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Bundesratsbeschluß über

die Beschwerde des Franz Jekel in Herisau gegen den Entscheid der Regierung des Kantons Appenzell A.-Rh.

vom 18. August 1902 betreffend Ausweisung.

(Vom 27. Januar 1903.)

Der schweizerische B u n d e s r a t hat

über die Beschwerde des F r a n z J e k e l in Herisau gegen «den Entscheid der Regierung des Kantons Appenzell A.-Rh. vom 18. August 1902 betreffend Ausweisung ; auf den Antrag des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluß gefaßt:

A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Unterm 30. August /l. September 1902 reichte Franz Jekel in Herisau beim Bundesrat eine Beschwerde gegen einen Beschluß der Regierung des Kantons Appenzell A.-Rh. vom 18. August 1902 ein mit dem Hauptbegehren : Es sei vom Bundesrate dieser Beschluß betreffend Sanktionierung eines Ausweisungsbefehles des Gemeinderates von Herisau

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aufzuheben im Sinne dessen, daß dem Beschwerdeführer die Niederlassung in dieser Gemeinde resp. im Kanton Appenzell A.-Rh.

bewilligt wird.

Gleichzeitig ersuchte der Beschwerdeführer den Bundesrat um Erlaß einer provisorischen Verfügung, wonach die Durchführung des ihm auf Grund des obzitierten Entscheides der Appenzeller Regierung von der kantonalen Polizeidirektion zugestellten Ausweisungsbefehls mit Frist bis zum 10. September 1902 bisnach Erledigung des vorliegenden Rekurses sistiert werden solle.

Die Regierung des Kantons Appenzell A.-Rh., aufgefordert sich zu letzterm Begehren zu äußern, erklärte unterm 4./5. September 1902, sie habe gegen die anbegehrte Fristerstreckung keine Einwendung zu erheben, worauf dem Begehren seitens des Bundesrates durch Erlaß der entsprechenden vorsorglichen Verfügung unterm 8. September 1902 statt gegeben wurde.

II. ' Zur Begründung des Hauptbegehrens führte der Rekurrent folgendes aus : Er wohne seit dem 20. Juli 1901 in Herisau bei einer 74jährigen Frau und deren Tochter, welche ihm die Haushaltung besorgen. Er sei von Beruf Apotheker und befasse sich mit dem Kommissionsgeschäft pharmazeutischer Spezialitäten. Er führe'ein ganz zurückgezogenes Leben und mache nur wenig Geschäfte, und sei vor materieller Notlage insofern geschützt, als er über einen jährlichen Zinsgenuß von Fr. 1600 verfüge. Er habe seit Beginn seines Aufenthalts in Herisau weder mit dem Publikum noch mit den Behörden irgendwelchen Anstand gehabt.

Da im Moment, als er sich um die Niederlassungsbewilligung beworben habe, seine Ausweispapiere nicht in Ordnung gewesen seien, so habe der Gemeinderat von Herisau im Winter 1901 einen Beschluß gefaßt, wonach er die Gemeinde bis Ende Dezember 1901 hätte verlassen müssen. In Bewilligung eines von ihm an die Polizeidirektion des Kantons gerichteten Gesuchs, sei ihm sodann eine Frist zur Beibringung der zur Niederlassung nötigen Ausweisschriften eingeräumt worden.

Nachdem er die ihm zuletzt in Deutschland durch Gerichtsurteil auferlegte Buße von Mark 100 bezahlt habe, sei ihm von dem königlich preußischen Regierungspräsidium in Breslau ein Heimatschein ausgestellt worden und auch ein von der deutschen Gesandtschaft in Bern ausgestelltes Leumundszeugnis habe er erlangt.

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Er habe sich unter Vorlegung dieser Ausweisschriften neuerdings mit dem Gesuch um Niederlassungsbewilligung an den Gemeinderat gewandt, welcher aber beschlossen habe, seinen frühern Ausweisungsbefehl aufrecht zu erhalten.

Sein hiergegen ergriffener Rekurs an den Regierungsrat sei nun am 18. August 1902 abgewiesen worden, weil ein von der Staatsanwaltschaft Posen requirierter Auszug aus dem dortigen Strafregister fünf Verurteilungen des Rekurrenten melde, zwei wegen Diebstahls, zwei wegen Gewerbepolizeiübertretung, beziehungsweise fahrlässiger Körperverletzung und eine wegen unbefugten Verkaufs von Arzneien. Dazu komme noch, daß sich Rekurrent durch die Flucht nach der Schweiz einer über ihn verhängten Festnahme entzogen habe.

Dies sei nun allerdings richtig, allein die ihm wegen der Diebstahlsverbrechen vor 25 Jahren zuerkannten Strafen habe er verbüßt und so seien diese Verbrechen als gesühnt und als verjährt zu betrachten. Auch die bloß mit Geldbußen geahndeten spätem Übertretungen seien verjährt und die Bußen bezahlt. Es handle sich übrigens bei allen diesen Übertretungen um Tatbestände, die im Kanton Appenzell A.-Rh. keine Bestrafung nach sich ziehen können, nämlich um Übertretungen der Medizinalordnung und Verkauf von Arzneien.

Er habe der kaiserlich deutschen Gesandtschaft in Bern bei seiner Bewerbung um das Leumundszeugnis ein solches, vom Polizeipräsidium von Breslau ausgestelltes vorgelegt, in welchem seine Verurteilungen aufgezählt waren.

III.

Es ist hier zunächst zu erwähnen, daß sich die Regierung von Appenzell A.-Rh. durch das schweizerische Justiz- und Poiizeidepartement an die deutsche Gesandtschaft gewendet hat, da sie im Zweifel darüber war, ob das gesandtschaftliehe Leumundszeugnis in Kenntnis des Strafregisters Jekels ausgestellt worden war oder nicht. Das erstere war der Fall, wie sich aus der Antwortnote der deutschen Gesandtschaft vom 25. Juli 1902 ergibt.

Aus derselben ist auch zu entnehmen, daß der zuletzt gegen Jekel erlassene Steckbrief, dessenwegen er Deutschland verließ, zurückgezogen worden ist.

IV.

In Beantwortung der Beschwerde führte die Regierung des Kantons Appenzell A.-Rh. folgendes aus :

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Sie halte am angefochtenen Entscheid und seiner Begründung fest.

Jekel habe allerdings die in Art. 2 des deutsch-schweizerischen Niederlassungsvertrags für die Erlangung der Niederlassungsbewilligung aufgestellten Erfordernisse erfüllt. Allein der in Art. l des Vertrages aufgestellte allgemeine Grundsatz der ungehinderten Aufnahme deutscher Reichsungehöriger in der Schweiz erleide durch Art. 4 eine bedeutende Einschränkung, welcher Art. 4 jedem der vertragschließenden Teile das Recht einräume, Angehörigen des andern Teils, entweder infolge gerichtlichen Urteils oder aus Gründen der innern oder äußern Sicherheit des Staates, oder aus Gründen der Armen- und Sittenpolizei den Aufenthalt zu versagen.

Auf diesen Artikel stutze sie sich, indem sie behaupte, der Ausweisungsbefehl gegen Jekel habe aus Gründen der präventiven Sittenpolizei im allgemeinen Sinn erlassen werden müssen.

In dieser Hinsicht hebe sie hervor, daß Jekel, abgesehen von den beiden Diebstahlsstrafen, wiederholt und zuletzt noch in jüngster Zeit wegen fahrlässiger Körperverletzung in Verbindung mit unbefugter Ausübung der ärztlichen Praxis bestraft worden sei. Darin sei eine Gefahr zu erblicken. Jekel sei zweifellos wegen der bestehenden Freigabe der ärztlichen Praxis in den Kanton Appenzell A.-Rh. gekommen und betreibe eben heute noch ein Kommissionsgeschäft pharmazeutischer Spezialitäten. Die Gefahr, daß Jekel neuerdings von Herisau aus Personen im In- und Auslande durch seine Mittel schädigen könne, liege so nahe, daß die Ausweisung gerechtfertigt erseheine.

V.

Mit Zuschrift vom 19. November ersuchte das schweizerische Justiz- und Polizeidepartement die Regierung von Appenzell A.-Rh.

um Auskunft über die kantonalen Gesetzesbestimmungen, welche die Ausweisung von Ausländern und die Verweigerung der Niederlassung derselben regeln, sowie darüber, wie es sich mit dem in der Antwort der Regierung angedeuteten Konkubinatsverhältnisse N verhalte.

In ihrer Antwort vom 12. Dezember verwies die Regierung auf § 19 der kantonalen Verordnung über das Polizeiwesen vom 4. November 1887 mit Zusätzen vom 19. November 1888, 19. Februar und 15. Mai 1894.

Dieser § 19 lautet: r Die Niederlassung kann verweigert werden, wenn der Gesuchsteller infolge strafgerichtlichen Urteils nicht im Besitze der

259 bürgerlichen Ehren und Rechte ist, den vergegenrechteten Ausländern nach Maßgabe der Verträge, den nichtvergegenrechteten auch bei sonstiger Ermanglung eines guten Leumundes."

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: I.

Die Kompetenz des Bundesrates zur Entscheidung vorliegender Beschwerde ist gegeben, da es sich um die Niederlassung eines deutschen Staatsangehörigen in der Schweiz, somit um die Anwendung des Niederlassungsvertrages zwischen der Schweiz und Deutschland vom 31. Mai 1890 handelt (vgl. Art. 189, letzten Absatz, des ßundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege).

II.

Der Beschwerdeführer beruft sich, um seine Berechtigung zur Erlangung der Niederlassungsbewilligung nachzuweisen, darauf, daß er ein von der deutschen Gesandtschaft in Bern ausgestelltes Zeugnis über die deutsche Reichsangehörigkeit und guten Leumund besitze und daß ihm deshalb gestützt auf Art. l und 2 des NiederlassuBgsvertrags die Niederlassung nicht verweigert werden könne.

Die Tatsache, daß Jekel ein Gesandtschaftszeugnis und somit die formellen Voraussetzungen für Erlangung der Niederlassung besitzt, ist richtig.

Immerhin hat die kaiserlich deutsche Gesandtschaft in ihrer Note vom 25. Juli 1902 an den Bundesrat, die Berechtigung der Regierung des Kantons Appeozell A.-Rh., dem Jekel dea Aufenthalt innerhalb des Kantonsgebietes zu versagen, ausdrücklich zugegeben.

Die Regierung des Kantons Appenzell A.-Rh. stützt sich darauf, daß Art. l und 2 des Niederlassungsvertrages durch Artikel 4 desselben eine bedeutende Einschränkung erfahren, wonach durch die Ausstellung des Leumundszeugnisses das Recht eines jeden der vertragschließenden Teile, Angehörigen des andern Teils entweder infolge gerichtlichen Urteils oder aus Gründen der innern oder äußern Sicherheit oder aus Gründen der Armen- und Sittenpolizei den Aufenthalt zu versagen, nicht berührt werde.

Es ist zu untersuchen, ob diesen Ausführungen der Appenzeller Regierung beigetreten werden kann.

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III.

Zunächst muß das Verhältnis des Art. 4 zu Art. l (und 2) des Staatsvertrages näher festgestellt werden.

Art. l des Vertrages enthält ganz allgemein die Befugnis zu freier Niederlassung der Deutschen in der Schweiz.

Art. 2 macht diese Befugnis abhängig von einem durch die deutsche Gesandtschaft auszustellenden Zeugnis, wonach der Inhaber deutscher Reichsangehöriger ist und einen unbescholtenen Leumund besitzt.

Art. 4 enthält die Berechtigung der kontrahierenden Staaten trotz der in Art. l und 2 enthaltenen Vorschriften aus gewissen Gründen ,,den Aufenthalt zu versagen".

Dieser allgemeine Ausdruck ergibt deutlich, daß die Sache nicht etwa so zu verstehen ist, daß bei Vorliegen der formellen Erfordernisse des Art. 2 der Aufenthalt zunächst gewährt werden muß und erst nachträglich, wenn einer der Gründe des Art. 4, zeitlich der Gewährung des Aufenthaltes nachgehend, eingetreten ist, entzogen werden kann, sondern daß vielmehr auch von Anfang an, wenn einer der Gründe des Art. 4 vorliegt, der Aufenthalt trotz den nach Art. 2 erfüllten formellen Erfordernissen versagt, d. h. ein Gesuch um Erteilung einer Niederlassungsbewilligung abgelehnt werden kann.

Damit ist ohne weiteres gegeben, daß sieh die Regierung des Kantons Appenzell A.-Rh. auf einen der Gründe des Art. 4 berufen darf, um dem im Besitze eines Gesandtschaftszeugnisses befindlichen deutschen Staatsangehörigen Jekel den Aufenthalt auf ihrem Kantonsgebiete zu verweigern.

IV.

Die Appenzeller Regierung, indem sie die Gründe der präventiven Sittenpolizei vorschützt, beruft sich damit einerseits auf die Sittenpolizei, andererseits auf die innere Sicherheit des Staates.

Die Verordnung über das Polizeiwesen des Kantons Appenzell A.-Rh. vom 4. November 1887 mit Abänderungen vom 19. November 1888 und 19. Februar und 15. Mai 1894 verweist für die Verweigerung der Niederlassung gegenüber ,,vergegenrechtetena Ausländern in § 19 ganz allgemein auf die Staatsverträge.

Der Staatsvertrag mit Deutschland sieht unter den Gründen der Niederlassungsverweigerung die Sittenpolizei und die innere Sicherheit des Staates vor; also ist auch vom Standpunkte des appenzellischen öffentlichen Rechtes die Verweigerung der Niederlassung gerechtfertigt, wenn sie nach dem Staatsvertrage gerechtfertigt ist.

261 V.

Tatsächlich steht fest, daß Jekel allerdings vor mehr als 20 Jahren wegen Diebstahls, in den Neunzigerjahren (1893 und 1895) wegen Gewerbepolizeiübertretung, beziehungsweise fahrlässiger Körperverletzung in Deutschland bestraft worden ist und daß er vom Polizeipräsidium von Breslau als gefährlicher ^Kurpfuscher" bezeichnet wird.

Wenn nun auf die Vorstrafen des Jekel kein allzugroßes Gewicht gelegt zu werden braucht, da dieselben zeitlich auf Jahre zurückliegen, so ergibt sich doch aus dem amtlichen Zeugnis der Breslauer Polizeibehörde, daß Jekel als ein Individuum anzusehen ist, das durch Verkauf und Verbreitung von Mitteln gegen Krankheiten (er selbst nennt in seiner Beschwerdescfarift das von ihm betriebene Gewerbe ein Kommissionsgeschäft pharmazeutischer Spezialitäten) für die Sicherheit der Personen eine Gefährde bietet, da er sich in keiner Weise darüber ausweist, daß er auch die nötigen Kenntnisse besitzt, um beurteilen zu können, ob die von ihm verbreiteten Spezialitäten heil wirksam sind oder nicht; in dieser Beziehung begründen die in Deutschland ausgesprochenen Bestrafungen die Vermutung, daß aus seinem Gewerbebetrieb ein Schaden an der Gesundheit von Personen, denen er seine Mittel verkauft, zu befürchten ist.

Die Regierung des Kantons Appenzell A.-Rh. erblickt mit Recht in diesen Tatsachen eine Gefährdung der innern Sicherheit, und Art. 4 des Staats Vertrages gewährt ihr damit auch das Recht, dem Jekel die nachgesuchte Niederlassung zu verweigern, denn es muß als eine pflichtmäßige Ausübung der Polizeigewalt, als Sorge für die öffentliche Wohlfahrt, unter welche speziell auch die Sorge für die Sicherheit der Personen zu begreifen ist, angesehen werden, wenn vor Erteilung der Niederlassung geprüft wird, ob nicht aus der Niederlassung einer Person Nachteile entstehen können.

Dagegen kann nicht eingewendet werden, daß die Gesetzgebung des Kantons Appenzell A.-Rh. den Verkauf von Arzneimitteln nicht an eine vorausgehende Patentierung knüpft; denn es handelt sich nicht sowohl um die Frage, ob Jekel berechtigt wäre, nach dem Rechte dea Kantons Appenzell A.-Rh. ohne ein Patent Spezialitäten zu verkaufen, sondern darum, daß Jekel nach den über ihn bestehenden Erkundigungen diese Berechtigung benutzen würde, um dritte Personen zu schädigen.

Aus diesen Erörterungen ergibt sich aber, daß die Behörden des Kantons Appenzell A.-Rh. berechtigt waren, dem Beschwerdeführer die Niederlassung zu verweigern.

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D e m n a c h wird e r k a n n t : Die Beschwerde ist als unbegründet abgewiesen.

B e r n , den 27. Januar 1903.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Deucher.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Bingier.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bundesratsbeschluß über die Beschwerde des Franz Jekel in Herisau gegen den Entscheid der Regierung des Kantons Appenzell A.-Rh. vom 18. August 1902 betreffend Ausweisung.

(Vom 27. Januar 1903.)

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28.01.1903

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