793

# S T #

Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend das Entschädigungsbegehren des Carlo Canetti von Brissago, in Faido.

(Vom 10. März 1903.)

Tit.

Carlo Canetti von Brissago, in Faido, früher Zollwächter, dann Zirkusangestellter, (rat am 1. April 1901 als Sicherheitswächter im Fort Airolo in den Dienst, da sieh aber erwies, daß er für diesen nicht geeignet war und überdies seine Charaktereigensehaften zu wünschen übrig ließen, wurde ihm schon gegen Ende August 1901 die Entlassung in Aussicht gestellt.

Unmittelbar darauf begann Canetti zu klagen über Schmerzen in den Knien, im rechten Fuß und in der Hüfte; da jeder objektive Befund fehlte, wurde Canetti zur genauen Untersuchung und Beobachtung in den Bürgerspital in Luzern verwiesen. Er trat daselbst am 23. August 1901 in Pflege; 16 Tage spater richtete er ein Schreiben an den Oberfeldarzt, in welchem er sich darüber beklagte, daß sein Zustand ,,keine Besserung aufweise", und den Oberfeldarzt bat, ihn zu besuchen. Der Oberfeldarzt ersuchte hierauf den Spitalarzt um Berieht über das Befinden des Patienten und erhielt dann am 12. September eine Mitteilung von Herrn Dr. Wey in Luzern, welche unter anderem folgende Angaben enthielt: ,,Unsere objektive Untersuchung ergab einen absolut negativen Befund, die Schmerzangaben waren vag, atypisch und wechselnd, der Eindruck absolut der eines Simulanten. Da uns über ein Grund seiner Simulation nicht einleuchtete -- Fa-

"794 tient ist Familienvater, hat zu Hause ein Geschäft, keine Entschädigungsansprüche auf Unfall, bei seinem Alter wahrscheinlich keine Reflexion auf Dieustbefreiung -- machten wir mit Canetti eine energische Salicyl- und Jodkalikur durch; denn etc... . Eine nochmalige, einläßliche Untersuchung Canettis ergab dasselbe, objektiv negative Resultat."

Man wird zugeben müssen, daß der Schluß des Herrn Dr. Wey auf Simulation von seilen Canettis ohne jede Voreingenommenheit gezogen wurde ; Herr Dr. Wey würde weniger Bedenken gegen denselben gehabt haben, wenn ihm die Verhältnisse, in denen Canetti sich wirklich befand, bekannt gewesen wären. Auf der andern Seite ist ziemlich klar und braucht nicht weiter erörtert zu werden, warum dem Herrn Dr. Wey von Canetti offen. bar unrichtige Angaben über seine Verhältnisse gemacht wurden.

Der Oberfeldarzt orientierte nun den Spitalarzt in Luzern über die tatsächlichen Verhältnisse und dieser entließ dann Panetti airi 14. September nach Hause. Kurz vorher hatte letzterer noch zwei Schreiben an das Militärdepartement gerichtet, in welchen er um seine Versetzung in ein Spital in Bern nachsuchte; dieses Begehren ist aber abschlägig beschieden worden.

Eine Woche später ließ Canetti dem Oberfeldarzt neuerdings ein Sehreiben zukommen, in welchem er sich darüber beklagte, daß ihn der Platzarzt von Airolo wegen seiner ,,dolori terribili" nicht behandle. Seinem Briefe war ein ärztliches Zeugnis beigefügt, Jaut welchem er an Tendovaginitis crepitans, also an einer S e h n e n S c h e i d e n e n t z ü n d u n g ,,alle gambe" leiden sollte. Die Richtigkeit dieser neuen Krankmeldung wurde mit Recht in Zweifel gezogen. Der Oberfeldarzt antwortete ihm hierauf, daß kein orund vorliege, ihn weiter auf Kosten der Eidgenossenschaft behandeln zu lassen.

Canetti wandte sich nun an den Advokaten Herrn Dr. Motta in Airolo und ließ am 4. Oktober 1901 das Militärdepartement tele·gmphisch von seinen Beschwerden in Kenntnis setzen. Es wurde hierauf Herr Dr. Tognola, Platzarzt von Airolo, ersucht, Canetti zu untersuchen und unverzüglich dem Oberfeldarzt Bericht zu erstatten. Schon am 5. Oktober traf dieser Bericht beim Oberfeldarzt ein. Er lautete dahin, daß Canetti über Schmerzen in den Fußgelenken, in den Knien und im Kreuz klage, wenn er aufstehe und die Fersen auf den Boden setze,
so spüre er Schmerz, der bis zum Kopf hinaufsteige, um dann sofort zu verschwinden.

Er könne sich nur mit Muhe setzen und sich ohne Hülfe nicht mehr aufrichten. Objektiv war wieder gar nichts zu finden.

Temperatur und Puls waren normal, der Appetit gut, das Herz

795 normal ; au den Gelenken war weder Rötung, noch Schwellung, auch keine Verdickung zu entdecken. Nur an den Knien war bei Bewegung des Beins eine Krepitation fühl- und hörbar, was vom untersuchenden Arzte als Rest eines altern Prozesses betrachtet wurde, über den der Patient keine Auskunft geben konnte. Beim Druck auf die F u ß g e l e n k e gab Canetti Schmerzen an, ebenso bei starker Flexion des rechten Knies und bei intensivem Druck auf den Nervus ischiadicus. Eine Tendovaginitis hat Herr Dr. Tognola nicht konstatieren können.

Auch aus diesem Bericht geht hervor, wie sehr Canetti zu übertreiben weiß. Trotz der Übertreibungen -- um Canetti unter allen Umständen in weitgehendstem Maße entgegenzukommen -- verfügte der Oberfeldarzt seine Evakuation in den Spital Salem in Bern, wo er von Herrn Dr. Arnd untersucht und behandelt wurde. Der Eintritt war am 7. Oktober erfolgt; schon am 12. Oktober kehrte er wieder nach Airolo zurück. Objektiv konnte Herr Dr. Arnd nur ein Reiben bei Bewegungen des Kniegelenkes und einen Druckpunkt am rechten Ischiadicus finden, sonst nichts; er erklärte, daß er starke Ü b e r t r e i h u n g der Beschwerden von seilen Canettis n i c h t b e s t r e i t e n k ö n n e , daß aber doch ein chronischer Rheumatismus in den Kniegelenken desselben vorhanden zu sein scheine und eine Badekur für ihn empfehlenswert wäre. Gestützt hierauf wurde dem Canetti am 23. Oktober 1901 ein Beitrag von Fr. 150 an eine Kur in Baden bewilligt. Diese Kur hatte, wie zu erwarten war, wenig Erfolg.

Ende November wandte sich Canetti neuerdings an das Militärdepartement und verlangte eine weitere Entschädigung, da er noch nicht hergestellt sei und ihm Herr Dr. Monakow in Zürich den Rat gegeben habe, eine Fangokur in Acqui (Oberitalien) anzutreten. Auf den Antrag des Militärdepartements haben wir dann dem Canetti am 5. Dezember 1901 eine letzte Aversalentschädigung von Fr. 300 unter der Bedingung zugesprochen, daß er ausdrücklich erkläre, keine weiteren Entschädigungsansprüche an den Bund, weder Tür zeitweilige, noch für bleibende Gesundheitsstörung zu stellen. Canetti sandte seine Frau, um das Geld abzuholen und diese unterzeichnete auch die verlangte Erklärung mit seinem Wissen und Willen, indem sie ihrer Unterschrift beifügte: ,,come a aulorizzazione". Dio Kur in Acqui trat Canetti jedoch
vorläufig nicht an, sondern richtete im April 1902 ein neues Entschädigungsgesuch an den Bundesrat, das aber mit Rücksicht auf die von Canetti von Anfang au ausgeübte Übertreibung seiner Beschwerden und auf die von seiner Frau mit seiner Ermächtigung unterschriebene Erklärung am 17. April 1902 abgelehnt wurde. Im Laufe des Sommers 1902 scheint Canetti dann die Kur in Acqui unter

796 finanzieller Mithülfe seiner Heimatgemeinde Brissago gemacht zu haben. Da er vom Bundesrate nichts mehr erwarten kann, wendet er sich nun durch Vermittlung des Advokaten Herrn Dr. Motta in Airolo mit Eingabe vom 7. November 1902 an die Bundesversammlung, indem er gegen den bundesrätlichen Entscheid vom 11. April 1902 rekurriert und unter Hinweis darauf, daß auch die Kur in Acqui keinen Nutzen gehabt habe und ihm nun ärztlicherseils eine Badekur am Meer empfohlen worden sei, verlangt, daß ihm der Bund 1. für alle Kosten etc. die seine Erkrankung für ihn vom 20. August 1901 bis jetzt zur Folge gehabt habe, eine Entschädigung leiste, und 2. für die Folgezeit eine Pension bewillige.

Es fragt sich nun, ob dem Canetti noch eine Entschädigung zukomme oder nicht.

Diese Frage ist im Grunde genommen durch die von Frau Canetti mit der Einwilligung ihres Gatten unterschriebene Erklärung, daß auf alle weitem Entschädigungsansprüche an den Bund, sowohl für zeitweilige, als für bleibende Gesundheitsstörungen Verzicht geleistet werde, ohne weiteres erledigt, und es könnte billigerweise auf diese Angelegenheit nur dann zurückgekommen werden, wenn in Canettis Zustand unvorhergesehene, schlimme Veränderungen sich eingestellt hätten. Hinsichtlich dieses Punktes lassen wir das Wort dem Oberfeldarzt, der sich wie folgt ausspricht : ,,Dies (daß unvorhergesehene, schlimme Veränderungen sich eingestellt haben), ist offenbar nicht der Fall, wie aus den von Canetti vorgelegten ärztlichen Zeugnissen deutlich hervorgeht.

Von diesen daueren zwei aus dem Monat September 1902. Das eine derselben bezeugt, Canetti leide an einer Tendosynovilis chronica, wo sie sich befinde, welche Sehnenscheide erkrankt sei, ist nicht gesagt, und das Zeugnis hat auch nach der Aktenlage nicht den geringsten Wert; das andere konstatiert kurz, Canetti sei behaftet mit einer chronischen Polyartlmtis, unier Vorwiegen einer recidivievenden Gonitis-Synovitis. Dies ist der Status, der schon von Herrn Dr. Arnd in Bern in der Überzeugung, daß Canetti schwer aggraviere, aufgenommen wurde, und es beweist gerade der Umstand, daß keine wichtigern Anhaltspunkte oder positiven Angaben über die Arbeitsfähigkeit Canettis in diesen Zeugnissen enthalten sind und daß beide entweder eine neue Fangokur oder eine Meerbadkur empfehlen, wie wenig Canettis Zustand sich geändert hat und wie wenig objektive Symptome derselbe auch jetzt noch dem untersuchenden, ernst zu nehmenden Arzte bietet. Es

797 bestätigen im übrigen diese Zeugnisse den Bindruck und die Überzeugung, die mau über die Nichtigkeit der Beschwerden Cancttis aus dem ganzen Verlauf der Angelegenheit gewinnen muß : Canetti ist Fortwächter v o m ì . April bis zum 23. August 1901, also nicht ganz 5 Monate und zum größten Teil in der bessern Jahreszeit; während dieser Zeit klagt er niemals über rheumatische Schmerzen, und erst nachdem ihm seine Entlassung angekündigt worden, treten Schmerzen in den Knien, im Fuß und in der Hüfte bei ihm auf; zuerst ist der Sitz derselben wechselnd, und die Angaben Canettis sind vag, später, nachdem ein im Grunde genommen unbedeutendes objektives Symptom, das Knarren in seinen Knien, wahrgenommen worden ist, gibt er dort den Hauptsitz seiner Beschwerden an. Es ist ganz klar, daß, wenn jemals ein wirkliches Leiden seinen Klagen zu Grunde gelegen hätte und wenn bei ihm nicht nur die mit Sicherheit von mehr als einem Arzte konstatierte schwere Aggravation, sondern geradezu absolute Simulation vorläge, die verschiedenen Badekuren, die er durchgemacht hat, auch seine Heilung hätten herbeiführen müssen ; daß er niemals auch nur eine Besserung seines Zustandes zugab, trotzdem objektiv nur mit sehr gutem Willen überhaupt etwas Krankhaftes zu finden war, und jedesmal nach absolvierter Kur neuerdings Entschädigung verlangte, beweist zur Genüge, daß es ihm von vornherein nur darum zu tun war, bei seiner Entlassung aus der Sicherheitswache eine mögliehst große Entschädigung vom Bunde zu erlangen. Es ist zu bedenken, daß Canetti keinen eigentlichen Beruf und seine Tätigkeit als Zirkusakrobat und Jongleur aus uns unbekannten Gründen, vielleicht wegen seines schon vorgeschrittenen Alters, aufgegeben hat, daß sich ihm also ohne weiteres eine gewisse Schwierigkeit bot, nach seiner Entlassung aus der Sicherheitswache sein Fortkommen zu finden. Dies mag ihn dann auch zu seinem Vorgehen veranlaßt haben. Es läßt sich angesichts der ganzen Sachlage nicht daran zweifeln, daß wenn bei Canetti der Wille zur Arbeit dagewesen wäre und die Absicht, eine unverdiente Entschädigung nus dem Bunde herauszulocken, gefehlt hätte, er niemals ernstlich arbeitsunfähig gewesen wäre.

,,Ein Grund, auf Canettis Angelegenheit trotz seiner Erklärung zurückzukommen, liegt also nicht vor, und ich beantrage daher, sein Gesuch um Ausrichtung
einer weiteren Entschädigung abzulehnen, indem er mit Rücksicht auf seine von verschiedenen Ärzten zweifellos konstatierte Simulation und Aggravation und im Hinblick auf die große Wahrscheinlichkeit, daß er durch sein durchaus nicht mit Sicherheit festgestelltes Gelenkleiden beim geringsten guten Willen überhaupt nie in seiner Erwerbsfähigkeit gestört gewesen wäre, schon jezt mehr von der Eidgenossenschaft erhalten hat, als ihm billigerweist! zugekommen wäre."'

798 Die Pensionskommission hat in ihrer Sitzung vom 7. Februar 1903 den Rekurs Canetti behandelt, und ist einstimmig zu dem Schlüsse gekommen, daß derselbe keine Berücksichtigung verdiene.

Der Fall Canetli wurde von uns, wie schon erwähnt, durch Beschluß vom 5. Dezember 1901 auf Grund des Bundesgesetzes über Militärpensionen und Entschädigungen vom 13. Winter monat 1874 definitiv entschieden; das am 1.Januar 1902 in Kraft getretene Bundesgesetz betreffend Versicherung der Militärpersonen gegen Krankheit und Unfall vom 28. Juni 1901 kann somit auf den Fall Canetti nicht zur Anwendung kommen.

Gestützt auf die vorgebrachten Tatsachen und indem wir auf die Akten verweisen, beehren wir uns, Ihnen zu beantragen, es sei der Rekurs und das Entschädigungsbegehren des Carlo Canetti in Faido abzuweisen.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 10. März

1903.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates,, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Deucher.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend das Entschädigungsbegehren des Carlo Canetti von Brissago, in Faido. (Vom 10. März 1903.)

In

Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1903

Année Anno Band

1

Volume Volume Heft

10

Cahier Numero Geschäftsnummer

---

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

11.03.1903

Date Data Seite

793-798

Page Pagina Ref. No

10 020 469

Das Dokument wurde durch das Schweizerische Bundesarchiv digitalisiert.

Le document a été digitalisé par les. Archives Fédérales Suisses.

Il documento è stato digitalizzato dell'Archivio federale svizzero.