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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung über den Rekurs der Regierung des Kantons Bern betreffend Schließung der Bahnhofwirtschaft in Bern.

(Vom 2. November 1903.)

Tit.

Unterm 17. Dezember 1902 beschloß der Regierungsrat des Kantons Bern, es dürfe die Bahnhofwirtschaft in Bern nicht mehr bis zum Abgang des Nachtzuges nach Genf geöffnet bleiben, sondern müsse um Mitternacht, wie die übrigen Wirtschaften, geschlossen werden. An diesem Beschlüsse hielt der Regierungsrat, unter Ablehnung eines Wiedererwägungsgesuches der Kreisdirektion II der Bundesbahnen, mit Schlußnahme vom 14. Januar 1903 fest, worauf die Kreisdirektion das Eisenbahndepartement ersuchte, diejenigen Maßnahmen zu treffen, welche geeignet seien, eine Aufhebung jenes Beschlusses zu erwirken und der Bahnverwaltung eine ihren Interessen entgegenkommende prinzipielle Lösung des Falles zu sichern.

Am 27. Februar 1903 beschloß der Regierungsrat des Kantons Bern, es dürfen in der Bahnhofwirtschaft um die Zeit der Durchfahrt des Nachtzuges, d. h. von 2 Uhr bis spätestens 21/2 Uhr morgens, Reisende und Bahnpersonal bedient werden ; im übrigen hielt er an seinem Beschlüsse betreffend Beobachtung der Polizeistunde fest.

Auf den Antrag des Eisenbahndepartements hießen wir unterm 16. März 1903 die Beschwerde der Bundesbahnen gut

513 und erklärten die Verfügung des Regierungsrates vom 17. Dezember 1902, modifiziert durch Beschluß vom 27. Februar 1903, als aufgehoben.

Gegen diesen Entscheid hat der Regierungsrat des Kantons Bern mittelst Eingabe vom 15. Mai 1903 den Rekurs an die Bundesversammlung erklärt, indem er folgende Anträge stellte : 1. Es sei der Beschluß des schweizerischen Bundesrates vom 16. März 1903 in Sachen Beschwerde der schweizerischen Bundesbahnen aufzuheben.

2. Es seien.die beiden Verfügungen des Regierungsrates des Kantons Bern vom 17. Dezember 1902 und 27. Februar 1903 betreffend Schließung der Bahnhofwirtschaft in Bern als rechtsgültig zu erklären.

Indem wir uns erlauben, für die Einzelheiten der Rekurseingabe auf diese selbst zu verweisen, beehren wir uns, Ihnen nachstehend die Bemerkungen zur Kenntnis zu bringen, zu denen uns die Eingabe veranlaßt.

I.

Zunächst müssen wir die Darstellung im letzten Alinea auf Seite 2 der gedruckten Eingabe als ungenau bezeichnen. Das Direktorium der Centralbahn hat nämlich in seinem Schreiben vom 9. Januar 1900, wie aus der bei den Akten liegenden Abschrift ersichtlich ist, nicht einfach erklärt, es gebe kein anderes Mittel gegen die Übelstände in der Bahnhofwirtschaft, als dièse um 12 Uhr nachts gänzlich zu schließen, sondern es hat beigefügt, ,,sofern nicht ein eigentliches polizeiliches Verbot des Besuchs der Bahnhofrestauration durch unberechtigte nach 12 Uhr nachts erlassen und die Befolgung dieses Verbotes durch Polizeiorgane überwacht wird. Da aber durch die gänzliche Schließung der Restauration um 12 Uhr nachts die Interessen des reisenden Publikums berührt werden, so beehren wir uns, Ihnen hiermit die Sachlage zu unterbreiten und Sie um bezüglichen Entscheid höflichst zu ersuchen".

Dadurch, daß die Rekurseingabe diesen Nachsatz aus dem Schreiben des Direktoriums der Centralbahn weggelassen hat, enthob sie sich auch der Notwendigkeit, zu berichten, daß das Eisenbahndepartement am 6. März 1900 mit Rücksicht auf die mit dem Nachtzuge verkehreaden Reisenden die Schließung der Bahnhofwirtschaft um 12 Uhr als unzulässig erklärte und daß das Direktorium der Centralbahn am 9. März diese Antwort des

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Departements an den Regierungsrat des Kantons Bern weiterleitete, ohne daß dieser sich veranlaßt sah, die Kompetenz des Eisenbahndepartements zu bestreiten und gegen die Verfügung des letztem Einsprache zu erheben. Er ließ vielmehr die Sache beinahe drei Jahre auf sich beruhen, um dann am 17. Dezember 1902 eine Verfügung zu treffen, die den Entscheid des Departements vom 6. März 1900 einfach ignorierte.

Wenn ferner in der Rekurseingabe von dem ,,Unvermögen der Bahnorgane, Ordnung zu halten und Ordnung zu schaffen1', gesprochen wird, so ist daran zu erinnern, daß es nicht Aufgabe der Bahnpolizeibeamten ist, der Übertretung kantonaler Polizeivorschriften zu begegnen. Auch für Aufrechthaltung der Ordnung auf dem Bahngebiet ist das Bahnpersonal nur soweit verantwortlich, als seine Kräfte reichen. Darüber hinaus ist es auf die ·Unterstützung durch die Organe der kantonalen, beziehungsweise kommunalen Polizei angewiesen und diese war es, die bei den Ruhestörungen im und vor dem Bahnhof Bern versagte. Es war allerdings bequemer, über die Bahnhofwirtschaft den Bann zu verhängen, als dafür zu sorgen, daß die Polizeiorgane energischer gegen die Ruhestörer vorgingen. Es muß übrigens hier noch erwähnt werden, daß laut dem Berichte der Bundesbahnverwaltung seit der Aufhebung der vom Regierungsrat verfügten Beschränkung des Besuches der Bahnhofwirtschaft die Störungen der öffentlichen Ruhe auf dem Bahnhofe und in dessen Nähe aufgehört haben und daß sieh überhaupt der Besuch der Bahnhofwirtschaft nach Mitternacht durch Stadteinwohner in der Regel in ganz engen Grenzen hält.

II.

In unserem Beschlüsse vom 16. März 1903 haben wir ausgeführt, daß die Bahnhofwirtschaften einen Bestandteil der Eisenbahnanlagen bilden und zum Betriebe gehören. Der Regierungsrat von Bern entgegnet in seiner Rekurseingabe, er könne sich mit unserer Motivierung nicht einverstanden erklären und vermisse namentlich jede rechtliche Begründung. Er vertritt sodann die Ansicht, die Bahnhofwirtschaft in Bern sei eine Wirtschaft wie jede andere auch ; namentlich sei sie nicht nur für eine bestimmte Klasse von Leuten eingerichtet und vorbehalten, sondern es stehe ihr Zutritt jedermann frei, und es könne dort auch jedermann konsumieren.

Wir müssen diese Ansicht bestreiten. Wenn es auch richtig ist, daß der Zutritt zu den Bahnhofwirtschaften -- diejenige in

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Bern macht hierin keine Ausnahme -- für alle Leute frei ist, weil der Ausschluß der nicht mit der Bahn verkehrenden Einwohner nur durch lästige Kontrollmaßregeln durchgeführt werden könnte, so sind diese Wirtschaften dennoch für eine bestimmte Klasse von Leuten eingerichtet, nämlich fiir das auf der Bahn reisende Publikum und für das Personal der Bahn. Die heutigen Verkehrsverhältnisse bringen es mit sich, daß eine Bahnverwaltung sich nicht damit begnügen darf, die Stationen mit Warteräumen auszurüsten, sondern daß sie überall da, wo ein namhafter Verkehr, namentlich infolge Zusammentreffens mehrerer Bahnlinien, sich abwickelt, dem Publikum und dem Personal Gelegenheit bieten muß, sich ohne cgroße Kosten und Zeitverlust mit Speise und Trank zu erfrischen. Ein solches Bedürfnis besteht, wie ein einziger Blick in eine beliebige Bahnhofwirtschaft lehrt, für einen großen Teil der Reisenden, sei es vor Antritt, sei es nach Beendigung einer Fahrt, sei es während des Wartens auf einen Anschlußzug, sei es auf der Durchfahrt anläßlich einer längeren Reise. Auch das Bahnpersonal, dem oft nur kurze Ruhepausen gewährt werden können, hat das Bedürfnis, auf Endoder bedeutenderen Zwischenstationen rasch und billig bewirtet zu werden.

Allen diesen Bedürfnissen kann nicht jede beliebige Wirtschaft in der Nähe eines Bahnhofes entsprechen, sondern es ist unerläßlich, daß im Bahnhof selbst ein Wirtschaftslokal eingerichtet werde, mit bequemem Zugang von den Geleisen bezw.

Perrons her, ein Lokal, in welchem ganz gleich wie in den Wartesälen zum Einsteigen gerufen wird. Auch für Bedienung der Passanten muß durch geeignete Einrichtungen (Perronbuffets, Buffetwagen etc.) gesorgt werden. Und da soll eine Wirtschaft, die allen diesen ausschließlich vom Bahnverkehr diktierten Anforderungen entspricht, eine Wirtschaft sein ,,wie jede andere auch"?

Zum Beweise dafür, daß ausschließlich die Bedürfnisse des Bahnverkehrs für die Errichtung von Bahnhofwirtschaften bestimmend sind, läßt sich auch anführen, daß solche Wirtschaften aufgehoben werden, wenn das Bedürfnis nicht mehr vorhanden ist, und daß die Aufsichtsbehörde den Fortbestand verlangt, wenn die Bahnverwaltung in Verkennung des Bedürfnisses eine Bahnhofwirtschaft eingehen lassen will. Das erste war z. B. der Fall bei der Wirtschaft der Station Altstetten, das letztere bei der Bahnhofwirtschaft in Wil.

Diese Ausführungen sollten unseres Erachtens genügen, um darzutun,'daß die Bahnhofwirtschaften gerade so gut einen Be-

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standteil der Eisenbahnen bilden wie Wartsäle und Bedürfnisanstalten. Da aber, wie unter B, I, unseres Beschlusses vom 16. März 1903, der hier nachfolgt, ausgeführt wurde, gemäß Artikel 26 der Bundesverfassung die Gesetzgebung über den Bau und Betrieb der Eisenbahnen Bundessache ist, so kann die Gesetzgebung der Kantone nur insoweit auf Bahnhofwirtschaften angewendet werden, als die Bundesgesetzgebung ausdrücklich die Bestimmungen kantonaler Gesetze vorbehält.

Die Rekurseingabe der Berner Regierung interpretiert das Bundesgesetz vom 23. Dezember 1872 über den Bau und Betrieb der Eisenbahnen in einer Weise, die, allgemein angewandt, zu fatalen Konsequenzen fühfen müßte. Es heißt da : ,,Demgemäß finden sich darin auch Vorschriften über den Bau der Linien, über die Einrichtung der Wagen, der Wartsäle etc. ; nirgends aber findet sich eine Vorschrift, welche auf eine durch die Bahn betriebene Wirtschaft Bezug hat. Die Ausübung des Wirtchaftsgewerbes gehört s o m i t nicht zu dem Betrieb der Eisenbahn und steht nur in einem losen Zusammenhang zu demselben. a Also der Umstand, daß das Gesetz nicht ausdrücklich von den Bahnhofwirtschaften spricht, wäre ein Beweis dafür, daß sie nicht zum Betrieb gehören? Und wie verhält es sich denn mit allen ändern Bahneinrichtungen, die im Eisenbahngesetz nicht ausdrücklich genannt sind, wie z. B. die Signaleinrichtungen, die Leitungen der elektrischen Bahnen u. v. a. ? Ja, nicht einmal die Wartsäle sind im Eisenbahngesetz erwähnt, und doch werden sie in der Rekurseingabe als zum Bahnbetrieb gehörend anerkannt !

Dieses Zugeständnis scheint übrigens daher zu rühren, daß dem Rekurrenten das vom Bundesrat am 11. Dezember 1893 genehmigte Transportreglement der schweizerischen Eisenbahnund Dampfschiffunternehmungen vorschwebte, dessen § 12 von den Wartsälen handelt. Sobald aber auf das Transporfcreglement abgestellt würde, so müßte auch die Zugehörigkeit der Bahnhofwirtschaften zum Eisenbahnbetrieb anerkannt werden, da das zweite Alinea des eben erwähnten § 12 lautet: ,,In den Restaurationslokalen ist ein von der Bahnverwaltung genehmigtes Preisverzeichnis der Speisen und Getränke anzuschlagen." Wie käme die Bahn Verwaltung dazu, eine solche Genehmigung auszusprechen und wie könnte der Bundesrat eine derartige Bestimmung in das Transportreglement aufnehmen, wenn die Bahnhofwirtschaften nicht zum Betrieb gehörten?

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Ist aber unsere Anschauung richtig, so ist, wie wir in unserem Beschlüsse vom 16. März 1903 unter B, IV, ausführten, die kantonale Gesetzgebung und in concreto das bernische Wirtschaftsgesetz auf Bahnhofwirtschaften nur insoweit anwendbar, als daraus kein Widerspruch mit einer bundesgesetzlichen Bestimmung oder mit den Interessen des Eisenbahnbetriebes entsteht. Speziell die Frage, zu welchen Zeiten eine Bahnhofwirtschaft geöffnet bleiben soll und wann sie geschlossen werden müsse, darf nicht von der kantonalen Behörde nach den für gewöhnliche Wirtschaften geltenden Grundsätzen entschieden werden. Hierfür ist, gleichwie für das Offenhalten und Schließen der Wartsäle, das Bedürfnis des Bahnverkehrs und -betriebes maßgebend ; also hat hierüber in erster Linie die Bahn Verwaltung und als obere Instanz die Aufsichtsbehörde, welcher die Kontrolle des Bahnbetriebes zukommt, zu entscheiden. Mit bezug auf die Wartsäle wurde eine derartige Vorschrift aufgestellt im § 12 des Transportreglements der schweizerischen Eisenbahn- und Dampfschiffunternehmungen vom 1. Januar 1894. Eine ähnliche Bestimmung über die Bahnhofwirtschaften wurde bisher nicht getroffen, weil ein Bedürfnis hierfür nicht vorlag. Speziell in Bern wurde es als selbstverständlich betrachtet, daß die Bahnhofwirtschaft geöffnet bleibe, bis der Nachtschnellzug nach Genf den Bahnhof verlassen habe.

Wollte man die Wirtschaft um 12 Uhr schließen, so geschähe dies zum Schaden derjenigen Reisenden und Bahnangestellten, die kurz vor 12 Uhr aus den Richtungen von Lausanne, von Biel und von Ölten eintreffen und noch eine Erfrischung zu genießen wünschen. Aus dem gleichen Grunde sollte aber die Bahnhofwirtschaft auch denjenigen Personen offen stehen, die mit dem Nachtschnellzug um 2 Uhr ankommen oder verreisen.

Es wäre nun eine höchst unbillige Zumutung an den Pächter der Bahnhofwirtschaft, um 12 Uhr oder kurz nachher dieselbe zu schließen, also den Betrieb einzustellen und ihn um 2 Uhr für die Dauer einer halben Stunde wieder aufzunehmen. Vielmehr muß ihm gestattet werden, die Wirtschaft nicht nur bis um 12 oder 12'/4 Uhr, sondern ununterbrochen bis nach Abgang des Nachtzuges offen zu halten.

Die Rekurseingabe der Berner Regierung'meint, unsere Berufung auf die Debatte über das Rückkaufsgesetz sei kaum ernst zu nehmen. Hierauf müssen wir entgegnen, daß die Rekursentscheide des Bundesrates nicht mit gewissen Anwaltseingaben

518 zu verwechseln sind ; es darf und soll vielmehr ihr ganzer Inhalt ernst genommen werden ! Insbesondere is.t die Fassung des unter B, III, unseres Beschlusses vom 16. März 1903 angeführten Argumentes so unverfänglich, daß wir keinen Grund haben, daran -etwas zu ändern. Die Stellen des amtlichen stenographischen Bulletins, auf die wir uns stützen, finden sich im VII. Jahresband (1897) auf Seite 535, Spalte rechts, oben, und Seite 1002, Spalte links unten und rechts oben. Weiter auf dieses Argument einzutreten, hat wohl jetzt keinen Wert mehr, da ja die Bundesversammlung demnächst durch Entscheidung des Rekurses zu bezeugen haben wird, ob sie unsere Anschauung teilt oder nicht.

Dagegen wollen wir nicht unterlassen, noch auf Urteile und Meinungsäußerungen anderer Behörden hinzuweisen, die zeigen, daß die von uns vertretene Auffassung des Charakters der Bahnhofwirtschaften eine allgemein verbreitete ist. Außer dem Schiedsgericht im Falle Zentralbahn contra Kanton Luzern, dessen Urteil in Abschrift bei den Akten liegt, hat sich z. B. auch das bayrische Staatsministerium des Innern in diesem Sinne ausgesprochen, indem es anläßlich eines Spezialfalles im Jahre 1897 entschied : ,,Die Bahnhofrestaurationen bilden einen nicht ablösbaren Teil des Eisenbahnbetriebes, dessen Regelung einzig der Bahnverwaltung zukommt. Die letztere allein hat zu bestimmen, an welchen Stationen ein Bedürfnis zur Errichtung einer Restauration besteht und auf welche Weise und mit welchen Mitteln diesem Bedürfnis zu genügen ist. Es handelt sich hierbei nicht um einen auf Erwerb gerichteten Wirtschaftsbetrieb, sondern um die mit dem staatlichen Bahnbetrieb enge verbundene Befriedigung der Bedürfnisse des Reisepublikums, woran der Umstand nichts zu ändern vermag, daß auch anderweitiges Publikum die ßahnhofrestaurationen besucht. In letzterer Hinsicht würde es übrigens veranlaßtenfalls der Bahnverwaltung unbenommen bleiben, diesen Besuch auszuschließen."

In Elsaß-Lothringen enthalten laut einem Berichte der kaiserlichen Generaldirektion der Eisenbahnen in Straßburg die Polizeiverordnungen betreffend die Handhabung der Wirtschaftspolizei übereinstimmend für alle 3 Bezirke ausdrücklich den Zusatz, ,,daß auf den Reiseverkehr in Restaurationen der Eisenbahnhöfe die Verordnungen über die Polizeistunde keine Anwendung finden". Auf Grund
dieser Ausnahmebestimmung werden die Bahnhofwirtschaften ohne Rücksicht auf die Tageszeit eine Stunde vor Ankunft oder Abfahrt des ersten und eine halbe Stunde nach Ankunft oder Abfahrt des letzten Zuges geschlossen. Personen,

519 welche, ohne die Eisenbahn zu benützen, mit den Zügen ankommende Reisende abholen oder abgehende Personen nach dem Bahnhof begleiten, werden wie Reisende behandelt. Für den Verkehr der Ortseinwohner ist, sofern sie nicht als Reisende zu betrachten sind, die von der zuständigen Behörde festgesetzte Polizeistunde maßgebend. Ob und wie eine Kontrolle hierüber ausgeübt werde, ist in dem Berichte nicht gesagt; wir denken aber, die Zulassung von Personen, die ankommende Reisende erwarten, sei gleichbedeutend mit dem freien Zutritt für jedermann.

In Österreich gelten die Bahnhofwirtschaften, soweit es die Verkehrsverhältnisse erfordern, allgemein als von der Sperrstunde eximiert. (Bericht der k. k. Staatsbahndirektion in Wien.)

In Württemberg steht dem Stationsvorstand die Entscheidung und Anordnung zu, während welchen Stunden dem jeweiligen Bedürfnis entsprechend die zum Aufenthalt der Gäste und des Personals bestehenden Wirtschaftsgelasse samt Buffeträumen geöffnet, geheizt und beleuchtet sein müssen und wann solche zu schließen sind. Die örtlichen Polizeibehörden haben hier nicht mitzusprechen, da nach dem Gesetz vom 20. Oktober 1845 die Verwaltung der Eisenbahnpolizei in den Wirkungskreis der Eisenbahndirektion und der unter ihrer Aufsicht handelnden Eisenbahnstellen gehört.

Im Großherzogtum Baden hat die Generaldirektion der Staatsbahnen gegenüber den ordentlichen Polizeibehörden, die die Befugnis zur Festsetzung und Ankündigung der Polizeistunde in Anspruch nehmen, den Standpunkt vertreten, daß, soweit es sich um Besucher aus den Kreisen der Reisenden handelt, die Polizeistunde auf Bahnhofwirtschaften nicht Anwendung zu- finden habe.

Eine oberinstanzliche Entscheidung sei aber noch nicht angerufen ·worden.

Es besteht ferner eine ganze Reihe von Urteilen deutscher Gerichte, welche die Anwendbarkeit der allgemeinen Polizeivorschriften auf die in den Bahnhöfen aufgestellten Automaten verneinen, und zwar aus Gründen, die durchwegs auch auf die ßahnhofwirtschaften ohne weiteres anwendbar sind. Meistens wird auch im Urteil auf die Bahnhofwirtschaften verwiesen und als bekannt oder wenigstens als selbstverständlich hingestellt, daß dieselben zum Bahnbetrieb gehören und daß die gewöhnlichen polizeilichen Vorschriften auf sie keine Anwendung finden. So entnehmen wir z. B. einem Urteil des Berliner Kammergerichts vom 26. März 1903 (abgedruckt in der ,,Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen"- 1903, Nr. 41, Seite 641 ff.)

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folgende Ausführung: ,,Wenn 'die nicht unmittelbar der Beförderung dienenden Betriebe auf Bahnhöfen und in Eisenbahnwagen nicht zum Gewerbebetrieb der Eisenbahnunternehmungen gerechnet und den allgemeinen polizeilichen Vorschriften unterworfen werden, müßten namentlich die Bahnhofwirtschaften auch für Reisende beim Eintritt der Polizeistunde geschlossen werden, was unstreitig nicht der Fall ist. Es müßten ferner die nicht nur auf den Bahnhöfen, sondern auch die in den Eisenbahnwagen befindlichen Automaten, z. B. solche, die Klosetpapier, Seife, Handtücher u. s. w. abgeben, an Sonntagen während der nicht freigegebenen Zeit und an Werktagen in der Zeit von 9 Uhr abends bis 5 Uhr morgens geschlossen werden, was undenkbar ist. Es würden ferner praktisch ganz undurchführbare Unterscheidungen erforderlich werden. So dürften z. B. die Bahnhofwirtschaften während der für offene Verkaufsstellen nicht freigegebenen Zeiten Speisen und Getränke zwar zum Genuß auf der Stelle, also in der Wirtschaft und den damit zusammenhängenden Bahnhofräumen, nicht aber zum Mitnehmen auf die Fahrt abgeben."

Zu der Rekurseingabe der Regierung von Bern zurückkehrend, müssen wir uns gegen die Art und Weise wenden, wie auf Seite 7 der Artikel 12 des Bundesgesetzes betreffend die Handhabung der Bahnpolizei, vom 18. Februar 1878, interpretiert wird. Wenn daselbst (im 3. Alinea) der kantonalen Polizei die mit der Ausübung ihres Aufsichtsrechtes verbundenen Befugnisse in vollem Umfange vorbehalten werden, so ist dies nicht gleichbedeutend damit, daß das Aufsichtsrecht der Kantone ein u n b e s c h r ä n k t e s sei! Hätte der Gesetzgeber dies sagen wollen, so hätte er sich überhaupt die Mühe, ein Bahnpolizeigesetz aufzustellen, ersparen können. Vernünftigerweise kann jener Bestimmung keine andere Auslegung gegeben werden, als daß die Kantone auf denjenigen Gebieten, die nicht durch bundesrechtliche Vorschriften beherrscht werden, zur Ausübung der polizeilichen Aufsicht berechtigt bleiben. So denkt z. B. niemand daran, die Eß- und Trinkwaren, die in die Bahnhofwirtschaften geliefert werden, der kantonalen Lebensmittelpolizei zu entziehen.

Etwas anderes ist es aber, wenn die kantonale Behörde das Recht beansprucht, die Schließung von solchen Bahnhofräumlichkeiten anzuordnen, die -- wie wir nachgewiesen zu haben glauben -- zum Betrieb der Bahnunternehmung gehören. Hier-

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über haben nur die Bahnverwaltung und die eidgenössische Aufsichtsbehörde, d. h. diejenigen Organe zu verfügen, die sich mit dem Bahnbetrieb befassen.

Wenn die Rekurrentin im weiteren darauf hinweist, daß der Bund den Anspruch der Kantone auf Bezug von Patenttaxen prinzipiell anerkannt habe, und hieraus folgern will, die Kompetenz der Kantone sei auch in allen ändern auf das Wirtschaftswesen bezüglichen Fragen gegeben, so ist hierauf einfach zu erwidern, daß die Steuerhoheit mit dem Bahnbetrieb nichts zu tun hat. Die Steuerpflicht besteht ja auch, wo sie nicht durch Gesetz oder Konzession aufgehoben ist, für alle Bahnunternehmungen, ohne daß hieraus für die Kantone weitergehende Befugnisse abgeleitet werden können.

Die Zusammenstellung von Wartsälen und Bahnhofwirtschaften wird in der Rekurseingabe als unrichtig bezeichnet, da nur die Einrichtung der Wartsäle in den Bundesgesetzen vorgesehen, ihre Offenhaltung für das reisende Publikum vorgeschrieben und eine Kontrolle über den Besuch durch Berechtigte leicht möglich sei. Wir haben schon oben darauf hingewiesen, daß in keinem Gesetz, sondern nur im Transportreglement von den Wartsälen die Rede ist, im gleichen Paragraph aber auch die Bahnhofrestaurationen erwähnt sind. Es bleibt uns noch beizufügen, daß die Kontrolle über den Zutritt Berechtigter bei den Bahnhofwirtschaften genau so ,,leicht möglich"1, beziehungsweise umständlich ist, wie bei den Wartsälen. Daß die kantpnalen Regierungen zur Errichtung einer neuen Wirtschaft, wenn eine solche von der Bahnverwaltung als Bedürfnis empfunden würde, nichts zu sagen hätten, ist eine Übertreibung, da gemäß Art. 14 des Eisenbahngesetzes die Bahnen dem Bundesrat die Pläne für die Stationen .,,samt deren Einrichtung" zur Genehmigung vorzulegen haben, und die Kantonsregierungen gemäß Art. 17, beziehungsweise 21 der Verordnung zum Eisenbahngesetz vom 1. Februar 1875, die Pläne betreffend Hochbauten mit der Einladung erhalten, ,,allfallige von den Interessen des Kantons und der Gemeinden geforderte Begehren zu stellena. Damit ist die Mitwirkung der Kantonsregierung bei der Errichtung einer neuen Bahnhofwirtschaft garantiert. Daß ihr das Recht, über die Bedürfnisfrage a u s s c h l i e ß l i c h und in letzter Instanz zu entscheiden, nicht zugestanden werden kann, bedarf nach den vorstehenden Ausführungen keiner weiteren Begründung. Und wenn von der Betreibung einer Bahnhofwirtschaft ,,zu jeder beliebigen Nachtzeit" und von anderen Unzukömmlichkeiten gesprochen

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wird, so tragen diese Ausführungen den Stempel der Übertreibung so deutlich, daß man uns wohl nicht zumuten wird, sie ausdrücklich als unbegründet zu widerlegen.

Was die Frage betrifft, wie es mit dem Besuche der Bahnhofwirtschaft durch ein weiteres, nicht mit der Eisenbahn verkehrendes Publikum nach der gesetzlichen Polizeistunde gehalten werden solle, so läßt sich in der Theorie ein bezügliches Verbot sehr wohl aufstellen und begründen. Es geht auch aus einem Urteil des Oberlandesgerichtes München vom 15. Mai 1888 (siehe Sammlung von Entscheidungen des königlichen Oberlandesgerichts München in Gegenständen des Strafreehtes und Strafprozesses, Band V, Seite 86 ff.) hervor, daß anderswo ein solches Verbot gehandhabt wird. Allein für schweizerische Verhältnisse empfiehlt sich die Einführung eines solchen Verbotes nicht, weil seine Durchführung zum Teil unmöglich, zum Teil mit Scherereien und Plackereien für das reisende Publikum verbunden wäre.

Nach hiesigen Anschauungen müssen die Warteräume der Bahnhöfe -- und hierzu rechnen wir die Wirtschaften auch -- nicht nur für diejenigen Personen geöffnet sein, die mit einem Zuge zu verreisen beabsichtigen, und für ihre Begleiter, sondern auch für Personen, die Reisende abzuholen wünschen. Die Durchführung des Verbotes des Besuches der Bahnhofrestauration Bern nach der Polizeistunde wäre daher, nicht nur gegenüber allen mit Generalabonnementen, sonstigen Bahnabonnementen oder Freikarten versehenen unmöglich, sondern auch gegenüber denjenigen Ortseinwohnern, die wirklich oder vorgeblich einen mit dem Nachtzug eintreffenden Reisenden abholen wollen. Und wenn man um 12 Uhr je weilen untersuchen und die offenbar zum Besuche der Wirtschaft nicht berechtigten Gäste ausweisen würde, so müßte die damit verbundene Kontrolle von allen denjenigen, die zum Bleiben berechtigt wären, als lästig empfunden werden. Da uns aber die Bequemlichkeit der zum Aufenthalt Berechtigten, die mitunter der Ruhe bedürfen, mehr Rücksicht zu verdienen scheint, als der Buchstabe des kantonalen Wirtschaftsgesetzes, so halten wir es für das geringere Unglück, wenn einmal ein Zecher einen polizeiwidrigen Wirtshausbesuch ausführen kann, als wenn seinetwegen die Ruhe und Bequemlichkeit der mit der Bahn verkehrenden Personen gestört wird. Gegen Skandalmacher soll -- das ist auch unsere Meinung
-- unerbittlich eingeschritten werden. Daß es nun gerade notwendig sei, in der Bahnhofwirtschaft beständig einen Polizeiposten zu stationieren, haben wir ein behauptet. Anderseits wäre es aber Pflicht der Polizeibehörde,

523 wenn sie einmal der Meinung ist, daß Ruhestörungen von dem im Bahnhof verkehrenden Publikum zu gewärtigen seien, durch Patrouillen dafür zu sorgen, daß während der kritischen Zeit immer Polizeimannschaft in der Nähe ist. Wenn das Publikum einmal die Gewißheit hat, daß Radaubruder ohne Erbarmen abgefaßt und bestraft werden, so wird sehr bald der Dossier ,,Bahnhof buffet Bern" im Polizeirichteramt Bern verschwinden !

III.

Auf die Schlußbemerkungen der Rekurseingabe, die sich mit der Bedürfnisfrage beschäftigen, erwidern wir, daß nach Erhebungen, die die Bundesbahnen in der Sommersaison veranstalteten, der durchschnittliche Besuch der Bahnhofwirtschaft in Bern durch Reisende, die von den vor 12 Uhr nachts eintreffenden Zügen auf Zug 50 (Nachtzug nach Genf) übergehen, 10 Personen beträgt. Die mit Zug 50 ankommenden Konsumenten werden ebenfalls auf durchschnittlich 10 Personen geschätzt. Hierzu kommen die Bahn- und Postangestellten, welche Nachtdienst haben, und die Begleiter von Reisenden aus der Stadt. Das Bedürfnis nach Offenhaltung der Wirtschaft wäre aber auch vorhanden, wenn der Besuch ein geringerer wäre.

Wir schließen diese Ausführungen mit dem Antrage, Sie möchten den Rekurs der Regierung von Bern als unbegründet abweisen.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 2. November

1903.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Deucher.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Rillgier.

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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über den Rekurs der Regierung des Kantons Bern betreffend Schließung der Bahnhofwirtschaft in Bern. (Vom 2. November 1903.)

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