438

# S T #

Schweizerische Bundesversammlung.

Die gesetzgebenden Räte der Eidgenossenschaft sind am 26. Oktober 1903 zur Fortsetzung der ordentlichen Sommersession zusammengetreten.

Herr N a t i o n a l r a t s p r ä s i d e n t Zschokke eröffnete die Session mit folgender Ansprache : Meine Herren Nationalräte !

Wir sind nach Schluß unserer Sommersession erst auseinandergegangen, nachdem wir, einer freundlichen Einladung des Standes Graubünden folgend, der Eröffnung der A l b u l a b a h n beigewohnt hatten. Sie werden beistimmen, wenn ich hier noch einmal den Dank des Rates für die herzliche, patriotische Aufnahme in dem schönen Engadin ausspreche und den tiefen Eindruck, den er von dem wunderbaren Bahnbau davongetragen.

Mit Befriedigung nennen wir denselben eine Zierde unserer Baukunst und gleichzeitig ein Werk, welches durch schweizerische Zusammengehörigkeit möglich wurde. Ein Zufall wollte, daß dessen Vollendung 100 Jahre nach dem definitiven Beitritt Bündens zur Schweiz zusammentraf.

Noch weitere fünf Kantone, Waadt, Aargau, Thurgau, St. Gallen und Tessin, haben diesen Sommer den 100jährigen G e d e n k t a g ihres Beitrittes als unabhängige Glieder in den schweizerischen Bundesstaat gefeiert. Stolz und Freude sind rückhaltlos die Gefühle gewesen, die bei diesen Festen zum Ausdruck kamen, und bilden den besten Beweis, daß unser Staat trotz Meinungsverschiedenheit im großen und ganzen das Glück seiner Landeskinder zu fördern bestrebt war und ist.

Übersehen wir rasch die Entwicklung, die unser Staatswesen in dem abgelaufenen Jahrhundert seiner Neugestaltung durchlaufen hat, so sehen wir, daß es beinahe eines halben Jahrhunderts bedurfte, um nach vielfachen Kämpfen zwischen den alten und

439 modernen Anschauungen eine Verständigung in der Verfassung vom Jahre 1848 zu finden, die sogar bloß im Jahre 1874 ihre bleibende Gestaltung fand. Der letzte Vierteil des Jahrhunderts wurde ausgefüllt durch die Bestrebung, die Volksrechte zu erweitern und auf vielen Gebieten der Verwaltung eine größere Einheit an Stelle der Zersplitterung zu stellen, · welche anders zur Machtlosigkeit und zum Rückgang geführt hätte. Ich nenne die Einheit der Armee und des Rechts, den Rückkauf der Bisenbahnen durch den Bund. Dagegen harren andere ähnliche Schöpfungen, wie die Schaffung einer Bundesbank und die Kranken- und Unfallversicherung, noch ihrer Verwirklichung, und gleichtzeitig tritt stets mehr die Tatsache in den Vordergrund, daß die einzelnen Bundesglieder nicht mehr in der Lage sind, aus eigenen Mitteln ihren Bedürfnissen zu genügen, und der finanziellen Beihülfe des Bundes rufen.

Eine rasche Lösung aller dieser Probleme erschwert einerseits der Wunsch der Kantone, trotz ihrer finanziellen Schwäche doch ihre Unabhängigkeit nicht einzubüßen, anderseits die Klage über die Bureaukratie der Bundesverwaltung, die einer freudigen Weiterentwicklung hemmend den Weg verlegt.

Hier kann nur eine durchgreifende Reorganisation helfen, welche die Vorsteher der einzelnen Verwaltungskreise als verantwortliche Vertreter ihrer Handlungen vor das Parlament stellt.

Gestatten Sie mir noch einige Worte über die V o l k s a b s t i m m u n g von g e s t e r n . Sie bildet nicht einen Wendepunkt in unserer Verfassungsgeschichte, sondern bloß einen Zwischenfall.' Mit Wucht hat das Volk die Initiative verworfen, welche dazu angetan war, einen Streit zwischen Land und Stadt aufzuwerfen. Es hat aber auch den Zehnliterverkauf abgelehnt und den bisher bestehenden Zweiliterhandel beibehalten, weil es offenbar die Zweckmäßigkeit der neuen Vorlage nicht einzusehen vermochte oder nicht daran glaubte. Die Verwerfung des Militärstrafgesetzartikels, welche auch mit großer Mehrheit erfolgte, entsprang der Befürchtung, daß zu weit gehende Einschränkungen der persönlichen Freiheit geschaffen werden wollen. ' Das Volk ist empfindlich in Fragen, die ihm den Eindruck machen, als ob sein freies Urteil beschränkt werden soll.

440

Im S t ä n d e r a t sprach Herr Präsident Hoffmann bei der Eröffnung folgende Worte: Meine Herren Ständeräte !

Am Vortage des Zusammentritts der eidgenössischen Räte zur außerordentlichen Frühjahrssession waren die Würfel gefallen über das Schicksal des neuen Zolltarifs, der eine neue Etappe in der wirtschaftlichen Entwicklung unseres Landes eröffnet hat.

Am Vortage des Beginnes der außerordentlichen Herbstsession hat das Schweizervolk seinen Entscheid über drei Vorlagen abgegeben, die an Bedeutung mit dem Gegenstande der Volksabstimmung vom 15. März sich zwar nicht messen können, denen aber wenigstens teilweise eine erhebliche Wichtigkeit nicht abgesprochen werden kann.

Mit großem Mehr hat das Volk die sogenannte I n i t i a t i v e H o c h s t r a ß e r - F o n j a l l a z abgelehnt und damit festgestellt, daß es an dem im Jahre 1848 geschaffenen, im Jahre 1874 bestätigten verfassungsmäßigen Vertretungsverhältnis der föderalistischen und zentralistischen Faktoren unseres Staatswesens nicht zu rütteln gewillt ist. Es ist wohl nicht vermessen, wenn wir aus dem Abstimmungsergebnis und dem, was ihm vorausgegangen, die Folgerung ziehen, daß je länger je mehr das Volk rein f o r m a l p o l i t i s c h e n Fragen ein lebhafteres Interesse versagt und den Schwerpunkt seiner Wünsche und Aspirationen auf die Lösung m a t e r i e l l e r Fragen verlegt. An solchen ist ja kein Mangel ; das friedliche und geeinigte Zusammenarbeiten Aller an ihrer Lösung wird dem allgemeinen Wohle förderlicher sein, als die Durchführung der innern Kämpfe, zu welchen die gestern abgelehnte Initiative wohl unvermeidlich Veranlassung geboten hätte.

Mit der in der Abstimmung unterlegenen R e v i s i o n von Art. 32 bis der B u n d e s v e r f a s s u n g wollten neue Wege für die Bekämpfung des Alkoholismus betreten werden. Gewiß wäre es irrig, wollte man annehmen, das Schweizervolk stehe der Bekämpfung der Auswüchse im Alkoholkonsum weniger sympathisch gegenüber als bei Anlaß der Verfassungsrevision im Jahre. 1885, oder es würde das Bedürfnis weniger intensiv empfunden, unablässig anzukämpfen gegen einen Feind, der am Marke unseres Volkes zehrt. Allein in guten Treuen konnten die Meinungen darüber auseinandergehen, ob die Wege, die zu betreten man sich anschickte, die richtigen seien. Vielleicht ließ das -Gefühl,

441

daß die Lösung keine g a n z e sei, daß es sich eher um ein Palliativmittel handle, den Eifer der Anhänger der Vorlage erlahmen, die Opposition erstarken ; es ist nicht ausgeschlossen, daß eine radikalere Lösung größern Sympathien begegnen würde.

Mit ganz erheblichem Mehr hat das Volk auch der Erg ä n z u n g des Bundesgesetzes ü b e r das Bund esstrafr e c h t seine Genehmigung versagt. Diese Tatsache könnte leicht geeignet sein, über die Grenzen unseres Landes hinaus Aufsehen zu erregen. Man darf indessen die Bedeutung dieses Volksentscheides nicht übertreiben. Entscheidend war die unseres unmaßgeblichen Erachtens unbegründete Befürchtung, als könnte durch die Vorlage ein Attentat auf die verfassungsmäßig gewährleisteten Individualrechte, insbesondere die Preßfreiheit, versucht werden, Individualrechte, über deren Respektierung das Volk eifersüchtig wacht. Irrig wäre es dagegen, in diesem Volksentscheide den Ausdruck einer m i l i t ä r f e i n d l i c h e n Stimmung zu erblicken.

Wohl haben vereinzelte beklagenswerte Vorkommnisse in der Militärverwaltung vorübergehend die öffentliche Meinung in hohem Maße, vielleicht übermäßig, beschäftigt, und es ist boi diesem Anlasse der Finger auch noch auf andere Wunden oder Gebrechen unserer militärischen Einrichtungen gelegt worden.

Aber all das hat im Volke weder den Glauben an die Integrität unserer Militärverwaltung, noch das Vertrauen zu der obersten Leitung der militärischen Angelegenheiten, noch die Zuversicht, daß vereinzelte Mängel des Heerwesens verbessert und dieses dadurch auf eine höhere Stufe emporgehoben werden könne, noch die Liebe zu unserm Volksheere und s unsern militärischen Institutionen zu erschüttern vermocht.

An uns aber ist es, mit frischem Mute und zugleich mit weiser Mäßigung auf dem Boden des zurzeit Erreichbaren an die Neuschaffung und Ergänzung desjenigen zu gehen, was wir als mangelhaft und verbesserungsbedürftig erkannt haben.

Dabei vertrauen wir freilich auf den gesunden, praktischen und patriotischen Sinn des Schweizervolkes, das kaum gewillt sein dürfte, die Schlagfertigkeit seiner Armee, seine Wehrkraft und damit die sicherste Garantie seiner Unabhängigkeit Experimenten zu überantworten, wie sie durch eine durchaus willkürliche Begrenzung und Festlegung des Militärbudgets versucht werden wollen.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Schweizerische Bundesversammlung.

In

Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1903

Année Anno Band

4

Volume Volume Heft

43

Cahier Numero Geschäftsnummer

---

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

28.10.1903

Date Data Seite

438-441

Page Pagina Ref. No

10 020 728

Das Dokument wurde durch das Schweizerische Bundesarchiv digitalisiert.

Le document a été digitalisé par les. Archives Fédérales Suisses.

Il documento è stato digitalizzato dell'Archivio federale svizzero.