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Schweizerisches Bundesblatt

39. Jahrgang. IY.

Nr. 47.

29. Oktober 1887.

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Bundesrathsbeschluß über

den Rekurs von Carl Sudler, Schneidermeister, in Rorschach, gegen eine Schlußnahme der Regierung des Kantons St. Gallen vom 7. Januar 1887, wegen Verletzung der Grundsätze der Bundesverfassung betreffend Theilnahme an einem religiösen Unterricht und Verfügung über die religiöse Erziehung der Kinder bis zum erfüllten 16. Altersjahr (Art. 49, Absatz 2 und 3, der Bundesverfassung).

(Vom 25. März 1887.)

Der s c h w e i z e r i s c h e B u n d e s r ath

hat in Sachen des Rekurses von Carl S u d l e r , Schneidermeister, in Rorschach, gegen eine Schlußnahme der Regierung des Kantons St. Gallen vom 7. Januar 1887, wegen Verletzung der Grundsätze der Bundesverfassung betreffend Theilnahme an einem religiösen Unterricht und Verfügung über die religiöse Erziehung der Kinder bis zum erfüllten 16. Altersjahr (Art. 49, Absatz 2 und 3, der Bundesverfassung), auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements und nach Feststellung folgender aktenmäßiger Sachverhältnisse: I. Der Regierungsrath des Kantons St. Gallen .hat am 7. Januar 1887 in Bezug auf eine Einfrage des katholischen KirchenBundesblatt. 39. Jahrg. Bd. IV.

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verwaltungsrathes von Rorschach, betreffend die Verpflichtung dea Rekurrenten, seine Tochter in den katholischen Religionsunterricht zu schicken, Beschluß gefaßt, worüber im Protokolle des Regierungsrathes eingetragen steht, was folgt: ,,Veranlaßt durch das Verhalten des Schneidermeisters Carl Sudler in Rorschach, welcher sich unter Berufung auf Art. 49 der Bundesverfassung weigert, seine 14jährige Tochter Louise, Schülerin des protestantischen Töchterninstitutes ,,zur Biene" daselbst, in den katholischen Religionsunterricht zu schicken, obwohl er erklärt, das Mädchen religiös katholisch erziehen zu lassen, stellt der katholische Kirchenverwaltungsrath die Einfrage : ,,ob gegenüber dem renitenten Konfessionsgenossen Sudler der Art. 190 des Strafgesetzbuches anzuwenden, beziehungsweise ob unter ,,Schulunterricht" auch der konfessionelle Religionsunterricht zu verstehen sei.

,,Nach hierüber vernommenem Bericht des Erziehungsdepartements wird ,,beschlossen: ,,den Bescheid zu ertheilen : ,,Da die Tochter Sudler das 16. Altersjahr noch nicht erfüllt habe, so stehe allerdings dem Vater derselben nach Maßgabe von Art. 49, Absatz 3, der Bundesverfassung das Verfügungsrecht über die religiöse Erziehung derselben zu. Nachdem er nun ausdrücklich erkläre, katholisch zu sein, und die Tochter katholisch erziehen zu lassen, so sei er pflichtig, diese in den katholischen Religionsunterricht zu schicken, zumal sowohl das kantonale Gesetz über das Erziehungswesen, als der kantonale Lehrplan für Primär- und Realschulen den Religionsunterricht als obligatorisches Lehrfach aufführen."

II. Gegen diesen regierungsräthlichen Beschluß hat Herr Dr. C. W. Hoffmann, Fürsprecher in Rorschach, unterm 17. Januar 1887 im Namen des Hrn. Schneidermeister Carl Sudler einen staatsrechtlichen Rekurs beim Bundesrathe eingereicht. Hr. Dr. Hoffmann stellt das Gesuch, der Bundesrath möge zur Wahrung der verfassungsmäßig garantirten Glaubens- und Gewissensfreiheit den angefochtenen Beschluß des Tit. Regierungsrathes des Kantons St, Galleu als verfassungswidrig aufheben.

Der Regierungsrath des Kantons St. Gallen hat sieh auf Einladung des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements unterm 16. Februar d. J. über diesen Rekurs vernehmen lassen. .

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III. Jede der beiden Eingaben zerfällt in zwei Theile, von denen der eine die thatsächlichen Verhältnisse darstellt, der andere die rechtliehe Seite der Rekursfrage erörtert.

In t h a t s ä c h l i c h e r B e z i e h u n g führt die R e k u r s s c h r i f t an: Der Rekurrent hat seine nunmehr 14jährige Tochter während der ganzen Zeit ihrer gesetzlichen Schulpflichtigkeit in den katholischen Religionsunterricht geschickt und dieselbe auch die Firmung durch den Bischof von St. Gallen empfangen lassen; er schickt sie auch jetzt noch VOQ Zeit zu Zeit zum Gottesdienste in die Kirche.

Dagegen verbot der Rekurrent seiner Tochter seit deren Eiutritt in die protestantische Töchter-Erziehungsanstalt ,,zur Biene" in Rorschach den Besuch des dortigen katholischen Religionsunterrichts.

Infolge dessen forderte der katholische Kirchenverwaltungsrath von Rorschach den Rekurrenten mit Schreiben vom 16. Dezember 1886 auf, entweder seinen Austritt aus der katholischen Kirche zu erkläret), oder seine Tochter den vorgeschriebenen Religionsunterricht besuchen zu lassen, unter Androhung Von Strafe nach Art. 190 des st. gallischen Strafgesetzbuches.

Der Regierungsrath des Kantons St. Gallen faßte hierauf, von der -- wie die Rekursschrift bemerkt irrthümlichen -- Annahme ausgehend, der Rekurrent habe die Erklärung abgegeben, das Mädchen ,,religiös katholisch erziehen zu lassen", und gestutzt auf die Erwägung, daß das kantonale Gesetz über das Erziehungswesen, sowie der Lehrplan für Primär- und Realschulen den Religionsunterricht als obligatorisches Lehrfach aufführen, den Beschluß, der Vater Sudler sei pflichtig, seine Tochter in den katholischen Religionsunterricht zu schicken.

Dieser Darstellung gegenüber bemerkt das M e m o r i a l des st. g a l l i s c h e n R e g i e r u n g s r a t h e s : Es sei ein wesentlicher Irrthum der Rekursschrift, anzunehmen, die Tochter des Herrn Sudler habe der gesetzlichen Schulpflichtigkeit Genüge gethan. Die Primarschule fasse nebst der Alltagsschule die Ergänzungsschule in sich, aus welch'' letzterer die Entlassung gemäß Art. 31 des kantonalen Erziehungsgesetzes erst mit dem zurückgelegten 15. Altersjahre erfolge. Das am 14. Dezember 1872 geborene Mädchen des Rekurrenten sei demzufolge jetzt noch schulpflichtig. Daran ändere der Umstand nichts, daß das Mädchen eine Real- oder
höhere Töchterschule besuche. Denn Art. 51 des Gesetzes sage: ,,Die höheren Mädchenschulen stehen unter den gleichen Bestimmungen des Gesetzes wie die Realschulen." Der Religionsunterricht sei nicht

152 nur für die Primarschulen, sondern auch für die Ergänzungs( Real-") Schulen ein obligatorisches Fach: Der vom st. gallischen Erziehungsrathe genehmigte Lehrplan für die Realschulen des Kantons enthalte als erstes obligatorisches Fach den Religionsunterricht in zwei wöchentlichen Stunden für jede Klasse. Der Unterrichtsstoff sei durch die einschlägigen Verordnungen des bischöflichen Ordinariats und der evangelischen Synode festgesetzt.

In r e c h t l i c h e r B e z i e h u n g geht das Räsonnement des r e k u r r e n t i s c h e n Bevollmächtigten im Wesentlichen dahin: Das am 8. Mai 1862 in Kraft, getretene st. gallische Gesetz über das Erziehungswesen enthalte allerdings als obligatorisches Lehrfach den Religionsunterricht. Diese Gesetzesbestimmung stehe aber im Widerspruche mit Art. 49 der Bundesverfassung, welcher dem Vater das Recht verbürge, seinem Kinde bis zum erfüllten 16. Altersjahre Religionsunterricht -- in irgend welcher Konfession -- ertheilen zu lassen o d e r n i c h t . Der kirchlichen Gemeinschaft stehe es frei, den Vater und das Kind deßwegen aus ihrem Verbände auszustoßen; ein staatlicher Zwang aber, wie er dem Rekurrenten angedroht werde, dürfe angesichts der genannten verfassungsmäßigen Garantie nicht stattfinden.

Uebrigens sei Art. 49 der Bundesverfassung gewiß nicht so zu verstehen, daß ein Vater durch seine Erklärung, er wolle einer Konfession angehören, für immer gebunden sei und geradezu genöthigt werde, sein Kind in den betreffenden Religionsunterricht zu schicken; es müsse ihm vielmehr zu jeder Zeit der Entschluß freistehen, diesen Unterricht fortdauern oder aufhören zu lassen.

Auch in r e c h t l i c h e r H i n s i c h t , meint dagegen d i e Regier u n g des K a n t o n s St. G a l l e n , beruhe die Anschauung des Rekurrenten auf einem Irrthum; denn die, auch von ihr (der Regierung) durchaus anerkannten Grundsälze des Art. 49 der Bundesverfassung werden durch den vorliegenden Rekursfall in keiner Weise berührt. Der Rekurrent könne über die religiöse Erziehung seiner Tochter voll und ganz verfügen, er habe sich jedoch entschieden zu erklären, ob er derselben diesen oder jenen oder gar keinen Religionsunterricht ertheileu lassen wolle. Nun liege aber von Seite des Rekurrenten keine bestimmte Erklärung vor, daß er seine Tochter nicht katholisch erzogen wissen
wolle. Weder gegenüber dem katholischen Kirchenverwaltungsrathe von Rorschach, noch in der Rekurseingabe an den Bundesrath habe sich der Rekurrent diesfalls mit der wünschbaren Klarheit ausgesprochen. Man könne seinen Erklärungen über die religiöse Richtung, die er seiner Tochter gegeben wissen wolle, kaum eine andere Deutung geben, als diejenige, daß die Erziehung in der katholischen Religion zu geschehen habe.

153 Wenn aber der Rekurrent in diesem Sinne von dem ihm nach Art. 49 der Bundesverfassung zustehenden Verfügungsrechte Gebrauch gemacht habe, so müsse er sich auch zu den Folgen bequemen : Alles Uebrige sei nicht mehr Glaubens- und Gewissenssache, sondern einfach Sache der Ordnung, e i n e F r a g e d e r D i s z i p l i n . Denn die Tochter des Rekurrenten sei eben noch schulpflichtig und daher zum Besuche des Religionsunterrichtes in der vom Vater ihr angewiesenen Konfession verhalten. Würde diese Frage nicht- im Sinne der Regierung gelöst, so wäre der Willkürlichkeit im Besuche des Religionsunterrichts, eines obligatorischen Schnlfaches, Thür und Thor geöffnet.

Im Jahre 1873 sei ein Antrag (Desor) zu Art. 27 der Bundesverfassung in den eidgenössischen Räthen abgelehnt, worden, welcher den religiösen Unterricht ausdrücklich fakultativ erklären wollte.

Es seien also die kantonalen Gesetze bezüglich der Ertheilung des Religionsunterrichtes in Kraft, soweit sie nicht durch Art. 49 der Bundesverfassung berührt werden, der das Verfügungsreeht des Vaters gewährleiste. Dieses Dispositionsreeht anerkenne die Regierung, behafte aber den Inhaber der väterlichen Gewalt bei seiner diesfälligen Erklärung, um die Ordnung aufrecht zu erhalten und um nicht die kirchlichen Vereine schlechter zu stellen, als jeden beliebigen Turn- oder Leseverein.

Die gleiche Konsequenz, wie sie die Regierung für die Disziplin in der religiösen Erziehung ziehe und wie sie bis jetzt als gesetzlich geregelt unbeanstandet zur Anwendung gekommen sei, gelte auch für die Kultussteuern : wie Einer für eine Religionsgenossenschaft sich ausgesprochen habe, bestehe für ihn die Pflicht, die Steuern derselben zu entrichten.

Der Kegierungsrath faßt seinen Standpunkt in folgenden Schlußsätzen zusammen : ^1) Unsere Schhißnahrne vom 7. Januar d. J. fußt auf der vom katholischen Kirchen verwaltungsrathe Rorschach und dem Bezirksamt Rorschach mitgetheilten eigenen Erklärung des Rekurrenten, daß er katholisch sei und bleibe und auch sein Kind katholisch erzogen wissen wolle.

Unter dieser Voraussetzung mußten wir die Weigerung zum Besuche des Religionsunterrichtes, so lange, als das Mädchen des Rekurrenten noch schulpflichtig ist, als eine Sache der Disziplin ansehen und demnach dem katholischen Kirchenverwaltungsrath das Recht zuerkennen, das Kind zum Besuche des Religionsunterrichtes anzuhalten.

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2) Ist diese Voraussetzung nicht richtig, uud erklärt Rekurrent unzweideutig, daß er sein Kind n i c h t katholisch erzogen wissen wolle, so wird ihm sein nach Art. 49 der Bundesverfassung zuerkanntes Recht, über die religiöse Erziehung seines Kindes zu verfugen, von keiner Seite bestritten.

Sollte also der Rekurs auf Grundlage der Anschauung erfolgt sein, daß dieses Recht von uns in Frage gestellt werde, so beruht er auf einer irrigen Voraussetzung und wird daher gegenstandslos;" -- in Erwägung: 1) Wie der Bundesrath bereits am 26. April 1879 in seinem Entscheide über den Rekurs des Johann Heri von Nieder-Gerlafingen, Kantons Solothurn (Bundesbl. 1880, II, 620), festgestellt hat, besteht das durch Art. 49, Absatz 2 und 3, der Bundesverfassung dem Inhaber der väterlichen oder vormundschaftlichen Gewalt garantirte Recht, die religiöse Erziehung der Kinder bis zum erfüllten 16. Altersjahre zu bestimmen, in u n b e s c h r ä n k t e r Weise gegenüber den Bestimmungen der kantonalen Schul- und Erziehungsgesetze. Dieses Recht ist durch den erwähnten Rekursentscheid sogar einer kantonalen Verordnung gegenüber anerkannt worden, welche in den Primarschulen einen vom weltlichen Lehrer zu ertheilenden sogenannten konfessionslosen Religionsunterricht als obligatorisches Lehrfach einführte.

Hiernach steht fest, daß die Theilnahme an einem religiösen Unterrichte durch keinerlei rechtlichen Zwang bewirkt werden kann.

2) Im vorliegenden Falle bestreitet die Regierung des Kantons St. Gallen das Recht des Rekurrenten, über die religiöse Erziehung seiner noch nicht 16 Jahre alten Tochter zu verfügen, grundsätzlich nicht. Allein, da das Mädchen nach dem st. gallischen Ei-ziehungsgesetze noch im Alter der Schulpflichtigköit sich befindet und der katholische Vater die Erklärung, daß er seine, bis jetzt katholisch erzogene Tochter ferner nicht mehr in dieser Konfession erzogen wissen wolle, nicht abgegeben hat, so hält die Regierung die kantonalen Schul- und Kirchenbehörden für berechtigt, durch Anwendung gesetzlicher Zwangsbestimmungen zu bewirken, daß der Vater sein Kind zum Besuche des gemäß Gesetz und Lehrplan obligatorischen Religionsunterrichts anhalte.

Die Regierung von St. Gallen verweist zur Unterstützung ihrer Ansicht auf Art. 49, Ansatz 6, der Bundesverfassung (Kultussteuern) und bemerkt, daß im Rekursfalle wie in einem Streitfalle betreffend die Verpflichtung, Kultussteuern zu bezahlen, der Bürger im Interesse

155 der Disziplin und der Ordnung bei seinen Handlungen und Erklärungen in Hinsicht auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kirche oder Religionsgenossenschaft behaftet werden müsse.

Dieser Standpunkt der Regierung des Kantons St. Gallen kann aus den unter Zifier 3 und 4 angeführten Gründen nicht gebilligt werden.

3) In Gemäßheit des in Art. 49, Absatz 2 und 3, der Bundesverfassung niedergelegten Grundsatzes, daß Niemand zur Theilnahme an einem religiösen Unterrichte gezwungen werden dürfe, und daß der Inhaber der väterlichen oder vormundschaftlichen Gewalt im Sinne dieses Grundsatzes über die religiöse Erziehung der Kinder bis zum erfüllten 16. Altersjahre zu verfügen habe, erscheint es überhaupt nicht als zuläßig, den Religionsunterricht durch staatliches ·Gesetz als ein obligatorisches Lehrfach zu erklären.

Wenn der Staat ^Kanton) in seinen Schulen und Lehranstalten für Ertheilung von Religionsunterricht sorgen will, so kann dies nur im Sinne der unbedingten Fakultativerklärung dieses UnterTichtsgegenstandes geschehen.

Da es sich um den staatlichen Schutz der individuellen religiösen Ueberzeugung handelt, so darf die Kundgebung und Geltendmachung derselben in keiner Weise, auch nicht aus Gründen der äußern Ordnung und Disziplin, beschränkt'.und gehemmt werden. Diese Konsequenz trifft vor Allem zu in einer Frage, die sich so sehr als reine Gewisseussache darstellt, wie die Theilnahme an einem religiösen Unterrichte. Es würde dem. Begriffe der Gewissensfreiheit, welche durch die Bundesverfassung (Art. 49, Absatz 1) als unverletzlich erklärt ist, geradezu widersprechen, wenn dem Individuum in dieser Richtung nicht volle Freiheit gewährt werden wollte.

Daraus folgt im Weitern, daß es dem Staate nicht zukommt, an eine bestimmte Erklärung oder Handlung einer Person die Rechtsfolge zu knüpfen, daß dieselbe damit für die Zukunft in unwiderruflicher Weise über ihren Glauben, ihre religiöse Meinung entschieden habe. Die Freiheit, seine Ansichten zu ändern, ist ja leichbedeutend mit geistiger Freiheit überhaupt. Es steht dem taate ferner nicht zu, nach den innern Motiven eines religiösen Meinungswechsels zu forschen und, wenn jene etwa nicht logisch befunden werden sollten, demselben die Berechtigung abzusprechen, ihn rechtlich nicht zu beachten und nicht zu schützen.

§

Der Bundesrath hat, diesem Gedankengange folgend, bereits bei seinem Entscheide vom 26. April 1879 in Sachen des Job.

156 Heri dem von der Regierung des Kantons Solothurn hervorgehobeneu Umstände, daß Joh. Heri, nachdem er wegen Schulversäumniß seines Knaben bestraft worden, diesen im darauffolgenden Schulhalbjahre ohne Einwendung in. den vorher beanstandeten konfessionslosen Religionsunterricht des Lehrers geschickt habe, keinerlei rechtliche Bedeutung beigemessen.

4) Wenn die Regierung des Kantons St. Gallen im Rekursfalle sich zur Unterstützung ihrer Beweisführung auf die Interessen der Ordnung und Disziplin beruft und die Analogie der Kultussteuern herbeizieht, so unterscheidet sie nicht scharf genug zwischen innerlich verschiedenartigen Elementen der Streitfrage.

Der Staat, welcher in religiösen Glaubens- und Gewissenssachen jeden rechtlichen Zwang verwirft und beseitigt wissen will, hindert die Kirchgemeinden, kirchlichen Genossenschaften und religiösen Vereine nicht, sich in bestimmter Forni rechtlich zu konstituireu und einzurichten, z. B. über Erwerb und Verlust der Mitgliedschaft oder über die finanziellen Verpflichtungen, welche die Grerneindeoder Vereinsangehörigkeit für den Einzelnen mit sich bringt, organisatorische Bestimmungen aufzustellen.

Die Bundesbehörde muß sich vorbehalten, in jedem Streitfalle zu prüfen, ob solche Bestimmungen dem in Art. 49 der Bundesverfassung garantirten Freiheitsrechte zu nahe treten, und sie wird denselben ihre Genehmigung und damit die staatliche Rechtshilfe zu deren Geltendmachung versagen, sofern das verfassungsmäßige Recht als solches angetastet werden sollte.

Eine Verletzung des Verfassungsrechtes wäre unzweifelhaft dants vorhanden, wenn die statutarische Bestimmung gerade dasjenige erzwingen wollte, wozu Niemand gezwungen werden darf, wie z. B. die Theilnahme an einer Religionsgenossenschaft oder an einem religiösen Unterrichte.

Wenn aber durch die Organisation eines kirchlichen Verbände» bestimmt wird, daß ein Mitglied sich nicht in jedem Augenblicke al 1er und j e d e r von ihm eingegangenen Verbindlichkeiten entledigen kann, so hat der Staat vom Standpunkte der Glaubens- und Gewissensfreiheit aus dagegen sicherlich nichts einzuwenden.

In diesem Sinne ist z. B. die Verpflichtung der Konfessionsgenossen zur Entrichtung von Kultussteuern zu beurtheilen. Sowohl das Bundesgericht in seiner Rechtsprechung über einschlägige Rekurse seit 1874, als auch der Bundesrath in seinem Entwurfe vom 26. November 1875 zu einem Buudesgesetze über Kultussteuern und die nationalräthliche Kommission in ihren bezüglichen Anträgen

157 vom 6. März 1876 haben sich auf den oben bezeichneten Standpunkt gestellt (vergi. Bundesbl. 1875, IV, S. 971, 982; 1876, I, 819 u. ff.).

Die Regierung des Kantons St. Gallen begeht daher einen Irrthum, wenn,sie die Auflegung von Kultussteuern auf eine Linie stellt mit der Verpflichtung zur Theilnahme an einem religiösen Unterrichte.

Jene kann aus äußern Rechtsgründen, ohne Verletzung des Grundsatzes der Glaubens- und Gewissensfreiheit, auch nach einer förmlichen Austritts- oder Nichtangehörigkeitserklärung, noch während einer gewissen Zeit gegenüber einem bisherigen Konfessionsgenossen wirksam bleiben ; diese darf gegenüber der einfachen Weigerung des Individuums auch nicht einen Moment aufrecht erhalten oder gar zwangsweise geltend gemacht werden, wenn nicht das garantirte Freiheitsrecht selbst darunter leiden, ja zu Grunde gehen soll; beschlossen: 1. Der Rekurs wird für begründet erklärt und demgemäß der vom Rekurrenten angefochtene Beschluß des Regierungsrathes von St. Gallen, als dem Art. 49, Absatz 2 und 3, der Bundesverfassung widersprechend, aufgehoben.

2. Dieser Beschluß ist der h. Regierung des Kantons St. Gallen, sowie Hrn. Dr. C . W . Hoffmann, Fürsprecher in Rorschach, zu Händen des Rekurrenten schriftlich mitzutheilen.

B e r n , den 25. März 1887.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der B u n d e s p r ä s if d e n t : Droz.

Der Kanzler. der Eidgenossenschaft : Ringier.

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Bundesrathsbeschluß über

den Rekurs von Elisabeth Python, von Châtelard, Amtsbezirk der Glane (Freiburg), gegen einen Beschluß der Regierung des Kts. Freiburg vom 4. März 1887, wegen angeblicher Verletzung des Art. 49, Absatz 2 und 3, der Bundesverfassung.

(Vom 27. September 1887.)

Der schweizerische Bundesrath hat

in Sachen des Rekurses von Elisabeth P y t h o n , au Châtelard, Amtsbezirk der Glane, Kantons Freiburg, gegen einen Beschluß der Regierung des Kantons Freiburg vom 4. März 1887, wegen angeblicher Verletzung des Art. 49, Absatz 2 und 3 der Bundesverfassung, auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements und nach Feststellung folgender aktenmäßiger SachVerhältnisse: I. Die der römisch-katholischen Konfession angehörende, noch nicht 16 Jahre alte Marie Magnin, welche ira Châtelard, Kts Freiburg, die Schule besucht, war in den vom dortigen katholischen Pfarrer ertheilten Religionsstunden am 17. und 29. Oktober 1886 nicht anwesend.

Die Rekurrentin wurde wegen dieser zweimaligen unentschuldigten Abwesenheit ihrer Tochter zu einer Schulbuße von 40 Centimes verurtheilt. Da sie dieselbe nicht bezahlte, erließ der Präfekt des

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1887

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29.10.1887

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149-158

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