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Schweizerisches Bundesblatt.

55. Jahrgang. V.

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Nr. 48.

2. Dezember 1903.

Bundesratsbeschluß über

die Beschwerde des Gemeinderates von Martigny-Ville wegen angeblicher Verletzung von verfassungsmäßigen Rechten.

(Vom 25. November 1903.)

Der schweizerische Bundesrat

hat über die Beschwerde des Gemeinderates von Martigny-Ville wegen angeblicher Verletzung von verfassungsmäßigen Rechten, auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluß gefaßt:

A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt: I.

Mit Eingabe vom 18. August 1903 hat Advokat Défayes "für den Gemeinderat von Martigny-Ville" beim Bundesrat einen Rekurs eingereicht, in welchem folgendes auseinandergesetzt wird : Der Gemeinderat von Martigny-Ville habe angesichts der vielen Feste der Jahreszeit und der Dringlichkeit der Feldarbeiten, am 27. Juni 1903 beschlossen, das Patronatsfest von MartignyVille vom 2. Juli 1903 auf den ersten folgenden Sonntag, d. h.

den 5. Juli 1903 zu verlegen; er habe daher öffentlich die Bundesblatt. 55. Jahrg. Bd. V.

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106 Erlaubnis verkünden lassen, daß die gewöhnlichen Arbeiten am 2. Juli vorgenommen werden dürfen. Durch die Petition einiger Bürger veranlaßt, und da der interimistische Kanonikus mit der Verschiebung nicht einverstanden war, habe aber der Staatsrat des Kantons Wallis diesen Beschluß des Gemeinderates am 30. Juni 1903 kassiert. Hiergegen werde Rekurs wegen Verletzung verfassungsmäßiger Rechte erhoben.

Art. 62 der Verfassung des Kantons Wallis übertrage den Gemeinderäten das Recht, lokale Réglemente zu erlassen, und Art. 66 derselben bestimme, daß die übrigen Befugnisse der Gemeinderäte durch ein Gesetz bestimmt würden. Dieses Gesetz sei dasjenige vom 2. Juni 1851, durch welches den Gemeinden die allgemeine Polizei auf dem Gemeindegebiet übertragen werde, soweit dieselbe durch Spezialgesetz nicht einer ändern Obrigkeit übertragen sei. Das letztere sei nun nicht der Fall. Der Staatsrat gründe seinen Entscheid ausschließlich auf ein Gesetz vom 20. November 18.82, in welchem der Sonntag als öffentlicher Ruhetag proklamiert und die gebotenen Feiertage (fêtes de précepte) denselben gleichgestellt seien. Es sei aber willkürlich, die Patronatsfeste als zu diesen gebotenen Feiertagen gehörig zu bezeichnen; wenn der Gesetzgeber das gewollt hätte, hätte er laut der Vorschrift des Gesetzes vom 2. Juni 1851 ein Spezialgesetz erlassen müssen. Mit dem angefochtenen Beschlüsse habe der Staatsrat willkürlich gehandelt und seine Kompetenz überschritten.

Der Beschluß des Staatsrats vom 30. Juni 1903 sei daher aufzuheben.

In einem Nachsatz bemerken die Rekurrenten, sie hätten angesichts der Unsicherheit über die Kompetenz der urteilenden Behörden ihre Beschwerde auch beim Bundesgericht anhängig gemacht.

II.

Der Staatsrat des Kantons Wallis hat mit Zuschrift vom 5. November 1903 die Abweisung des Rekurses beantragt, indem er sich darauf beruft, daß die Patronatsfeste durch hundertjährige Übung als gebotene Feiertage geheiligt seien ; daß der Staatsrat den Beschluß des Gemeinderates von Martigny-Ville kassiert habe aus dem Grunde, weil er von einer inkompetenten Behörde ausgegangen sei; daß, wenn eine Verletzung der Art. 62 und 66 der Walliser-Verfassung behauptet werde, nicht der Bundesrat,

107 sondern das ßundesgericht die zuständige Behörde zur Beurteilung der Beschwerde sei; endlich daß der Staatsrat die kompetente Behörde zur Auslegung des Gesetzes vom Jahre 1882 sei, und daß er dieses Gesetz nicht willkürlich ausgelegt habe, indem er ein Patronatsfest den gebotenen Feiertagen gleich stellte.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: I.

Die vorliegende staatsrechtliche Beschwerde, die Advokat Défayes namens des Gemeinderates von Martigny-Ville beim Bundesrat erhebt, gründet sich auf die .Behauptung einer Verletzung der Art. 62 und 66 der Walliser-Verfassung. Gemäß diesen Verfassungsbestimmungen kommt den Gemeinderäten des Kantons Wallis 'die Befugnis zum Erlasse von lokalen Verordnungen, sowie zur Ausübung der allgemeinen Polizei auf ihrem Territorium zu, soweit dies Recht nicht durch Spezialgesetz einer ändern Behörde übertragen ist. Der Staatsrat habe diese Kompetenzen durch Kassierung des Beschlusses des Gemeinderates von Martigny-Ville vom 27. Juni 1903 in willkürlicher Weise mißachtet.

Die Kompetenz des Bundesrates zur Beurteilung staatsrechtlicher Beschwerden ist auf die in Art. 189 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 22. März 1893 genannten Materien beschränkt. Zu diesen Materien gehört der von den Rekurrenten erhobene Rechtsstreit nicht. Denn die in der Beschwerdeschrift angerufenen Art. 62 und 66 der WalliserVerfassung handeln lediglich von den den Gemeindebehörden des Kantons Wallis zukommenden behördlichen Befugnissen ; der Rechtsstreit ist seiner Natur nach ein Kompetenzkonflikt zwischen der Rekurrentin und der Regierung des Kantons Wallis, ein Streit über die Abgrenzung der gegenseitigen Rechte und Befughisse der beiden Behörden. Der Bundesrat ist daher zur Entscheidung nicht kompetent.

Es braucht somit auch die Frage, ob der Gemeinderat als Behörde zur Erhebung eines staatsrechtlichen Rekurses legitimiert wäre, hier nicht weiter untersucht zu werden.

108 U.

Auch wenn man die Rekursschrift von dem Gesichtspunkt aus betrachtet, als wolle diese nicht nur dagegen Protest erheben, daß die Kompetenzen der Lokalbehörden beschnitten werden, sondern auch dagegen, daß die obere Behörde sich in Glaubenssachen einmische, ist der Bundesrat nicht kompetent.

Nach den Ausführungen der Rekursschrift und der Rekursbeantwortung durch den Stàatsrat dès Kantons Wallis könnte es sich hier nur um die Frage handeln, ob durch den angefochtenen Beschluß des Staatsrates die Glaubens- und Gewissensfreiheit der Bürger von Martigny-Ville verletzt worden sei (Art. 49 der Bundesverfassung) ; die Wahrung des Art. 49 der Bundesverfassung fällt aber in die Kompetenz des Bundesgerichts. (Vergi. Urteil des Bundesgerichts in Sachen Stark gegen Bezirksrat Gonten, .vom 30. Oktober 1901; Entscheide, Bd. XXVU, l, S. 436 £f.)

Demnach wird erkannt: Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.

B e r n , den 25. November 1903.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Beucher.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

-53-O-Sr-

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Bundesratsbeschluß über die Beschwerde des Gemeinderates von Martigny-Ville wegen angeblicher Verletzung von verfassungsmäßigen Rechten. (Vom 25. November 1903.)

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02.12.1903

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