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Schweizerisches Bundesblatt.

55. Jahrgang. V.

Nr. 52.

30. Dezember

1903.

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Bundesratsbeschluß betreffend

Verbot des Tragens von 125 kg.-Säcken in Mühlen und Lagerhäusern.

(Vom 24. Dezember 1903.)

Der schweizerische Bundesrat, nach Einsicht der Akten, aus welchen sich ergibt: Am 17. November 1902 richtete das Zentralkomitee schweizerischer Müllergewerkschaften, in Wülflingen, an das schweizerische Industriedepartement das Gesuch, es möchte ,,das Verbot der 125 kg.-Säcke, für sämtliche Getreidearten, auf dem Gebiete der Schweiz" ausgesprochen werden.

In der Eingabe wird betont, daß die Forderung eines Verbots der 125 kg.-Säcke keine neue sei, und daß auch die eidgenössischen Fabrikinspektoren sich schon zu wiederholten Malen mit ihr befaßt haben. Vom Zentralkomitee werden die Nachteile hervorgehoben, die für die Arbeiter durch das Tragen dieser Säcke entstehen, nämlich Verkrümmungen der Wirbelsäule, Brüche (Hernien). Das Komitee glaubt, daß, nachdem die französischen Getreidelieferanten sich auf das Gewichtssystem eingerichtet haben, dem Verbot der Verwendung dieser Säcke nichts mehr im Wege stehe ; auch seien dieselben, soviel bekannt, in Deutschland und Österreich nicht im Gebrauche.

Mit Schreiben vom 18. November 1902 übermittelte das Industriedepartement die Eingabe dem Verbände schweizerischer Bundesblatt. 55. Jahrg. Bd. V.

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362 Müller zur Ansichtsäußerung. Der eingegangene Bericht datiert vom 31. März dieses Jahres. Der Verbandsausschuß stellt, gestüzt auf die von ihm bei sämtlichen Verbandssektionen und Vorstandsmitgliedern, sowie bei der Getreidebörse Zürich eingeholten Gutachten, den Antrag, es sei dem Gesuch der Mühlenarbeiter nicht zu entsprechen, und der Erlaß des gewünschten Verbotes abzulehnen. Der Verband weist darauf hin, daß, während diejenigen schweizerischen Müller, die ihr Getreide ab Ludwigshafen und Mannheim beziehen, gegenüber der Forderung der Mühlenarbeiter eine ziemlich neutrale Stellung einnehmen, die beinahe ausschließlich von Marseille und Genua ans bedienten Müller der Zentral- und Westschweiz, die in ihren Mühlen ausnahmslos sogenannte Chargesäcke (125 kg.-Säcke) verwenden, gegen das Begehren protestieren. Die beteiligten Mühlenbesitzer machen darauf aufmerksam, daß die Abschaffung der 125 kg.Säcke eine totale Umwälzung der in ihrem Gewerbe bestehenden Verhältnisse und damit im Zusammenhang eine Vermehrung der Produktionskosten nach sich ziehen würde, abgesehen von dein erheblichen Verlust, den eine raschere Abnützung oder Nichtverwendung der Säcke für sie in sich schließe. Dann wird auch das Gesundheitsschädliche des Tragens der Chargesäcke für die Arbeiter bestritten, und hervorgehoben, daß dieses Tragen in den Mühlen und Magazinen überhaupt zur Seltenheit gehöre.

Eventuell · stellt der Ausschuß das Gesuch, nicht die Verwendung, sondern nur das Tragen der Säcke zu verbieten.

Die Akten wurden am 4. April laufenden Jahres den eidgenössischen Fabrikinspektoren zur gemeinsamen Begutachtung überwiesen. Diese datiert vom 1. Juli 1903. Die Fabrikinspektoren sind mit der Forderung der Mühlenarbeiter im allgemeinen einverstanden, und befürworten ein Verbot des Tragens der Chargesäcke.

Im fernem liegt auch eine Vernehmlassung des eidgenössischen Oberkriegskommissariates vom 22. Juli dieses Jahres vor; dieses ist ebenfalls mit einem solchen Verbot einverstanden.

Zum Zwecke gegenseitiger Aussprache und des Versuchs einer Verständigung veranstaltete das Industriedcpartement eine Konferenz, an der die beiden erwähnten Verbände, die Getreidebörse Zürich, das Oberkriegskominissariat und das Fabrikinspektorat sich beteiligten. Die Konferenz fand am 5. Oktober in Bern statt, und führte zum Resultat, daß man sich auf das Verbot des Hebens und Tragens der Chargesäcke und auf die Festsetzung der Übergangsfrist einigte;

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in Erwägung: I.

Gestützt auf Art. 2, Absatz 4, Art. 3, Absatz 3, und Art. 17, Absatz l, des .Bundesgesetzes betreffend die Arbeit in den Fabriken, vom 23. März 1877, und auf Art. 5 des Bundesgesetzes betreffend die Ausdehnung der Haftpflicht, vom 26. April 1887, steht dem Bundesrat die Befugnis zu, zum Schütze für Gesundheit und Leben der Arbeiter besondere Vorschriften zu erlassen.

Uer Bundesrat kam schon wiederholt in den Fall, Schutzbestimtnungen für die den erwähnten Gesetzen unterstellten Arbeiter aufzustellen. Allerdings kann es sich auch im vorliegenden Falle nur um die Betriebe handeln, die diesen Gesetzen unterstellt sind, und das weitergehende Gesuch der Müllergewerkschaften muß daher außer Betracht fallen.

II.

Die eidgenössischen Fabrikinspektoren waren seit einer Reihe von Jahren bemüht, die Abschaffung der 125 kg.-Säcke in den dem Fabrikgesetze unterstellten Mühlen auf gütlichem Wege zu erwirken, was ihnen an manchen Orten gelang. Es muß allerdings zugegeben werden, daß die Beseitigung dieser Säcke nicht von den Mühlenbesitzern allein abhängig ist, sondern daß ihre Verwendung ebenso sehr in der Macht der Händler liegt. Tatsächlich kommen große Quantitäten Weizen aus Genua, Marseille und Mannheim in Säcken an, die 125 kg. wiegen, während ungarischer Weizen regelmäßig in 100 kg.-Säcken spediert wird.

Es hangt also von der Bezugsquelle des Getreides ab, ob mehr Säcke von der einen oder ändern Sorte sich vorfinden. In den mit den neuesten Einrichtungen versehenen Mühlen wird das Getreide vom Wagen auf mechanischem Wege zu den Müllereimaschinen befördert; da hingegen, wo solche mechanische Einrichtungen fehlen, und dies ist bei der Mehrzahl der Etablissemente der Fall, müssen die Getreidesäcke mehr oder weniger getragen werden, eine Verrichtung, von der die Arbeiter erklären, daß sie anstrengend und für den Körper schädlich sei.

In letzterer Hinsicht ergeben die vom eidgenössischen Fabrikinspektorate an Hand der amtlichen Unfallanzeigen gemachten Erhebungen, daß Hernien und andere Folgen von Überanstrengung bei den Mühlenarbeitern zahlreicher sind, als bei den Übrigen Fabrikarbeitern, daß sie insbesondere durch das Tragen von

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Lasten verursacht werden, und daß ihre Zahl seit Jahren in absolutem Zunehmen begriffen ist. Es geht ferner aus den Rekrutenuntersuchungen hervor, daß die Müller schon friih und verhältnismäßig oft mit Hernien behaftet sind. Ihr Gewerbe zählt zu denjenigen Berufsarten, bei welchen dieser Grund der Befreiung vom Militärdienst am häufigsten vorkommt, haben sie doch stark l Carnai so viel Hernienkranke, als der Durchschnitt sämtlicher Rekruten beträgt.

Es ist also nicht zu verkennen, daß die Forderung der Mühlenarbeiter ihre Berechtigung hat, und daß es nicht angeht, sie kurzer Hand abzuweisen. Wenn die Müllerprinzipale von Hernien und ändern Folgen der Überanstrengung bei ihren Arbeitern nichts zu melden wissen, so muß an die gegenteiligen Angaben ihrer eigenen Unfallanzeigen erinnert werden.

Es ist zu erwarten, daß eine Verminderung des zu tragenden Gewichts ein Zurückgehen der körperlichen Schädigungen und eine physische Erleichterung des Arbeiters herbeiführen werde.

Damit ist die Pflicht des Staates, von seinem Rechte zum Erlaß gewerbehygienischer Vorschriften Gebrauch zu machen, gegeben.

III.

Wenn der Verband schweizerischer Müller in seiner Vernehmlassung gegenüber der Forderung der Mühlenarbeiter einen ablehnenden Standpunkt einnimmt, so darf daraus keineswegs geschlossen werden, daß alle Arbeitgeber ihn teilen. Die Fabrikinspektoren berichten, daß viele derselben das Postulat unterstützen. Es haben beispielsweise im Inspektionskreise der Westschweiz 11 von 31 Müllern sich bestimmt in diesem Sinne ausgesprochen. Ebenso erklärt der Besitzer einer großen Mühle der Ostschweiz, es könne den Müllern gleichgültig sein, ob das Getreide in Säcken von 125 kg. oder von 100 kg. ankomme, ein Verbot der erstem würde hauptsächlich die Händler treffen. Das eidgenössische Oberkriegskommissariat beschäftigt sich ebenfalls seit geraumer Zeit mit der Frage der Ersetzung der Chargesäcke in seinen Getreidemagazinen.

Allerdings scheint auch ein Teil der Arbeiter bezüglich der 125 kg.-Säcke keine Änderung zu wünschen; dies mag für diejenigen zutreffen, die per Waggon Getreide bezahlt werden, und also einen gleich großen Einheitslohn erhalten, ob sie 80 schwerere oder 100 leichtere Säcke ausladen. Bei diesen Arbeitern ist es wohl begreiflich, daß sie die Getreidefassung vorziehen,

365 bei der sie am meisten verdienen. Wo den Arbeitern, wie z. B.

im Lagerhaus in Rorschach, ein Minimallohn bezahlt wird, verlangen sie keine Chargelasten. Auf . der ändern Seite sprechen sich im Lagerhaus Romanshorn die Arbeiter gegen diese SchwerenSäcke aus, obschon dort das Akkordsystem herrscht, und die Arbeiter dieselben Interessen haben, wie im Lagerhaus Brunnen, \vo sie allerdings für Beibehaltung der 125 kg.-Säcke sind.

Die Behauptung der Getreidebörse Zürich, daß der Inventarwert der irn schweizerischen Handel zur Zeit ungefähr 2 Millionen zählenden Säcke im Betrage von 1,600,000 bis 2 Millionen Franken durch ein Verbot entwertet würde, ist übertrieben.

Einerseits kann durch Gewährung einer längern Frist der Übergang vom einen zum ändern System erleichtert werden, anderseits läßt sich, wie Versuche des eidgenössischen Oberkriegskommissariates ergaben, ein Chargesack mit ganz geringen Kosten (höchstens 15 Rappen) durch Einnehmen in der Breite in der Weise abändern, daß er, bei handlicher Form, 100 kg. Getreide faßt, und zudem haltbarer wird. Es hindert auch nichts den Händler, seine Säcke nach wie vor für Hafer, Gerste, Mais u. s. w.

zu verwenden, welche Wären stets auf 75, 80 und 100kg. abgefüllt werden. Außerdem ergibt eine andere Schätzung von sachverständiger Seite, daß 2 Millionen Säcke einen wesentlich geringern, als den angegebenen Inventarwert haben.

Die Müller selbst haben keine großen Vorräte an Weizensäcken, der Händler liefert in seinen eigenen. Zum mindesten übertrieben ist auch die Behauptung, daß das Verbot eine Umwälzung im Müllereibetriebe zur Folge habe. Schon jetzt verwenden die Müller auch Hektosäcke, und es scheint daher, daß die einheitliche Verwendung solcher eher eine Vereinfachung herbeiführen sollte. Sein Mehl verpackt der Müller in 50 oder 100 kg.-Säcke, nicht auch in Chargesäcke, weil sie zu schwer wären. Ebenso ist bestritten, daß in den Lagerhäusern und an den Hafenplätzen durch das verlangte Verbot vermehrte Kosten entstehen, schreibt doch die Lagerhausverwaltung Brunnen selbst in ihrer vom Verband schweizerischer Müller beigebrachten Vernehmlassung : ,,Für den Betrieb .der Lagerhäuser selbst entstehen durch die Entsprechung oder Abweisung des Gesuches der Petenten weder Vor- noch Nachteile, wir sind somit nicht Partei in dieser Angelegenheit." Tatsächlich wird auch in den Tarifen aller inländischen Lagerhäuser ein Unterschied in den Taxen für Einlagerung, Magazinierung und Auslagerung eines Wagens von

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100 Säckea zu 100 kg. und eines solchen von 80 Säcken zu 125 kg. nicht gemacht.

Endlich ist zu erwähnen, daß die Verwendung von Chargesäcken durch die Handelsgebräuche überhaupt nicht bedingt ist.

Es können tatsächlich schon jetzt auf allen Hafenplätzen Chargewie Hektosäcke verwendet werden; b e s o h l i eßt : 1. Es ist in denjenigen Betrieben (Mühlen, Lagerhäusern u. dgl.), die dem Bundesgesetze betreffend die Arbeit in den Fabriken und dem Bundesgesetze betreffend die Ausdehnung der Haftpflicht unterstellt sind, untersagt, Getreidelasten von mehr als 100 kg. Nettogewicht durch je einen einzelnen Arbeiter von Hand heben oder tragen zu lassen.

2. Dieser Beschluß tritt auf den I.Juli 1906 in Kraft.

3. Die Kantonsregierungen werden eingeladen, für Vollziehung von Ziffer l und 2 besorgt zu sein.

4. Das eidgenössische Militärdepartement wird eingeladen, in den dem Bunde gehörenden und der eidgenössischen Fabrik- und Haftpflichtgesetzgebung nicht unterstellten Betrieben den Gebrauch der 125 kg.-Säcke innert angemessener Frist zu beseitigen.

B e r n , den 24. Dezember 1903.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Deuchcr.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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Bundesratsbeschluß betreffend Verbot des Tragens von 125 kg.-Säcken in Mühlen und Lagerhäusern. (Vom 24. Dezember 1903.)

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