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Schweizerisches Bundesblatt.

53. Jahrgang. III.

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Nr. 20.

15. Mai 1901.

Bundesratsbeschluß über

die Beschwerde des Dr. Italo Bcsta, Arzt in Tirano, gegen einen Entscheid des Kleinen Rates des Kantons Graubünden, vom 24. August 1900, betreffend die Frage der Übertretung der Übereinkunft zwischen der Schweiz und Italien (vom 28. Juni 1888), über die Zulassung der an der Grenze wohnenden Medizinalpersonen zur Berufsausübung.

(Vom 7. Mai 1901.)

Der schweizerische Bundes rat hat

über die Beschwerde des Herrn Dr. Italo B es t a, Arzt in Tirano, gegen einen Entscheid des Kleinen Rates des Kantons Graubünden, vom 24. August 1900, betreffend die Frage der Übertretung der Übereinkunft der Schweiz mit Italien (vom 26. Juni 1888), über die Zulassung der an der Grenze wohnenden Medizinalpersonen zur Berufsausübung, nach Kenntnisnahme der Akten und Anhörung seiner Departements des Innern und der Justiz und Polizei den hiernach stehenden Entscheid gefällt: Bundesblatt. 53. Jahrg. Bd. III.

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Aus den Akten ergiebt sich folgendes: Herr Dr. Italo Besta, von Sondrio, Besitzer eines italienischen Arztdiploms, und als Arzt domiziliert in dem nahe dem Schweizergebiete gelegenen Tirano, erhielt auf das Gesuch dey Gemeindevorstandes von Poschiavo unter dem 5. August 1898 vom Kleinen Rate des Kantons Graubünden die Erlaubnis zur Ausübung des ärztlichen Berufes in jener Gemeinde, weil dieselbe sich damals ohne einen mit einem schweizerischen Arztdiplom versehenen Arzt befand ; und zwar erhielt er diese Erlaubnis auf solange, als ein derartiger Arzt nicht dort niedergelassen sei.

Ein solcher zog dann aber schon im Dezember des genannten Jahres in der Person des Herrn Dr. Joseph Iseppi, von Brusio, in Poschiavo ein, worauf die erwähnte Erlaubnis zurückgezogen wurde.

Herr Dr. Besta fuhr hierauf fort, so oft er dazu Veranlassung hatte, seinen Beruf in Poschiavo auszuüben, und zwar, wie er sagt, auf Grund der Übereinkunft vom 28. Juni 1888, zwischen der Schweiz und Italien, betreffend die gegenseitige Zulassung der an der Grenze wohnenden Medizinalpersonen zur Berufsausübung. Infolge dieser ärztlichen Thätigkeit des Rekurrenten sah sich das Physikat Bernina, d. h. der mittlerweile zum Bezirksamt des Kreises Bernina ernannte Kollege des Herrn Dr. Besta, Herr Dr. Joseph Iseppi, Ende Dezember 1899 zu einer Beschwerde beim Sanitätsdepartement des Kantons Graubilnden bewegen, die dahin ging, daß Herr Dr. Besta trotz Entzuges der Bewilligung zur Ausübung der ärztlichen Praxis seinen Beruf in Poschiavo ausübe und sogar unter dem Namen des Tierarztes Bondolfi eine eigene Apotheke halte.

Herr Dr. Besta erwiderte, er habe, nachdem ihm die kleinrätliche Bewilligung zur Ausübung der ärztlichen Praxis entzogen worden sei, in Poschiavo nur mehr praktiziert, wenn er direkt von den von Krankheit betroffenen Familien gerufen worden sei, was er an der Hand einer Menge von Briefen und Telegrammen beweisen könne. Was sodann die von ihm gehaltene Apotheke anbetreffe, müsse er darauf hinweisen, daß in Poschiavo keine Apotheke vorhanden gewesen sei, als er die kleinrätliche Bewilligung erhalten habe, er habe daher eine kleine Hülfsapotheke gehalten, die er aber wieder geschlossen habe, nachdem ihm -die Erlaubnis zur Praxis entzogen worden sei.

Nur einige Male habe er Medikamente aus einer Apotheke in

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'Tirano mit sich genommen, weil er dieselben in Poschiavo nicht habe erhalten können.

Der Kleine Rat von Grau blinden, vor dem diese Beschwerde ·zum Austrage kam, zog dann folgendes in Erwägung: Daß Dr. Italo Besta trotz Entzug der ihm unter dem 5. August 1898 erteilten provisorischen Bewilligung seinen Beruf in Poschiavo weiter ausgeübt, einen großen Teil des Jahres sich -dort aufgehalten, die Gemeinde-, und, wie aus einer Bescheinigung der kantonalen Finanzverwaltung hervorgehe, eine Kantonsrsteuer von Fr. 1000 bezahlt habe. Herr Dr. Besta habe sich daher einer Übertretung der Sanitätsordnung schuldig gemacht, die bestimme, daß niemand im Kanton den ärztlichen Beruf ausüben dürfe, der nicht im Besitze eines eidgenössischen Diploms ·oder eines vor dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes über Freizügigkeit des Medizinalpersonals erworbenen kantonalen Patentes sei. Derselbe könne sich mit Bezug auf sein Verhalten nicht auf die Übereinkunft zwischen der Schweiz und Italien, betreffend die gegenseitige Zulassung der an der Grenze wohnenden Medizinalpersonen zur Berufsausübung berufen. Art. 2 dieser Übereinkunft bestimme nämlich, daß Ärzte (und Tierärzte) bei
Nun könne einmal aus dem Umstände, daß Dr. Italo Besta dem Kantone einen Erwerb von Fr. 1000 versteuere, geschlossen werden, daß die Praxis desselben, d i e j e n i g e der Grenzpraxis überschreite. Es gehe denn auch aus den dem Sanitätsdepartement zugegangenen Berichten hervor, daß Dr. Besta in der Regel -wöchentlich nach Poschiavo komme, sich häufig mehrere Tage daselbst aufhalte und so einen größern Teil des Jahres in Poschiavo rzubringe, wo er auch ein Zimmer in Miete habe. Es komme dies faktisch einer Domizilnahme gleich. Auch scheine Herr Dr. Besta sich in Bezug auf die Verabreichung von Arzneimitteln nicht strenge an die Übereinkunft über die Grenzpraxis gehalten zu haben.

Gestützt auf diese Erwägungen verurteilte der Kleine Rat Herr Dr. Besta durch Entscheid vom 6. März 1900 zu einer Buße von Fr. 50 und forderte ihn auf, sich künftig genau an

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die Bestimmungen der mehrfach angerufenen Übereinkunft zu halten, ansonst ihm die Berechtigung zur Ausübung der Grenzpraxis entzogen werden müßte.

Der Rekurrent entrichtete die ihm auferlegte Buße und fuhr mit seiner Berufsausübung fort, jedoch, wie er sagt, indem er sich streng an die Bestimmungen der Übereinkunft hielt; demgemäß gab er die Miete eines eigenen Zimmers in Poschiavo auf, enthielt sich außer in Fällen dringender Gefahr gänzlich der Verabfolgung von Heilmitteln und kam auch nur nach Poschiavo zum Krankenbesuche, wenn er besonders dazu gerufen wurde.

Indessen trat nun ein Umstand auf, der den Rekurrenten, abgesehen von seiner medizinischen Praxis, zu einem häufigem Aufenthalte am genannten Orte veranlaßte, nämlich persönliche Beziehungen zu einer Dame in Poschiavo, die bald zu einem Verlöbnis und im September verflossenen Jahres zur Heirat führten.

Unter dem 11. Mai 1900 erfolgte eine neue Klage des PlrysikatvS Bernina gegen Herrn Dr. Besta wegen Übertretung der schweizerisch-italienischen Übereinkunft betreffend die Grenzpraxis, sowie wegen Nichtbeachtung des Bußdekretes vom 6. März 1899. Zur Begründung war angebracht, Herr Dr. Besta fahre, ungeachtet dieses Dekretes, fort, in früherer Weise zu praktizieren. Meistens befinde er sich im Flecken Poschiavo.

Zweimal fahre er wöchentlich, jeweils nachmittags, nach dem Veltlin hinaus und sei ändern Tags am Mittag wieder in Poschiavo.

Sowohl in Borgo di Poschiavo als in allen ändern Ortschaften von der schweizerisch-italienischen Grenze bis an den Fuß des Bernina habe er zahlreiche Patienten in steter Behandlung. Auch sei es sehr fraglich, ob der Kreis Poschiavo, der 15 Kilometer von der Grenze entfernt sei, als Grenzgebiet im Sinne der mehrgenannten Übereinkunft betrachtet werden könne. Unter dem Hinweis, daß seine Angaben auch von den in Poschiavo und Brusio stationierten Landjägern bestätigt werden, verlangte das klagende Physikat, daß Herrn Dr. Besta wegen fortgesetzter Übertretung der schweizerisch-italienischen Übereinkunft, betreffend die Grenzpraxis, die Bewilligung zur Ausübung dieser Praxis im Kanton Graubünden entzogen werde.

Herr Dr. Besta erwiederte darauf, er sei seit Mitte April 1900, wenn er nach Poschiavo gekommen sei, meistens nicht erschienen, um daselbst den ärztlichen Beruf auszuüben, sondern aus rein persönlichen
Interessen, da er, wie bekannt, mit einer Dame in Poschiavo verlobt sei. Seine Besuche an diesem Ort haben sich daher nicht auf die dortigen Kranken bezogen, wie

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es der Bezirksarzt und die beiden Landjäger anzunehmen scheinen.

Es könne ihm auch von niemand deshalb ein Vorwurf gemacht werden, wenn er sich unter derartigen Umständen eine gewisse Zeit in Poschiavo aufhalte. Er sei seit obengenannter Zeit nie nach Poschiavo gekommen, um daselbst zu praktizieren, außer wenn er zuvor schriftlich, oder telegraphisch, oder durch persönliches Ersuchen in Tirano gebeten worden sei. Krankenbesuche in Poschiavo zu machen. Zum Beweis dessen erstatte er eine Anzahl Briefe und Depeschen zu den Akten. Herr Dr. Italo Besta erklärte ferner, er habe einen einzigen schweren Fall in konstanter Behandlung; sofern er nicht absolut gezwungen sei, nehme er keine B'älle in Behandlung, die eine stete Behandlung verlangen. Was das Zimmer anbetreffe, das er früher in Miete gehabt habe, müsse er bemerken, daß er nach Empfang des Bußdekrets des Kleinen Rats, vom 6. März 1900, die Miete dem Tierarzt Bondolfi gekündigt habe. Wenn er in Poschiavo über Nacht bleibe, so nehme er allerdings nach wie vor bei Herrn Bondolfi Kost und Logis, er bezahle aber jeweilen sofort sein Zimmer.

Der Kleine Rat maß diesen Ausführungen des Herrn Dr.

Besta nicht große Bedeutung bei, sondern neigte in seinem Entscheide dem Gesichtspunkte des klagenden Bezirksarztes Dr. Iseppi zu, indem er folgendes in Erwägung zog: Aus den Akten ergebe sich als feststehende Thatsaehe, daß Herr Dr. Italo Besta auch nach Empfang des Bußdekretes vom ·6. März 1900 in der Regel wöchentlich zwei- bis dreimal nach Tirano hinausgefahren und ändern Tages am Morgen früh wieder nach Poschiavo zurückgekehrt sei. Wenn er morgens nach Tirano gefahren sei, so sei er gewöhnlich am Abend des gleichen Tages nach Poschiavo zurückgekehrt. Dr. Italo Besta befinde sich somit meistens in Poschiavo und habe hier, und nicht in Tirano, seine Hauptpraxis. Es müsse daher, wie dies bereits im Bußdekret vom 6. März 1900 hervorgehoben sei, bemerkt werden, daß die Praxis des Dr. Italo Besta diejenige der Grenzpraxis überschreite. Dr. Italo Besta bringe nach wie vor dem bezeichneten Dekret den größern Teil des Jahres in Poschiavo zu.

Ob er den Mietvertrag über das von ihm im Hause des Tierarztes Bondolft befindliche Zimmer gekündet habe oder nicht, sei irrelevant, und ebenso, ob er dem Herr Bondolfi tagtäglich das Logis bezahle, oder ob dies wöchentlich oder monatlich geschehe. Ausschlaggebend sei, daß Dr. Besta mehr in Poschiavo sich befinde und dort übernachte, als in Tirano, oder überhaupt

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auf dem Gebiete des Königreichs Italien. Dies komme faktisch?

einer Domizilnahme gleich. Nach Art. 3 der Übereinkunft zwischen der Schweiz und Italien, betreffend die gegenseitige Zulassung der an der Grenze wohnenden Medizinalpersonen zur Berufsausübung, seien Personen, die in Gemäßheit der Art. l in den in der Nähe der Grenze gelegenen Ortschaften des Nachbarlandes ihren Beruf ausüben wollen, nicht befugt, sich in dea ihnen fremden Staat einer ununterbrochenen Thätigkeit hinzugeben,, oder sich daselbst wohnhaft einzurichten, es sei denn, daß siesich der im dortigen Lande geltenden Gesetzgebung und namentlich einer nochmaligen Prüfung unterwerfen. Aus der Fassung dieses Art. 3 müsse geschlossen werden, daß derjenige italienische Arzt, der auch in den schweizerischen Grenzorten seinen Beruf ausüben will, seine Hauptpraxis sowie sein Domizil aufT italienischem Gebiet haben müsse. Derselbe sei nur berechtigt,, von seinem italienischen Domizil aus auf bezügliche Berufungen, auf Schweizergebiet zu praktizieren und müsse nach Absolvierungseines Besuches in der Regel wieder in sein Domizil zurückkehren, wie dies jeder praktizierende Arzt zu thun pflege. Herr Dr. Italo Besta habe sich daher einer abermaligen Übertretung der genannten Übereinkunft schuldig gemacht und der Aufforderung des Kleinen Rates, sich genau an die Bestimmungen dieser Übereinkunft zu halten, keine Folge geleistet. Seine Einrede,, er habe sich mit einer in Poschiavo wohnenden Dame verlobt,, und deshalb befinde er sich so oft in Poschiavo, könne nicht gehört werden. Dieselbe beziehe sich einerseits nur auf die verhältnismäßig kurze Zeit nach Mitte April und anderseits stehe ihr die bestimmte Erklärung des Physikats Bernina gegenüber, daß Dr. Italo Besta fortgesetzt praktiziere. Die Erklärung des, Physikats werde auch gestützt durch die Danksagung eines Patienten im Grigioni italiano vom 21. April a. c.

Auch die Berufung darauf, daß sich in der schweizerischitalienischen Übereinkunft keine Bestimmungen betreffend Ausdehnung der Grenzpraxis finden, weshalb er -- Dr. Besta -- zu jeder Zeit in Poschiavo seinen Beruf auszuüben befugt sei, könne nicht genügen, um seine Ansprüche zu begründen. Die' angerufene Übereinkunft könne ihm am allerwenigsten ein Recht geben, an einem Orte dauernd zu praktizieren, der sich wie Poschiavo, 15 Kilometer
von der Grenze entfernt befinde.

In Betracht dieser Erwägungen fällte der Kleine Rat vonGraubünden u n t e r dem 24. A u g u s t 1900 seinen E n t s c h e i d dahin, daß Herrn Dr. Italo Besta wegen fortgesetzter

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Übertretung der Übereinkunft zwischen der Schweiz und Italien, betreffend die Zulassung der an der Grenze wohnenden Medizinalpersonen zur Berufsausübung, vom 28. Juni 1888, j e d e s Recht zur Ausübung des ärztlichen Berufes im K a n t o n G r a u b ü n d e n e n t z o g e n sei.

Gegen diesen Entscheid hat Herr Dr. Besta durch Eingabe vom 15. Oktober 1900 den R e k u r s an den Bundesrat ergriffen und macht in rechtlicher Beziehung folgendes gegen denselben geltend : Der Art. l der genannten Übereinkunft gewähre den italienischen, in der Nähe der schweizerischen Grenze wohnenden Ärzten, das Recht, ihren Beruf in den in der Nähe der Grenze gelegenen schweizerischen Ortschaften in gleichem Maße wie in der Heimat auszuüben, unter dem einzigen Vorbehalt der in Art. 2 derselben Übereinkunft enthaltenen Beschränkung, daß sie dort kein Domizil begründen.

Außer dieser Einschränkung dürfe der Ausübung ihres Berufes, wie solche ihnen in Italien zustehe, kein Hindernis entgegengesetzt werden, und sie dürfen die Grenze zu jeder Stunde des Tages und der Nacht überschreiten. Hieraus ergebe sich, daß die häufigere oder weniger häufige Ausübung ihres Berufes in den Grenzorten des benachbarteu Landes an sich allein nicht als eine Verletzung der Übereinkunft angesehen werden dürfe ; noch viel weniger die Thatsache, daß die Gemeinde Poschiavo sich in einer gewissen Entfernung von der Grenze befinde, denn die schweizerisch-italienische Übereinkunft stelle nicht, wie die gleichartige mit Frankreich, für die Grenzpraxis eine bestimmte /one auf. Die Aufstellung einer solchen sei allerdings bei den Verhandlungen über den Abschluß der Übereinkunft von den italienischen Delegierten vorgeschlagen, von den schweizerischen jedoch abgelehnt worden (zu vergleichen v. Salis, Schweizer.

Bundesrecht).

2. Der Kleine Rat von Graubünden stutze sich in seinem Entscheide vom 24. August 1900 ausschließlich auf die Thatsache, daß Herr Dr. Besta nach seinem, des Kleinen Rates, Ermessen zu häufig nach Poschiavo gekommen, und er ziehe hieraus den kühnen Schluß, daß er, der Rekurrent, dort wirklich, oder wie man annehmen müsse, sein Domizil gehabt habe, während doch die häufige Anwesenheit des Dr. Besta in Poschiavo, wie oben bemerkt, sich aus Beweggründen erkläre, die der Ausübung des ärztlichen Berufes gänzlich fremd seien, und er niemals aufge-

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hört habe, sein rechtliches und wirkliches Domicil in Tirano, Veltlin, zu haben.

Daß der klagende schweizerische Arzt, der es beharrlich verweigert habe, die Rechtfertigungen des Rekurrenten anzuhören, und ihn sogar durch die Landjäger habe überwachen lassen, die Beweggründe des häufigen Aufenthaltes des Rekurrenten in Poschiavo nicht habe kennen können oder nicht habe kennen wollen, verwundere den letztern nicht, wohl aber müsse er erstaunen, wie der Kleine Rat von Graubünden daraus den unerhörten Schluß ziehen dürfe, daß er, der Rekurrent, der während seinen Anwesenheiten in Poschiavo seine Mahlzeiten stets im Hotel eingenommen und für das Nachtquartier jeden Morgen bezahlt habe, durch diese Anwesenheiten die schweizerisch-italienische Übereinkunft über die medizinische Grenzpraxis verletzt nnd sich dadurch der aus ihr entspringenden Rechte habe verlustig machen kommen, und daß diese Verlustigerklärung durch einen bloßen Entscheid des Kleinen Rates geschehen könne, ohne Mitteilung an den Bundesrat, dem allein die Kompetenz zu einer derartigen Schlußnahme nach stattgefundener Verständigung mit dem ändern vertragschließenden Staate zustehe.

Da es sich im vorliegenden Falle um die Anwendung einer noch in Kraft bestehenden internationalen Übereinkunft handle, aus der ihm, dem Rekurrenten, als italienischem Bürger und Arzt Rechte erwachsen, sei er genötigt, in erster Linie den Schutz des Bundesrates für diese Rechte anzurufen und demnach zu verlangen : daß der Entscheid des Kleinen Rates von Graubünden vom 24. August 1900 aufgehoben werde; eventuell daß sein Recht der Berufsausübung in dem durch die schweizerisch-italienische Übereinkunft über die medizinische Grenzpraxis vom 28. Juni 1889 vorgesehenen Maße anerkannt werde, und zwar -- sofern es nach dieser Übereinkunft zulässig wäre -- unter der durch den ßundesrat oder den Kleinen Rat von Graubünden aufzustellenden Kontrolle, der zu unterwerfen der Rekurrent sich bereit erkläre.

Der Kleine Rat des Kantons Graubünden, über den Inhalt der Rekursschrift zur Vernehmlassung eingeladen, beruft sich in seiner Antwort vom 11. Januar dieses Jahres in betreff der Darstellung der thatsächlichen Verhältnisse auf seine beiden Entscheide vom 6. März und 24. August 1900 und führt dann in rechtlicher Beziehung folgendes aus:

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1. Es sei allerdings richtig, daß die Übereinkunft zwischen der Schweiz und Italien für die Grenzpraxis keinen bestimmten Rayon festsetze. Allein es liege in der Natur der Sache, daß ·ein Arzt, der in Tirano wohne und sich an die Bestimmungen ·der erwähnten Übereinkunft halte, nicht beinahe ausschließlich in Poschiavo praktizieren und den größten Teil seiner Zeit dort zubringen dürfe. Es setze dies voraus, daß er die Bestimmungen der Übereinkunft umgehe, indem er zwar formell sein Domizil in Tirano aufrecht erhalte, dagegen faktisch sich mit kurzen Unterbrechungen in Poschiavo aufhalte, wo der Mittelpunkt seiner Berufsthätigkeit liege. Damit setze sich ein solcher Arzt mit dem Sinn der Übereinkunft in Widerspruch. Diese spreche denn auch bloß von der Ausübung der ärztlichen Berufsthätigkeit in den in der Nähe der Grenze liegenden Orten. Hätte Dr. Besta sich in den Schranken der Grenzpraxis gehalten, so hätte er wohl das eine oder andere Mal auch in Poschiavo erscheinen können, allein es wäre ihm nicht möglich gewesen, daselbst beinahe ständig zu praktizieren.

2. Die Übereinkunft der Schweiz mit Italien enthalte für den Fall der Überschreitung der in ihr enthaltenen Bestimmungen keine Strafandrohung, wie z. B. diejenige zwischen der Schweiz und Frankreich. Allein es sei doch wohl selbstverständlich, daß es im Willen der vertragschließenden Teile gelegen habe, daß die Vorschriften der Übereinkunft eingehalten werden. Dies setze aber voraus, daß die kantonalen Behörden das Recht besitzen, Übertretungen zu ahnden, d. h. die fehlenden Ärzte mit Buße zu belegen, und wenn sich solche als fruchtlos erweisen, von dem ·einzig noch übrig bleibenden Mittel Gebrauch zu machen, nämlich ihnen die durch die Übereinkunft gewährte Vergünstigung zu entziehen. Dieses letzte Mittel habe gegen den Herrn Dr. Italo Besta zur Anwendung gebracht werden müssen. Er habe deshalb kein Recht, sich über die Verletzung der schweizerisch-italienischen Übereinkunft zu beschweren. Daß der Kleine Rat auf die nachträglich von Dr. Besta gemachten Vorschläge nicht wohl mehr habe eintreten können, dürfte ohne weitere Begründung klar sein.

3. Wenn für den Kleinen Rat irgendwo Veranlassung vorliege, die in Graubünden wohnenden Ärzte gegen Überschreitung der Grenzpraxis von Seiten fremder Ärzte zu schützen, so treffe dies bei Poschiavo
zu. Er, der Kleine Rat, möchte den Fall, der vor cirka drei Jahren eingetreten sei, sich nicht wiederholen lassen ; den Fall nämlich, daß die in Poschiavo praktizierenden

362 Ärzte mit schweizerischem Diplom von dort wegziehen und er, der Kleine Rat, infolgedessen, um diese gegen das Engadin hin abgeschlossene Thalschaft nicht ohne ärztliche Hülfe zu lassen, gezwungen sei, fremde Ärzte ohne eidgenössisches Diplom vom Veltlin heranzuziehen und diese auch mit der Handhabung der Sanitätspolizei im Bezirk Bernina zu betrauen.

Sollten aber die im Falle des Dr. Besta. vorliegenden Thatsachen nicht genügen, um eine Verfügung,, wie er, der Kleine Rat, sie getroffen habe, zu rechtfertigen, so werde es kaum mehr möglich sein, dem Mißbrauch der in der sogenannten Grenzpraxis liegenden Vergünstigung und dessen Folgen zu steuern.

Auf Grund dieser Anbringen und indem er im übrigen auf die Akten verweist, stellt der Kleine Rat von Graubünden den Antrag, es sei der Rekurs des Herrn Dr. Italo Besta abzuweisen.

Der Bundesrat zieht in Erwägung: I. Die Kompetenzfrage betreffend: Herr Dr. Besta war berechtigt, auf dem Wege des staatsrechtlichen Rekurses gegen den Entscheid des Kleinen Rates von Graubünden, vom 24. August 1900, an den Bundesrat zu rekurrieren, und dieser hat sich mit dem Streite zu befassen gestützt auf Art. 189 des Bundesgesetzes vom 22. März 1893 über die Organisation der Bundesrechtspflege ; der Schlußsatz dieses Artikels lautet wie folgt: ^Endlich sind vom Bundesrate oder von der Bundesversammlung zu behandeln : A n s t ä n d e , h e r r ü h r e n d aus d e n j e n i g e n B e s t i m m u n g e n der S t a a t s v e r t r ä g e mit dem Ausland, welche sich auf Handels- und Zollverhältnisse, Patentgebühren, F r e i z ü g i g k e i t , Niederlassung und Befreiung vom Militärpflichtersatz beziehen."· Im vorliegenden Falle handelt es sich um die Freizügigkeit gewisser Medizinalpersonen auf Grund eines Staatsvertrages mit dem Ausland.

II. Das Materielle des Rekurses betreffend: Die Motive des regierungsrätlichen Beschlusses gehen von der Annahme aus, daß Herr Dr. Besta in Poschiavo thatsächlich Domizil genommen und dadurch den Art. 3 der Übereinkunft verletzt habe.

Dem gegenüber ist zunächst hervorzuheben, daß Art. l den Medizinalpersonen gestattet, ihren Beruf in den in der Nähe ge-

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legenen Grenzorten ,,in gleichem Maße"1 auszuüben, wie ihnen dies in ihrem Heimatlande gestattet ist; der Umfang ihrer Berufsausübung ist also durchaus nicht beschränkt. Nur dürfen die Ärzte keine Medikamente verabreichen, ausgenommen in Notfällen. Dieser Punkt, obgleich in der Anzeige des Bezirksarztes, von Bernina erwähnt, ist vom Kleinen Rate nicht in Betracht gezogen worden. Wenn nun in diesem Entscheide gesagt wird i ,,"Aus der Fassung des Art. 3 der Konvention muli geschlossen werden, daß derjenige Arzt, der auch in schweizerischen Grenzorten seinen Beruf ausüben will, seine Hauptpraxis auf italienischem Gebiete haben muß; tt so ist dieser Schluß als zu weitgehend abzulehnen; denn welchen Umfang die Praxis des Grenzarztes, haben darf, darüber bestimmt die Konvention gar nichts, und wenn der italienische Arzt auch den größern Teil seiner Praxis auf schweizerischem Gebiete haben würde, so wäre dagegen auf Grund der Konvention nichts einzuwenden, wenn er sich sonst an deren Bestimmungen hält. Auch würde es keine Verletzung der Konvention bedeuten, wenn Herr Dr. Besta Patienten in dauernde Behandlung nimmt. Denn es gehört zur Ausübung der ärztlichen Praxis, daß der Arzt einen Kranken bis zu dessen Heilung pflegt. Der Begriff ,,Hauptpraxis" ist wohl überhaupt ein viel zu unbestimmter und dehnbarer, um darauf rechtliche Erwägungen stützen zu können.

Überdies hat Herr Dr. Besta eine ganze Reihe von Briefen; und Telegrammen vorgelegt, welche sich bei den Akten befinden und aus denen sich ergiebt, daß er von diesen Personen gerufen worden ist. Ein Nachweis, daß er in anderer Weise praktiziert hätte, ist aus den Akten nicht ersichtlich.

In Bezug auf die Frage der Domizilnahme ergiebt sich aus.

den Akten folgendes : Aus einer Bescheinigung des Bürgermeisters (Sindaco) von Tirano vom 16. Oktober 1900 geht hervor, daß Herr Dr. Besta seit dem Jahre 1896 bis zum Tage der Ausstellung der Bescheinigung sein Domizil ununterbrochen in Tirano, hatte und von dort aus auch in der Nachbarschaft, insbesondere in Sernio, praktizierte.

Landjäger Meyer in Brusio bescheinigt in einem Briefe vom -8. Mai 1900: a. daß Herr Dr. Besta meistens zwei- bis dreimal per Woche nach dem Veltlin fahre ; ,,wenn er nachmittags hinausging, kehrte er meistens am ändern Tage zurück; es kam vor, daß er morgens hinausging und abends zurückkehrte ;tt

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b. ein jeder, der erkrankte, mit wenigen Ausnahmen, ließ Herrn Dr. Besta rufen.

Landjägerkorporal Schmid bescheinigt am 9. Mai 1900, daß nach seinen Aufzeichnungen Dr. Besta am 20., 21. und 22. April in Poschiavo gewesen und daß derselbe sich ,,nach dem 15. März bis heute sehr oft, wie bereits früher geübt, hier (in Poschiavo) aufhielt und nur zeitweilig Reisen nach Brusio oder Tirano machte".

Der Gemeindevorstand von Poschiavo bescheinigt am 7. Juli 1900: daß die Behauptung des Dr. Besta, er wäre seit Mitte April in Poschiavo verlobt, auf Grund amtlicher Akten bestätigt werden könne ; daß Dr. Besta sich in Poschiavo nicht dauernd niedergelassen habe.

Aus einem mit dem Tierarzte Bondolfl abgehaltenen Verhör ergiebt sich, daß Herr Dr. Besta das früher dauernd gemietete Zimmer am 18 März -- Tag, an welchem ihm das frühere Bußdekret des Kleinen Rates mitgeteilt wurde -- aufgekündet hat und daß er von da an immer für einzelne Male, wenn er bei Herrn Bondolfi übernachtete, sofort Bezahlung geleistet hat.

Aus einer Bescheinigung der kantonalen Finanzkontrolle vom 2. März 1900 geht hervor, daß Herr Dr. Besta für 1899 auf den Steuerlisten von Poschiavo stand und dem Kanton Graubünden für dieses Jahr eine Steuer für einen Erwerb von Fr. 1000 entrichtet hat.

Aus allen diesen akten mäßigen Thatsachen ergiebt sich nach dem Erachten des Bundesrates der Schluß, den der Kleine Rat ·des Kantons Graubünden gezogen hat -- daß das Verhalten des Herrn Dr. Besta einer faktischen Domizilnahme gleichkomme -- n i c h t , sondern höchstens, daß Herr Dr. Besta sich häufig in Poschiavo aufhält, sei es, weil er dort eine Verlobung eingegangen war, sei es, weil er häufig von Kranken gerufen wurde. Aber ein Domizil erhellt nicht aus den Thatsachen. Daß Herr Dr. Besta mehrfach in Poschiavo übernachtete, beweist noch-keine dauernde Niederlassung. Gegen ein Domizil spricht insbesondere die Bescheinigung der Gemeindebehörde von Tirano, die ihn als an diesem Orte domiziliert erklärt, und der Mangel einer festen Wohnung in Poschiavo. Er hatte früher dort ein Zimmer dauernd gemietet, hat dasselbe aber aufgegeben und zahlt wie ein gewöhnlicher Passant in der Pension des Tierarztes Bondolfi für jedes

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Übernachten. Die Angaben der Polizeiangestellten erstrecken sich, auf einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum und beziehen sich größtenteils auf denjenigen, in welchen die Verlobung des Rekurrenten fällt. Er giebt aber selbst zu, daß er während dieser Bräutigamszeit mehr als sonst in Poschiavo verweilt habe.

Die Steuerzahlung in Poschiavo kann für das Domizil nicht entscheidend sein, da es nicht als unangemessen erscheint, daß Herr Dr. Besta den Teil seines Einkommens, den er dort verdient, auch dort versteuert. Dagegen spricht der versteuerteBetrag nicht dafür, daß der Rekurrent den größten Teil seiner Praxis in Poschiavo gehabt habe. Zudem bezieht sich diese Steuerzahlung auf das Jahr 1899, nicht auf die inkriminierte Zeitperiode des Jahres 1900.

Es fehlt somit schon an den thatsächlichen Momenten des Domizilbegriffes, welche einen dauernden Aufenthalt an einem Orte verlangen, geschweige denn, daß aus den aktenmäßigen Thatsachen die Absicht des Herrn Dr. Besta, sich bleibend in Poschiavo niederzulassen, hervorginge.

Aus dem Thatbestand läßt sich nur schließen, daß Herr Dr. Besta bei einem großen Teile der Bevölkerung von Poschiavoein beliebter Arzt ist und seine Dienste häufig in Anspruch genommen werden, daß er sich deshalb auch häufig in Poschiava aufhält, aber nicht, daß er dort wirklich Domizil genommen hat.

Daß er durch die Konvention verhindert sei, in Poschiavo zu übernachten und jeden Abend nach Tirano zurückkehren müsse, wie der Kleine Rat in seinem Urteil annimmt, ergiebt sich aus deren Bestimmungen nicht.

Schließlich kann der Bundesrat sich der Bemerkung nicht enthalten, daß die Berichte des Bezirksarztes von Bernina, namentlich derjenige vom 28. Dezember 1899, den Eindruck erwecken, daß die Konkurrenz der Grenzärzte den schweizerischen Kollegen unbequem ist und daß man nach Mitteln gesucht hat, sich ihrer zu entledigen. Der hierfür eingeschlagene Weg dürfte jedoch nicht der richtige sein. Wenn die Verhältnisse an der Schweizergrenze sich so entwickelt haben, daß eine hinreichende Zahl von schweizerischen Ärzten sich in den Grenzorten niedergelassen hat, so daß kein Bedürfnis mehr besteht, fremde Ärzte zuzulassen, so wäre der Zeitpunkt gekommen, die Übereinkunft mit Italien zu kündigen, und falls der Kleine Rat von Graubünden sich veranlaßt sieht, einen dahingehenden Antrag beim Bundesrate zu stellen, wii-d dieser nicht ermangeln, denselben zu prüfen. So-

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lange aber die Übereinkunft besteht, sind die italienischen Grenzärzte gleichberechtigte Kollegen der schweizerischen Ärzte, welche nur nicht Domizil in der Schweiz nehmen, in der Regel keine Medikamente verabreichen und nicht mit Gemeinden und Korporationen Verträge über Behandlung von Kranken abschließen ·dürfen.

Auf Grund dieser Erwägungen wird erkennt: Der Rekurs des Herrn Dr. Italo Besta in Tirano gegen den Entscheid des Kleinen Rates von Graubünden vom 24. August 1900 wird als begründet erklärt und damit jener Entscheid auf·gehoben.

Dieser Entscheid ist sowohl dem Rekurrenten, wie dem Kleinen Rate des Kantons Graubünden mitzuteilen.

B e r n , den 7. Mai 1901.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Brenner.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Riugier.

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Bundesratsbeschluß über die Beschwerde des Dr. Italo Besta, Arzt in Tirano, gegen einen Entscheid des Kleinen Rates des Kantons Graubünden, vom 24. August 1900, betreffend die Frage der Übertretung der Übereinkunft zwischen der Schweiz und Italien (v...

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