Orsières zwei Abgeordnete zugeschieden. Wegen der Zuteilung des zehnten Sitzes gingen die Meinungen auseinander: Auf der einen Seite machte man geltend, daß, weil weder im Bezirk noch im Kreis ein Bruchteil von 501 Seelen bestand, welcher allein das Recht auf die Zuteilung eines weitern Kandidaten giebt, das Zusammenwirken der beiden Fraktionen, die zusammen die 501 Seelen besaßen, notwendig sei, und daß daher der Kreis z u s a m m e n mit dem Distrikt den zehnten Abgeordneten zu wählen habe. Auf der andern Seite verlangte der Staatsrat des Kantons Wallis -- und der Große Rat adoptierte dessen Ansicht -- daß nach dem Grundsatz .des Art. 6 des Wahlgesetzes der Bruchteil dem Kreis verloren gehe und dem Bezirk zu gut kommen müsse.

Diese letzere Interpretation nun, die dem Bezirk Entremont mit einem Bruchteil von 283 Seelen einen Vertreter giebt, während der Kreis Orsières mit einem Bruchteil von 258 Seelen jeder Vertretung beraubt wird, widerspricht dem Grundsatz der verhältnismäßigen Vertretung, der in der Verfassung und dem Wahlgesetz des Kantons Wallis ausgesprochen ist; dem Bezirk Entremont mit seinen 7283 Seelen acht Vertreter zu geben, heißt ihm

1047 die gleichen Rechte gewähren, wie wenn er 8000 Seelen zählte ; und es wird jedem Stimmfähigen des Bezirkes eine größere Stimmfähigkeit gegeben als den Stimmfähigen im Kreis. Diese Verteilungsart steht aber auch in Widerspruch mit dem in der Bundesverfassung niedergelegten Grundsatz der Rechtsgleichheit. Die Bestimmung des Art. 6 des Walliser Wahlgesetzes, auf die sich die Interpretation des Staatsrates und des Großen Rates des Kantons Wallis stützen, ist bereits im Jahre 1876 als verfassungswidrig angefochten worden, und es ist durch Urteil vom 8. Dezember 1876 vom Bundesgericht die Beschwerde in dem Sinne gutgeheißen worden, daß dasselbe verfügte: ,,1. Le recours est rejeté en tant qu'il a trait à la disposition de l'art. 6 de la loi électorale valaisanne, portant que les fractions se perdent pour les communes qui constituent des cercles indépendants.

5. Le recours est en revanche admis en ce sens que la disposition précitée de l'art. 6 de la môme loi, qui fait profiter aux autres communes du district les fractions d'électeurs perdues par les communes constituant des cercles indépendants, est déclarée incompatible avec les principes de l'égalité de citoyens devant la loi et de la proportionalité consacrés par les art. 3 et 69, al. 1, de la Constitution de ce canton." (B. G. Ent., Bd. 2, S. 489).

Die Erwägung zum zweiten Teil des Dispositivs lautet : la seconde partie de l'alinéa dernier de l'art. 6 fait profiter des ,,voix perdues les autres communes du district: une pareille disposition a pour effet immédiat et inévitable de transporter à une circonscription électorale étrangère l'exercice d'une portion plus ou moins notable du droit de vote d'une autre circonscription, et d'augmenter ainsi, au détriment des électeurs de celle-ci et en faveur de ceux de la première, l'importance et l'influence des suffrages d'un certain nombre de citoyens. Un semblable résultat, déjà en désaccord avec les principes généraux de justice distributive, va également à rencontre de ceux de l'égalité des citoyens devant la loi inscrits en tête de la Constitution du canton du Valais, et de la proportionnalité proclamée à l'alinéa 1 de l'art 69 de cette Constitution. Cette disposition ne saurait donc subsister dès l'instant où plusieurs citoyens réclament contre elle par voie de recours.

C'est en vain qu'on
objecterait qu'en négligeant les fractions des électeurs des cercles, sans les attribuer au reste dû district, on courrait le risque de ne pas obtenir le nombre de députés suffisant pour le représenter au prorata de sa population totale.

1048 Plusieurs méthodes, en effet, se présenteraient pour faire disparaître, cas échéant, cet inconvénient, par exemple celle qui consisterait à attribuer au district entier l'élection complémentaire des députés nécessaires pour parfaire sa représentation légale." Wenn man von den Erwägungen des bundesgerichtlichen Urteils ausgeht, kommt man unfehlbar zum Schluß, daß der Kreis Orsières ein Recht auf die ausschließliche Wahl von zwei Abgeordneten hat, und ferner das Recht, bei der Wahl den zehnten Abgeordneten zusammen mit dem Bezirk Entremont zu wählen.

Man würde vergeblich einwenden, daß der Große Rat des Kantons Wallis seit dem Urteil des Jahres 1876 schon mehrere Male gleiche Verfügungen getroffen habe wie in seinem Dekret vom 12. Februar 1901, ohne daß Beschwerde dagegen geführt worden wäre ; dieser Umstand kann das Rekursrecht der heutigen Beschwerdeführer nicht beeinträchtigen.

Was die Legitimation der Beschwerdeführer zur Erhebung eines staatsrechtlichen Rekurses betrifft, so steht dieselbe außer Zweifel, da Rekurrenten Wähler im Kreis Orsières sind. Bei der großen Zahl der Wähler im Kreis Orsières, der einen Viertel des Bezirkes Entremont ausmacht, kann der Kreis Orsières einen nicht unbeträchtlichen Einfluß auf den Ausfall einer Wahl ausüben.

III.

Der Staatsrat des Kantons Wallis, am 4. Mai 1901 zur Vernehmlassung eingeladen, beantragt beim Bundesrate durch Eingaben vom 4. und 23. September 1901 in seinem Hauptbegehren die Abweisung der Beschwerdeführer, in einem Eventualbegehren, ·es möchten dieselben behufs Erschöpfung der kantonalen Instanzen vorgängig an den Großen Rat des Kantons Wallis verwiesen werden.

Seinen Ausführungen ist folgendes zu entnehmen : Die Rekurrenten verlangen in ihrer Beschwerde die Aufhebung der Großratswahlen für den Bezirk Entremont vom 3. März 1901 ; diese Beschwerde hätten sie zuerst an den Großen Rat des Kantons Wallis richten sollen. Art. 34 der Verfassung des Kantons Wallis bestimmt: ,,Le Grand Conseil a les attributions suivantes: II vérifie les pouvoirs de ses membres et prononce sur la validité de leur élection'1 ; und Art. 17 des Wahlgesetzes vom 24. Mai 1876: ,,Die Einsprachen gegen die Wahl der Abgeordneten oder Ersatzmänner müssen, unter Verfallsstrafe, innert den sechs auf die Wahlverrichtung folgenden Tagen beim

1049 Staatsrate eingereicht werden. Der Staatsrat übermittelt diese Einsprachen an den Großen Rat, begleitet mit dem Verbal der darüber verordneten Untersuchungen. Der Große Rat allein bewährt die Vollmacht seiner Mitglieder.a Dies ist des weitern noch im Reglement für den Großen Rat vom 27. November 1866 ausgeführt. Erst nachdem sich die Legislative des Kantons Wallis ausgesprochen hat, können diejenigen, die mit ihrem Entscheide nicht einverstanden sind, bei der Bundesbehörde Beschwerde führen.

Die Bestimmungen der Verfassung des Kantons Wallis und des Wahlgesetzes vom 24. Mai 1876, auf die sich das Dekret des Großen Rates vom- 12. Februar 1901 stützt, sind keineswegs neues Recht; sie sind bereits unter der Herrschaft der radikalen Partei eingeführt worden. Der Gedanke bei der Zulassung der Kreise als Wahlkörper war der, daß allen Interessen eine Vertretung im Großen Rate gegeben werden sollte; es handelt sich also um eine Vergünstigung für die Minoritäten. Wenn nun aber der Gesetzgeber den Minoritäten diese Vergünstigung gewährt hat, muß es ihm auch freistehen, zu bestimmen, daß dio Bruchteile über 1000 Seelen dem Distrikt zu gute kommen müssen. Wie kann man aber auf der einen Seite von dieser Vergünstigung Gebrauch machen, welche anzunehmen ja niemand gezwungen ist, und auf der andern Seite sich über eine Verletzung der Proportionalität und der Gleichheit vor dem Gesetz beklagen ?

Auch das Urteil des Bundesgerichts vom 8. Dezember 1876 wird keinesfalls verletzt.

Die Beschwerdeführer gründen ihre Ansicht offenbar auf einen Irrtum, wenn sie annehmen, daß die Wahlen in den Großen Rat im Verhältnis von einem Abgeordneten auf 1000 Seelen vorgenommen werden, und daß ein Bruchteil von 501 Seelen gleichfalls das Recht auf Zuteilung eines Abgeordneten gäbe ; diese Verfassungs- und Gesetzesbestimmung bezieht sich nur auf die Verteilung und Zuteilung der Abgeordneten auf den g a n z e n Distrikt; wenn die Zahl der einem Distrikt zukommenden Abgeordneten einmal festgestellt ist, so können die Bruchteile weder einen Einfluß auf die Zahl der Abgeordneten, die dem Distrikt zufallen, ausüben, nqch auf die Zahl der Abgeordneten des Kreises.

Jedes andere Verfahren würde eine Ungerechtigkeit gegenüber den andern Distrikten ergeben, die sich nicht in Kreise gespalten haben.

Bundesblatt. 53. Jahrg. Bd. IY.

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1050 Die Ausführungen des bundesgerichtlichen Urteils, wonach die Bestimmung, welche die Bruchzahlen der Gemeinden, welche unabhängige Kreise bilden, zu gunsten der übrigen Gemeinden des Bezirkes verlorengehen läßt, aufgehoben ist, wurden vom Großen Rat auf die rationellste Art dahin ausgelegt, daß er die vor dem Erlaß dieses Urteils gepflogene Praxis dann beibehielt und den für den Bruchteil der Bevölkerung über 500 Seelen bestimmten Abgeordneten dem D i s t r i k t zuteilte, wenn der Distrikt im Verhältnis zum Kreis einen größern Bruchteil hatte ; während wenn der Kreis einen größern Bruchteil als der Distrikt aufwies, dann der Gesamtdistrikt, inklusive der Kreis den weitern Abgeordneten wählte. Wenn man die beiden Teile des bundesgerichtlichen Urteils vereinigen will, so bleibt dies die einzige logische Lösung.

Das Gericht läßt übrigens mehrere Lösungen zu, und die von ihm selbst vorgeschlagene ist nur das Beispiel einer solchen.

Nach dieser seiner Praxis ist der Staatsrat im Jahre 1882 verfahren, ohne daß sich irgend welche Opposition dagegen erhob : es geschah dies gegenüber den Gemeinden Ayer und St. Jean, welche zusammen einen Kreis von 1182 Seelen bildeten und l Vertreter erhielten, während der Bezirk Sierre mit 8474 Seelen 9 Vertreter erhielt; ganz gleich wurde es vier Jahre später in demselben Kreis gehalten. Auf Grund dieser 25jährigen Praxis hat der Staatsrat und der Große Rat des Kantons Wallis dem Distrikt Entremont und nicht dem Kreis Orsières den zehnten Abgeordneten zugeteilt, weil hier auch der Bruchteil des Distriktes größer ist als derjenige des Kreises.

Die Rekurrenten, die im Jahre 1876 an das Bundesgericht gingen, verlangten auch gar nicht, daß der wegen des Bruchteils einem Wahlkörper zukommende Abgeordnete dem Kreis zu gute kommen solle, weit davon entfernt! Sie verlangten nur, daß in keinem Falle in einem politischen Wahldistrikt, der in einen oder mehrere Kreise zerteilt sei, ein weniger Wähler zählender Wahlkörper mehr Vertreter haben dürfe als ein anderer mit einer größern Bevölkerungsziffer. Und sie fügten bei, daß selbstverständlich ein Bruchteil verloren gehe, daß es aber der schwächere Teil sei, der ihn verlieren müsse. Wenn das Bundesgericht diesen Rekurs gut hieß und zuließ, daß der Bruchteil dem Kreis verloren ging, dagegen nicht zuließ, daß der Bruchteil dem
Distrikt allein zufalle, so hat es als Lösung das heute angewandte Verfahren im Auge gehabt. Die von den heutigen Beschwerdeführern aufgestellte Behauptung, daß nämlich der Bruchteil von wenigstens 501 Seelen das Recht auf einen weitern Abgeordneten gäbe,

1051 hat das Bundesgericht bereits damals- ausdrücklich zurückgewiesen, indem es aussprach, daß diese Bestimmung nur auf die Verteilung resp. Zuteilung der Abgeordneten auf den ganzen Distrikt Bezug habe.

Überhaupt ist das vom Großen Rat adoptierte Verfahren den Bezirken viel günstiger als das von den Beschwerdeführern aufgestellte. Angenommen, ein Distrikt zähle 8413 Seelen und es habe sich von demselben ein Kreis mit 1912 Seelen selbständig gemacht, so verbleibt dem Distrikt eine Bevölkerung von 6501 Seelen. Nach dem System der Beschwerdeführer würde nun der Bruch von 501 das Recht zur Wahl eines weitern Abgeordneten geben, und es hätte der Distrikt 7 anstatt bloß 6 Abgeordnete zu wählen, während der Kreis mit seinen 1912 Seelen bloß einen Vertreter bekäme. Nach dem System des Großen Rates aber bekommt der Distrikt 6, der Kreis l Abgeordneten zugeteilt, und, da der auf den Kreis fallende Bruchteil größer ist als der auf den Distrikt fallende, so wählt der Gesamtdistrikt inklusive der Kreis den weitern, achten Abgeordneten.

Es kann im übrigen noch beigefügt werden, daß der Große Rat die Zuteilung von 8 Abgeordneten auf den Distrikt Entremont und von 2 Abgeordneten für den Kreis Orsières vorgenommen hat, ohne damit politische Ziele zu verfolgen, da weder die Zusammensetzung des Großen Rates noch diejenige des Bezirkes Entremont durch die Wahl des 10. Abgeordneten durch den Gesamtbezirk beeinflußt worden wäre.

Durch Auszug aus dem Protokoll des Großen Rates des Kantons Wallis ist festgestellt, daß die Wahlen vom 3. März 1901 vom Großen Rate in der Sitzung vom 20. Mai 1901 validiert worden sind.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: Die Regierung des Kantons Wallis hat in ihrer Beschwerdebeantwortung das ,,Eventualbegehrena gestellt, es sei die vorliegende Eingabe, weil Beschwerden gegen die Gültigkeit von Großratswahlen nach dem von der Walliser Verfassung und dem Wahlgesetz vorgeschriebenen Verfahren zuerst durch den Stäatsrat beim Großen Rat anhängig gemacht werden müßten, die Beschwerdeführer dies aber unterlassen hätten, wegen Nichterschöpfung des ordentlichen kantonalen Instanzenzuges von der Bundesbehörde zurückzuweisen. Nun gehen aber die Rechts-

1052 begehren der Rekurrenten beim Bundesrat 1) auf Aufhebung* des Wahldekretes des Walliser Großen Rates vom 12. Februar 1901 ; 2) auf Annullierung der auf Grund dieses Wahldekretcs vorgenommenen AVahlen der 8 Abgeordneten des Bezirkes Entremont vom 3. März 1901, sowie Vornahme von Neuwahlen. Die Einrede der Nichterschöpfung des kantonalen Instanzenzuges trifft also gegenüber dem ersten Rechtsbegehren von vorneherein nicht zu. Hinsichtlich des zweiten Rechtsbegehrens ist zu bemerken: Die Praxis des Bundesrates geht dahin, daß wo ein Akt der obersten kantonalen Vollziehungsbehörde in Frage steht, oder der Streit um eine auf eine Vielheit von Fällen anwendbare gesetzliche oder dekretale Bestimmung oder Regel sich dreht, die direkte Beschwerdeführung beim Bundesrate zulässig ist; eine nochmalige Verweisung an die kantonale Behörde wird als eine überflüssige Weiterung unterlassen. (Salis, Bundesrccht Bd. I, Nr. 195.)

Gleichermaßen ist der Bundesrat vorgegangen, und hat von einer Rückweisung abgesehen in einem Falle, wo der Rekurrent gegen eine ihn persönlich treffende Verfügung einer Kantonsbehörde Beschwerde führte, und die oberste in Sachen kompetente Kantonsbehörde noch nicht angegangen hatte, wo diese letztere aber in ihrer Beschwerdevernehmlassung an den Bundesrat die abweisende Verfügung der untern Instanz motivierte und materiell bestätigte (Bundesrat vom 24. August 1900 in Sachen der Beschwerde der Jean-Marie Bertrand gegen seine Ausweisung aus dem Kanton Geni). In casu hat der Staatsrat des Kantons Wallis als Vertreter der rekursbeklagten Partei in seiner Rekursbeantwortung vom 4. September nicht nur die Wahlen vom 3. März 1901 im Distrikt Entremont und Kreis Orsiòres als verfassungsmäßige bezeichnet und seine Rechtsgründe hiefür dargelegt, sondern es hatte schon vorher der Große Rat des Kantons Wallis selbst durch Beschluß in der Eröffnungssitzung vom 20. Mai 1901 die in Frage stehenden Wahlen validiert. Es ist hierbei noch zu beachten, daß er die Validation in einem Zeitpunkte aussprach, wo die vorliegende Beschwerde seitens der Bundesbehörde bereits dem Staatsrat zugestellt worden war, der gleichen Behörde, welche die gegen Großratswahlen gerichteten Beschwerden an den Großen Rat zu übermitteln hat. Die Rückweisung der vorliegenden Eingabe käme daher geradezu einer Verschleppung der Beschwerde gleich.

Der vorliegende Rechtsstreit dreht sich vorerst um die Frage, ob das Dekret des Großen Rates, welches unter Bezug auf O

ö

O

1053

Artikel 6, letzter Absatz, des Walliser Wahlgesetzes vom 24. Mai 1876 dem Bezirk Entremont mit 7283 Seelen 8 und dem Kreis Orsières mit 2258 Seelen 2 Abgeordnete in den Großen Rat zugeteilt hat, die in der Bundes- und Walliser Kantonsverfassung gewährleistete Gleichberechtigung, sowie den in der letztern aufgestellten Grundsatz der verhältnismäßigen Wahlvertretung verletzt.

Die Beschwerdeführer, beide stimmfähige Bürger von Orsières, behaupten, daß der Bezirk Entremont nur das Recht auf die Wahl von 7 Abgeordneten habe, und daß der weitere Abgeordnete gemeinsam durch den Bezirk mit dem Kreis Orsières gewählt werden müsse. Sie behaupten somit eine Beeinträchtigung ihrer Stimmberechtigung. Der Bundesrat ist daher nach Artikel 189, drittem Absatz, des Organisationsgesetzes, zur Entscheidung kompetent.

In materieller Beziehung ist festzuhalten, daß, wenn der Distrikt Entremont mit einer Bevölkerung von 7283 Seelen neben den sieben im Verhältnis von einem Abgeordneten auf 1000 Seelen ihm zukommenden Vertretern noch einen achten erhalten hat, während der Kreis Orsières mit 2258 Seelen nur zwei Vertreter wählen kann, in der That eine Verletzung der Rechtsgleichheit und des Grundsatzes der verhältnismäßigen Vertretung vorliegt.

Nicht darin ist die Rechtsverletzung zu erblicken, daß die Bruchzahl des Kreises von 258 Seelen zu keinem Vertreter kommt, denn es ist bereits durch das von den Parteien citierte Urteil des Bundesgerichts in Sachen Gex vom 8. Dezember 1876 ausgesprochen worden, daß es bundesrechtlich nicht anfechtbar sei, wenn in einem Kreis die Bruchzahl verloren gehe. Die Rechtsverletzung ist vielmehr darin zu erblicken, daß, während nur eine Bruchzahl von 501 Seelen zu einem weiteren Vertreter berechtigt, im Bezirk Entremont thatsächlich der Bruchzahl von 283 Seelen ein Vertreter zugeteilt worden ist, daß also dem Bezirk die Bruchzahl des Kreises gutgeschrieben wurde oder, wie die vom Bundesgericht aufgehobene Bestimmung des Art. 6 des Walliser Wahlgesetzes sich ausdrückte, die Bruchzahl für die Gemeinden, welche . unabhängige Kreise bilden, zu gunsten der übrigen Gemeinden des Bezirkes verloren geht. Das citierte bundesgerichtliche Urteil hat ein solches Verfahren deswegen als Verfassungsverletzung bezeichnet, weil es unmittelbar und unvermeidlich dem einen Wahlkörper die Ausübung eines
größern oder geringern Teiles des Stimmrechtes eines andern Wahlkörpers übertrage und so zum Nachteil der Wähler des erstem die Kraft der Wahlstimmen des letztern erhöhe. Diesen Standpxinkt vertritt auch der Bundesrat.

1054 Das Dekret des Großen Rates ist daher verfassungswidrig, soweit es dem Bezirk Entremont neben den sieben auf je 1000 Seelen kommenden Abgeordneten noch einen weitern achten Vertreter gegeben hat. Aus demselben Grunde sind die auf Grand dieses Dekretes vorgenommenen Wahlen vom 3. März 1901 aufzuheben, und zwar so, daß die Wahlen sämtlicher acht Abgeordneten des Bezirkes Entremont und deren Suppleanten dahinfallen ; die Wahlen des Kreises Orsières bestehen bleiben ; dies deshalb, weil bei den Bezirkswahlen nicht entschieden werden kann, welcher der acht Abgeordneten bei einer Beteiligung der Stimmen des Kreises die wenigsten Stimmen erhalten hätte, während anderseits die Stimmen der im Kreise Orsières Wählenden durch die gegenwärtige Entscheidung nicht beeinflußt erscheinen.

Wie soll nun die Wahl stattfinden? Es ist von jeder der Parteien dem Bundesrat ein System vorgelegt worden, nach welchem die vorliegende Wahl vorzunehmen sei. Es kann sich aber für den Bundesrat von vornherein nicht darum handeln, bei Anlaß der Entscheidung einer konkreten Wahl, wie dies heute der Fall ist, ein Wahlsystem festzustellen oder überhaupt nur eines der mehreren vielleicht möglichen Systeme zu nennen, nach welchem Wahlen solcher Art überhaupt vorgenommen werden sollen oder können ; es wäre dies eine Feststellung der prinzipiellen Tragweite des Art. 6 des Walliser Wahlgesetzes, wie sie das Bundesgericht bei der Entscheidung einer Beschwerde gegen den Art. 6 selbst hätte vornehmen können und zum Teil auch vorgenommen hat. Der Bundesrat kann heute auf Begehren einer Partei nur noch feststellen, wie die Wahl des bestimmten in Frage stehenden Abgeordneten durchgeführt werden kann, ohne daß der Grundsatz der Rechtsgleichheit und der Proportionalität verletzt wird. Von diesem Gesichtspunkte aus braucht der Bundesrat nicht zu prüfen, ob das von den Beschwerdeführern vertretene System richtig sei, wonach ein Bezirk nur dann den Abgeordneten für die Bruchzahl wählen könne, wenn er «ine über 500 hinausgehende Bruchzahl besäße, wobei es dann gleichgültig wäre, wie groß die Bruchzahl des Kreises ist; der Staatsrat des Kantons Wallis hat übrigens schon dargelegt, daß diese Berechnungsart ' gerade in dem Falle zu einem widersinnigen Resultate führe, wenn die Bruchzahl des Kreises größer sei als diejenige des Distrikts.

Es bleibt
in casu eine einzige Möglichkeit, den achten, bisher dem Bezirk Entremont zugeteilten Abgeordneten zu wählen, welche dem Grundsatz der Gleichheit und Proportionalität Genüge leistet;

1055 es ist diejenige, welche bereits das bundesgerichtliche Urteil vom 8. Dezember 1876 als das Beispiel einer Lösung vorgeschlagen hat: die Wahl durch den Gesamtdistrikt vornehmen zu lassen und das Dekret des Großen Rates des Kantons Wallis dahin zu modifizieren, daß die Zahl der vom Bezirk Entremont außer Orsières zu wählenden Abgeordneten für eine Bevölkerung von 7283 Seelen auf sieben, die dem Kreis Orsières mit 2258 Seelen zukommende Zahl auf zwei festgesetzt ist 5 der Gesamtbezirk, d. h. der mit Orsières vereinigte Bezirk Entremont, endlich hat einen weitern zehnten Abgeordneten zu wählen.

Demnach wird erkannt: Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen in folgender Weise für begründet erklärt: 1. die Wahl der acht für den Bezirk Entremont gewählten Abgeordneten und deren Suppleanten wird aufgehoben ; 2. das Dekret des Großen Rates des Kantons Wallis vom 12. Februar 1901 wird dahin modifiziert, daß die Zahl der vom Bezirk Entremont außer Orsières zu wählenden Abgeordneten für eine Bevölkerung von 7283 Seelen auf sieben, die dem Kreis Orsières mit 2258 Seelen zukommende Zahl auf zwei Abgeordnete festgesetzt ist und daß der Gesamtbezirk, d. h. der mit Orsières vereinigte Bezirk Entremont, einen Abgeordneten zu wählen hat; 3. der Staatsrat des Kantons Wallis wird eingeladen, die Wahlen des Bezirks Entremont und des mit dem Kreis Orsières vereinigten Bezirks Entremont in der sub 2 angegebenen Weise vornehmen zu lassen.

B e r n , den 26. November 1901.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Brenner.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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Bundesratsbeschluß über die Beschwerde des Pacolat, Maurice, und Duay, Julien, in Orsières, betreffend die Feststellung der Zahl der Abgeordneten des Bezirks Entremont und des Kreises Orsières im Großen Rat des Kantons Wallis. (Vom 26. November 1901....

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