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Bundesrathsbeschluß

ü beiden Rekurs der Herren Leone de Stoppani, Advokat in Lugano, Rinaldo Simen in Locarno und Ernesto Bruni, Advokat in Bellinzona, gegen das tessinische ,,Gesetz über die Freiheit der katholischen Kirche und die Verwaltung der Kirchengüter" vom 28. Januar / 2 l . März 1886.

(Vom 18. Oktober 1887.)

Der schweizerische Bundesrath hat in Sachen des Rekurses der Herren Leone de Stoppani, Advokat in Lugano, Rinaldo Simen in Locarno und Ernesto Bruni, Advokat in Bellinzona, gegen das tessinische ,,Gesetz über die Freiheit der katholischen Kircheundd die Verwaltung derKirchengüter"1 vom 28. Januar / 21. März 1886 ; auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements und nach Feststellung folgender aktenmäßiger Sachverhältnisse: A. Am 1. September 1884 schloß der Bundesrath, in seinem eigenen Namen und im Namen des Kantons Tessin, mit dem Heiligen Stuhle ein (unterm 24./29. November gleichen Jahres ratifizirtes) Uebereinkommen ab, ,,zur Regelung der Kirchen Verhältnisse der Pfarreien des Kantons Tessin", kraft dessen (Art. 1) ,,genannte Pfarreien kanonisch von den Bisthümern Mailand und Conio losgetrennt und unter die geistliche Administration eines Prälaten, mit dem Titel eines ,,Apostolischen Administrators" des Kantons Tessin,

184 gestellt wurden11, dessen Ernennung (Art. 2) ,,durch den Heiligen Stuhl" zu geschehen hatte. In letzterer Hinsicht bemerkt jedoch das bei Abschluß des Uebereinkommens errichtete Protokoll, daß ,,mit Bezug auf die Wahl der zum Amte eines apostolischen Administrators "von Tessin zu berufenden Person der Bundesrath sich auf die Mittheilung beruft, welche 8. E. der Kardinal Jakobini den 20. Oktober 1883 an Herrn Regazzi, Präsidenten des Staatsrathes des Kantons Tessin, gerichtet hata. Der Art. 3 des erwähnten Uebereinkommens bestimmt schließlich, daß, ,,falls der Titular vor der endgültigen Organisation der Kirehenverhä.ltnisse der Pfarreien des Kantons Tessin mit Tod abgehen sollte, der Bundesrath, der Kanton Tessin und der Heilige Stuhl sich über die Verlängerung des durch die Uebereinkunft aufgestellten Provisoriums verständigen werden".

B. Unterm 21. März 1886 nahm das Volk des Kantons Tessin ein ,,Gesetz über die Freiheit der katholischen Kirche und die VerV?altung der Kirchengüter1* an, das der tessinisehe Große Rath am 28. Januar gleichen Jahres zu dem Behufe votirt hatte, ,,um die kantonale Gesetzgebung mit obigem Uebereinkommen in Einklang zu bringen". Gegen dieses Gesetz haben durch Eingabe vom 2S./27. Mai 1886 die Herren L. de Stoppani, R. Simen und E. Bruni, im Namen des ,,Comitato liberale cantonale ticinese"', zugleich beim Bundesgerichte und beim Bundesrathe eine staatsrechtliche Rekursbeschwerde eingereicht, mit dem Begehren, es sei dasselbe, weil es sich unter verschiedenen Gesichtspunkten mit der Bundesverfassung im Widerspruch befinde, aufzuheben. Die Gründe, auf welche die Rekursbeschwerde gestützt wird, bestehen wesentlich in Folgendem : 1) Das angefochtene Gesetz verstoße gegen Art. 3 der Uebereinkunft vom 1. September 1884 und Art. 50, Abs. 4, der Bundesverfassung, weil es ein neues Bisthum errichte.

2) Es führe (durch Art. 2, 3, 4, 7 § l, 18, 19, 24, 28 und 36), dem Art. 58 der Bundesverfassung jzuwider, die geistliche Gerichtsbarkeit wieder ein.

3) Es bezwecke eine Wiederherstellung der todten Hand und involvire eine Verletzung der Eigenthumsgarantie, indem es (durch Art. 5 und 6) die Kirchengüter den politischen Gemeinden entziehe, um dieselben den neu zu gründenden Pfarreien zuzuweisen.

4) Es verletze den Grundsatz der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 49 der Bundesverfassung), weil es jeden aus dem Schooße der römisch-katholischen Kirche austretenden Bürger seines

185 Rechtes auf das Miteigentum an den Kircheugütern beraube, sowie den Grundsatz des Art. 49, Abs. 6, ibidem, weil es sätnmtliche Gemeinden, ohne Unterschied ob sie aus römischen Katholiken oder aus Angehörigen anderer Konfessionen bestehen, verpflichten wolle, zu den Pfarrkirchenkosten beizutragen.

5) Es beeinträchtige die Rechtsstellung des Staates gegenüber der Kirche und gefährde die öffentliche Ordnung und den religiöskonfessionellen Frieden, indem es (Art. 9) sämmtlichen zur katholischen Kirche gehörenden frommen Anstalten und Stiftungen die Handlungsfähigkeit gewähre.

6) Es thue den Rechten des Volkes und implicite auch der Bundesverfassung dadurch Eintrag, daß es den Gemeinden ihr wohlerworbenes Recht auf die Wahl der Pfarrer entziehe.

7) Es stelle zum Nachtheile der Gemeinden, in welchen Kapitel bestehen (Art. 7), hinsichtlich der Wahl der Pfarrer und der Pfarrgemeinderäthe eine dem in Art. 4 der Bundesverfassung sanktionirten Grundsatze der Rechtsgleichheit zuwiderlaufende Ausnahme von der allgemeinen Regel auf.

8) Es verletze den Art. 43 der Bundesverfassung dadurch, daß es dem Staatsrathe die Befugniß einräumt, die Streitigkeiten betreffend Ausübung des Stimmreehtes in den Kirchgemeindeversammlungen u. s. w. (Art. 28) von sich aus, letztinstanzlich, also mit Ausschluß des Rekursrechtes au den Großen ßath, beziehungsweise an die Bundesbehörden, zu entscheiden.

9) Es führe die veralteten geistlichen Immunitäten wieder ein, indem es einerseits die Bestimmungen des Strafgesetzbuches betreffend die von Geistlichen verübten strafbaren Handlungen und andererseits das regierungsräthliche Placet aufhebe.

Die Rekurrenten berufen sich zuletzt noch ganz besonders auf die Art. 2 und 50, Abs. 2, der Bundesverfassung und erklären, sie wollen es vollkommen der freien Würdigung der Bundesbehörden überlassen, zu entscheiden, ob fragliches Gesetz in seiner Totalität, als mit unsern Einrichtungen, mit den Rechten der Bürger und mit den Staatsprärogativen unvereinbar, aufzuheben sei, oder ob nur die einzelnen Bestimmungen desselben zu kassiren seien, die der Rekurs als verfassungswidrig anficht, in welch' letzterem Falle alsdann eine jede der angerufenen Behörden, Bundesrath und Bundesgericht, über diejenigen Punkte zu urtheilen haben werde, welche nach ihrem Dafürhalten in die Sphäre der eigenen Kompetenz gehören.

186 C. Dieser Rekursbeschwerde haben sich in der Folge durch sachbezügliche Erklärungen zu Händen des Bundesrathes angeschlossen die Munizipalräthe von 27 Gemeinden: Lugano, Semione, Pontetresa, Gentilino, Berzona, Pazzallo, Borgo di Biasca, Noranco Grresso, Arogno, Mareggia, Melano, Rovio, Brusino-Avizio, Novazzano, Brissago, Morcote, Chiasso, Cavagnago, Medeglia, Mergoscia, Mairengo, Someo, Bosco, Comologuo, Viganello, Novaggio; 42 Bürger aus Loco, 135 aus Intragua und 108 aus Locamo, ferner die Vereine Collina d'oro in Montagoola, La Ticinese in S. Francisco, Guglielmo Teli in London, La Franscini in Paris.

D. Unterm 8. letztverflossenen Februar reichte der Staatsrath des Kantons Tessin eine Protestation von 29 Bürgern aus der Gemeinde Bosco, im Maggiathal, ein, ,,zu Gunsten des angefochtenen Kirchengesetzes und gegen den vom dortigen Munizipalräthe erklärten Anschluß an die Beschwerde Stoppani und Genossen".

E. IQ seiner Antwort vom 30. Mai 1887 stellte Hr. Professor Dr. K. G. König in Bern, aus Auftrag der Tessiner Regierung, den Antrag : Es sei der Rekurs als unbegründet abzuweisen.

F. Die Bestimmungen des in Frage stehenden Kirchengesetzes, gegen welche der Rekurs insbesondere gerichtet ist, lauten folgendermaßen : Art. 1. Die tessinischen Kirchgemeinden sind der Verwaltung eines eigenen Ordinarius unterstellt.

Art. 2. Der Ordinarius (gegenwärtig Apostolischer Administrator) übt die geistliche Jurisdiktion im ganzen Gebiete des Kantons aus.

Art. 3. Derselbe genießt vollständige Freiheit bezüglich der Wahl seines Vikars und seines Kanzleipersonals, sowie hinsichtlich der Veröffentlichung seiner Hirtenbriefe und anderer, die Ausübung seines geistlichen Amtes beschlagender Aktenstücke.

Derselbe genießt ebenfalls volle Freiheit in Bezug auf die Anordnung öffentlicher Gebete und anderer frommer Werke, sowie in der Anordnung von Prozessionen, hinsichtlich der Regelung der Begräbnisse von Katholiken und der Ordnung aller andern religiösen Verrichtungen.

Er ist ebenso vollkommen frei io Allem, was Gründung, Einrichtung, Unterricht und Verwaltung des Seminars oder der

187 Seminarien des Kantons betrifft; er kann deßhalb die Direktoren, Vorsteher und Professoren solcher Anstalten ernennen und entlassen.

Ihm steht die Bezeichnung der Schulbücher für den katholischen Religionsunterricht und die Wahl der Katecheten zu, welche denselben ertheilen sollen.

Ihm allein steht die Aufsicht über den Klerus in Allem zu, was auf die kirchlichen Angelegenheiten Bezug hat.

Ueberhaupt kann der Ordinarius mit seinem Klerus und Volke frei verkehren, wie diese mit ihm frei verkehren dürfen.

Art. 4. Kein Mitglied des Klerus kann in irgend einer, die Vollziehung oder Verweigerung von Handlungen seines geistlichen Amtes besehlagenden Angelegenheit oder in einem mit der gesetzlichen Freiheit der Ausübung des geistlichen Amtes zusammenhängenden Falle bei den bürgerlichen Behörden in Anklagezustand versetzt und von letztern abgeurtheilt werden.

Es kann ihm auch von denselben keinerlei Strafe oder Buße, außer für gemeine Verbrechen, Vergehen oder Uebertretungen, auferlegt werden; die für alle Bürger geltenden bezüglichen Gewährleistungen und Vorschriften haben in jedem Falle auch für den Klerus Geltung.

Ist ein Geistlicher schuldig erkannt, so darf er keinen andern Strafen unterworfen werden als denen, die ihn in seiner Eigenschaft als Bürger treffen.

Jedes Mal, wenn ein Mitglied des Klerus verhaftet oder in Anklagezustand versetzt wird, ist der Ordinarius Seitens der kompetenten Behörde davon zu benachrichtigen, damit derselbe die Vorkehren geistlicher Natur, die von den Umständen erheischt werden, treffen könne.

Art. 5. Die gegenwärtig bestehenden Pfarreien und Unterpfarreien und diejenigen, die in Gemäßheit des vorliegenden Gesetzes allfällig noch gebildet werden sollten, werden als moralische Körperschaften erklärt.

Art. 6. Den Kirchgemeinden gehören unter Vorbehalt der wohlerworbenen Rechte : a. Die Pfründengüter (beni di congrua) und die Pfarr- und Unterpfarrkirchen.

b. Die zur Erhaltung der Pfarr- und Unterpfarrkirchen und zur Bestreitung der Bedürfnisse des Gottesdienstes bestimmten Fonds.

188 Art. 7. Die Berufung an eine Pfarr- und Unterpfarrpfründe geht in denjenigen Kirchgemeinden, die nicht Kapiteln anvertraut sind, von der Gemeinde aus, und zwar entscheidet bei der Wahl die Mehrheit der Stimmen aller römisch-apostolisch-katholischen Bürger, welche die Pfarr- oder Unterpfarrgemeinde bilden, Stimmrecht haben und in der Versammlung anwesend sind.

§ 1. Kapitularpfründen sind nach Maßgabe der kirchlichen Gesetze und Vorschriften zu vergeben.

§ 2. Die Rechte der Patrone in den Patronatspfründen bleiben aufrecht.

§ 3. Kein Gewählter kann eine Pfarrei oder Unterpfarrei beziehen oder deren Leitung übernehmen, ohne vorher den Vorschriften der Kirchengesetze nachgekommen zu sein.

Art. 8. Dem Ordinarius steht das ausschließliche Recht zu, für vakant gewordene Seelsorgpfründen interimistisch und bis zur endgültigen Wahl der Titolare zu sorgen.

Die von ihm ernannten geistlichen Verweser beginnen sofort die Ausübung ihrer Funktionen; sie sind, falls sie an Ort und Stelle wohnen, berechtigt, die volle Congrua für die Zeit zu beziehen, während welcher sie das Amt versehen.

Kann der geistliche Verweser oder derjenige, welcher interimistisch die vakante Pfarrei oder Unterpfarrei zu besorgen beordert ist, nicht an Ort und Stelle wohnen, oder genießt er in der neuen Pfarrei schon eine andere Pfründe, so ist er berechtigt, aus den Pfarrei- oder Unterpfarreieinkünften eine angemessene Entschädigung, welche der Ordinarius nach Anhörung des Kirchgemeinderathes bestimmt, zu beziehen.

Art. 9. Allen religiösen Institutionen und Stiftungen der katholischen Kirche wird innerhalb der Schranken und unter den Garantien der bestehenden Gesetze rechtliche Handlungsfähigkeit zuerkannt.

Art. 10. Alle Kirchen, Bethäuser, kirchlichen Orte und Güter sind der Aufsicht des Ordinarius unterstellt. Handelt es sich um Güter, die zu öffentlichem Gebrauche bestimmt sind, so ist ohne Zustimmung der geistlichen Obrigkeit, jede Aufhebung, Veräußerung, Umtauschung derselben unzulässig; solche Güter dürfen ohne die Zustimmung der geistlichen Obrigkeit auch zu keinem andern Zwecke verwendet werden. Es gilt dies gleicherweise vom Ertrage derselben.

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Art. 18. In die Befugniß der Kirchgemeinde fallen: a. Die Wahl des Pfarrers oder Vieepfarrers ; b. die Wahl des Kirchenrathes, unter Berücksichtigung der Vorschriften des Art. 13; c. die Veräußerung oder Umtauschung der den Pfarr- oder Unterpfarrkirchen angehörenden unbeweglichen Güter; d. die Entscheidung darüber, ob ein Prozeß anzuheben oder aufzunehmen sei, ob Schulden oder andere Verpflichtungen mit oder ohne Hypothek auf Rechnung der Pfarrgüter kontrahirt werden sollen; e. die jährliche Prüfung und Genehmigung der Rechnungen der Kirchgemeinde.

§ 1. Für die unter litt, c und d dieses Artikels aufgeführten Verhandlungen bedarf es der Zustimmung von zwei Dritteln der in der Versammlung Anwesenden.

§ 2. Ein jeder die Vorschriften von litt, o und d dieses Artikels beschlagender Beschluß ist ohne die Zustimmung des Ordinarius oder seines Delegirten ungültig.

Art. 19. Die Rechnungen der Kirchgemeinden werden alljährlich dem Ordinarius zur Genehmigung vorgelegt.

Art. 22. Die vorstehenden Bestimmungen sind nicht anwendbar auf die Güter derjenigen Pfarreien, welche Kapiteln anvertraut sind und von denselben stiftungsgemäß verwaltet werden.

Art. 23. Die Bruderschaften und die andern religiösen, kanonisch errichteten Genossenschaften verwalten ihre Güter selbstständig unter der Aufsicht des Ordinarius oder seines Delegirten, dem sie über ihre Verwaltung und die Erfüllung allfällig auf den Gütern lastender Verpflichtungen jährlich Rechnung abzulegen haben.

Art. 24. In keinem Falle können Ueberschüsse oder Einnahmenbestände, die für den Kultus bestimmt sind, ohne die Zustimmung des Ordinarius zu einem andern, öffentlichen oder privaten, Gebrauche verwendet werden.

Art. 27. In jenen Pfarr- oder Unterpfarrgemeinden, wo die Besoldung des Pfarrers oder die Kultusausgaben ganz oder theilweise von der Gemeinde geleistet resp. bestritten werden, bleiben, unter Vorbehalt der Bestimmungen des Art. 49 der Bundes-

190 Verfassung, die gegenwärtig in dieser Beziehung'geltenden Verträge ö und Gebräuche in Kraft bestehen.

Art. 28. Anstände betreffend die Ausübung des Stimmrechtes in den Kirchgemeindeversammlungen, sowie bezüglich deren Einberufung und Abhaltung, hinsichtlich dei- Wahl des Kirchenrathes und sonstiger Verhandlungen werden vom Regierungsstatthalter, unter Vorbehalt des Beschwerderechts beim Regierungsrathe und nach Mitgabe der für nicht streitige Administrativangelegenheiten geltenden Vorschriften, entschieden.

Anstände dagegen, welche die Ausübung des Kultus betreffen, gehören in die Kompetenz des Ordinarius. · Art. 29. Die bürgerlichen Behörden haben, auf Ersuchen, die kirchlichen zu unterstützen, damit die Ordnung während den kirchlichen Funktionen nicht gestört, die Pfarrherren und Geistlichen in der Erfüllung ihrer Pflichten nicht verhindert und die in Uebereinstimmung mit gegenwärtigem Gesetze getroffenen Verfügungen der kirchlichen Behörden ausgeführt werden.

Art. 36, Die Verwaltung der Güter vakant gewordener Seelsorgepfründen wird vom Kirchenrathe besorgt, welcher dem Delegirten des Ordinarius und der Kirchgerneindeversammlung die Rechnungen vorlegt.

§ 1. Die Einkünfte vakanter Kanonikatspfründen werden vom Vorsteher des Kapitularkollegiums, welcher dem Ordinarius und dem Kapitel Rechnung ablegt, verwaltet.

§ 2. Wenn die vakante Pfründe einem Privatpatronat gehört, geschieht die Verwaltung durch die Patrone, welche dem Ordinarius bezügliche Rechnung ablegen.

Art. 37. Durch das gegenwärtige Gesetz treten saranit allen Gesetzen, Dekreten und Verordnungen, welche mit demselben im Widerspruche stehen, außer Kraft: a. Folgende Bestimmungen des Strafgesetzbuches : Ziffer 8 des Art. 25, § 2 des Art. 101 und § 2 des Art. 131; das Wort ecclesiastica des § l vom Art. 27 und die Worte ministri del culto vom Art. 134 ; der ganze Abschnitt V des litt. III, 2. Buch, h. Das bürgerlich-kirchliche Gesetz vom 24. Mai 1855.

191 c. Folgende Bestimmungen des Gemeindegesetzes: Absatz 2 des Art. 2; Art. 37; das Wort sacristani des Art. 52; litt, a von Ziffer VIII des Art. 73; die Worte e l'impedire la celebrazione di feste od altre funzioni non autorizzate des Art. 73, Ziffer Vili, litt, e.; litt, i des Art. 80; litt, c des Art. 133 bis auf die Worte orologi e catnpisanti; litt, c des Art. 149 und das Wort benefici von litt, e des gleichen Artikels.

D ; er B u n d e s r a t h z i e h t i n E r w ä g u n g : A. Ueber die Kompetenzfrage.

Es ist zu untersuchen, inwieweit die materielle Beurtheilung des Rekurses in die Kompetenz des Bundesrathes falle.

Die Rekurrenten selbst haben sich über die Kompetenzfrage nicht ausgesprochen, sondern sich darauf beschränkt, völlig gleichlautende Beschwerden beim Bundesrathe und beim Bundesgerichte einzureichen und den Antrag zu stellen, daß diese beiden Behörden, j e d e s o w e i t e s s i e a n g e h e , d i e angefochtenen Gesetzesbestimmungen als verfassungswidrig aufheben.

Das Bundesgericht hat am 2. April 1887 als in seine Zuständigkeit gehörend die Beschwerdepunkte geprüft und beurtheilt, welche sich beziehen auf Art. 58, Absatz 2, der Bundesverfassung (Abschaffung der geistlichen Gerichtsbarkeit), auf die Eigenthumsgarantie (welche durch die Uebertragung des Kirchenvermögens an die Kirchgemeinden verletzt sein soll), auf Art 49, Absatz 6, der Bundesverfassung (Kultussteuern), auf den Entzug des Rechtes der Gemeinden, ihre Pfarrer zu wählen, auf Verletzung der Rechtsgleichheit (Art. 4 ibidem) in der Behandlung der Gemeinden, in welchen Kapitel bestehen (bezüglich der Wahl der Pfarrer und des Kirchenrathes), auf die den weltlichen Behörden auferlegte Pflicht zur Vollziehung von Verfügungen der kirchlichen Behörden (Art. 29 des Gesetzes) und endlich auf die Abschaffung verschiedener Bestimmungen des Strafgesetzbuches betreffend Vergehen der Priester.

Darnach würdeo in die Kompetenz des Bundesrathes fallen die unter Ziffer l, 4, 5 und 8 von litt. B des faktischen Theils aufgezählten Beschwerdepunkte betreffend Verletzung des Berner Vertrages vom 1. September 1884, und betreffend Verletzung der Art. 50, Absatz 2 und 4, 49, Absatz 2, und 43 der Bundesverfassung.

Die vom Bundesgerichte vorgenommene Kompetenzausscheidung .ist als richtig anzuerkennen.

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B. In der Hauptsache.

I. Die Rekursschrift hält den Art. l des Gesetzes vom 28. Januar 1886 für unvereinbar mit Art. 50, Absatz 4, der Bundesverfassung und mit Art. 3 der Uebereinkunft vom 1. September 1884 betreffend die kirchlichen Verhältnisse im Kanton Tessin, und sucht diese Behauptung wie folgt zu begründen : Die angefochtene Bestimmung könne sich nur auf die Zukunft beziehen. Denn gegenwärtig seien die kirchlichen Verhältnisse im Tessin auf Grund der Berner Konvention durch Einsetzung einer apostolischen Administration provisorisch geordnet. Das Gesetz aber erkläre jetzt schon und in ganz bestimmter Weise, daß die tessinischen Pfarrgemeinden einem in d i e s e m K a n t o n errichteten Bisthum angehören, also nicht mit einer andern Diözese verbunden werden können. Das gehe sowohl gegen Art. 50 der Bundesverfassung, als auch gegen Art. 3 der Berner Uebereinkunft, welch' letztere eine Verständigung des Bundesrathes, des Kantons Tessin und des Heiligen Stuhles über Verlängerung des gegenwärtigen Provisoriums für den Fall des Todes des Titulars vor endgültiger Organisation der tessinischen Kirchenverhältnisse vorsehe.

Dieser Argumentation gegenüber bemerkt in seiner Antwort vom 30. Mai 1887 im Namen der Tessiner Regierung Herr Prof.

Dr. K. G. König: Es unterliege keinem Zweifel, daß die Konvention von Bern kein tessinisehes Bisthum geschaffen habe; daher habe auch die gesetzgebende Behörde dieses Kantons ein solches weder schaffen können, noch schaffen wollen. Dagegen sei die Abtrennung des Kantons von seinem bisherigen Diözesanverbande mit Mailand und Como rechtlich bewerkstelligt und definitiv ausgesprochen worden. ,,Provisorisch geregelt11 -- sagt die Antwort weiter -- ,,ist nur die Personenfrage und der Titel Desjenigen, welcher in diesem Augenblicke das Haupt der katholischen Kirchgemeinden des Kantons ist." -- Der Titel ,,Ordinario"1 sei absichtlich gewählt worden, weil er das eigentümliche Verhältniß dieses B i s t h u m s verwesers am deutlichsten bezeichne, indem er im kanonischen Rechte anerkanot sei, um einen Stellvertreter zu bezeichnen . . . .

Den Titel ,,Bischof" habe das Gesetz nicht wählen dürfen, ,,denn Tessin ist noch keine Diözese", und der Ausdruck ,,amministratore apostolico11 sei vermieden worden, weil derselbe der Auffassung hätte Vorschub leisten können, als sei die
Abtrennung von Mailand und Como selbst nur etwas Provisorisches. ,,Absichtlich aber" -- schließt die Antwort -- ,,und um jedem Mißverständnisse vorzubeugen, wurde die ursprüngliche Redaktion des Entwurfes ,,dell'ordinario"' geändert in ,,d'un ordinario11, im Eingange des Gesetzes ausdrücklich auf die Berner Konvention und die durch sie erfolgte

193 ,,istituzione di una Amministrazione Apostolica nel Cantone Ticino" verwiesen und endlich in Art. 2 (des Gesetzes) der Ausdruck ,,l'Ordinario"1 durch ,,ora Amministratore Apostolicoa erläutert."1 Vom Bundesgerichte ist, in seinen Erwägungen über die von der Tessiner Regierung gegen den Rekurs der Herren Stoppani, Simen und Bruni erhobenen formellen Einreden, zu dem hier in Frage liegenden Beschwerdepunkte bereits ausgeführt worden: daß Art. 50, Absätze, der Bundesverfassung kein k o n s t i t u t i o n e l l e s Recht der Bürger garantirt, sondern lediglich die Rechte, bezw. die Kirchenhoheit des Bundes gegenüber dem Heiligen Stuhle und den Kantonen wahren will, und daß der Berner Vertrag vom 1. September 1884, welchen der Bundesrath kraft der ihm nach Art. 50, Absatz 4, der Bundesverfassung zustehenden Befugniß (die Errichtung von Bisthümern auf schweizerischem Gebiete zu genehmigen) abgeschlossen hat, nicht zu den Staatsverträgen mit dem Auslande gehört, über deren Verletzung Private nach Art. 113, Ziffer 3, der Bundesverfassung und Art. 59, litt, b, des Organisationsgesetzes über die Bundesrechtspflege beim Bundesgerichte Beschwerde führen können, sondern angesichts des bereits über Art. 50, Absatz 4, der Bundesverfassung Gesagten und des Inhaltes des Vertrages selbst (welcher ja keine Rechte von Privaten begründet) ausschließlich vom Bundesrathe auszulegen und zu vollziehen ist.

Im Anschlüsse an diese Ausführungen ist hier weiter zu bemerken : Der Bund hat sieh mit den kirchlichen Verhältnissen der Kantone nur insoweit zu befassen, als bestimmte Grundsätze des Bundesrechtes durch dieselben berührt werden.

Die Bestimmung von Art. l des tessinischen Kirchengesetzes, welche im vorliegenden Rekursfalle einen der Beschwerdepunkte bildet, steht nun allerdings zu einem eidgenössischen verfassungsrechtlichen Grundsatze in naher Beziehung, insofern nämlich, als Art. 50, Absatz 4, der Bundesverfassung die Errichtung von Bisthümern auf schweizerischem Gebiete der Genehmigung des Bundes unterstellt. Die Rekurrenten behaupten, es sei durch Art. l des angeführten Gesetzes eine Diözese Tessin gegründet. Wenn dies sich wirklich so verhielte, so wäre die Tessiner Regierung verpflichtet, für diese Gründung die Genehmigung des Bundes einzuholen, und der Bundesrath, sofern die Regierung ihrer verfassungsmäßigen Bundespflicht nicht genügen wollte, seinerseits verpflichtet, die Kantonsbehörde über den Vorgang zu interpelliren, und die

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ihm nach der Sachlage angemessen erscheinenden Verfügungen zu treffen.

Die Regierung erklärt nun aber in der Rekursantwort vom 30. Mai 1887 durch ihren Vertreter dem Bundesrathe, daß die dem Art. l des Gesetzes von den Rekurrenten gegebene Auslegung eine durchaus irrige sei, daß die Tessiner Behörden sich ihrer Rechtsstellung gegenüber dem Bunde in dieser Frage wohl bewußt seien, insbesondere wissen, daß es ihnen nicht zustehe, ohne die Genehmigung des Bundes ein Bisthum zu errichten, und daß man dem angefochtenen Art. l des Gesetzes gerade deßwegen die vorliegende Fassung gegeben habe, um den gegenwärtigen provisorischen Zustand der kirchlichen Verhältnisse des Kantons deutlich zu bezeichnen.

Es ist den Rekurrenten einzuräumen, daß die Redaktion des fraglichen Gesetzesartikels: ,,Le parrocchie ticinesi sono poste sotto 1' amministrazione d' un Ordinario proprio", zu deutsch : ,,Die tessinischen Kirchgemeinden sind der Verwaltung eines eigenen Ordinarius unterstellt", ihrer Auffassung Vorschub leistet. Denn es liegt nahe, ihr den Sinn beizulegen, daß der Kanton Tessin eine besondere Diözese bilde. Nicht nur im gewöhnlichen Sprachgebrauch, sondern auch von manchen Kirchenrechtslehrern wird unter ^Ordinarius" schlechthin der Bischof verstanden, als ,,der ordentliche Vorstand der Diözese, welcher mit seinen ihm zunächst stehenden vorzüglichem Gehülfen upd Stellvertretern das bischöfliche Ordinariat (OrUinariatus episcopalis) oder die bischöfliche Curie (Curia episcopalis) bildet". (Mansche: Lehrbuch des Kirchenrechts, mit besonderer Rücksicht auf die Schweiz, von Dr. Joseph Winkler, bischöflichem Kommissar, Chorherrn und Professor der Theologie in Luzeru ; zweite vermehrte und verbesserte Auflage, 1878, S. 139; u. A. m.) Indessen kann nicht bestritten werden, daß nach den kanonischen Rechtsquellen der Ausdruck ^Ordinarius" einen weiteren Begriff in sich schließt, als der Titel ,,Bischof", indem jener zur Bezeichnung eines Jeden angewendet wird, der die ordentliche Leitungsgewalt Qurisdictio ordinaria) besitzt, also nicht ausschließlich zur Bezeichnung eines Bischofs. (Vgl. System des Kathol.

Kirchenrechts von Dr. Paul Hinschius, ord. Professor der Rechte a. d. Universität Berlin, II. Band, S. 43; Berlin 1878.)

Uebrigens hat die Tessiner Regierung durch ihren Vertreter in der Rekursantwort über
den mit dem Ausdrucke ,,ordinario proprio" in Art. l des Gesetzes verbundenen Sinn eine bestimmte Erklärung abgegeben, so daß der Bundesrath sich darauf beschränken kann, von derselben hier Akt zu nehmen.

Dagegen muß die in der Rekursantwort aufgestellte Behauptung, es sei in Elinsicht auf die tessinischen Kirchenverhältnisse

195 ,, p r o v i s o r i s c h geregelt nur die Personenfrage und der Titel desjenigen, welcher in diesem Augenblick das Haupt der katholischen Kirchgemeinden des Kantons ista, um so entschiedener als unrichtig erklärt werden. Nach dieser Ansicht wären alle übrigen Verhältnisse als definitiv geordnet anzusehen. Dem ist aber nicht so. Noch nicht geregelt ist nämlich, wie die Tessiner Behörden wohl wissen, die Hauptfrage, welcher Diözesanverband die Kirchgemeinden des Kantons Tessin, da sie von den Bisthiimern Mailand und Como rechtlich getrennt sind, künftig umfassen solle.

Die durch den Berner Vertrag eingesetzte Apostolische Administration macht nur provisorisch bis zur Einführung eines definitiven Zustandes den Kanton Tessin zu einem eigenen kirchlichen Verwaltungsbezirke.

II. a. Die Rekurrenten erblicken in Art. 6 des Gesetzes, welcher den Kirchgemeinden unter Vorbehalt wohlerworbener Rechte die Pfründengüter (beni di congrua) und die Pfarr- und Uuterpfarrkirchen, sowie die zur Erhaltung der Pfarr- und Unterpfarrkirchen und zur Bestreitung der Bedürfnisse des Gottesdienstes bestimmten Fonds als Eigenthum zuweist, eine Verletzung des Grundsatzes der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Denn, sagen sie, im Kanton Tessin kam bis jetzt den Pfarreien nicht das Recht der juristischen Persönlichkeit zu und alle zu Kultuszwecken be stimmten Güter waren und blieben das Eigenthum der politischen Gemeinden ; in Zukunft nun wird jeder von der römisch-katholischen Konfession sich lossagende Bürger von Gesetzes wegen seines Miteigenthumsrechtes an den zu kirchlichen Zwecken bestimmten Gütern verlustig, d. h. er erleidet eine Strafe wegen Glaubensänderung, was gegen Art. 49, Absatz 2, der Bundesverfassung verstößt.

Dieser Beschwerdepunkt hat offenbar mit Art. 49 der Bundesverfassung nichts zu thun. Was die Rekurreaten ,,Strafe" heißen, ist -- nach ihrer Anschauungsweise, aber richtiger ausgedruckt -- ein Unrecht, das einer gewissen Kategorie von Gemeindebürgern in Hinsicht auf das Miteigenthurn an den Gemeindegütern durch das neue Gesetz zugefügt werde. Nun haben aber über Hie Frage, ob durch die Bestimmung des Tessiner Gesetzes betreffend das Kirchgemeindegut Privatrechte verletzt seien, keinesfalls die politischen Bundesbehörden zu entscheiden, sondern es gehört, wie die Rekursantwort mit Recht bemerkt,
ein solcher Streit über die Zugehörigkeit des Kirchenguts vor die Gerichte. Uebrigens sind in Art. 6 1. c. selbst alle wohlerworbenen Rechte ausdrücklich vor behalten.

196 &. Gestützt auf Art. 49 der Bundesverfassung finden die Rekurrenten einen weitem Grund zur Beschwerde in Art 27 des Gesetzes. Dieser Artikel werfe das bisherige System der Leistungen der politischen Gemeinden zum Lebensunterhalt des Pfarrers und zur Deckung der Kultusausgaben über den Haufen: Der bisher ganz freiwillige, zeitweilige Beitrag der Gemeinden werde zu einem feststehenden, unabänderlichen, gesetzlich begründeten Rechte des Pfründeninhabers. Dagegen gewähre der Vorbehalt von Art. 49 der Bundesverfassung keinen Schutz. Denn nach dem Gesetze werde der in Art. 27 vorgesehene jährliche Beitrag der Gemeinden ,,Eigenthum tt der Pfarrei, gleichwie die Kirchen und Kirchengüter, von denen in Art. 6 die Rede ist.

Diesem Räsonnement gegenüber bemerkt die Rekursantwort: ,,Entweder handelt es sich um eine Kultussteuer und alsdann findet Art. 49 der Bundesverfassung (welcher in Absatz 6 die Erhebung von Kultussteuern bei Nichtreligionsgenossen untersagt) Anwendung, oder es handelt sieh um einen Rechtsanspruch und alsdann haben nicht die politischen Behörden, sondern die Gerichte zu entscheiden.11 Gegen die Richtigkeit dieser Alternative kann mit Grund nichts eingewendet werden.

III. Durch Art. 9 des Gesetzes wird allen religiösen Institutionen und Stiftungen der katholischen Kirche innerhalb der Schranken und unter den Garantien der bestehenden Gesetze rechtliche Handlungsfähigkeit zuerkannt.

Nach der Ansicht der Rekurrenten schließt dieser Artikel eine Gefahr für die Eidgenossenschaft in sich. ,,Er ist dazu bestimmt, aus dem Kanton Tessin eine Burg des Fanatismus zu machen, um von ihr aus die Freiheit in den verbündeten Kantonen zu durchbrechen (battre en brèche).a Der Staat dürfe wohl einer von ihm gegründeten Körperschaft den Charakter einer juristischen Persönlichkeit verleihen; aber nie und nimmer könne er, ohne seiner Souveränetät Eintrag zu thun, außerhalb seiner Grenzen und des Bereichs seiner Gesetzgebung entstandene Körperschaften und Stiftungen ohne Weiteres und insgesammt anerkennen.

Die Rekurrenten nennen die Bestimmungen der Bundesverfassuna nicht, welche durch den genannten Artikel 9 des Gesetzes verletzt oder gefährdet sein sollen. Das Bundesgericht nimmt in seinem ürtheile (A. S. der Entscheidungen, XIII, S. 114, litt. B, Ziffer 5) an, die Rekurrenten haben den Art. 51 der Bundesverfassung (Jesuitenverbot) im Auge. Allein diese Annahme ist wohl nicht richtig. Denn die Rekurrenten sagen seihst, daß man

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dem Orden der Jesuiten und den ihm affiliirten Gesellschaften die rechtliche Handlungsfähigkeit auf Grund des Art. 9 nicht werde zuerkennen können, da dies gegen die bestehende Gesetzgebung (Art. 5l der Bundesverfassung) verstieße.

Der Schwerpunkt und die Gefahr des Artikels liegen nach der Meinung der Rekurrenten in der Möglichkeit, die allen Instituten und Stiftungen der katholischen Kirche eingeräumt wird, sich im Kanton Tessin als handlungsfähige Rechtssubjekte niederzulassen, ·ohne daß die bürgerlichen Behörden untersuchen dürften, auf welche Weise und unter welchen Umständen die fremde Anstalt entstanden ist. Hieraus entspringe eine Quelle von Gefahren und Streitigkeiten für den Staat.

Der Bundesrath, welchem vom Volke die Aufgabe übertragen sei, nur Handhabung der öffentlichen Ordnung und des Friedens unter den Mitgliedern der verschiedenen religiösen Genossenschaften, sowie gegen Eingriffe kirchlicher Behörden in die Rechte der Bürger und des Staates die geeigneten Maßnahmen zu treffen, werde sehen, was dagegen zu thun sei.

In der Rekursantwort charakterisirt der Vertreter der Tessiner Regierung die Bedeutung und Tragweite des Art. 9 dahin, daß derselbe die Handlungsfähigkeit der religiösen katholischen Institute, nicht mehr und nicht weniger, anerkenne. ,,Das Gesetz'1, erklärt die Antwort, ,,spricht nicht von ihrer juristischen Persönlichkeit und legt ihnen auch keine solche bei, sondern anerkennt nur ihre Handlungsfähigkeit, ihr Recht, innerhalb der Schranken des Gesetzes und der Verfassung Rechtsgeschäfte abzuschließen und Eigenthutn zu erwerben." In dieser Beziehung thue jeder Kanton, was ihm heliebt, und noch niemals sei dicsfalls die ausschließlich kantonale Kompetenz in Frage gestellt oder in Zweifel gezogen worden.

In dei- That gibt weder Art. 50 noch eventuell Art. 51 der Bundesverfassung dem Bundesrathe einen rechtlichen Anhaltspunkt, mn die angestrittene Bestimmung des Tessiner Gesetzes als solche zu beanstanden. Andererseits aber reichen die durch genannte Verfassungsbestimmungen dem Bunde übertragenen Machtbefugnisse vollkommen aus, um gegen ^tatsächliche Störungen der öffentlichen Ordnung und des religiösen Friedens, sowie gegen Uebergriffe kirchlicher Behörden in das staatliche Gebiet wirksam einzuschreiten.

Die Frage der rechtlichen Handlungsfähigkeit gehört dem
privatrechtlichen Gebiete an ; sie ist durch das Bundesgeselz über die persönliche Handlungsfähigkeit und das Obligationenrecht und, soweit es sich um die Entstehung und die Verhältnisse der Körper·schaften des öffentlichen Kechts, der Stiftungen und anderei- juriBundesblatt. 39. Jahrg. Bd. IV.

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198 stischen Personen handelt, durch das kantonale Recht geordnet.

(0. 719.)

Demnach steht die Kompetenz der gesetzgebenden Behörde des Kantons Tessin, über die Handlungsfähigkeit kirchlicher Stiftungen und Körperschaften zu legiferiren, außer allem Zweifel.

Aus den angeführten Gründen liegt für den Bundesrath dermalen keine Veranlaßung vor, aus dem Gesichtspunkte des eidgenössischen Verfassungsrechts sich mit dieser Bestimmung des Tossiner Gesetzes zu beschäftigen.

IV. Während das Gesetz für die Einberufung und Abhaltung der Kirchgemeindeversammlungen die im Gemeiude-Organisationsgesetze für die politischen Gemeinden vorgeschriebenen Regeln adoptirt hat, überweist es in Art. 28 Anstände betreffend Ausübung des Stimmrechts in den Kirchgemeindeversammlungen, betreffend Einberufung und Abhaltung derselben, betreffend die Wahl des Kirchenrathes, und bezüglich der Verhandlungen überhaupt dem Entscheide des Re^ierungsstatthalters unter Vorbehalt des Rechts der Beschwerde beim Staatsrathe, jedoch ohne das Recht des Weiterzugs an den Großen Rath, wie es für Beschwerden mit Bezug auf die politischen Gemeinden besteht.

Die Rekurrenten halten die Nichtgestattung des Rekurses an den Großen Rath für unzuläßig, und sie glauben, es werde damit auch die Weiterziehung einer Besehwerdesache vor das Forum der Bundesbehörden angeschnitten; diese Bestimmung des Art. 28 widerspreche dem Art. 43 der Bundesverfassung.

Die Befürchtung der Rekurrenten, es werde durch Art. 28 des Gesetzes das Recht der Weiterziehung einer Beschwerde an die Bundesbehörde geschmälert oder entzogen, ist gänzlich unbegründet. Ob die Kantone den Instanzenzug in ihrem Gebiete so oder anders einrichten wollen, ist ihre Sache; der Bundesbehörde kann dadurch selbstverständlich in keinem Falle das Recht der Cognition über eine Materie entzogen werden, die nach Maßgabe der Verfassung und der Gesetze des Bundes Gegenstand der Beschwerdeführung bei einer Bundesinstanz sein kann. Dies ist in Ansehung der Gemeindeverhältnisse (Art. 43 der Bundesverfassung) so unzweifelhaft richtig, wie in Ansehung jedes andern Rechtsgebietes, das bundesrechtlichen Grundsätzen und Vorschriften unterworfen ist.

So bleiben denn auch in Hinsicht auf die Anwendung des angefochtenen Gesetzes die durch Art. 50, Absatz 2, der Bundesverfassung dem Bunde eingeräumten Befugnisse vorbehalten, ohne daß

199 darüber eine ausdrückliche Erklärung oder Rechtsverwahrung von Seite der Bundesorgane zu erfolgen braucht. Wie aber schon das Bundesgericht in Betreff der allgemeinen Berufung der Rekurrenten auf Art. 2 der Bundesverfassung dargethan hat, so muß auch hier betont werden, daß die allgemeine Berufung auf Art. 50, Abs. 2, der Bundesverfassung zur Begründung einer staatsrechtlichen Beschwerde bei der Bundesbehörde nicht genügen kann, daß vielmehr eine Störung der öffentlichen Ordnung, eine Beeinträchtigung des konfessionellen Friedens, ein Uebergriff kirchlicher Behörden in die Rechte der Bürger und des Staates thatsächlich nachgewiesen sein muß, wenn das Einschreiten der Bundesbehörde auf Grund der allegirten Verfassungsbestimmung gefordert wird ; beschlossen: 1. Gegenüber Art. l des tessinischen Gesetzes vom 28. Januar/21. März 1886 ,,über die Freiheit der katholischen Kirche und die Verwaltung der Kirchengüter wird das durch die sogenannte Berner-Uebereinkunft vom 1. September 1884 für die tessinischen Kirchgemeinden geschaffene Rechts- und Sachverhältniß im Sinne der Erwägung unter Ziffer I festgestellt.

2. Im Uebrigen wird der Rekurs der HH. Stoppani, Simen und Bruni als unbegründet abgewiesen.

3. Dieser Beschluß ist der hohen Regierung des Kantons Tessin, resp. zu deren Händen dem Herrn Prof. Dr. K. G. König in Bern, unter Rückschluß der Beilagen der Rekursantwort, sowie dem Herrn Advokaten Leone de Stoppani in Lugano, für ihn und Genossen, schriftlich mitzutheilen.

B e r n , den 18. Oktober 1887.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Droz.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Eingier.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bundesrathsbeschluß über den Rekurs der Herren Leone de Stoppani, Advokat in Lugano, Rinaldo Simen in Locarno und Ernesto Bruni, Advokat in Bellinzona, gegen das tessinische ,,Gesetz über die Freiheit der katholischen Kirche und die Verwaltung der Kir...

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1887

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4

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47

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29.10.1887

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183-199

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