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Bericht der

ständeräthlichen Kommission zur Gesetzesvorlage betreffend die Ausdehnung der Haftpflicht.

(Vom 13. April 1887.)

Tit.

Durch das Fabrikgesetz eröffnete die Eidgenossenschaft eine neue Aera der Gesetzgebung, die soziale. Sie nahm sich zum ersten Mal gesetzgeberisch unmittelbar der Nothlage des armen Mannes an. Sie hat damit zum ersten Mal ein ,,Klassengesetz" geschaffen.

Während der Rechtsstaat es nur mit äquivalenten Persönlichkeiten zu thun hat, deren gegenseitige Rechtsbeziehungen er unbekümmert um ihre soziale Lage regelt, und während er allerdings auf diese Weise das hohe ethische Prinzip des Rechtes wahrt, hat bekanntermaßen der humane Staat der Gegenwart seinen Beruf sehr wesentlich erweitert, er kann sagen, daß nichts Menschliches ihm ferne liegt, und er sucht nicht nur das formelle, sondern auch das materielle Recht -- die aequitas -- dadurch aufrecht zu erhalten, daß er die herbsten Ungleichheiten in der Gesellschaft durch seinen starken Arm zu mildern und zu heben sucht. Es ist dies noch lange nicht eine despotische Gleichmacherei, es ist dies noch lange nicht ein Kommunismus; gegentheils, die politische Freiheit und Gleichheit hat nur dann eine praktische Bedeutung und eine reelle Unterlage, wenn nicht eine große Klasse von Staatsbürgern als verwahrlost und enterbt dasteht, und das Privatrecht erhält dadurch die allerbeste Sanktion gegenüber allen Umsturzplanen, wenn es möglichst wenig verzweifelte, katilinarische Existenzen gibt.

Es ist diese allgemeine Erwägung zweifellos nirgends mehr am Platze als in einem demokratischen Volksstaate. Und daß eine

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energische soziale Gesetzgebung von der Noth der Zeit gebieterisch verlangt wird, das beweist am besten das Vorgehen des großen Lenkers des deutscheu Reiches, welcher weder im Sozialistengesetze noch in der imposanten Heeresverfassung, sondern nur in der staatlichen Abhülfe gegen die größte Noth eine hinlänglich starke Waffe zur Bekämpfung des falschen Sozialismus findet. Die staatliche Organisation für die Hülfe in der Noth ist alteidgenössisohen Ursprungs. Es ist merkwürdig, wie vor Jahrhunderten in unserm lockern Staatenhunde der energische Beschluß der Tagsatzung überall Anerkennung fand, daß jede Gemeinde für ihre Annen sorgen müsse. Es ist und bleibt naturgemäß diese familiäre Sorge Kommunalsache, und sie hat das Bewußtsein der Heimathörigkeit und damit die Heimatliebe ungemein gefestigt. Den Bedürfnissen aber und den Uebelständen, welche die riesigen Fortschritte des Verkehrs und der Technik unerbittlich im Gefolge haben, mit hinlänglicher Unparteilichkeit und Entschiedenheit zu steuern, das ist Sache einer stärkern Organisation, das ist Sache des Einheitsstaates, der Eidgenossenschaft.

Man muß allerdings auch diesbezüglich sich vor allen Extravaganzen hüten, aus Mitleid zum armen Manne und zum Arbeiter darf man sich nicht gegenüber dem Kapital und der Industrie in eine gehässige Gemüthsstimmung und in eine einseitige Situation versetzen. Das Kapital, so lauge es nicht wucherisch monopolisirt wird, ist bei gesunden Verhältnissen doch in der Regel eine Frucht der Arbeit und ein nothwendiger Hebel der nationalen Arbeit, und die Industrie ist gleichbedeutend mit dem modernen Fortschritt auf dem Gebiete der Technik und der Arbeit, sowie mit der Potenzirung der Arbeitskräfte, sie verfeinert das Leben, sie bringt Verdienst und Geld in's Land, und das haben wir gerade wegen der enormen Mehreinfuhr nothwendiger Lebensmittel uugemein nothwendig. Unsere Industrie hat aber auch gegenüber der Übermächtigen Konkurrenz und der Schutzzollpolitik der Großstaaten, sowie gegenüber einer vielfach chronisch gewordenen Nothlage einen überaus harten Kampf um's Dasein zu bestehen.

Man muß nur nicht sich in den absurden Gedanken hineinverrennen, daß die Interessen der Industrie und der Arbeiter einander unversöhnlich gegenüberstehen. Das Wohl der Einen fördert das Wohl der Andern, eine blühende Industrie fördert
den Gemeinsinn und verschafft reicher bezahlte Arbeit, und eine menschenwürdige, rechtlich konsolidirte Lage der Arbeiter erhöht die Qualität der Arbeit und ist der beste Sehutzwall für Kapital und Industrie.

Wir sind auch sozial gesprochen Eidgenossen und nicht kastenmäßig geschiedene Stände, wir sind Menschen, Republikaner und

301 Christen, wir sind auf einander angewiesen und müssen einander helfen. Einen glänzenden Beweis für die Homogenität der Interessen von Arbeitgeber und Arbeiter bei gediegener Geschäftsleitung fanden wir in den auch vom humanen Standpunkte mustergültig geführten Etablissements unseres Herrn Kollega R i e t e r . Wenn Überall solch'1 gesunde Zustände sich finden würden, d a n n , aber auch n u r d a n n würde sich die soziale Frage auf dem Boden der Freiheit und der loyalen Fürsorge ohne Gesetzesparagraphen lösen.

Vielleicht der wichtigste Artikel des Fabrikgesetzes war Artikel 5, handelnd von der Haftpflicht. Derselbe hat vorläufig allgemeine 'Grundsätze aufgestellt, im Uebrigen einem Gesetz gerufen. Dieses Spezialgesetz wurde bei einer sozial sehr abgekühlten Luftströmung im Jahre 1882 erlassen, und es hat die im Fabrikgesetz vorläufig dogmatisirten Grundsätze zu Gunsten des Arbeitgebers und zu Ungunsten des Arbeiters sehr wesentlich abgeschwächt. Es hat ein Maximum des Schadenersatzes von Fr. 6000, beziehungsweise dem sechsfachen Jahreslohne aufgestellt-, es hat die Frist für die Klagverjährung abgekürzt, und es bestimmte, daß der Zufall mildernd in Betracht falle. Immerhin hat das Gesetz vom Jahre 1882 wie dasjenige von 1877 mit dem gemeinen Recht gebrochen, welch' letzteres die Ersatzpflicht nur auf ein Delikt oder ein QuasiDelikt zurückführt, welches also für den Zufall keine BrsatzpHicht kennt, und welches für Dritttnannspersonen, für Arbeiter, Mandatare u. s. w. nur dann eine Haftpflicht kennt, wenn bei deren Anstellung culpa in eligendo nachweisbar vorhanden war. Wir müssen allerdings sofort beifügen, daß schon das römische Recht Einzelausnahmen von dieser strengen Beweislast kannte, indem dem Wirth und dem Stallmeister für die Person des Gastes und dessen invecta et illata eine allgemeine Haftpflicht überbunden war. Diese sehr erweiterte Haftpflicht dehnte sich zuerst naturgemäß auf den alten Frachtführer und dann auf die modernen Frachtführer, die Dampfschiffe und die Eisenbahnen, aus, und auch in unserm Lande wurden diese Verkehrsmittel zuerst unter die strenge Haftbarkeit gestellt. Eine höchst natürliche Konsequenz führte dann zu gleicher Haftbarkeit des Fabrikherrn. Sowohl beim Lokomotivverkehr als bei der Fabrikarbeit steht der Mensch an Elemeatarkraft ihm weit überlegenen
Naturgewalten gegenüber. Diese Gewalten stehen im Dienste der -Bahngesellschaft und des Fabrikherrn, sie werden zunächst in i h r e m Interesse ausgebeutet, und darum ist es nur recht und billig, wenn dieselben für eine mögliehst sorgfältige und gewissenhafte Bändigung dieser Gewalten verhaftet werden. Ja, mehr noch, der Passagier benützt die Bahn in s e i n e m Interesse, und die Elementarkraft des Dampfes ist in s e i n e m Nutzen vorgespannt.

302 Der Fabrikarbeiter schafft allerdings auch um s e i n e n Lohn, aber wo will der arme Mann sonst anders sein Brod verdienen, zumal wenn er von Jugend auf nur zu dieser monoton-einseitigen Fabrikarbeit herangebildet und gewöhnt wurde? Und der Lohn des Arbeiters richtet sich nach dem eisernen Gesetz von Angebot und Nachfrage, der Lohn repräsentirt sehr oft nur ein kärgliches Existenzminimum, welches von der Hand in den Mund verwendet werden muß, und der Lohn repräsentirt in der Kegel nicht einen zweiten,, nothwendigen Faktor, wir meinen die Garantie für unverschuldetes Unglück und damit für die dunkle Zukunft des rein abhängigen, blutarmen Tagelöhners.

Juridisch läßt es sich auf den ersten Blick allerdings schwer konstruiren, daß Jemand für ein fremdes Unglück zu haften hat, an dem er keine Schuld trägt. Der römische Satz : ,,casus sentit dominum tt muß eben ganz anders als im corpus juris dahin interpretirt werden, daß, zu einigem Ausgleich von Gewinn und Gefahr, der Arbeitgeber auch für jene Mehrzahl von Eventualitäten haftet, wo kein persönliches Verschulden an einer eingetretenen Katastrophe prozessualisch zu erweisen ist. Das ist allerdings nicht herkömmliches positives Recht, aber es ist Naturrecht, und der Rechtsstaat muß sein Gesetzesrecht nach den natürlichen Rechtsgrundsätzen feststellen.

Und gibt es überhaupt einen Zufall in der Welt? Die großen Denker bestreiten dieß, und wer den Lauf des Lebens mit verständiger Aufmerksamkeit verfolgt, der führt Alles auf eine» gewissen innern Causal-Zusammenhang oder, besser gesagt, auf die Fügung oder Zulassung einer allwaltenden Vorsehung zurück.

Schließlich ist darum für unser mangelhaftes Wissen Alles eine Frage der Präsumtion, d. h. der Beweislast. Und da wird eben durch die moderne, soziale Gesetzgebung die alte Theorie der prozessualischen Beweislast scheinbar in ihr Gegentheil verkehrt.

Es geschieht dies eben naturnothwendig wegen der Abhängigkeit des Arbeiters, es geschieht dies, weil dem armen Manne sonst oft das Beweismaterial versagen würde, und es wurde ein wichtiges remedium zu Gunsten des objektiven Rechts dadurch geschaffen, daß der Thatbestand beförderlichst und parteilos durch amtliche Organe herzustellen ist.

Was übrigens vor einem Jahrzehnt noch territoriales Ausnahmerecht gewesen ist, das wurde und wird durch die logische
Allgewalt der Verhältnisse mehr und mehr gemeines Recht. Das deutsche Reich begann mit der Haftpflicht und kennt nun bereits die obligatorische Unfallversicherung, und zwar weit hinaus über die Fabrikarbeiter. Das sonst manchesterliche England, welches bis 1880

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uater dem Comtnon employement gestanden, kennt nun ebenfalls ein Arbeiterschutzgesetz, welches allerdings als Maximum des Schadenersatzes den dreifachen Jahveslohn feststellt. Oesterreich kannte bisher nur das gemeine Recht, der Entwurf von Regierung und Parlamentskommission schließt sich aber sehr eng dem deutschen Gesetze an, Frankreich, in welchem die Anwendung des Code civil bislang in einem äußerst engherzigen Gesichtskreis sich bewegte, bricht nun ebenfalls radikal mit dem gemeinen Rechte. Italien und Belgien haben allerdings noch das gemeine Recht. Es mag dieß mit dem Census bei den Parlamentswahlen im Zusammenhange stehen, aber der ernste Nothruf der Zeit pocht sehr energisch auch an die Thore der dortigen Ministerien und Parlamentsmehrheiteu, und das Maß der Fürsorge für die italienische Landbevölkerung sowie die Enthüllungen über belgische Arbeiterverhältnisse sind ein schlagender Beweis, daß konstitutionelle Freiheit und intellektuelle Entwickelung ohne energische soziale Hülfe für das Glück der Nationen nicht genügen.

Wie aber hat sich das bestehende Haftpflichtgesetz bewährt? Darüber machten sich aus dem Schooße der Arbeiterbevölkerung v i e l e Klagen geltend. Es handelt sich hierbei viel weniger um die Richtigkeit der darin niedergelegten Grundsätze, als um die Konsequenz und die Energie in der Ausführung. Der verletzte Arbeiter kann sehr oft nicht zu seinem Rechte kommen, weil der amtliche Voruntersuch mangelhaft geführt wird, weil der Richter zu schnell Selbstverschulden annimmt, und zumal, weil der Arbeiter, um nicht vor die Thür gestellt zu werden, sich mit einem rein illusorischen Kompromiß begnügen muß. V i e l e schweizerische Industrielle zeigen gegenüber ihren Arbeitern sehr viel Edelsinn, aber es gibt auch Andere von härterem Stahl, und es ist das Hauptkriterium einer guten Gesetzgebung, daß sie nicht nur schöne Grundsätze dogmatisch hinstellt, sondern daß sie für deren energische Durchführung praktische Gewähr bietet. Und daß dieß dermalen bei Weitem nicht überall der Fall ist, dafür geben besten Aufschluß die sehr interessanten Berichte der Fabrikinspektorate.

Das Maximum an sich ist wie jede Ziffer im Privatrecht eine Willkür, aber es schützt immerhin den Arbeitgeber vor der richterlichen Willkür. Es hat das gegen sich, daß es die Skala der Entschädigungen wesentlich
herunterdrückt, indem es als Höchstbetrag für den Todesfall und für das größte Elend der Hinterlassenen angesehen wird, und es hat zumal das gegen sich, daß sogar beim Verschulden des Arbeitgebers oder seiner Mandatare nicht über das Maximum hinausgegangen werden kann. Der französische und österreichische Entwurf sind dießbezüglich viel gerechter, indem sie

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zwischen der Entschiidigungspflicht aus gemeinem Recht und aus Berufsrecht unterscheiden, und indem bei der Entschädigungspflicht aus gemeinem Recht kein Maximum angenommen wird. Das dermalige Maximum hat zumal das gegen sich, daß es neben der Ziffer von Fr. 6000 auch auf den sechsfachen Jahreslohn abstellt, und daß dieser sechsfache Jahreslohn zumal bei Arbeitern, welche gar nicht für die Zukunft sorgen konnten, weit unter diesen Fr. 6000 sich bewegt. Das Maximum hat aber das für sich, daß die meisten andern Länder dasselbe in ihre Gesetzgebung aufgenommen haben, daß wir es mit einer Spezialgesetzgebung zu thun haben, daß es sich in den meisten Fällen doch um einen sogenannten Zufall handelt, wo das Verschulden selten ganz auf der Einen Seite liegt und selten mit mathematischer Gewißheit beidseitig abzuwägen ist, und daß der Arbeiterbevölkerung am allersclilechtesten gedient wäre, wenn die Existenz unserer Industrie untergraben und wenn der Industrielle Vor Leistung seiner Entschädigun^spflichten ruinirt würde. Die persönliche Ansicht des Berichterstatters geht dahin, daß der Bundesrath seinerzeit das Richtige getroffen hatte, als er eia Maximum von Fr. 8000 in Vorsehlag brachte, daß das Kriterium des sechsfachen Jahreslohnes in Wegfell kommen sollte, und daß beim SelbstverschulHen des Arbeitgebers, beziehungsweise bei einer culpa in eligendo bei Anstellung der Mandatares, also in diesen Fällen des gemeinen Rechtes, von einem Maximum nicht gesprochen werden sollte. Ihr Referent will keinen Antrag stellen, weil im Nationalrathe sich keine Stimme gegen das dermalige Maximum erhob, und weil also diesbezügliche Revisionsanträge keine Aussicht auf Erfolg hätten.

Erfühlte sich aber zur Präzisirung seiner Anschauungsweise in .diesem Kardinalpunkte für verpflichtet.

Die Haftpflichtgesetzgebung ist gerade wegen ihrer Neuheit und wegen ihrer Erfahrungsbedürftigkeit im höchsten Grade eine fließende zu nennen. Wir können heute unmöglich ein Ideal aufstellen, wir müssen empirisch zu Werke gehen und jeweilen den schreiendsten Uebelständen abhelfen, und dieses Verfahren führt zu jener Novellen-Gesetzgebung, die ein äußerst unsystematisches Kolorit und einen äußerst fragmentarischen Charakter hat, und die also theoretisch nicht gerechtfertigt und praktisch nur durch den Zwang der Verhältnisse entschuldigt werden
kann. Bei unserem Zweikammersystem müssen wir übrigens, wenn wir nicht dem Bessern zu liebe das Gute ad Calendas Grsecas vertagen wollen, im Großen und Ganzen in den Bahnen wandeln, welche uns die Prioritätsberathung des andern Rathes vorgezeich.net hat. Und diese Frage führt uns auch zur vorläufigen Stellungnahme gegenüber der obligatorischen Unfallversicherung. Die im März 1885 im National-

305 rath beschlossene Motion enthielt zwei sich scheinbar widersprechende Forderungen: 1) die Revision des bestehenden Haftpflichtgesetzes behufs Ausdehnung der Haftpflicht und behufs pimessualischer Erleichterung des Klagerechtes, und 2) die Anbahnung einer allgemeinen obligatorischen Arbeiter-Unfallversicherung. Würde nun die zweite Frage sofort gelöst, so wäre damit selbstverständlich die erste Frage gegenstandslos geworden. Nun aber ist die Einführung einer obligatorischenUufallversicherung von so großer Tragweite, und sie erfordert so viele Vorarbeit, daß man bis zu deren endgültigen Lösung vom Standpunkte des Gewissens und der Humanität die andere Frage unmöglich auf sich beruhen lassen darf. Gegentheils, die berufliche Ausdehnung und die wirkungsvollere prozessualische Gestaltung der Haftpflicht wird werthvolles und keineswegs überflüssiges Material für die Unfallversicherung gewähren. Zeigt es sich, daß die energischere Gestaltung des Hat'tpflichtgesetzes unausgiebig oder zu vexatorisch wirkt, so wird hierin die nächste Etappe zur Unfallversicherung sich finden. Zur obligatorischen Unfallversicherung bedarf es der Verfassungsrevision, während die Erweiterung der Haftpflicht nur dem fakultativen Referendum unterliegt, und schon aus diesem gesetzgebungspolitischen Gesichtspunkte müssen wir Schritt für Schritt vorgehen. Zur Einführung der Unfallversicherung bedarf es ganz gewaltiger Vorstudien und zunächst einer Volkszählung.

Mit Ausnahme des deutschen Reiches bietet uns kein Staat erfahrungsgemäße Anhaltspunkte, und auch die dortigen Verhältnisse sind noch sehr wenig abgeklärt. Damit wollen wir der energischen Anhandnahme der Unfallversicherung keineswegs entgegentreten.

Wir glauben gegentheils, daß eine staatlich geleitete, auf Gegenseitigkeit beruhende Unfallversicherung sich sehr entschieden anempfiehlt. Einzig auf diese Weise kann das Unglück des arbeitsunfähigen, blutarmen Tagelöhners nicht mehr spekulativ ausgebeutet werden. Auch für den weniger begüterten Gewerbsmann wird die Versicherung seiner Arbeiter in hohem Grad erleichtert. Man hat unvergleichlich mehr Garantien gegen eine finanzielle Katastrophe der Versicherungsgesellschaft. Der verunglückte Arbeiter steht dann nicht mehr in der schrecklichen Gefahr wegen Zahlungsunfähigkeit des Unternehmers. Die Heimatgemeinde muß nicht an
Stelle des Arbeitsherrn die Folgen der absoluten Arbeitsunfähigkeit eines Pamilienhauptes tragen. Die öffentlichen Armenlasten drücken dann noch schwer genug viel arme Steuerzahler. Es gibt dann nicht mehr den korrumpirenden Skandal leoninischer Verträge, und das nicht geringste Verdienst einer Unfallversicherung besteht in gesunder Kräftigung des Berufs- und Klassenbewußtseins, des Innungsgeistes und des Solidaritätsgefilhls zwischen Arbeitgebern und Arbeitern, sowie in Verhinderung einer Unzahl von Kontroversen und Sundesblatt. 3Ü. Jahrg. Bd. III.

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Prozessen, welche die Kluft zwischen den einzelnen, auf einander angewiesenen Menschenklassen recht lieblos und heillos zu offenbaren und zu erweitern in der Lage sind.

Und der Sprechende braucht gar nicht zu verschweigen, daß er persönlich noch aus einem andern Grunde für energische Anhandnahme der sozialen Postulate stimmt. Gegenüber d i e s e m Kulturkampf muß der andere grundschlechte Kulturkampf in den Boden hinein verschwinden ; denn man findet dann erstens keine Zeit zu Zank und Hader, und zweitens ergibt es sich von selbst, daß alle wohlmeinenden, intelligenten Elemente zu solidem Aufbau der gesellschaftlichen Verhältnisse in Lieb' und Treuen zusammenstehen müssen. Es ist allerdings kein Geringerer als der dermalige Bundespräsident, dieser um das Wohlergeheu a l l e r Volksklassen so treu besorgte Patriot, der die Schwiei'igkeiten der obligatorischen Unfallversicherung in einer besondern Broschüre hervorgehoben hat, und jedenfalls muß die Frage eine solche Gestalt gewinnen, daß nicht durch sozialen Feuereifer ein Stück büreaukratischer Staatsomnipotenz geschaffen wird. Es handelt sich übrigens heute keineswegs um eine Verwerfung oder absichtliche Verschleppung, sondern um eine reife Würdigung und Vorbereitung dieser Fundameutalfrage. Der Bundesrath hat diese Mission übernommen, der Nationalrath hat sie ihm mit Einmuth anvertraut; bei allseitig gutem Willen können wir einem glücklichen Kompromiß in absehbarer Zeit entgegensehen, und so bleibt uns vom praktischen Gesichtspunkte gar nichts Anderes zu thun übrig, als diesem einmüthigen Prioritätsbeschlusse des Nationalraths unsere Zustimmung zu geben und mittlerweilen durch Spezialausbau des Obligationenrechtes der Haftpflicht eine Ausdehnung und eine Organisation zu geben, wie dieß unser Rechtsgefühl gebieterisch erheischt. Je mehr überhaupt der Staat das große Gebot der Hülfe für die Noth auf dem Boden des Rechtes zu realisiren sucht, um so mehr erwirbt er sich den Segen allseitiger Zufriedenheit, und um so mehr befestigt er auf ethischer Grundlage seine Existenz.

Das Fabrikgesetz ist hauptsächlich darum ein Klassengesetz zu nennen, weil es für den Umfang seiner Betriebsamkeit einen rein formalen Begriff aufstellt, und weil es nach allen Richtungen an der Thür der Fabriketablissemente stehen bleibt. Bei dem enorm viel Guten, welches diesem
Gesetz entschieden zukommt, fällt doch diese sehr formalistische Grenzlinie vielfach sehr schroff in das Auge; wir gedenken da nur beispielsweise der Kinderarbeit, des Normalarbeitstages, der Pesttagspolizei. Nirgends aber tritt diese Unterscheidung so schroff an den Tag, wie in der Frage der Haftpflicht. Und hier ist zunächst hervorzuheben, daß wegen des ge-

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setzlichen Ausdrucks ,,in geschlossenen Räumlichkeiten" gemäß richterlichem Urtheil die Haftpflicht sogar ausgeschlossen ist, wenn ein Unfall bei einer Arbeit sich ereignet, die unter freiem Himmel, aber in engster Verwandtschaft mit dem Fabrik betrieb vollzogen wird. Dieser Absurdität und dieser folgenschweren Buchstabenklauberei muß vor Allem abgeholfen werden. Die ganz gleiche ratio legis für die Haftpflicht besteht aber, wie bei den Fabriken, bei einer Großzahl anderer Gewerbe. Es handelt sich da überall um Berufsgefahren des abhängigen Mannes, die infolge seiner arbeitsmäßigen Beziehungen zu elementaren Naturgewalten auf ihm lasten, und die Statistik stellt bezüglich der Unfälle eine Reihe industrieller Betriebskategorien, wie z. B. die Textilindustrie, in ein wesentlich günstigeres Licht, als alle in Art. l unseres Entwurfes rubrizirten Berufszweige. Alle diesbezüglichen Detailfragen werden Sache der artikelweisen Berathung sein, und es soll hier nur betont werden, daß die neuern Gesetze und Gesetzesentwürfe der andern Staaten auf diese Resultate der Statistik und auf diese erfahrungsgemäß festgestellte Stufenleiter der Gefahren volle Rücksicht nehmen.

Eine Ausdehnung der Haftpflicht über die Fabrik hinaus wurde seiner Zeit zweifellos darum nicht in Anregung gebracht, weil es sich damals nur um ein F a b r i k gesetz gehandelt hat, weil man den Mittelmann nicht unter die strenge Haftpflicht stellen, sondern in engerm Rahmen experimentiren und das Gesetz nicht zum vornherein zu Falle bringen wollte.

Heute handelt es sich nun aber lediglich um Ausdehnung auf einige der Fabrik analoge Berufsarbeiten, und es handelt sich hiebei ebenfalls nur um den Großbetrieb. Auch bei rein technischen Etablissementen wurde nach bundesräthlicher Praxis angenommen, dieselben gehören nur dann unter das Fabrikgeselz, wenn regelmäßig in ihnen mindestens fünf Arbeiter beschäftigt werden. Eine gleiche Grenzlinie wird nun für die andern Berufsarten gesetzlich festgestellt, und Ihre Kommission will diesbezüglich nur Alles genauer und den praktischen Verhältnissen angemessener präziuireu als der Nationalrath. Allerdings liegt auch in d i e s e r Grenzlinie sehr viel Arbiträres, aber die vollziehenden und urtheilenden Organe m ü s s e n eine faßbare Limite haben , und zwischen Großund Kleinbetrieb m u ß ein Unterschied
getroffen werden , indem der gewöhnliche Handwerker die Haftpflicht einfach nicht ertragen würde, indem sie sonach bei ihm zwecklos wäre, und indem man das Gesetz nicht zum sichern Falle bringen darf. Aus gleichem Grunde wird die Haftpflicht auf die Land- und Forstwirthschaft nicht ausgedehnt, und wir können diesbezüglich auf das deutsche Reichsgesetz verweisen, wo doch die Unfallversicherung Halt und

308 Eücken bieten würde. Uebrigens wird die Haftpflicht aus landwirthschaftlichen Arbeiterkreisen nicht verlangt, und der landwirtschaftliche Tagelöhner ist auch viel weniger an einen speziellen Dienstherrn gebunden, als der Fabrikarbeiter. Wir müssen es aber nochmals betonen, wir bewegen uns hier auf dem Boden der Empirik, und wenn im eigentlichen Privatreeht das Gesetzesrecht nur durch eine gewisse Stabilität zum Volkarecht wird, so erfordert es auf dem sozialen Gebiete das gesetzgeberische Gewissen, daß man sich allen Erfahrungen anbequemt und >mit weitherzigem , freiem Blick allen Nothständen abzuhelfen sucht. Warum wir die Berufskrankheiten in ein Postulat verweisen, werden wir hei der Detaiiberathung sagen. Die Feststellung dieser Berufskrankheiten ist viel zu wichtig und viel zu schwierig, als daß wir dieselbe einem möglichst gründliehen und objektiven Vorstudium entziehen und in die Hand jedes beliebigen Arztes legen möchten.

Also die subjektive Ausdehnung der Haftpflicht ist der Eiue Zielpunkt der vorwürfigeu Novelle; der andere ist prozessualischer Natur, d. h. die Erleichterung und Sicherung des Klagerechts. Wir haben schon betont, wie dieses Klagerecht sehr oft rein illusorisch war, weil der arme Mann nicht klagen durfte oder nicht zu klagen vermochte oder kein willfähriges Gehör fand. Alf das mußte die Arbeiterkreise in hohem Grad verbittern, und der Respekt vor der Autorität des Staatsgesetzes kann durch nichts mehr als durch seine thatsächliche Ohnmacht untergraben werden. Es haftet ein wahrer Fluch auf einem sogenannten Rechtsstaat, \venn der arme Mann nicht so gut wie der Reiche seinen Richter finden und zu seinem Recht gelangen kann. Hier wollen wir in zwar weniger stoßender Form, aber sachlich durchschlagender helfen als der Nationalrath.

Das Armenrecht, der unentgeltliche Rechtsbeistand und das beschleunigte Verfahren werden nach parteiloser Prüfung des Falles zugesichert. Und dabei betonen wir, daß offenbar unbillige Verträge keine Rechtskraft haben. Letzteres ist vor Allem nothwendig, weil die Vertragsfreiheit in solchen Dingen sehr oft keine bilaterale ist. Es gilt hier eben hie und da in frappanter Weise der Satz des gemeinen Rechtes: coacti voluerunt, die laesio ultra dimidium und die loesio enormis machten auch nach gemeinem Rechte den Vertrag ungültig Wir wollen hier
nicht weiter mit Detailfragen Sie ermüden, und wir betonen nur noch, daß wir uns in redaktioneller Beziehung viele Mühe nicht gereuen ließen, und daß diesbezüglich dem berühmten Referenten über das Obligationenrecht und Betreibungsgesetz ein großes Verdienst zukommt. Wirtragen keine Schuld daran, daß es um die redaktionell absolut nicht lohnende Mosaikarbeit einer etappemnäßigen Novellengesetzgebung sich handelt.

309 Wir beantragen Ihnen Eintreten auf den Gesetzentwurf. Das, meine Herren, sollen und wollen wir in unserm Schweizerlande nie vergessen, daß arbeiterfreundliche Bestrebungen, sowie die schuldige Rücksichtnahme auf die industriellen Interessen nie zu Klassenantipathien sich versteifen dürfen. Wir sind schließlich Bin republikanisches Volk der Arbeit. Aus den Kreisen der Industrie wurde in geistigen Anregungen und Legaten schon uugemein viel für eine edle Gemeinnützigkeit gethan, ohne Industrie wären wir ein armes, unbeholfenes und stabiles Volk. Aber auch der gemeine, rechtschaffene Arbeiter hat sein vollstes Recht auf unsere Sympathien, aus s e i n e n Kreisen ist schon gar mancher ehrenwerthe Repräsentant der Großindustrie herausgewachsen, und die energievollsten Anregungen zu wahrem Fortschritt kamen sehr oft von Denen, welche die Bedürfnisse und die Last des Lebens aus eigenstem Gefühl erkannten, und die Heiligkeit des Privateigenthums kann keine bessere Besiegelung erhalten, als wenn dem armen Manne unter allen Umständen zu einem menschenwürdigen Dasein und zu seinem materiellen Recht verhelfen wird. Wehe dem Staate, in welchem das schreckliche Wort sich bewahrheitet: summum jus, summa injuria! Nein, das ethische Prinzip ist der Kern des Rechtes, und die schönste Blüthe dieses ethischen Prinzips ist das Mitleid, die Liebe, der allseitige Respekt vor der Menschenwürde. Wir wollen ein humaner Rechlsstaat auf gesundem sozialem Boden und in gesunder sozialer Arbeit sein, d a n n haben wir den destruktiven, dem erhaltenden, weil arbeitsamen, haushälterischen und hülfreichen Geiste unseres Volkes durchaus widerstrebenden falschen Sozialismus nicht zu fürchten.

Bern, den 13. April 1887.

Namens der standeräthlichen Kommission, Der B e r i c h t e r s t a t t e r : Theodor Wirz.

Der Gesetzesentwurf der standeräthlichen Kommission wurde von beiden Käthen unverändert angenommen.

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Bericht der ständeräthlichen Kommission zur Gesetzesvorlage betreffend die Ausdehnung der Haftpflicht. (Vom 13. April 1887.)

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18.06.1887

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