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Schweizerisches Bundesblatt.

36. Jahrgang. III.

Nr. 45.

24. September

1884.

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Bundesrathsbeschluß betreffend

die Auslieferung des Franzosen Eugène Rigaud von Cranves-Sale (Hochsavoyen).

(Vom 19. September 1884.)

Der B u n d e s r a t h der schweizerischen E i d g e n o s s e n s c h a f t

hat über das Auslieferungsbegehren der französischen Botschaft in der Schweiz gegen E u g è n e R i g a u d , genannt R i n g u e t , geboren z u C r a n v e s S a l e s (Hochsavoyen), verhaftet zu Genf seit 17. Mai 1884, in Betracht: 1) daß die französische Botschaft die Auslieferung des Rigaud anfänglich wegen Körperverletzung im Sinne von Art. 309 des französischen Code Pénal (Art. l, Ziffer 13 des Auslieferungsvertrages) verlangt, später aber die Anklage auf homicide par imprudence im Sinne von Art. 319 des französischen Code Pénal modifizirt hat ; 2) daß der Angeklagte gegen seine Auslieferung protestirte, weil die Anklage auf homicide involontaire ou par imprudence im Auslieferungsvertrage mit Frankreich von 1869 nicht vorgesehen sei und die zwischen dem Bundesrathe und der französischen Regierung im Mai 1884 vereinbarte Reziprozität zur Auslieferung auch wegen dieses Verbrechens ohne Zustimmung des Angeklagten nicht vollzogen werden könne ; Bundesblatt. 36. Jahrg. Bd. III.

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694 3) daß die Regierung des Kantons Genf, auf dessen Gebiet Rigaud sich geflüchtet hat, ihrerseits die Auslieferung des Letztern nicht beanstandet, indem sie sich darauf beschränkte, dem Bundesrathe die Einsprache des Angeschuldigten zur Kenutniß zu bringen ; 4) daß der Bundesrath auf die vom Bundesgerichte im Jahr 1880 an ihn gestellte Anfrage, ob der Bundesrath oder das Bundesgericht über Auslieferungsbegehren zu entscheiden habe, wenn das betreffende Verbrechen oder Vergehen nicht in einem mit dem requirirenden Staate abgeschlossenen Vertrage vorgesehen sei, dahin sich ausgesprochen hat, daß dieser Entscheid dem Bundesgerichte, zukomme (Bundesblatt 1881, II, 712, Ziffer 3) ; 5) daß in Uebereinstimmung mit diesem Vorgänge auch der Entscheid über die Auslieferung des Eugène Rigaud genannt Ringuot dem Bundesgerichte deferirt worden ist; 6) daß jedoch das Bundesgericht mit Entscheid vom 5. September 1884 erklärt hat, daß es nicht kompetent sei, über dus vorliegende Auslieferuogsbegehren zu entscheiden, da ihm gemäß Art. 113, Ziffer 3, der Bundesverfassung und Art. 58 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 27. Juni 1874 diese Kompetenz nur in denjenigen Fällen zukomme, wo die Auslieferung kraft bestehender Staatsverträge verlangt worden, während die französische Regierung die Auslieferung des Eugene Rigaud genannt Ringuet nicht auf den Auslieferungsvertrag von 1869 basire, sondern auf eine im Mai 1884 mit dem Bundesrathe ausgewechselte Erklärung über gegenseitige Auslieferung wegen homicide par imprudence: 7) daß bei dieser Sachlage der Bundesrath nach den ihm durch die Bundesverfassung im Art. 95 und Art. 102, Ziffer 8 zugewiesenen Obliegenheiten kompetent ist, über die Statthaftigkeit der in Frage liegenden Auslieferung endgültig zu entscheiden : 8) daß der Bundesrath gerade zum Zwecke der Wahrung der Interessen der Eidgenossenschaft (Art. 102, Ziffer 8 der Bundesverfassung) und zur Sicherung der Rechtshülfe von Seite auswärtiger Staaten in zahlreichen Fällen auf den Wunsch von Kantonsregierungen genöthigt war, mit den Regierungen auswärtiger Staaten, um die Auslieferung flüchtiger Verbrecher zu erhalten, die Beobachtung der Reziprozität zu vereinbaren, und daß irn Mai laufenden Jahres eben eine solche Vereinbarung zwischen dem Bundesrathü und der französischen Regierung
wegen homicide par imprudence erfolgt ist; daß somit die Würde des Landes und die Aufgabe der obersten vollziehenden und leitenden Behörde der Eidgenossenschaft (Art. 95 der Bundesverfassung) die Erfüllung dieser inter-

695 nationalen Verpflichtung erfordern, insbesondere in einem Falle, wo die Schweiz selbst die Beobachtung der Reziprozität angeboten und die Auslieferung eines Angeklagten wegen homicide par imprudence zuerst verlangt und angenommen hat ; 9) daß die Vollziehung internationaler Vereinbarungen in keinem Falle von der Zustimmung irgend einer Privatperson abhängig sein kann, beschlossen: 1. Die wegen Anklage auf homicide par imprudence verlangte Auslieferung des Franzosen Eugène Rigaud, genannt Ringuet, gegenwärtig verhaftet in Genf, an Frankreich, wird bewilligt.

2. Dieser Beschluß ist dem Staatsrathe des Kantons Genf sowie dem eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement mitzutheilen, dem erstem in Begleit des Verhaftsbefehles und mit der Einladung, die Auslieferung zu vollziehen und darüber Bericht zu erstatten.

B e r n , den 19. September

1884.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Vizepräsident:

Schenk.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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Bundesrathsbeschluß betreffend die Auslieferung des Franzosen Eugène Rigaud von Cranves-Sale (Hochsavoyen). (Vom 19. September 1884.)

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24.09.1884

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