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Schweizerisches Bundesblatt.

39. Jahrgang. IY.

Nr. 54.

17. Dezember 1887.

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Botschaft des

Bundesrathes an die Bundesversammlung betreffend die eidgenössische Gewährleistung der Verfassung des Kantons Solothurn vom 23. Oktober 1887.

(Vom 5. Dezember 1887.)

Tit.

Das Volk des Kantons Solothurn hat am 23. Oktober d. J.

mit 7374 gegen 2122, also mit einer Mehrheit von 5252 Stimmen, eine neue Staatsverfassung angenommen, die von einem Verfassungsrathe entworfen und in dessen Schlussabstimmung am 1. Oktober genehmigt worden war.

Mit Schreiben vom 26. Oktober 1887 übermittelte uns der Regierungsrath des Kantons Solothurn ein von ihm beglaubigtes Exemplar der neuen Verfassung und ersuchte uns, dieselbe der Bundesversammlung behufs Erlangung der Bundesgarantie vorzulegen.

Wir entsprechen hiermit diesem Gesuche, indem wir Ihnen eine bezügliche Botschaft sammt Beschlußantrag unterbreiten.

Die neue Verfassung des Kantons Solothurn vom 23. Oktober 1887 tritt an die Stelle der Verfassung vom 12. Dezember 1875.

Dieselbe weist eine von der bisherigen abweichende Eintheilung des Stoffes auf; sie zerfällt in folgende 11 Abschnitte: I. Staatsrechtliche Grundsätze (Art. l--11); II. Rechte und Freiheiten der einzelnen Personen (Art, 12--15); III. Gebietseinteilung (Art. 16); IV. Gesetzgebung und Volksvertretung (Art. 17--32); V. Vollziehung und Verwaltung (Art. 33 -- 39); VI. Rechtspflege (Art. 40 -- 46) ^ Bundesblatt 39. Jahrg. Bd. IV.

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VII. Unterrichtswesen (Art. 47 -- 51) ; VIII. Gemeindewesen (Art. 52--60)5 IX.'Staats- und Volkswirtschaft (Art. 61--75); X. Revision der Staatsverfassung (Art. 76--80) ; XI. Uebergangsbestimmungen (Art. 81--88).

Nachfolgende Punkte verdienen als hervorstechende verfassungsrechtliche Neuerungen erwähnt zu werden.

1) Die regelmäßige Amtsdauer der Behörden und Beamten dea Staates ist von 5 auf 4 Jahre herabgesetzt.

2) Das Stimmrecht wird den Bürgern, welche infolge der Uebernahme einer Erbschaft vergeldstagt sind, mittelst gerichtlicher Rehabilitation, ohne Beschränkung hinsichtlich der zwischen der Erbschaftsübernahme und dem Ausbruch des Geldstags liegenden Zeit gewährt. (Die frühere Verfassung hatte in diesem Falle das Stimmrecht nur dann zugesichert, wenn der Geldstag innerhalb 2 Jahren nach der Erbschaftsübernahme eintrat.) Namentlich erwähnenswerth aber ist die Bestimmung, daß die durch Unglück und ohne direktes eigenes Verschulden in Geldstag gefallenen Bürger nach Verfluß von 6 Jahren auf Grund eines gerichtlichen Urtheils wieder in das Aktivbürgerrecht eingesetzt werden können.

3) ,,Bei der Wahl sämmtlicher staatlichen Behörden sollen die verschiedenen Parteirichtungen möglichst berücksichtigt werden".

4) Die Volksrechte sind ausgedehnt worden.

Der Volksabstimmung (Referendum) werden u. A. unterstellt: Neue jährlich wiederkehrende Ausgaben von mehr als Fr. 15,000, während bisher nur solche von mehr als Fr. 20,000 vom Volke zu genehmigen waren, und Staatsanleihen von mehr a,ls einer halben Million, sofern sie nicht zur Rückzahlung bereits bestehender Anleihen dienen.

Das Vorschlagsrecht (die Initiative) ist in neuer, bedeutend erweiterter Gestalt aufgenommen. Bisher bestand dieses Recht in der Befugniß von 2000 Stimmberechtigten, einen gesetzgeberischen Erlaß oder einen Beschluß in Anregung zu bringen; der Kantonsrath hatte den Vorschlag in Berathung zu ziehen und das Ergebniß derselben -- Gutheißung oder Verwerfung des Vorschlags und, im erstem Falle ,o dessen redaktionelle Ausarbeitung -- der Volksabstimmung zu unterstellen. Nach der neuen Verfassung können Initiativbegehren in der Form der einfachen Anregung oder des ausgearbeiteten Entwurfs gestellt werden, sind schriftlich zu begründen und vom Kantonsrath innerhalb 2 Monaten zu behandeln. Wenn der Kantonsrath das Begehren nicht unverändert, so wie es gestellt ist, zum Beschlüsse erhebt, muß der Volksentscheid darüber

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stattfinden ; es soll indessen immer ein Gutachten des Kantoosrathes über den Gegenstand vorliegen und die Behörde ist außerdem, wenn es sich um einen aus der Volksinitiative hervorgegangenen Gesetzentwurf handelt, befugt, einen abgeänderten Entwurf vorzulegen.

(Die Bestimmungen über das Referendum bleiben selbstverständlich vorbehalten, auch wenn der Kantonsrath einem Initiativbegehren ohne Weiteres entspricht.)

Auch die Volkswahlen haben eine Erweiterung erfahren : es sind nunmehr auch die Mitglieder des Regierungsrathes, die Gerichtsstatthalter, Bezirksförster und Bezirksweibei, die Civilstandsbeamten und die Salzauswäger vom Volke zu wählen, und die definitiven Pfarrwahlen unterliegen nicht mehr der staatlichen Bestätigung, indem nur für die Pfarrverweser das Bestätigungsrecht des Regierungsrathes vorbehalten wird.

5) Die Wählbarkeit in den Kantonsrath ist,nicht mehr auf die Stimmberechtigten weltlichen Standes beschränkt. Als nicht wählbar erscheinen nebst den schon bisher von der Mitgliedschaft Ausgeschlossenen : die Bankbeamten, die Gerichtsschreiber und die Weibel ; dagegen sind nun, infolge der Uebertragung des Wahlrechts an das Volk, die Inhaber gewisser, bisher von einer Staatsbehörde besetzten Verwaltungsstellen, wie z. B. die Bezirksförster, wählbar geworden.

Ebenso ist der weltliche Stand nicht mehr eine Bedingung der Wahlfähigkeit eines Bürgers als Mitglied des Regierungsrathes. Dagegen soll das Amt eines Regierungsrathes unvereinbar sein mit irgendwelcher andern festbesoldeten Stelle und mit der Ausübung eines besondern Berufes oder Gewerbes.

6") Die Stelle des Staatssehreibers ist aufgehoben ; die Staatskanzlei wird einem Mitgliede des Regierungsrathes unterstellt.

7) Zur Beurtheilung streitiger Rechtsverhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitern soll eine besondere Gerichtsbehörde (gewerbliches Schiedsgericht) aufgestellt werden.

Die Stelle eines Oberrichters und eines Amtsgerichtspräsidenten ist unvereinbar erklärt mit irgend einer andern festbesoldeten Stelle, sowie mit der berufsmäßigen Vertretung dritter Personen vor Gericht und der Ausübung eines besondern Berufes oder Gewerbes.

8) Den Gemeinden ist vorgeschrieben, die Lehrmittel und Schulmaterialien für die Primarschulen unentgeltlich zu liefern.

Die Minimalbesoldung der Primarlehrer wird auf Fr. 1000 festgesetzt.

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Der Staat unterstützt berufliche Fortbildungsschulen und landwirthschaftliche Kurse.

Dem Brziehungsdepartemente wird ein Erziehungsrath von 5 Mitgliedern beigegeben.

9) Die Ausscheidung der Gemeinden in Einwohner-, Bürgerund Kirchgemeinden ist schärfer als bisher hervorgehoben und die Organisation der letztem in den Grundzügen angeführt. Die Kirchgemeinden umfassen sämmtliche in einem Kirchgemeindehesoirk wohnende Konfessionsangehörigen ; sie wählen zur Besorgung der Gemeindeangelegenheiten Kirchgemeinderäthe und können sich zu einer gemeinsamen Organisation (Synode") verbinden. Die bezüglichen Bestimmungen unterliegen der Genehmigung des Regierungsrathes.

10) Alle Steuerpflichtigen sollen im Verhältniß ihrer Hülfsmittel an die Ausgaben des Staates beitragen. Zu diesem Behufe ist die Steuer vom Vermögen und vom Einkommen nach dem Grundsatze einer mäßigen Progression zu erheben. Die Progression darf den doppelten Betrag der Proportionalsteuer nicht übersteigen.

Der Steuerwerth des landwirthschaftlichen Grundbesitzes soll mit Rücksicht auf die hohe Schätzung bis zu einer Revision derselben um 30 °/o der jetzigen Katasterschatzung reduzirt werden. Der Eigenthümer eines landwirtschaftlichen Grundstückes kann einen verhältnißmäßigen Kachlaß der Steuer fordern, wenn der gewöhnliche Ertrag infolge außerordentlicher Unglücksfälle einen beträchtlichen Abbruch erlitten hat. Die Stimmberechtigung verpflichtet zu einem mäßigen, auf Alle gleich zu verlegenden Beitrag au die öffentlichen Lasten.

11) Die Pflicht der Armenunterstützung liegt wie bisher der Heimatgemeinde ob.. Die außerordentliche Armen- und KrankenunterStützungspflicht indessen, welche durch das Bundesgesetz vom 22. Juni 1875 begründet ist, trifft die Einwohnergemeinde.

Für die Bestreitung der Armenbedürfnisse sind die Güter und die Steuerkraft' der Ortsbürgergemeinde in Anspruch zu nehmen.

Durch die bisherige Gesetzgebung war die grundsätzliche Frage nicht entschieden und es hatten in den meisten Gemeinden auch die Niedergelassenen Armensteuern zu bezahlen.

Der Staat fördert nach Kräften die freiwillige Armen- und Krankenpflege und die berufliehe Ausbildung armer Kinder.

12) Der Staat überwacht die öffentliche Gesundheitspflege, beaufsichtigt den Handel mit Lebensmitteln, sorgt für eine verschärfte sanitätspoliaeiliche Kontrolirung des Wirthschaftsgewerbes ; er für-

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dert das Versicherungswesen und kann eine allgemeine oder beschränkte obligatorische Kranken-, Unfall- und Sterbeversicherung einführen ; er unterstützt das gewerbliche und laudwirthschaftliche Vereins- und Genossenschaftswesen, die Viehzucht und die Milchwirthschaft, die Bestrebungen für Bodenverbesserung, Güterzusammenlegung, Bewässerung und Entwässerung, Gewässerkorrektionen, Aufforstungen u. s. w.

13) Gegen den Wucher sind strengere Strafbestimmungen aufzustellen. Forderungen von mehr als 3 ü/o jährlich über den jeweiligen offiziellen Zinsfuß der Solothurner Kantonalbank für Zins, Kommission und Provision sollen als Wucher bestraft werden.

14) Zur Herstellung des Gleichgewichts in der laufenden Staatsrechnung werden an bestehenden Gesetzen und Verordnungen eine Reihe von Aenderungen vorgenommen; behufs der Vermehrung der Einnahmen ist z. B. die Erbsehaftssteuer um 50 °/o, d. h. bis zu einem Maximum von 24 % des reinen Erbschaftsbetrages erhöht, behufs der Verminderung der Ausgaben werden einzelne Stellen abgeschafft oder deren Zahl reduzirt, das Lehrerseminar mit der Kantonsschule vereinigt, die Organisation des Straßenunterhalts einer Reform unterzogen u. s. w.

15) Art. 83. Den Aufsichtsbehörden der Kantonalbank wird zur Pflicht gemacht, den Verlust, welcher dem Staate durch die Garantirung der aufgehobenen Soloth. Bank und der Hypothekarkasse des Kantons Solothurn, beziehungsweise durch die Uebernahme der Aktiven und Passiven derselben entstanden ist, sowie diejenigen Aktiven, welche nunmehr vou der Kantonalbank in eigener Verantwortlichkeit übernommen werden sollen, mit thunlichster Beförderung zu fixiren.

Zur Verzinsung und Amortisation des Bankverlustes, sowie zur Deckung anderer Bedürfnisse des Staates, soll vom Kantonsrath längstens bis 31. Dezember 1889 dem Volke ein Gesetz zur Einführung einer direkten Steuer unterbreitet werden.

Die jährliehe Amortisationsquote zur allmäligen Tilgung der Bankschuld darf nicht weniger als Fr. 50,000 betragen.

Gleichzeitig mit der Einführung einer direkten Steuer soll eine Herabsetzung der Handänderungsgebühren bei Fertigungen (Gesetz vom 9. Mai 1835), sowie der Sportelo (Gesetz vom 1. Januar 1882) stattfinden. Die Herabsetzung tritt erst nach der Annahme einer direkten Steuer durch das Volk in Kraft.

Wir sehließen hiemit unsere kurze Betrachtung der solothurnischen Verfassung, indem wir Sie hinsichtlich des weitern Inhalts derselben auf den Ihnen eingehändigten Text verweisen.

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Unsere Prüfung ergibt, daß das neue Grundgesetz des Kantons Solothurn nichts enthält, was den in Artikel 6 der Bundesverfassung aufgestellten Erfordernissen der Bundesgarantie nicht entspräche. Wir beantragen Ihnen daher, die eidgenössische Gewährleistung dieser Verfassung nach dem unten folgenden Beschlußantrage auszusprechen.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 5. Dezember 1887.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes,

Der B u n d e s p r ä s i d e n t : Droz.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft : Ringier.

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(Entwurf)

Bundes beschluß betreifend

die eidgenössische Gewährleistung der Staatsverfassung des Kantons Solothurn vom 23. Oktober 1887.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht der Botschaft des Bundesrathes vom S. Dezember 1887 über die Verfassuug des Kantons Solo,thurn vom 23. Oktober 1887, in Betracht, daß diese Verfassung am 23. Oktober 1887 vom Volke des Kantons Solothurn angenommen worden ist ; daß dieselbe nichts den Vorschriften der Bundesverfassung Zuwiderlaufendes enthält; daß sie die Ausübung der politischen Rechte nach republikanischen Formen sichert; daß sie revidirt werden kann, wenn die absolute Mehrheit der Bürger es verlangt; in Anwendung von Art. 6 der Bundesverfassung, beschließt: 1. Der Staatsverfassung des Kantons Solothurn vom 23. Oktober 1887 wird die Bundesgarantie ertheilt.

2. Der Bundesrath ist mit der Vollziehung dieses Beschlusses beauftragt.

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Botschaft des Bundesrathes an die Bundesversammlung betreffend die eidgenössische Gewährleistung der Verfassung des Kantons Solothurn vom 23. Oktober 1887. (Vom 5.

Dezember 1887.)

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17.12.1887

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