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Schreiben des

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend den Rekurs der Gemeinde Minusio (Tessin) gegen den Beschwerdeentscheid des Bundesrates vom 2./5. Mai 1916 i. S. des ,,Istituto evangelico Locarno" in Minusio (Art. 27, Absatz 2, der Bundesverfassung).

(Vom 18. September 1916.)

Herr Präsident !

Herren National- und Ständeräte !

1. Im Januar dieses Jahres wurde uns eine bei den Akten liegende Beschwerde des ,,Istituto evangelico Locarno" in Minusio eingereicht, die mit dem Begehren schliesst: ,,Es möchte (in Abänderung des Entscheides des Staatsrates des Kantons Tessin vom 10. Januar 1916) die Gemeinde Minusio pflichtig erklärt werden, die schulpflichtigen Zöglinge des Institutes in ihre öffentlichen Primarschulen aufzunehmen."

Diese Beschwerde wurde unsererseits nach Anhörung des Staatsrates des Kantons Tessin und der Gemeinde Minusio, auf Grund einlässlicher Prüfung, durch Beschluss vom 2./5. Mai 1916 (s. Beilage) als begründet erklärt.

Der Entscheid ist den Organen des ,,Istituto evangelico Locarno" und dem Staatsrat des Kantons Tessin für sich und zuhanden der Gemeinde Minusio am 5. Mai 1916 eröffnet worden und am 9. gleichen Monats in den Besitz der Gemeinde Minusio gelangt.

Mit Schreiben vom 10. Mai teilte der Präsident des ,,Istituto evangelico" unserem Departement des Innern jedoch mit, dass

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der Vorsteher der Gemeinde Minusio sich gleichwohl weigere, die in Frage kommenden Kinder vor den Sommerferien und ohne Examen in die öffentliche Primarschule aufzunehmen. Darauf lud das genannte Departement den Staatsrat des Kantons Tessin ein, ihm mit aller Beförderung mitzuteilen, welche Massnahmen er zu treffen gedenke, um dem Bundesratsbeschluss vom 2. Mai 1916 Nachachtung zu verschaffen. In Beantwortung dieses Schreibens teilte das Erziehungsdepartement des Kantons Tessin am 18. Mai dem Departement des Innern mit, dass die Gemeinde Minusio sich auf seine Intervention hin bereit erklärt habe, die fraglichen Kinder bedingungslos zu ihren öffentlichen Primarschulen zuzulassen, und dass es daher dem Schulinspektor unverzüglich den Auftrag erteilt habe, darüber zu wachen, dass den Kindern des Instituts die nämliche Behandlung zuteil werde, wie den übrigen Schulkindern.

Angesichts dieser Vorgänge hielten wir die Angelegenheit für erledigt; unsere Annahme erwies sich jedoch als unrichtig, denn am 8. Juli langte eine an die Bundesversammlung gerichtete Rekursschrift der Gemeinde Minusio im Doppel, nebst einer Kopie des angefochtenen Bundesratsbeschlusses vom 2./5. Mai 1916 und einem Beschluss der Gemeindeversammlung von Minusio als Beilagen, bei der Bundeskanzlei ein. Diese Aktenstücke sind am 7. Juli 1916 in Minusio der Post übergeben worden.

2. Zur Antragstellung in der Sache eingeladen, lässt sich unser Departement des Innern in formeller und materieller Beziehung in folgender Weise über den Rekurs der Gemeinde Minusio vernehmen : T Der vorliegende Rechtsstreit dreht sich um die Frage, ob die Gemeinde Minusio angesichts der Bestimmungen des Art. 27, Absatz 2, der Bundesverfassung befugt sei, die im schulpflichtigen Alter stehenden Zöglinge des auf ihrem Territorium eingerichteten und betriebenen ,,Istituto evangelico Locarnea von ihrer öffentlichen Primarschule auszuschliessen. Es handelt sich hierbei also um eine Streitfrage, die nach der ausdrücklichen Bestimmung des Art. 189, Ziffer 2, des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege, vom 22. März 1893, an die Bundesversammlung weitergezogen werden kann. Ebenso ist nach dem Gesagten das in Art. 192 ibid. vorgesehene formelle Requisit der Einlegung einer Rekursschrift innerhalb 60 Tagen nach Mitteilung des bundesrätlichen Entscheides erfüllt. Es ist daher die Sache als in richtiger Weise an die Bundesversammlung weitergezogen zu betrachten.

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Der Rekurs schliesst mit dem Begehren : ,,Die Bundesversammlung wolle den Beschluss des Bundesrates vom 5. (recte 2.) Mai 1916 abändern und die Beschwerde der Verwaltungsorgane des ,,Istituto evangelico Locamo" vom 10. (recte 18.) Januar 1916 als unbegründet abweisen."

Zur Begründung dieses Begehrens beruft sich die Gemeinde Minusio vor allem auf die Gründe, die sie in ihren Eingaben an den Staatsrat des Kantons Tessin und in ihrer Antwort auf die Beschwerde vom 7./18. März 1916 an den Bundesrat geltend gemacht hat. Insoweit dürfte es genügen, auf die Motive des angefochtenen Entscheides vom 2. Mai zu verweisen. Im weitern macht die Gemeinde Minusio in ihrer Rekursschrift aber noch geltend, der Bundesrat habe bei Ausfällung seines Entscheides den Umstand ausser acht gelassen oder wenigstens nicht hinlänglich berücksichtigt, dass es sich bei dem ,,Istituto evangelico Locamo1' um eine Erziehungsanstalt handle, die kraft der kantonalen Verfassung (Art. 7), des neuen Schulgesetzes für den Kanton Tessin und in Gemässheit ihrer eigenen Statuten zur Erteilung privaten Unterrichts an ihre Zöglinge ermächtigt sei.

In dieser Beziehung ist folgendes zu bemerken : Richtig ist, dass dem ,,Istituto evangelico Locamo" das Recht zusteht, seinen Zöglingen im Sinne des Art. 8 ff. des tessinischen Schulgesetzes vom 28. September 1914 (vide Beilage) privaten Unterricht zu erteilen; von diesem Recht hat es vor Beginn des europäischen Krieges, als ihm freiwillige Spenden in grösserem Umfange zuflössen, auch Gebrauch gemacht, und es hofft nach Wiedereintritt normaler Zeiten wiederum eigene Lehrkräfte anstellen zu können (vgl. Brief der Institutsdirektion vom 2. Februar 1916). Allein dass es zur Erteilung privaten Unterrichts an seine Zöglinge v e r p f l i c h t e t wäre, kann weder auf Grund der Verfassung, bzw. des neuen Schulgesetzes des Kantons Tessin, noch auch auf Grund seiner Statuten angenommen werden ; in den letztern wird ausdrücklich nur die ,,Aufnahme und Vereinigung zu gemeinsamem Haushalt" verwaister und verwahrloster Kinder italienischer Zunge als Zweck der Anstalt bezeichnet. Sei dem übrigens, wie ihm wolle; Tatsache ist, dass das Institut infolge Rückganges seiner Einnahmen zurzeit nicht mehr im Falle ist, eigene Lehrkräfte zu halten, und dass es gerade aus diesem, sowohl der Gemeinde Minusio, als dem
Staatsrate des Kantons Tessin zur Kenntnis gebrachten Grunde um Aufnahme seiner schulpflichtigen Zöglinge in die öffentliche Primarschule nachsuchte. Es war diesen Behörden also schon vor der Anhängig-

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machung dieses Rechtsstreites wohlbekannt, dass die Zöglinge des Instituts seit längerer Zeit gar keinen Unterricht mehr genossen. Damit erwuchs aber der Gemeinde Minusio, sofern ihr keine Mittel zu Gebote standen, um den in Rede stehenden Kindern den weitern Aufenthalt auf ihrem Territorium zu verweigern, auf Grund der Verfassuugsbestimmung (Art. 27, Absatz 2), die vorschreibt, dass der Primarunterricht obligatorisch und unentgeltlich sein soll, sowie auf Grund der damit in Einklang stehenden Bestimmung des Art. 45 des tessinisehen Schulgesetzes, die Pflicht, ihrerseits für genügenden Unterricht der genannten Kinder zu sorgen, d. h. diese Kinder entsprechend dem an sie ergangenen Gesuche bedingungslos in ihre öffentliche Primarschule aufzunehmen. In diesem Sinne ist der Schlusspassus des angefochtenen bundesrätlichen Entscheides vom 2. Mai aufzufassen, lautend : ,,Einen Unterschied zwischen einzelnen und solchen Kindern zu machen, die zusammen in einem Haushalt vereinigt sind, wie der Staatsrat des Kantons Tessin und die Gemeinde Minusio machen möchten, hätte gar keinen innern Grund und ginge deshalb nicht an, weil das Zugeständnis einer derartigen Verweigerungsbefugnis kurzweg zu einer Ausserachtlassung der in Rede stehenden Verfassungsvorschriften führen würde. Dass dem so ist, beweist der Umstand zur Evidenz, dass die Behörden des Kantons Tessin und der Gemeinde Minusio, trotz Kenntnis der Tatsache, dass die schulpflichtigen Zöglinge des ,,Istituto evangelico" seit über einem halben Jahr ohne jeglichen Unterricht geblieben sind, nichts haben vorkehren können, bzw. nichts vorgekehrt haben, um diesem verfassungswidrigen Zustande ein Ende zu machen." Es ist also nicht richtig, dass der Bundesrat dem privaten Charakter des ,,Istituto evangelico" und der Tatsache, dass es zur Erteilung selbständigen Unterrichts an seine Zöglinge berechtigt ist, nicht gebührend Rechnung getragen habe.

Ebenso unzutreffend ist die in der Rekursschrift enthaltene Behauptung, der Rekursentscheid des Bundesrates vom 14. Oktober 1890 i. S. der Gebrüder Keusch in Hermetswil (Kanton Aargau) gegen einen Entscheid des aargauischen Regierungsrates könne nicht zum Vergleich herangezogen werden, indem es sich dort um eine Anstalt gehandelt habe, die lediglich Spezialzwecke, wie die Erteilung von Handarbeitsunterricht, verfolgt
habe. Den beigelegten Akten ist im Gegenteil zu entnehmen, dass die private Rettungsanstalt für verwahrloste Mädchen der Gebrüder Keusch ganz analoge, allgemeine Erziehungszwecke verfolgte, wie das ,,Istituto evangelico Locamo", und dass daher auch im Rekurs-

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entscheid selbst die zu beurteilende Frage ganz allgemein dahin umschrieben wurde: ob die Gemeinde Hermetswil-Staffeln befugt sei, angesichts des Art. 27, Absatz 2, der Bundesverfassung den Besuch i h r e r P r i m a r s c h u l e o d e r e i n e s T e i l e s d e r s e l b e n durch die schulpflichtigen Zöglinge der Rettungsanstalt an irgendwelche Bedingungen zu knüpfen, d. h. eventuell jene Kinder v o n d e r g a n z e n S c h u l e o d e r e i n e r A b t e i l u n g d e r s e l b e n zurückzuweisen -- und diese Frage hat der Bundesrat in seinem Entscheid vom 14. Oktober 1890 (vgl. Beilage und Bundesblatt, Jahrgang 1891, Band I, Seite 534) ihrem vollen Umfange nach verneint.a Dieser Anschauungsweise unseres Departements des Innern beipflichtend, beehren wir uns, Ihnen hiermit den Rekurs nebst den übrigen Akten als Beilagen zur Beurteilung zu übermitteln.

Dabei berufen wir uns, soweit es die Begründung unseres Standpunktes in der Sache betrifft, auf den Inhalt und die Motive unseres Entscheides vom 2. Mai 1916 und auf vorstehende, ergänzende Bemerkungen unseres Departements des Innern.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Decoppet.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schatzmann.

Beilage.

Bundesratsbeschluss vom 2. Mai 1916.

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Beilage.

Bundesratsbeschluss über

die Beschwerde des ,,Istituto evangelico Locamo" in der Gemeinde Minusio, mit Sitz in Genf, gegen einen Entscheid des Staatsrates des Kantons Tessin vom 10. Januar 1916 betreffend Anwendung des Art. 27, Absatz 2, der Bundesverfassung.

o (Vom 2. Mai 1916.)

Der schweizerische Bundesrat hat über die Beschwerde des ,,Istituto evangelico Locarnoa in der Gemeinde Minusio, mit Sitz in Genf, gegen einen Entscheid des Staatsrates des Kantons Tessin vom 10. Januar 1916 betreffend Anwendung des Art. 27, Absatz 2, der Bundesverfassung; auf den Bericht des Departements des Innern und nach Feststellung folgender Tatsachen: ' I.

Mit Eingabe vom 12. Oktober 1915 luden die Gemeindebehörden von Minusio das Erziehungsdepartement des Kantons Tessin ein, sich darüber auszusprechen, ob sie verpflichtet seien, die Zöglinge des auf ihrem Territorium niedergelassenen und betriebenen ,,Istituto evangelico" unentgeltlich in ihre öffentlichen Primarschulen aufzunehmen. Das genannte Departement Hess sich dahin vernehmen, dass eine solche Verpflichtung für die Gemeinde nicht bestehe, dass es ihr aber unbenommen sei, nach erzielter Einigung mit dessen Direktor über die für die Bewilligung zu entrichtende Gebühr,- die Zöglinge des Institutes zu den genannten Schulen zuzulassen. Die Gemeinde Minusio lehnte es indessen ab, den Zöglingen dos Institutes Aufnahme zu gewähren, worauf dessen Direktor sich mit Beschwerde vom 29. Oktober 1915 an

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den Staatsrat des Kantons Tessin wandte, in der er folgendes auseinandersetzte : Das ,,Istituto evangelico" sei im Jahre 1908 gegründet worden, um gemäss Art. l seiner Statuten verwaiste und verwahrloste italienisch sprechende Kinder aus der Schweiz und aus Italien aufzunehmen. Die Anstalt habe durchaus gemeinnützigen Charakter und sei lediglich auf freiwillige Gaben wohltätig gesinnter Personen angewiesen ; sie verfolge keineswegs konfessionelle Tendenzen, sondern nehme entsprechend der Bestimmung des Art. l der Statuten protestantische und katholische Kinder in gleicher Weise auf. Den Zöglingen ähnlich organisierter Anstalten in den übrigen Kantonen der romanischen Schweiz werde der Besuch der öffentlichen Volksschulen überall unentgeltlich gestattet. Finden Besuch der öffentlichen Primarschulen von Minusio kämen übrigens gegenwärtig nur 13 oder 14 Schüler in Betracht, die sich zudem auf vier Klassen verteilen würden.

Die Beschwerde des Direktors der Anstalt wurde dem Erziehungsdepartement zur Begutachtung überwiesen und dieses überliess es zunächst dem Inspektor des 4. Schuikreises, die Streitfrage wenigstens für das laufende Jahr auf gütlichem Wege beizulegen. Die erhoffte Verständigung kam jedoch nicht zustande, worauf das Erziehungsdepartement seinerseits am 10. Dezember 1915 sowohl der Gemeinde Minusio als dem Direktor des ,,Istituto evangelico", letzterem in Beantwortung seiner Beschwerde vom 29. Oktober, mitteilte, es habe sich nach näherer Prüfung der Tatumstände davon überzeugt, dass die Gemeinde nach Mitgabe der Bestimmung des Art. 45 des kantonalen Gesetzes vom 28. September 1914 über den Elementarunterricht, lautend: ,,wenu ein Kind dauernd in einer ändern als in der Gemeinde wohnt, wo seine Familie niedergelassen ist, so ist es berechtigt, die Schule der Gemeinde zu besuchen, in der es wohnt", doch pflichtig sei, den Kindern des Institutes Aufnahme in ihren öffentlichen Primarschulen zu gewähren. Der Gemeinderat von Minusio gab sich indessen auch mit diesem Entscheide des kantonalen Erziehungsdepartements nicht zufrieden, sondern machte ihn zum Gegenstand ein.es förmlichen Rekurses, der am 29. Dezember 1915 beim Staatsrat des Kantons Tessin einlangte. Die Gemeinde Minusio führte darin folgendes aus : Das ,,Istituto evangelico" sei eine rein private Anstalt mit ausgesprochen
konfessionellem Charakter; es ergebe sich das schon aus ihrer Benennung. Derartige Anstalten seien aber verpflichtet, auf eigene Kosten für den Unterricht der von ihnen aufgenommenen

609 Zöglinge zu sorgen. Die hiervor erwähnte Bestimmung des Art. 45 des kantonalen Gesetzes vom 28. September 1914 über den Elementarunterricht beziehe sich nur auf einzelne Kinder, die in einer ändern als ihrer Heimatgemeinde sich aufhalten; auf eine Gesamtheit von Zöglingen, die zusammen in einem Privatinstitut wohnen, sei sie nach Sinn und Geist des Gesetzes nicht anwendbar.

Der Zulassung der im ,,Istituto evangelico" versorgten Kinder in die Gemeindeschule von Minusio stünde neben ändern praktischen Erwägungen insbesondere der Umstand entgegen, dass die Gemeinde alsdann über kurz oder lang gezwungen sein könnte, neue Klassen einzurichten und weitere Lehrkräfte anzustellen.

Auch könne die Gemeinde nicht pflichtig erklärt werden, verwaiste und verwahrloste Kinder zu unterstützen, die nicht ihr, sondern ändern Gemeinden des Kantons oder gar ausländischen Staaten angehören.

In Erledigung dieses Rekurses der Gemeinde Minusio fällte der Staatsrat des Kantons Tessin am 10. Januar 1916 folgenden Entscheid aus: ,,Der Rekurs der Gemeinde Minusio vom 26. Dezember 1915, dahingehend, sie sei nicht gehalten, die Zöglinge des ,,Istituto evangelico01 in Minusio in ihre öffentliche Primarschule aufzunehmen, wird gutgeheissen."

Zur Begründung dieses Erkenntnisses wird ausgeführt: Da der Kanton Tessin in seiner revidierten Verfassung vom 19. Dezember 1875 Privaten das Recht eingeräumt. habe, in Erziehungssachen an Stelle des Staates und der Gemeinden zu treten, habe er angenommen, Private und private Körperschaften, die ein solches Recht ausüben, übernähmen zugleich die daraus emstehenden Pflichten und Lasten. ° Dieser Grundsatz sei durch sämtliche Schulgesetze, die der genannten Verfassungsrevision folgten, insofern bestätigt worden, als keines von ihnen es jemals dem Staate oder den Gemeinden zur Pflicht gemacht habe, direkt oder indirekt an den Unterhalt privater Schuleinrichtungen beizutragen.

Wenn sie es bisweilen getan haben, so sei es rein freiwillig geschehen, nicht weil sie eine Verpflichtung dazu gehabt hätten.

Das ,,Istituto evangelico11 in Minusio sei durchaus privater Natur, sowohl in bezug auf die Gründung wie auf die Verwaltung; ob es konfessionelle Tendenzen verfolge oder nicht, könne an seiner Stellung dem Gesetze gegenüber nichts ändern. Der gemeinnützige Zweck, den es verfolgt, entbinde die leitenden Organe keineswegs der moralischen und materiellen Pflichten, die sie gegenüber den von ihnen zu gemeinsamem Haushalte aufgenommenen Kindern

610 haben. Die Gemeinde Minusio selbst habe keinerlei Verpflichtung, dem Institut irgendwelche Lasten abzunehmen, da sie nicht gehalten sei, wenn auch nur indirekt, Kinder zu unterstützen, die ihr nicht angehören ; diese Verpflichtung falle nach dem Gesetze vom 26. Januar 1903 betreffend die Armenunterstützung vielmehr auf die Gemeinden, denen diese Kinder entstammen.

II.

Gegen dieses Erkenntnis des Staatsrates des Kantons Tessin richtet sich die vorliegende, rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Anzahl von Exemplaren eingereichte Beschwerde des ,,Istituto evangelico" im Sinne des Art. 189 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege, vom 22. März 1893, in der darauf hingewiesen wird, dass es, da der Primarunterricht obligatorisch ist, zweifellos einen Anspruch darauf habe, dass die Gemeinde Minusio seine im schulpflichtigen Alter stehenden Zöglinge in ihre öffentlichen Primarschulen aufnehme. Es müsse das um so eher gelten, als das Institut in seiner Eigenschaft als reine Wohltätigkeitsanstalt lediglich auf milde Gaben angewiesen sei, diese aber seit Kriegsbeginn so spärlich flössen, dass die Verwaltung der Anstalt gegenwärtig nicht mehr wie früher im Falle sei, eine eigene Lehrerin zu halten, ihre Zöglinge somit seit etwa sechs Monaten gar keinen Schulunterricht genossen hätten. Für das Bestehen der in Anspruch genommenen Pflicht der Gemeinde Minusio spreche aber auch der Umstand, dass das ,,Istituto evangelico" ihr schon seit Jahren für ihre Gebäulichkeiten Grundsteuern entrichte.

m.

Die zur Vernehmlassung eingeladene Gemeinde Minusio antwortet zunächst mit einem Nichteintretensschluss auf die Anträge des ,,Istituto evangelico". Zu seiner Begründung macht sie geltend, dass im Hinblick auf die Bestimmung des Art. 27bis, Absatz 3, der Bundesverfassung, wonach ,,die Organisation, Leitung und Beaufsichtigung des Primarschulwesens Sache der Kantone" ist, sowie mit Rücksicht auf Art. 2 der revidierten Verfassung des Kantons Tessin und den Inhalt des neuen kantonalen Primarschulgesetzes vom 28. September 1914, in denen der private Schulunterricht ausdrücklich gewährleistet sei, die Beurteilung aller den öffentlichen wie den privaten Unterricht betreffenden Anfragen in der ausschliesslichen Kompetenz der kantonalen Behörden liege : eine Berufung gegen das Erkenntnis des Staats-

Gli rates des Kantons Tessili vom 10. Januar 1916 sei somit ausgeschlossen. Der Bundesrat könne auf die vorliegende Rekurseingabe des ,,Istituto evangelico"1 aber auch aus dem Grunde nicht eintreten, weil das rekurrierende Institut selbst eine Verletzung des Art. 27 der Bundesverfassung nicht behauptet : diesen Punkt also gar nicht zum Gegenstand der Beurteilung gemacht habe.

Einlässlich sodann schliesst die Gemeinde Minusio auf Abweisung der Beschwerde, indem sie darzutun versucht, dass der angefochtene Entscheid des Staatsrates des Kantons Tessin sich in keiner Weise als Verletzung der Bestimmungen des Art. 27, Absatz 2, der Bundesverfassung darstelle. Die Gemeinde Minusio anerkenne durchaus ihre Pflicht, einzelne Kinder in ihre Primarschulen aufzunehmen, die in der Gemeinde wohnsitzberechtigt sind; dagegen müsse sie es ablehnen, Zöglinge eines rein privaten Institutes, das weder mit Genehmigung des Kantons noch der Gemeinde gegründet worden sei und das sogar Kinder ausländischer Familien aufnehme, ein gleiches Recht zu unentgeltlichem Besuche ihrer öffentlichen Schulen zuzugestehen. Derartige Anstalten müssten selbst für den nötigen Unterricht ihrer Zöglinge sorgen, wie das ,,Istituto evangelico"1 es bis dahin auch getan habe. Finde es nun, dass seine Mittel ihm die Anstellung des nötigen Lehrpersonals nicht mehr gestatten, so bleibe ihm nichts anderes übrig, als die Zahl der Zöglinge zu reduzieren und sich auf diese Weise die Geldmittel für die Anstellung eigenen Lehrpersonals zu beschaffen. Der Gemeinde Minusio zumuten, dass sie die Konviktschüler des Institutes, zu dem sie in keinerlei Beziehungen stehe, unentgeltlich in ihre Schulen aufnehme, hiesse einen um so ungerechteren Anspruch erheben, als die Gemeinde sich in ungünstiger finanzieller Lage befinde und nicht im Falle wäre, die Kosten auf sich zu nehmen, die ihr insofern erwachsen könnten, als sie bei Entsprechung der Forderung des rekurrierenden Institutes über kurz oder lange genötigt wäre, neue Schulräume zu beschaffen und weitere Lehrkräfte anzustellen.

IV.

Der Staatsrat des Kantons Tessin seinerseits schliesst sich in seiner Beschwerdeantwort vom 14. März im wesentlichen den Ausführungen der Gemeinde Minusio und besonders auch dem von ihr formulierten Nichteintretensschlusse an. In Ergänzung dieser Anbringen macht er geltend, dass das kantonale Gesetz vom 26. Januar 1903 betreffend die Armenunterstützung die

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tessinischen Gemeinden ausdrücklich verpflichte, für den Unterhalt, die Erziehung und einen genügenden Unterricht der ihnen angehörenden verwaisten und verwahrlosten Kinder zu sorgen.

Dieser Pflicht der Gemeinden werde strenge Nachachtung verschafft, und was die Kinder von Angehörigen anderer Kantone und auswärtiger Staaten anbetreffe, so sei es Sache dieser Staaten, für ihre Kinder zu sorgen. Es sei daher nicht zu befürchten, dass bei dieser Regelung der Dinge den Bestimmungen des Art. 27, Absatz 2 und 3, der Bundesverfassung, wonach allen Kindern ein genügender Primarunterricht zu erteilen ist und dieser Unterricht obligatorisch und unentgeltlich sein soll, im Kanton Tessin faktisch jemals zuwidergehandelt werde. Wenn das Institut nicht im Falle sei, den gegenüber seinen Zöglingen übernommenen Verpflichtungen nachzukommen, so soll es dieselben ihren Familien, bzw. ihren Heimatgemeinden zurückgeben, die dann ihrerseits in richtiger Weise für sie sorgen werden. Bei dieser Sachlage fehle für das schweizerische Departement des Innern, bzw. den ßuudesrat, jegliche Veranlassung, auf die Beschwerde des ,,Istituto evangelico" einzutreten.

Dem ,,Istituto evangelico"' stehe übrigens auch auf Grund des kantonalen Gesetzes über den Elementarunterricht keineswegs das Recht zu, zu verlangen, dass die Gemeinde Minusio seine Zöglinge zu ihrer öffentlichen Primarschule zulasse. In Art. 54 dieses Gesetzes sei ausdrücklich gesagt, welche Kinder in diese Schulen aufzunehmen seien; Zöglinge eines Privatinstitutes seien darunter nicht verstanden ; letztere müssten vielmehr für genügenden Unterricht ihrer Zöglinge selbst sorgen. An diesem Grundsatze sei in konstanter Praxis festgehalten worden, in Erwägung: 1. Der vorliegende Streit dreht sich um die Frage, ob die Gemeinde Minusio angesichts der Bestimmung des Art. 27, Abs. 2, der Bundesverfassung befugt sei, die im schulpflichtigen Alter stehenden Zöglinge des auf ihrem Territorium eingerichteten und betriebenen ,,Istituto evangelico" von ihrer öffentlichen Primarschule auszuschliessen. Streitfragen dieser Art können auf Grund der ausdrückliehen Bestimmung des Art. 189, Ziff. 2, des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege, vom 22. März 1893, nach Erschöpfung der kantonalen Instanzen, zum Gegenstande einer Beschwerde an den Bundesrat oder an die Bundesversammlung gemacht werden. Der Bundesrat ist demnach zur Prüfung und Beurteilung der Beschwerde des ,,Istituto evangelico'1

613 zweifellos zuständig. Hieran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass das genannte Institut es unterlassen hat, sich ausdrücklich auf Art. 27, Abs. 2, der Bundesverfassung zu berufen und eine Verletzung der daselbst statuierten Grundsätze ausdrücklich zu behaupten, indem von einer solchen Pflicht des Beschwerdeführers im Organisationsgesetze nirgends die Rede ist und es auch materiell vollständig genügt, wenn aus dem Inhalte der Beschwerde ersichtlich ist, auf welchen verfassungsrechtlichen Grundsatz sie sich stützt und gegen welche angeblich verfassungswidrige Verfügung einer kantonalen Behörde sie gerichtet ist.

Dies trifft aber mit Bezug auf die Beschwerde des ,,Istituto evangelico" in allen Teilen zu; hat letzteres doch ausdrücklich erklärt, den Entscheid des tessinischen Staatsrales vom 10. Januar 1916 anfechten zu wollen, und zur Begründung seiner Beschwerde darauf hingewiesen, dass nach Mitgabe des Art. 27, Abs. 2, der Bundesverfassung der Primarunterricht obligatorisch ist. Es muss daher die Beschwerde in Abweisung der vom Staatsrate des Kantons Tessin und der Gemeinde Minusio erhobenen formellen Einreden in Behandlung gezogen werden.

2. In der Sache selbst kann der vom Staatsrate des Kantons Tessin und der Gemeinde Minusio vertretene Standpunkt nicht geschützt werden. Der erwähnte Art. 27, Abs. 2, der Bundesverfassung ist kategorischer Natur ; er verpflichtet die Kantone zur Sorge für genügenden Primarunterricht, der obligatorisch und in den öffentlichen Schulen unentgeltlich sein soll. Hieraus fliesst, wie der Bimdesrat schon wiederholt und besonders in seinem Entscheide in der analogen Rekurssache der Gebrüder Keusch in Hermetswil als Inhaber der dortigen Privatrettungsanstalt für verwahrloste Kinder gegen einen Entscheid des aargauischen Regierungsrates, vom 14. Oktober 1890 (vgl. Bundesblatt 1891, Bd. I, S. 532 ff.), ausgesprochen hat, ohne weiteres, dass der Besuch der Gemeindeschule von Minusio, die, wie allseitig zugestanden, eine öffentliche ist, keinem der in dieser Gemeinde wohnenden schulpflichtigen Kinder aus ökonomischen oder sonstigen Gründen abgeschlagen werden darf. Den Kindern des Instituts muss die Gemeinde nach Art. 27 der Bundesverfassung unbedingt auch Gelegenheit geben, ihre öffentlichen Schulen unentgeltlich besuchen zu können. Und zwar gilt dies für
Ausländer ebenso wie für Schweizer (vgl. von Salis: Schweiz. Bundesrecht, Bd. V, Nr. 2467). Das tessinische Gesetz vom 28. September 1914 über den Elementarunterricht steht übrigens selbst ganz auf diesem Boden, indem es in seinem Art. 45 bestimmt,

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dass, wenn ein Kind dauernd in einer ändern als in der Gemeinde wohnt, wo seine Familie niedergelassen ist, es berechtigt sei, die Schule der Gemeinde zu besuchen, in der es wohnt.

Einen Unterschied zwischen einzelnen und solchen Kindern zu machen, die zusammen in einem Haushalt vereinigt sind, wie der Staatsrat des Kantons Tessin und die Gemeinde Minusio machen möchten, hätte gar keinen innern Grund und ginge deshalb nicht an, weil das Zugeständnis einer derartigen Verweigerungsbefugnis kurzweg zu einer Ausserachtlassung der in Rede stehenden Verfassungsvorschriften führen würde. Dass dem so ist, beweist der Umstand zur Evidenz, dass die Behörden des Kantons Tessin und der Gemeinde Minusio trotz Kenntnis der Tatsache, dass die schulpflichtigen Zöglinge des ,,Istituto evangelico"1 seit über einem halben Jahre ohne jeglichen Unterricht geblieben sind, nichts haben vorkehren können, bezw. nichts vorgekehrt haben, um diesem verfassungswidrigen Zustande ein Ende zu machen, erkannt: Die Beschwerde des ,,Istituto evangelico Locamo" in Minusio wird als begründet erklärt und demnach die Gemeinde Minusio, in Aufhebung des Entscheides des Staatsrates des Kantons Tessin vom 10. Januar 1916, als pflichtig erklärt, die im genannten Institut untergebrachten Kinder im schulpflichtigen Alter zu ihren öffentlichen Primarschulen zuzulassen.

B e r n , den 2. Mai 1916.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Decoppet.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schatzmann.

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Schreiben des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend den Rekurs der Gemeinde Minusio (Tessin) gegen den Beschwerdeentscheid des Bundesrates vom 2./5. Mai 1916 i. S. des ,,Istituto evangelico Locarno" in Minusio (Art. 27, Absatz 2, der Bundesv...

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27.09.1916

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602-614

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