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Bundesratsbeschluss über

die Beschwerde des Alfred

Brüstlein,

Fürsprecher, in

Bern, gegen das Dekret des Großen Rats des tons Bern vom 30. Januar 1902

betreffend

Kan-

die Fest-

stellung des Repräsentationsverhältnisses der Großratswahlkreise.

(Vom 3. Februar 1903.)

Der schweizerische Bundesrat

hat über die Beschwerde des A l f r e d B r ü s t l e i n , Fürsprecher, in Bern, gegen das Dekret des Großen Rats des Kantons Bern vom 30. Januar 1902 betreffend die Feststellung des Repräsentationsverhältnisses der Großratswahlkreise ; auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluß gefaßt: A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Unterm 13. /14. März 1902 reichte A. Brüstlein, Fürsprecher, in Bern, beim Bundesrat einen staatsrechtlichen Rekurs ein, der in seiner Überschrift an das Bundesgericht adressiert war. Im Begleitschreiben dazu erklärte der Beschwerdeführer, er reiche den beim Bundesgericht, der nach seiner Ansicht kompetenten Behörde, angebrachten vorliegenden Rekurs vorsichtshalber auch beim Bundesrat ein und ersuche, dessen Behandlung erst dann vorzunehmen, wenn das Bundesgericht seine Kompetenz verneinen sollte.

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Der Rekurs richtet sich gegen das Dekret des Großen Rat» des Kantons Bern betreffend die Feststellung des Repräsentationsverhältnisses der Großratswahlkreise vom 30. Januar 1902 und schließt mit folgenden Rechtsbegehren: ,,1. Es sei das angefochtene Großratsdekret als verfassungswidrig aufzuheben.

2. Es sei den Behörden des Kantons Bern zu untersagen, die Großratswahlen nach diesem Dekrete vorzunehmen, bei Folge der Ungültigkeit.1* Zur Begründung dieser Begehren führt der Rekurrent folgendes aus : Der gegenwärtige Rekurs bilde die Fortsetzung des zur Zeit noch beim Bundesgericht anhängigen Rekurses Brüstlein und Konsorten gegen die Weigerung des bernischen Großen Rates, auf da& von der Regierung ihm unterbreitete Wahlkreisdekret einzutreten.

Auf diesen ersten Rekurs werde deshalb, was die tatsächliche und rechtliche Begründung anbelange, verwiesen, auch weil es sich wohl empfehle, beide Rekurse gleichzeitig zu erledigen.

In der Antwort auf jenen Rekurs sei seitens des Großen Rates ausgeführt worden, es sei mit dem angefochtenen Beschluß noch keineswegs gesagt gewesen, daß die Beibehaltung der bestehenden Wahlkreiseinteilung eine beschlossene Sache sei. Allein diese Behauptung sei sehr bald durch die Annahme des beiliegenden Dekrets vom 30. Januar 1902 widerlegt worden, das sich damit begnüge, das Repräsentationsverhältnis mathematisch auf Grund der Ergebnisse der letzten Volkszählung neu zu ordnen, ohne an der gegenwärtigen Begrenzung der Großratswahlkreise etwas zu ändern.

Damit liege nunmehr ein positiver gesetzgeberischer Akt vor, welcher die Vorschrift des Art. 18 der Staatsverfassung des Kantons Bern, lautend: ,,Für die Wahlen in den Großen Rat wird das Staatsgebiet in möglichst gleichmäßige Wahlkreise eingeteilt.tt verletze, denn durch dieses Dekret wurden Wahlkreise sanktioniert, deren Abgeordnetenzahl zwischen 2 und 13 variiere.

Der Beschwerdeführer sei auch diesmal wieder zum Rekurs legitimiert, da er stimmfähiger Burger des Kantons Bern und als solcher durch den angefochtenen allgemein verbindlichen Erlaß in seinen staatsbürgerlichen Rechten verletzt sei, wie jeder andere Bürger auch, der darauf hält, daß die Verfassung beobachtet

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werde. Die Abzirkelung der Wahlkreise sei nicht nur theoretisch, sondern auch erfahrungsgemäß von Einfluß auf das Wahlresultat ; denn je nachdem durch die Umgrenzung große oder kleine, gleichmäßige oder ungleichmäßige Wahlkreise geschaffen würden, kämen andere Personen als Gewählte in den Rat. Jeder im Genuß der politischen Rechte stehende Bürger oder stimmfähige Einwohner habe ein Recht darauf au verlangen, daß der das Volk repräsentierende Grosse Rat in einer den Vorschriften der Verfassung entsprechenden Weise zusammengesetzt werde.

II.

In seiner Antwort vom 5./8. November 1902 schloß der Große Rat des Kantons Bern dahin: ,,Es sei auf den Rekurs des Herrn Dr. Brüstlein nicht einzutreten.

Eventuell: Es sei dieser Rekurs abzuweisen.'1 und begründete diese Begehren folgendermaßen : Durch Entscheide vom 25. April 1902 habe das Bundesgericht sowohl in Sachen des Rekurses Brüstlein und Konsorten vom 27. November 1901 wegen Nichteintretens des Großen Rates des Kantons Bern auf den regierungsrätlichen Dekretsentwurf vom 10. Mai 1901 betreffend die Einteilung des Staatsgebiets in Großratswahlkreise als bezuglich des Rekurses des Dr. Brüstlein vom 13. März 1902 erkannt, es sei auf die Rekurse wegen Inkompetenz nicht einzutreten.

Auch der Bundesrat habe nach seiner, des Großen Rates, Ansicht auf den Rekurs des Dr. Brustloiu nicht einzutreten. Denn die Rechtsschrift des Rekurrenten sei gar nicht an den Bundesrat, sondern an das Bundesgericht gerichtet, weshalb die Beschwerde nach Art. 190 und 178 des Organisationsgesetzes beim Bundesrat gar nicht anhängig gemacht worden sei. Das Begleitschreiben des Rekurrenten an den Bundesrat vom 13. März 1902 habe nämlich auch nicht den Charakter einer Beschwerde im Sinne des zitierten Art. 178, da darin die Anträge des Beschwerdeführers und deren Begründung fehlen.

Jedenfalls sei der nur dem Bundesgericht eingereichte Rekurs Brüstlein und K o n s o r t e n beim Bundesrat nicht anhängig gemacht worden. Wenn nun Rekurrent in der vorliegenden Beschwerde zu ihrer Begründung einfach auf die Akten in jenem Rekursfall, also auf die Akten einer andern Prozedur und gar einer andern Instanz verweise, so tue er damit wiederum der Vorschrift in Art. 178, Ziffer 3, des Organisationsgesetzes, nicht

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genüge/ Auch sei es nicht richtig, daß der vorliegende Rekurs die konnexe, beschwerdeverstärkende Portsetzung des Rekurses Brüstlein und Konsorten bilde; denn nicht nur seine Grundlage, sondern auch seine Anträge seien andere. Angenommen nun auch, der zweite Rekurs sei beim Bundesrat anhängig geworden, so sei dies doch mit dem ersten nicht der Fall, weshalb auch die in diesem enthaltenen Anbringeo vom Bundesrat nicht zu berücksichtigen seien.

Eventuell macht der Große Rat des Kantons Bern folgendes geltend : Die bestehende Wahlkreiseinteilung entspreche der Vorschrift dés Art. 18 der Staatsverfassung auch heute noch. Dieser verlange nicht gleichmäßige, sondern nur m ö g l i c h s t gleichmäßige Wahlkreise und bringe durch das Wort ,,möglichst" den Gedanken zum Ausdruck, daß Änderungen nur dann vorzunehmen seien, wenn dies ohne Schädigung und Verletzung berechtigter Interessen geschehen könne. So gehe denn auch die Auffassung der Kommission des Großen Rates /,ur Vorberatung des regierungsrätlichen Wahlkreisdekretsentwurfs dahin, daß Trennungen und Änderungen von bestehenden Wahlkreisen einerseits kein Bedürfnis sei, wohl aber anderseits berechtigte Interessen verletzen würde, und der Große Rat pflichtete dieser Anschauung mit erdrückender Mehrheit bei. In dieser Hinsicht sei auf die Verhandlungen des Großen Rats vom 1. Oktober 1901 und besonders auf die damals geäusserten Bedenken zu verweisen, die gegen die beabsichtigte Trennung von Kirchgemeinden geltend gemacht wurden. (Tagblatt des Großen Rats des Kantons Bern, 1901, 272 ff.)

Noch vor drei Jahren, anläßlich der Beratung des Gesetze» über die Volksabstimmungen und öffentlichen Wahlen vom 29. Oktober 1899, habe die bernische Regierung die Ansicht vertreten,, die Wahlkreiseinteilung sei nicht revisionsbedürftig, nicht verfassungswidrig. Im Referat des damaligen Regierungsberichterstattersfänden sich folgende bemerkenswerte Stellen: ,,Eine weitere Änderung ist im Schlußparagraphen enthalten, wo es heißt, daß der Große Rat befugt sei, den § 7 des Gesetzes von 1869 auf dem Dekretswege ganz oder teilweise abzuändern.

Wir fanden nun, es dürfte wohl zu verantworten sein,, daß die · Revision der Wahlkreiseinteilung, sei es eine teilweise oder eine gänzliche, dem Großen Rat übertragen werde Wir beantragen nicht die Aufhebung der betreffenden
Gesetzesbestimmung, beziehungsweise der gegenwärtigen Wahlkreiseinteilung, im Gegenteil, diese letztere soll bestehen bleiben, wohl aber soll 'der Große Rat kompetent sein, Abänderungen vorzunehmen.*

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Das Gesetz über die Volksabstimmungen und öffentlichen Wahlen wurde vom Großen Rat und in der Abstimmung vom 29. Oktober 1899 vom Volk angenommen.

Damals also waren Regierung, Großer Rat und Volk der Ansicht, die bestehende Wahlkreiseinteilung widerspreche der Bestimmung in Art. 18 der Verfassung nicht. Seither hätten sieb die Verhältnisse aber nicht so verändert, daß eine Revision der Wahlkreiseinteiluag nötig erscheine, auch nicht durch das Resultat der letzten Volkszählung, da die Zunahme der Bevölkerung nur in einigen wenigen Wahlkreisen so stark war, daß eine wesentliche Erhöhung der Vertreterzahl eintritt. (Hier folgt eine auf der bestehenden Wahlkreiseinteilung beruhende Aufstellung unter Gegenüberstellung der bisherigen Vertreterzahl im Großen Rat gemäß Gesetz von 1869 und der Vertreterzahl auf Grund der letzten Volkszählung gemäß Dekret vom 30. Januar 1902.)

Eine hohe Vertreterzahl würden auf Grund der bestehenden Wahlkreiseinteilung in Zukunft erhalten die Kreise Bern (obere Gemeinde), Bern (untere Gemeinde), Nidau und Biel. DieseKreise entsprechen den Kirchgemeinden gleichen Namens, wie denn auch die ganze bisherige Wahlkreiseinteilung in dem Sinne auf der in Art. 63 der Staatsverfassung anerkannten Einteilung; des Kantonsgebietes beruhe, daß die zu einer Kirchgemeinde gehörenden Gemeinden auch zum nämlichen Wahlkreis gehören sollen. Gewichtige Gründe bisheriger Zusammengehörigkeit und Interessengemeinschaft, namentlich in volkswirtschaftlicher Beziehung sprächen gegen die Trennung einer Kirchgemeinde in verschiedene Wahlkreise oder die Zusammenlegung von Gliedern; verschiedener Kirchgemeinden zu einem solchen, weshalb auch gerade der Stadtpräsident von Bern in der Sitzung des Großen Rates vom 1. Oktober 1901 gegen die beabsichtigte Trennung, der städtischen Kirchgemeinden protestiert habe. (Vgl. Tagblatt des Großen Rates, Jahrgang 1901, III. Heft, p. 273.) Im Sinn und Geist der Verfassung selbst müsse daher die Forderung möglichst gleicher Wahlkreise dahin ausgelegt werden, daß die Möglichkeit gleichmäßiger Wahlkreise nicht nur durch die geographischen Verhältnisse und die bestehende Einteilung des Staatsgebietes in Amtsbezirke, Gemeinden und Kirchgemeinden beschränkt werde, sondern auch durch die Rücksichtnahme auf die berechtigten Interessen der Bevölkerung der bereits bestehenden
Wahlkreise. Und weil ungerechtfertigte Trennungen und Abänderungen bestehender Wahlkreise in dem regieruugsrätlichen Dekretsentwurf vom 10. Mai 1901 enthalten waren, habe der GrößeRat auf dessen Beratung einzutreten am 1. Oktober 1901 ablehnen müssen und am 30. Januar 1902 mit großer Mehrheit die frühere-

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Einteilung nach Fug und Recht beibehalten. Die hier erörterte Auffassung sei mit dem Inhalt des Art 18 der Staatsverfassung des Kantons Bern keineswegs unvereinbar. (Vgl. Urteile des Bundesgerichts vom 6. Januar 1886 in Sachen Gemeinde Hauenstein und Genossen gegen Solothuru und vom 26. Mai 1893 in Sachen Gemeinde Wallisellen gegen Zürich.)

Sollten die Ausführungen der beschwerdeführenden Partei im Rekursfall Brüstlein und Konsorten auch für den vorliegenden Fall Berücksichtigung finden, so erkläre der Große Rat auch seine in jener Beschwerdeangelegenheit dem Bundesgericht eingereichten Rechtsschriften als Bestandteil seiner Antwort.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: I.

Bei Behandlung der vorwürfigen Beschwerdesache ist zunächst eine Frage rein formeller Natur zu lösen. In den Reehtsschriften der Parteien ist von zwei verschiedenen Beschwerden die Rede, nämlich von einer Beschwerde ,,Brüstlein und Konsorten" und von einer Beschwerde ,,Brü8tleintt. Die beiden Beschwerden unterscheiden sich einmal, wie sich schon aus der gewählten Bezeichnung ergibt, dadurch, daß sie von verschiedenen beschwerdeführenden Parteien ausgehen, zweitens dadurch, daß sie sich gegen verschiedene kantonale Erlasse richten, und drittens dadurch, daß sie verschiedene Rechtsbegehren enthalten.

Der Rekurs Brüstlein und Konsorten richtet sich gegen den Beschluß des bernischen Großen Rates vom 1. Oktober 1901, mit welchem Beschluß es die genannte Behörde ablehnte, auf den Dekretsentwurf des Regierungsrats betreffend Abänderung der Großratswahlkreise einzutreten. In dieser Beschwerde wurde verlangt, es sei durch die angegangene Behörde auszusprechen, daß der Große Rat des Kantons Bern durch absolutes Nichteintreten auf den Entwurf eines neuen Wahlkreisdekretes und durch den damit bekundeten Willen der Beibehaltung der gegenwärtigen Wahlkreiseinteilung den Art. 18 der Kantons Verfassung verletzt habe; die Behörden äes Kantons Bern seien sodann anzuhalten, bis zu den nächsten Wahlen ein der Verfassungsvorschrift entsprechendes Wahlkreisdekret zu erlassen ; endlich sei den Behörden des Kantons Bern die Vornahme neuer Großratswahlen nach dem bestehenden Gesetz zu untersagen. Dagegen richtet sich der Rekurs Brüstlein gegen das Dekret des Großen Rats des Kantons Bern vom 30. Januar 1902.

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betreffend die Feststellung des Repräsentationsverhältnisses der Grossratswahlkreise und verlangt, das angefochtene Dekret sei als verfassungswidrig aufzuheben, u n d es s e i d e n Behörden d e s vorzunehmen bei Folge der Ungültigkeit.

Während nun der Beschwerdeführer Dr. Brüstlein von der Ansicht ausgeht, beide Beschwerden seien nicht nur beim Bundesgericht, sondern auch beim Bundesrat anhängig gemacht worden, steht der Große Hat des Kantons Bern auf dem Standpunkt, es sei dies weder bezüglich der ersten noch der zweiten Beschwerde der Fall.

Weder die eine noch die andere Ansicht ist im vollen Umfang richtig. Wenn der Große Rat den Schluß zieht, die zweite Beschwerde sei in ihrer Überschrift nicht an den Bundesrat, sonde an das Bundesgericht adressiert, und das mit dieser Beschwerde an den Bindesrat gerichtete Begleitschreiben erfülle die Erfordernisse einer Rekursschrift nicht, da es weder die Anträge des Beschwerdeführers noch deren Begründung enthalte, aus welchen Gründen der Rekurs Brustlein beim Bundesrat gar nicht hängig geworden sei, so kann dieser Auffassung nicht beigetreten werden. Es muß als zur Anhängigmachung einer Beschwerde genügend betrachtet werden, wenn bei deren Erreichung, sei es in der Rekursschrift selbst, sei es in einem Begleitschreiben, deutlic die Absicht kundgegeben wird, daß sie vom Bundesrat behandelt werden soll. Das ist in dem Begleitschreiben des Dr. Brüstlein vom 13. März 1902 geschehen, und demgegenüber kana es füglich als bedeutungslos bezeichnet werden, daß die beim Bundesrat eingereichten Exemplare der, wie es im Begleitschreiben heißt, gleichlautend beim Bundesgericht eingereichten Beschwerde nach dem Wortlaut der Überschrift an das Bundesgericht adressiert sind.

Darüber also, daß die Beschwerde Brüstlein beim Bundesrat wirklich anhängig gemacht worden ist, kann ein Zweifel nicht bestehen. Anders liegt die Sache beim Rekurs Brüstlein und Konsorten. Diese Beschwerde ist dem Buudesrat überhaupt nie eingereicht worden, und zur Anhängigmachung derselben beim Bundesrat genügt nach Art. 178 in Verbindung mit Art. 190 dos Organisationsgesetzes die Berufung auf die beim Bundesgericht eingereichte Beschwerde anläßlich eines spätem beim Bundesrat erhobenen Rekurses nicht. Würde mau übrigens dies für genügend erachten, so mußte doch itn vorliegenden Fall die Beschwerd
Brüstlein und Konsorten vom Buudesrat unberücksichtigt gelassen werden, weil sie verspätet wäre. Denn die Einreichung einer Beschwerde beim Bundesgericht hemmt den Lauf der sechzigO

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Bundesblatt. 55. Jahrg. Bd. 1.

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tägigen Frist zu ihrer Einreichung beim Bundesrat nicht, und als sich der Beschwerdeführer Brüstlein dem Bundesrat gegenüber auf die Besehwerde Brüstlein und Konsorten berief, nämlich ara 13. März 1902, da war die Rekursfrist für eine Beschwerde gegen den Beschluß des bernischen Großen Rates vom 1. Oktober 1901 längst abgelaufen. In dieser Hinsicht wird verwiesen auf den Entscheid des ßundesrates in Sachen Jul. Zurfluh und Konsorten gegen uri vom 21. Juni 1902 (Bundesbl. 1902, lit, 905 ff.).

Der Bundesrat kann sich also nur mit der gegen das Dekret des Großen Rats des Kantons Bern betreffend die Feststellung des Repräsentationsverhältnisses der Großratswahlkreise vom 30. Januar 1902 gerichteten rechtzeitig eingelegten Beschwerde Brüstlein befassen.

II.

In zweiter Linie ist die Frage der Zuständigkeit zur Beurteilung der vorliegenden Beschwerde zu prüfen.

Das Bundesgericht hat seine Kompetenz in seinem Entscheid vom 25. April 1902 als nicht gegeben erachtet, und zwar unter Hinweis auf die Entscheidungsgründe, welche ebenfalls zur Kompetenzablehnung im Rekurs Brüstlein und Konsorten führten und im Entscheid des Bundesgerichts vom gleichen Datum enthalten sind. Daß die gleichen Erwägungen im einen wie im andern Fall maßgebend sein müssen, beruht darauf, daß die durch die beiden Beschwerden angefochtenen kantonalen Eilasse ihrer staatsrechtlichen Natur Dach gleich sind. Das Bundesgericht lehnt nun nicht bloß in rein negativer Weise seine Kompetenz ab, vielmehr spricht es sich positiv für die Zuständigkeit der politischen Bundesbehörden, Bundesrat und Bundesversammlung, aus. Dieser Umstand überhebt den Bundesrat nicht der Pflicht, die Frage, oh er kompetent sei, selbständigzuu prüfen. Da sieh aber die Erwägungen des Bundesgerichts in völliger Übereinstimmung mit dem vom Bundesrat schon früher eingenommenen und in mehreren Entscheiden betonten Standpunkt (vergi.z.. B. Entscheid des Bundesrates in Sachen Mettler kontra St. Gallen,Bundesbl.. 1901, III, 305 S.)

befindet, so rechtfertigt es sich, sie hier im vollen Umfang wiederzugeben. Sie lauten : Wenn der Kanton Bern verfassungsmäßig für die Vornahme der Wahlen in den Großen Rat in Wahlkreise einzuteilen ist, nach deren Bevölderungsziffer die Anzahl der zu wählenden Vertreter sich bestimmt, so wird durch diese Einteilung einerseits das Staatsgebiet in eine Anzahl von Sprengein eingeteilt, von denen jeder

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für sich eine Art politischer Einheit darstellt, und anderseits wird dadurch das Wahlrecht des einzelnen Bürgers auf die seinem Wahlkreise zufallende Anzahl von Vertretern beschränkt. Die Einteilung schafft danach einmal die territoriale Grundlage für die Ausübung des politischen Rechtes der Bürger, die Wahlen in den Großen Rat vorzunehmen, und bestimmt anderseits in einer bestimmten Richtung den Inhalt dieses Rechtes. Die Beschwerde der Rekurrenten, daß die bestehende Wahlkreiseinteilung bezw.

daß die Nichtvornahme einer Abänderung derselben mit der Vorschrift von Art. 18 der bernischen Staatsverfassung im Widerspruch stehe, stellt sich somit gewiß als eine Beschwerde ,,betreffend die politische Stimmberechtigung der Bürger und betreffend kantonale Wahlen und Abstimmungen" im Sinne von Art. 189, Absatz 4, des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 22. März 1893 dar, über welche nach dieser Bestimmung der Bundesrat und in letzter Instanz die Bundesversammlung zu entscheiden hat. Sinn und Zweck des Gesetzes erheischen nicht eine einschränkende Auslegung. Der Ausdruck ist umfassender als der im früheren Organisationsgesetz vom 27. Brachmonat 1874 gebrauchte: ,,Beschwerden gegen die Gültigkeit kantonaler Wahlen und Abstimmungen". Wie aus der Botschaft zu dem Gesetzesentwurfe hervorgeht (vergl. Bundesbl. 1892, II, 388), sollte damit die Unsicherheit, die unter der Herrschaft des früheren Gesetzes über die Kompetenzabgrenzung zwischen den politischen Bandesbehörden und dem Bundesgericht bestanden hatte, gehoben werden, was in der Weise geschah, daß alle Beschwerden, die sich auf kantonale Wühlen und Abstimmungen und auf die politische Stimmberechtigung der Bürger beziehen, ohne Rücksicht auf ihren Rechtsgrund, dem Bundesrate und der Bundesversammlung zugewiesen wurden. In die Kompetenz der letztern fallen demnach nicht nur, wie die Rekurrenten meinen, diejenigen Beschwerden wegen Beeinträchtigung der Stimmberechtigung oder wegen Verletzung, der Vorschriften über die kantonalen Wahlen und Abstimmungen, die anläßlich oder im Hinblick auf einen speziellen Fall der Ausübung des Stimm- oder Wahlrechts der Bürger erhoben werden, sondern auch diejenigen, in denen behauptet wird, dass die hierüber bestehenden allgemeinen Vorschriften verletzt seien.

Daß es sich um eine kantonale
Verfassungsvorschrift handelt, ändert hieran nichts, denn der an sich richtige bundesrechtliche Satz, daß das Bundesgericht zum Hüter der kantonalen Verfassungen eingesetzt sei, erleidet eben eine positive Ausnahme da, wo der Materie nach seine Kompetenz aufhört, wie denn in Art. 189, Absatz 4, des Organisationsgesetzes ausdrücklich hervorgehoben ist, die politischen Bundesbehörden halton solche Beschwerden

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Der Bundesrat hält diese Ausführungen des Bundesgerichtes für zutreffend. Demgemäß ist seine Kompetenz in der Sache gegeben.

m.

Obschon der Rekurrent nicht eine Verletzung seines Stimmrechts, sondern die Verletzung seines Rechts auf Beobachtung der kantonalen Verfassung durch die Behörden behauptet, so kann im vorliegenden Fall von einer nähern Erörterung darüber abgesehen werden, ob die Voraussetzungen zu einer staatsrechtlichen Beschwerde unter solchen Umständen erfüllt sind, oder ob es sich nicht vielmehr um eine Beschwerde handelt, bei der von einer Verletzung eines subjektiven Rechts nicht die Rede sein kann.

Denn es muß den Ausführungen des Großen Rates des Kantons Hern beigepflichtet werden, daß der Art. 18 der Staatsverfassung des Kantons Bern nicht gleichmäßige, sondern nur ,,möglichst" gleichmäßige Wahlkreise verlangt, und der Große Rat des Kantons Bern deshalb befugt war, bei der Bildung der Wahlkreise neben der Zahl der auf den einzelnen Kreis entfallenden Stimmberechtigten auch andern Faktoren, wie sie von der gesetzgebenden Behörde angerufen werden, Rechnung zu tragen.

Demgemäß wird erkannt: Der Rekurrent wird mit seiner Beschwerde allgewiesen.

B e r n , den 3. Februar 1903.

Im Namen des Schweiz. bundesrates, D e r Bundespräsident:

Deucher.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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Bundesratsbeschluss über die Beschwerde des Alfred Brüstlein, Fürsprecher, in Bern, gegen das Dekret des Großen Rats des Kantons Bern vom 30. Januar 1902 betreffend die Feststellung des Repräsentationsverhältnisses der Großratswahlkreise. (Vom 3. Feb...

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04.02.1903

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339-348

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